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Der Bedeutung der reformatorischen Theologie für die Gegenwart Die Reformation ist mehr als Luther, aber ohne Martin Luther hätte es keine Reformation gegeben. Er war ein radikaler, nach dem biblischen Grund des Glaubens fragender Theologe. Die Sprengkraft seiner Theologie sollte gerade heute neu bewusst gemacht werden. In einer Zeit der religiösen Indifferenz und eines trivialisierten Christentums brauchen wir mehr denn je eine neue Form von radikaler Theologie, die leidenschaftlich nach Gott fragt und auf das Evangelium hört. Der Gott Martin Luthers ist und bleibt eine Provokation. Die Provokation Luthers steht im Zentrum des Buches von Ulrich H. J. Körtner über Luthers Verständnis christlicher Freiheit, seine Schriftauslegung, seine Auffassungen von Arbeit und Beruf sowie seine Theologie des Politischen. Der renommierte Wiener Systematiker schließt damit theologisch an sein streitbares, 2017 erschienenes Buch "Für die Vernunft. Wider Moralisierung und Emotionalisierung in Politik und Kirche" an. [Luther's Provocation for the Present Day. Bible – Christian Existence – Politics] The Reformation is more than Luther, but without Luther there would have been no Reformation. He was a radical theologian who inquired after the biblical foundation of the faith. Today in particular, the explosive force of his theology should be brought to awareness. In a time of religious indifference, and of a trivialized Christendom, we need more than ever a new form of radical theology, that asks passionately after God and heeds the word of the Gospel. Martin Luther's God is and remains a provocation. That provocation is at the center of this book about Luther's understanding of Christian freedom, his interpretation of Scripture, his conception of work and vocation, and his theology of the political. In this project, the internationally renowned systematic theologian from the University of Vienna follows up his confrontational book from 2017, "Für die Vernunft. Wider Moralisierung und Emotionalisierung in Politik und Kirche".
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Luthers Provokation für die Gegenwart
Ulrich H. J. Körtner
Christsein – Bibel – Politik
Ulrich H. J. Körtner, Dr. theol., DDr. h.c., Jahrgang 1957, ist Ordinarius für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien und seit 2001 auch Vorstand des Instituts für Ethik und Recht in der Medizin der Universität Wien. Er ist u. a. Mitherausgeber von: »Zeitschrift für Evangelische Ethik«, »Theologischen Rundschau« und »Arbeiten zur Systematischen Theologie« (Leipzig), »Ethik und Recht in der Medizin« (Wien) und »Edition Ethik« (Göttingen). Körtner bekam 2016 das Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst I. Klasse der Republik Österreich verliehen und ebenfalls 2016 von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften den Wilhelm-Hartel-Preis für sein Gesamtwerk.
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Cover und Layout: Kai-Michael Gustmann, Leipzig
Satz: Evangelische Verlagsanstalt GmbH, Leipzig
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018
ISBN 978-3-374-05771-9
www.eva-leipzig.de
Die Reformation ist mehr als Luther, aber ohne Martin Luther hätte es keine Reformation gegeben. Wer die Potentiale der Reformation für die Gegenwart ausloten will, muss daher das Gespräch mit Luther suchen. Das Reformationsjubiläum 2017 war auf wissenschaftlichem Gebiet freilich die Domäne der Historiker, die gegen jede vorschnelle Aktualisierung von Luthers Denken und den Impulsen der Reformation Protest anmeldeten. Die Systematische Theologie geriet ins Hintertreffen. Das vorliegende Buch mit Fallstudien zu Luthers Denken und seinen Nachwirkungen möchte ein wenig Abhilfe schaffen.
Die Themen, um die es geht, sind Luthers Rede von Gott, die christliche Freiheit, Luthers Bibelverständnis und Schriftauslegung, das an seiner Evangelienauslegung veranschaulicht wird, seine Auffassungen von Arbeit und Beruf sowie seine Theologie des Politischen. In allen genannten Fällen muss das Gespräch freilich über die Beschäftigung mit Luther hinausgehen, weil reformatorische Einsichten und Überzeugungen bis in unsere Zeit erheblichen Transformationen ausgesetzt sind. Der gründliche Blick auf die Umformungen reformatorischer Gedanken und Überzeugungen ist unabdingbar, weil nur so ihre bleibende Relevanz um so deutlicher zutage tritt.
Luther war ein radikaler, nach dem biblischen Grund des Glaubens fragender Theologe. Die Sprengkraft von Luthers Theologie sollte gerade heute neu bewusst gemacht werden. In einer Zeit der religiösen Indifferenz und eines trivialisierten Christentums brauchen wir mehr denn je eine neue Form von radikaler Theologie, die leidenschaftlich nach Gott fragt und auf das Evangelium hört.
Mag. Marcus Hütter, Dr. Angelika Meirhofer, Mag. Livia Stiller und Mag. Ulrike Swoboda waren bei der Literaturbeschaffung und den Korrekturen behilflich. Ich danke Ihnen ebenso herzlich wie Dr. Annette Weidhas für die vorzügliche Betreuung und gute Zusammenarbeit.
Wien, im März 2018
Ulrich H. J. Körtner
Die Reformation ist mehr als Luther, aber ohne Martin Luther hätte es keine Reformation gegeben. Sie war ein europäisches Ereignis, keineswegs nur ein deutsches. Neben Wittenberg, wo Luther seit 1512 als Theologieprofessor wirkte, gab es noch weitere bedeutende Zentren der Reformation: Zürich, Basel, Bern und Genf, Nürnberg und Straßburg, Marburg an der Lahn oder auch das ungarische Debrecen, um nur die wichtigsten zu nennen. Anlässlich des Reformationsjubiläums wurde 100 Städten in 17 europäischen Ländern der Titel „Reformationsstadt Europas“ verliehen.1
Das heutige Österreich war zeitweilig ganz überwiegend protestantisch, bis schließlich die Gegenreformation einsetzte und den evangelischen Glauben unterdrückte. Luthers Schriften fanden in ganz Europa Verbreitung, aber neben ihm dürfen Huldrych Zwingli in Zürich, Johannes Oecolampad in Basel, Luthers Weggefährte Philipp Melanchthon in Wittenberg, der Nürnberger Reformator Andreas Osiander, Johannes Calvin in Genf, Martin Bucer in Straßburg oder der Schottische Reformator John Knox nicht vergessen werden. In Wien war es Paul Speratus, der am 12. Jänner 1522 im Stephansdom die erste reformatorische Predigt hielt, Ablass, Zölibat und Mönchsgelübde angriff und das allgemeine Priestertum aller Gläubigen verkündigte.
Aufs Ganze gesehen wäre falsch, die Reformation auf Luther und seine Theologie zu reduzieren. Theologie und reformatorischer Geist der übrigen Reformatoren sind nicht einfach danach zu beurteilen, wie weit sie mit Luther übereinstimmten oder von ihm abwichen. In Sachen Reformation und reformatorischer Theologie ist Luther nicht das Maß aller Dinge.
Dennoch kann seine historische und theologische Bedeutung kaum überschätzt werden. Kein Reformator – überhaupt kein Autor seiner Zeit – erzielte derart hohe Auflagen wie Luther, der seit seinen Ablassthesen vom 31. Oktober 1517 eine Schrift nach der anderen veröffentlichte, seinen Konflikt mit Papst und Kurie zu einem Medienereignis ersten Ranges machte. Konsequent nutze er die neue Technik des Buchdrucks mit beweglichen Lettern. Seiner Medienpräsenz, die ihm die Deutungshoheit über die theologischen und kirchenpolitischen Debatten verschaffte, wusste die römische Kirche nichts entgegenzusetzen. Bestritt Luther anfangs nur die Möglichkeit des Papstes, Strafen im Fegfeuer zu erlassen, so verwarf Luther schon bald überhaupt die Lehre vom Fegfeuer und dem Schatz der guten Werke der Heiligen. Folgerichtig eskalierte der Ablassstreit zu einem die ganze abendländische Christenheit erfassenden Konflikt um die Wahrheit des Glaubens und die wahre Kirche, in welchem sich Luther die führende Rolle als von Gott berufener Gegenspieler des Papstes Leo X. zuschrieb, den er schließlich zum Antichristen erklärte.
Seine Anhänger sahen in ihm eine apostel- und prophetengleiche Gestalt, und tatsächlich nahm Luther für sich in Anspruch, das unverfälschte Evangelium, wie es die Bibel bezeugt, zu verkündigen. Seine Bibelübersetzung ist in ihrer Sprachmächtigkeit bis heute unübertroffen. Luther hat sich freilich nie auf irgendeine persönliche Offenbarung berufen. Allein die Schrift galt ihm als Quelle und Norm aller kirchlichen Lehre, wobei der Wittenberger Professor für Bibelexegese der festen Überzeugung war, dass sich der Sinn der biblischen Texte eindeutig erkennen lasse und es dazu keines kirchlichen Lehramtes bedürfte, weil die Schrift ihr eigener Ausleger sei.
Die heutige Forschung richtet den kritischen Blick freilich auch auf die dunklen Seiten Luthers. Dazu gehört seine Judenfeindschaft, die für seine Zeit nicht untypisch war, sich jedoch in Luthers späten Lebensjahren steigerte und von den evangelischen Kirchen heute einhellig verurteilt wird.2 Auch mit seinen Gegnern ging der Reformator nicht gerade zimperlich um, ob es nun „Altgläubige“ waren, Täufer und „Schwärmer“ oder die Bauern, die sich durch seine Freiheitsparolen ermutigt fühlten, gegen ihre bedrückenden Lebensverhältnisse und ihre Obrigkeiten gewaltsam zu rebellieren. In all diesen Fällen scheute Luther, der in Glaubensdingen auf Gewissensfreiheit und die alleinige Macht des Wortes pochte, nicht davor zurück, zur Ausübung von Gewalt aufzurufen. Dass die Obrigkeit von Gott eingesetzt sei, das Schwert zu führen und jeder Anarchie zu wehren, stand für ihn zeitlebens außer Zweifel.
Wer war dieser Martin Luther? Geboren wurde er am 10. November 1483 in Eisleben als Martin Luder. Sein Vater Hans war im Erzbergbau tätig und bestimmte seinen Sohn zum Jurastudium. Nach einem Bekehrungserlebnis trat Luther jedoch in den Orden der Augustiner-Eremiten ein. Sein Weg führte ihn in das Kloster Erfurt, wo er Theologie studierte. 1511 wurde er in den Wittenberger Konvent versetzt. Er verließ den Orden und heiratete 1525 die ehemalige Nonne Katharina von Bora. 1546 starb er auf einer Reise in seiner Geburtsstadt Eisleben.
Im Zuge des Reformationsjubiläums 2017 ist eine Reihe von Lutherbiographien erschienen, die den Reformator und seine Zeit in einem neuen Licht erscheinen lassen.4 Im Unterschied zu vergangenen Luther- und Reformationsjubiläen, deren Geschichte Dorothea Wendebourg nachgezeichnet hat,5 wird heute der historische Abstand zum Reformator und seiner Zeit,6 um nicht zu sagen die Fremdheit Luthers betont. Überhaupt war das Reformationsjubiläum 2017 auf wissenschaftlichem Gebiet die Domäne der Historiker, welche gegen jede vorschnelle Aktualisierung von Luthers Denken und den Impulsen der Reformation Protest anmeldeten. Die Systematische Theologie geriet ins Hintertreffen, ganz im Unterschied zum Lutherjubiläum 1983, als die Lutherinterpretation noch von Gerhard Ebeling bestimmt wurde, der Luthers Werk als gegenwartsbestimmendes Sprachereignis interpretierte und Luthers Denken in Form einer existentialen Interpretation in die Gegenwart hinein sprechen ließ.7 Die von Ebeling und Karin Bornkamm besorgte Insel-Ausgabe von Schriften Luthers,8 die neben kurzen Einführungen in die in modernisiertem Deutsch präsentierten Texte auch ein Beiheft enthält, das Anregungen für Pfarrer, Lehrer und Gemeindehelfer bietet, wie man Menschen in Schule und Gemeinde mit Gestalt und Theologie des Reformators bekanntmachen kann, ist bis heute unübertroffen.
Immerhin sind einige neuere Werke zu erwähnen: 2015 hat Reinhard Schwarz eine Gesamtdarstellung der Theologie Luthers vorgelegt.9 Oswald Bayers Darstellung der Theologie Luthers, die sich im Untertitel ausdrücklich als Vergegenwärtigung seines Denkens bezeichnet, erschien 2016 in vierter Auflage.10 Ihr ist Joachim Ringlebens Darstellung der Theologie Luthers von der Sprache her zur Seite zu stellen, die Luther als herausragenden Sprachdenker würdigt.11 Ein von Reinhold Rieger verfasstes Lehrbuch gibt eine Einführung in theologische Grundbegriffe Luthers,12 und ein von Ulrich Heckel, Jürgen Kampmann, Volker Leppin und Christoph Schwöbel herausgegebenes Studienbuch, das aus einer Ringvorlesung entstanden ist, stellt schon im Titel die Frage nach „Luther heute“,13 weist also die Frage nach seiner bleibenden Aktualität und Bedeutung nicht als unhistorisch und daher illegitim ab. Ergänzt wird die Reihe neuer Publikationen zu Luthers Theologie durch Traugott Jähnichens und Wolfgang Maasers Darstellung seiner Ethik.14
Gegen Troeltschs konsequente Einordnung Luthers in das Spätmittelalter hat Gerhard Ebeling die These aufgestellt, Luther stehe gewissermaßen quer sowohl zum Mittelalter als auch zur Moderne.15 Seine Theologie lasse sich als Kritik an der spätmittelalterlichen Kirche und Theologie wie auch als antizipierte Kritik an der Moderne lesen. Seine Theologie des Wortes sei der Neuzeit sowohl sprachphilosophisch als auch theologisch voraus und müsse von ihr erst eingeholt werden. Mag man auch gegenüber dem Einfluss der Dialektischen Theologie bzw. der Wort-Gottes-Theologie auf Ebelings Thesen und ihre Weiterentwicklung bei Oswald Bayer Vorbehalte äußern, scheint mir doch bei Ebeling ein Punkt getroffen zu sein, der bedenkenswert bleibt. Ebeling weiß freilich auch: „Eine einfache Repristination und Wiederholung reformatorischer Theologie ist ebenso wie ein Überspringen der dazwischen liegenden Geschichte und der darin veränderten und neu aufgebrochenen Problemstellungen ein Ding der Unmöglichkeit.“16
Nach meinem Dafürhalten lässt sich die Frage nach dem Verhältnis von reformatorischer Theologie und Moderne nicht mit einem einfachen Entweder-oder beantworten, ist doch die Moderne selbst viel zu komplex und mehrdeutig. Ihren unbestreitbaren Erfolgen und Befreiungsschüben stehen verhängnisvolle Folgen des Fortschritts gegenüber. Die Alternative von Modernismus und Antimodernismus greift daher theologisch zu kurz. Durch Luther, aber auch durch Calvin belehrt, sehe ich es als Aufgabe von Theologie und Kirche, nicht eine antimodernistische, gleichwohl aber eine kritische Haltung zur Moderne einzunehmen.17 Ebelings Lutherinterpretation hat darin ihr sachliches Recht, dass die Kontinuitäten zwischen Spätmittelalter und Moderne größer sind als zumeist angenommen.18 Dann aber läge in der Theologie der Reformatoren, welche die spätmittelalterliche Theologie einer fundamentalen Kritik unterzogen haben, möglicherweise das Potential für den theologischen Aufbruch in eine ganz andere als die bisherige Moderne, sodass eine vom reformatorischen Denken ausgehende Metakritik der Moderne gerade nicht mit der illusionären bzw. reaktionären Rückkehr zu den geistigen und gesellschaftlichen Grundlagen der Vormoderne zu verwechseln wäre.19
Die heutige Lutherforschung betont demgegenüber die Verbindungslinien zwischen dem Reformator und dem Spätmittelalter, insbesondere seine Wurzeln in der Mystik.20 Bisweilen entsteht der Eindruck, als sei der Bruch, zu dem es innerhalb der abendländischen Christenheit gekommen ist, die vermeidbare Folge tragischer Missverständnisse.21 Man kann verschiedentlich lesen, Luther würde heute als Reformkatholik durchgehen, der sich nur bedauerlicherweise radikalisiert habe.22 Sich radikalisieren: so spricht man heute von islamistischen Gewalttätern. Ich halte das für keinen passenden Vergleich.
Peter Sloterdijk sieht diesen Vergleich in seiner Abrechnung mit Luther und der Reformation freilich durch Luthers Augustinismus gerechtfertigt. Augustins Lehre von der doppelten Prädestination, wonach nur eine Minderheit auf Rettung, die Mehrzahl der Menschen der ewigen Verdammnis preisgegeben sei, komme einem „spirituellen Hiroshima“23 gleich, und Sloterdijk zieht eine Linie von Augustin über Luther zu den Jakobinern der Französischen Revolution und zu Stalin. Sympathisch wirke das Christentum erst, seit es in unseren Breitengraden schwach geworden sei, während „die Reformation zu ihrer Hoch-Zeit ein christliches Analogon zu den seit relativ kurzem offensiv wirksamen islamischen Erscheinungen wie Salafismus, Wahabismus und militaristiertem Jihadismus darstellte“24. Europa habe es glücklichen Umständen zu verdanken, „dass es Luthers antihellenischen und antiphilosophischen Impulsen widerstand“ und dass sein Rückfall „in ein bildungsfeindliches Kalifat“25 gerade noch verhindert werden konnte. Bei aller Berechtigung, die kritische Fragen an die augustinische Erwählungslehre und ihre Rezeption bei Luther und Calvin haben, strotzt Sloterdijks Polemik doch von lauter Kurzschlüssen, die zu einem ebenso undifferenzierten Lutherbild führen wie eine unkritische Lutherverehrung auf der Gegenseite. Sloterdijks böswillige Karikatur des Calvinismus, der „die Flucht aus der Verzweiflung in die Erwählung“ angetreten sei und „in der Weltgeschichte der Verlogenheit weit vor dem strukturell mittelalterlich und halbnaiv gebliebenen Lutherismus rangiert“, zeugt nicht von solider Beschäftigung mit Calvin- und Calvinismusforschung. Von diesem Zerrbild Luthers und der Reformation gilt, was Joachim Köhler auch von anderen negativen Pauschalurteilen über Luther sagt: „Nicht Fakten folgt es, sondern ideologischen Deutungsmustern.“26 Gewiss war Luther nicht im modernen Sinne tolerant, aber dennoch kein Fundamentalist.27
Tatsächlich war Luther ein radikaler, nach dem biblischen Grund des Glaubens fragender Theologe. Seine Kritik am Ablass wie die darin sich anbahnende Lehre von der Rechtfertigung des Sünders allein durch den Glauben und vom allgemeinen Priestertum aller Gläubigen hatte eine systemsprengende Kraft, die den Bruch unausweichlich machte. Die Sprengkraft von Luthers Theologie sollte gerade heute neu bewusst gemacht werden. In einer Zeit der religiösen Indifferenz und eines trivialisierten Christentums brauchen wir mehr denn je eine neue Form von radikaler Theologie, die leidenschaftlich nach Gott fragt und auf das Evangelium hört.
Aus diesem Grund suche ich im vorliegenden Buch das Gespräch mit Martin Luther. Die Themen, um die es geht, sind die christliche Freiheit, Luthers Bibelverständnis und Schriftauslegung, das an seiner Evangelienauslegung veranschaulicht wird, seine Auffassungen von Arbeit und Beruf sowie seine Theologie des Politischen. In den beiden zuletzt genannten Fällen geht die Beschäftigung über Luther hinaus, weil das reformatorische Berufsverständnis und die reformatorische Sichtweise der Sphäre des Politischen bis in unsere Gegenwart erheblichen Transformationen ausgesetzt sind. Das gilt freilich ebenso für das moderne Freiheitsverständnis wie für die zeitgenössische Bibelhermeneutik. Der gründliche Blick auf die Umformungen reformatorischer Gedanken und Überzeugungen ist unabdingbar, weil nur so ihre bleibende Relevanz um so deutlicher zutage tritt.
Wer Luther verstehen will, muss sich vor allem mit seinem Gottesverständnis auseinandersetzen. Mit ihm steht und fällt Luthers Glaubensverständnis, gehören für ihn doch Gott und Glaube zusammen. Der Gott Martin Luthers ist und bleibt freilich eine Provokation. So radikal wie Luther nach Gott gefragt und ihn gesucht hat, so radikal fällt auch seine Antwort aus. Sie ist der Schlüssel zu Luthers radikaler Theologie, und darum beginnt unser Gespräch mit Luther genau an diesem Punkt.
„Woran du dein Herz hängst, das ist dein Gott“, hat Luther sinngemäß gesagt. Genauer: „Worauf Du […] Dein Herz hängest und verlässest, das ist eigentlich Dein Gott.“28 Woran hat Luther selbst sein Herz gehängt, worauf hat er sich im Leben und Sterben verlassen? Was war sein Gott? Ich frage nicht nach Luthers Gottesvorstellung oder seinem Gottesbild, nicht nach seinem Gottesgedanken oder seiner Gottesidee, sondern nach seinem Gott. Der christliche Glaube und alle Theologie stehen und fallen für Luther damit, dass von Gott geredet wird, nicht von einem Gottesgedanken und von Gottesbildern. Mag Luther auch ganz selbstverständlich von der christlichen Religion gesprochen haben und nach seinem eigenen Sprachgebrauch als Lehrer der christlichen Religion bezeichnet werden,29 ist bei ihm doch nicht etwa der Gottesgedanke lediglich eine Chiffre für den Glauben als existentielles Selbstverhältnis des Menschen in seinem Vollzug, sondern der Grund des Glaubens wie der Welt im Ganzen, die „Alles bestimmende Wirklichkeit“30, wie Bultmann in kongenialer Weise von Gott sagt.
Die entschiedene und bekenntnishafte Weise, in der bei Luther von Gott – und eben nicht nur von einem Gottesgedanken – die Rede ist, wirkt herausfordernd, zumal in einer Zeit, in der viel von Religion und Religiosität, aber nur wenig von Gott gesprochen wird. Wir können uns Luthers Reden von Gott „nicht zuwenden, ohne nach unserer eigenen Weise, von Gott zu reden, zu stammeln oder zu schweigen, gefragt zu sein“31. Luthers ungemein lebendige und anschauliche Art, von Gott zu sprechen, gründet offensichtlich in seiner eigenen, tiefen Gotteserfahrung.32 Aber wir weichen der Provokation der Rede Luthers von Gott aus, wenn wir die Frage nach seinen Gotteserfahrungen mit derjenigen nach religiösen Erfahrungen in einem religionsphänomenologischen oder auch einem psychologischen Sinne gleichsetzen. So gewiss Luther nicht von Gott sprechen kann, ohne auch von seiner Gotteserfahrung zu sprechen, weil man nach seiner Überzeugung niemals von Gott in der Haltung eines unbeteiligten Beobachters sprechen kann, fragen wir nicht nach seinen Gotteserfahrungen, sondern nach dem Gott, auf den er diese zurückgeführt, den er erfahrungsgesättigt bezeugt und an den er in allen Nöten des Lebens sein Herz gehängt hat.
Zur Signatur unserer Gegenwart gehört freilich die Erfahrung der Abwesenheit Gottes, genauer: der Abwesenheit des Gottes, von dem Luther spricht, während man gleichzeitig eine Wiederkehr aller möglichen Götter beobachten kann,33 darunter auch des Gottes der Muslime, der in Europa – vor allem in Folge von Migration – zunehmend seine Anhänger hat. Götter begegnen uns aber auch in der säkularen Gestalt moralischer Werte, in allen möglichen Weltanschauungen und politischen Ideologien. Schon 1917 formulierte Max Weber seinen berühmt gewordenen Satz: „Die alten vielen Götter, entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern, streben nach Gewalt über unser Leben und beginnen untereinander wieder ihren ewigen Kampf.“34 Hinter dieser Aussage steht eine bestimmte Auffassung von der Säkularisierung, könnte man doch sonst nicht von der Wiederkehr der offenbar zeitweilig verschwundenen Götter sprechen. Luthers allgemeine Definition dessen, was ein Gott ist, führt zu dem Schluss, dass es niemals eine götterlose Zeit gegeben hat, gibt und geben wird.
Allerdings folgt aus Luthers Überlegungen keineswegs, dass alle Menschen immer schon ein und denselben Gott intendieren oder doch nach ihm suchen. Hinter allen Göttern, an die Menschen ihr Herz hängen, den einen Gott zu vermuten – mit Tillich gesprochen: den Gott über Gott, das Absolute jenseits aller Gottesbilder –, führt nach Luther in die Irre. Der Gott Luthers ist Grund und Maß radikaler Religionskritik, und zwar über die konkrete Kritik an den religiösen Konstellationen und Praktiken zur Zeit der Reformation hinaus.
Das gilt auch für den interreligiösen Dialog unserer Tage, insbesondere für das Gespräch zwischen Christen und Muslimen. Schon bei ihrem Erscheinen 2006 sorgte eine Handreichung der EKD mit dem Titel „Klarheit und gute Nachbarschaft“ für Kritik, und zwar auf muslimischer wie auf christlicher Seite. Die Kritiker nehmen Anstoß an der Aussage: „So wertvoll die Entdeckung von Gemeinsamkeiten im christlichen und muslimischen Glauben ist, so deutlich werden bei genauerer Betrachtung die Differenzen. Die Feststellung des ,Glaubens an den einen Gott‘ trägt nicht sehr weit.“35 Die Handreichung spitzte den Gedanken noch zu. Sie zitierte Luthers Erklärung im Großen Katechismus, woran ein Mensch sein Herz hänge, das sei sein Gott, um hinzuzufügen: „Ihr Herz werden Christen jedoch schwerlich an einen Gott hängen können, wie ihn der Koran beschreibt und wie ihn Muslime verehren.“36 Kritiker halten derartige Aussagen für „befremdlich und verletzend“37 – was nun meines Erachtens wiederum befremdlich ist, wenn man sich intensiv mit Luthers Reden von Gott auseinandersetzt. Über allem berechtigten Bemühen um Toleranz droht die Provokation, die von Luthers Gott ausgeht, in der Gegenwart aus dem Blick zu geraten. Sie rührt daher, dass Luther nicht – wie es zum Beispiel sein Gegenspieler Erasmus von Rotterdam tat – nach Befindlichkeiten fragte, sondern nach der Wahrheit. Wo Kirche und Theologie die Wahrheitsfrage einklammern oder ihr ausweichen, geht der christliche Glaube verloren. Im Dialog der Religionen, der in der pluralistischen und globalisierten Welt von heute eine Notwendigkeit darstellt, ist niemandem mit einer Religionshermeneutik „der nachsichtigen Unvollständigkeit des anderen“ gedient, weil doch weder das Christentum, noch das Judentum und der Islam „mit dem Gedanken, die anderen beiden hielten sich bereits zum einzigen Gott, nur bleibe er diesen noch in wesentlichen Dimensionen verborgen, einen Plausibilitätsgewinn erzielen“38.
Auch wenn man im Sinne der formalen Gottesdefinition Luthers behaupten kann, dass es stets irgendwelche Götter gibt und dass längst verschwunden geglaubte Götter wieder auftauchen können, muss dies, wie gesagt, nicht der Abwesenheit Gottes widersprechen – genauer gesagt: der Abwesenheit eben jenes Gottes, von dem Martin Luther so bestimmt zu reden weiß. Selbst die Frage nach diesem Gott ist vielen Menschen abhanden gekommen, so dass sie zwar ihr Herz an alles Mögliche hängen, aber sich schon längst nicht mehr von der sogenannten Gottesfrage umgetrieben fühlen, es sei denn, man wolle jede Form, in der die Frage nach dem Sinn des Lebens und der Welt im Ganzen gestellt wird, immer schon als Frage nach Gott interpretieren. Das aber hieße, die Menschen besser verstehen zu wollen als sie selbst es tun, indem man ihnen einzureden versucht, auch sie seien in Wahrheit religiös, obwohl sie dies bestreiten.
Es gibt freilich einen nachdenklichen Atheismus mit Trauerflor, der den Verlust des biblisch bezeugten Gottes, von dem Luther spricht, schmerzhaft wahrnimmt. Für Martin Walser sind zeitgeistige Spiritualität und neuer Atheismus – man denke an die Bewegung der Brights – aus einem Holze geschnitzt. Letzterem schreibt Walser ins Stammbuch: „Wer sagt, es gebe Gott nicht, und nicht dazusagen kann, dass Gott fehlt und wie er fehlt, der hat keine Ahnung.“39 Weiter: „In der Welt der Atheisten hat doch die Leere keinen Platz. Leere gibt es nur dort, wo Gott fehlt. Und wo er dann durch keinen -ismus ersetzt wird. Eine Welt ohne Leere ist eine zu arme Welt.“40 Und selbst bekennt Walser, dass Gott „fehlt. Mir.“41
Der Verlust Gottes lässt sich darauf zurückführen, dass die Theologie seit der Aufklärung in Anthropologie aufgelöst wurde. Die moderne Religionskritik von Feuerbach bis Freud meint das Geheimnis des Gottesglaubens gelüftet zu haben: In Wahrheit ginge es um die Anerkennung des Menschen auf einem Umweg. Dieser Umweg besteht in der Projektion des menschlichen Wesens – besser gesagt: seines Ideals von Humanität – an den Himmel. Gott ist eine Chiffre für das ideale Wesen des Menschen, eine Chiffre für Mitmenschlichkeit, derer wir aber entbehren können, sobald wir die Projektion durchschaut haben und uns von ihren Religion genannten Pathologien befreien. „Imagine there’s no heaven/it’s easy if you try/no hell below us/above us only sky.“ (John Lennon/Yoko Ono)
Nun stellt sich aber die Frage, ob Luther möglicherweise zur Auflösung der Theologie in Anthropologie entscheidend beigetragen hat. Ludwig Feuerbach hat sie bereits in seiner Schrift über „Das Wesen des Glaubens im Sinne Luthers“ (1844) aufgeworfen.42 Feuerbach weiß, dass, oberflächlich betrachtet, zwischen seiner Dekonstruktion des Wesens des Christentums43 und Luthers Religion, die auf dem extra nos des Glaubensgrundes besteht, ohne das es gar keine Heilsgewissheit geben könne, Welten liegen. Doch beruhe Luthers subjektive Überzeugung auf einem Trugschluss, den er selbst nicht durchschaut habe. Tatsächlich lesen wir in Luthers Großem Katechismus:
„Was heißt ein Gott haben oder was ist Gott? Antwort: Ein Gott heißet das, dazu man sich versehen soll alles Guten und Zuflucht haben in allen Nöten. Also daß ein Gott haben nichts anders ist, denn ihm von Herzen trauen und gläuben, wie ich oft gesagt habe, daß alleine das Trauen und Gläuben des Herzens machet beide Gott und Abegott […] Denn die zwei gehören zuhaufe, Glaube und Gott.“44
In seiner Galaterbriefvorlesung 1531 spitzt Luther den Gedanken sogar noch zu:
„Der Glaube ist Schöpfer der Gottheit, nicht in Person, sondern in uns.45 Außerhalb des Glaubens verliert Gott seine Gerechtigkeit, Herrlichkeit, Reichtum usw., und nichts an Majestät, Göttlichkeit ist da, wo kein Glaube ist.“46
Für Feuerbach und die moderne Religionskritik liefert Luther, ohne sich diese Konsequenz einzugestehen oder sich selbst zu durchschauen, den Beweis, dass Gott eine Erfindung des Menschen ist. Er existiert nur in den Gehirnen der Gläubigen. Tatsächlich sind Luthers Thesen nicht nur radikal, sondern auch für den Glauben riskant. Theologisch betrachtet sind sie aber konsequent und sachgemäß. Sie ziehen die radikale Konsequenz aus der biblisch begründeten Einsicht, dass der Mensch allein durch den Glauben (sola fide) gerechtfertigt wird. Zwar kann Luther den Glauben als erstes Werk bezeichnen, aber er ist dies doch nur in einem uneigentlichen Sinne. In Verbindung mit dem Glauben hat das Wort Werk nämlich die Bedeutung „Wirken“, und gemeint ist zunächst das Wirken Gottes im Menschen, der zum Glauben findet.47 Wohl ist der Glaube, der darin besteht, Gott über alle Dinge zu fürchten, lieben und vertrauen,47 die Tat des Glaubenden – er ist es, der glaubt, nicht eine andere Instanz in ihm –, aber das Glaubenkönnen liegt nicht in seinem Vermögen und Willen, sondern ist von Gott in ihm gewirkt. Der Glaube, wiewohl höchstpersönlich der Glaube des Einzelnen, ist und bleibt göttliches Werk und Gabe, ganz so wie Luther im Kleinen Katechismus schreibt:
„Ich glaube, dass ich nicht aus eigener Vernunft oder Kraft an Jesus Christus, meinen Herrn, glauben oder zu ihm kommen kann. Sondern der Heilige Geist hat mich durch das Evangelium berufen, mit seinen Gaben erleuchtet, im rechten Glauben geheiligt und erhalten.“49
Ist aber der Glaube, der die Gottheit schafft – wenngleich nicht der Person nach, sondern nur in den Glaubenden – das Werk Gottes, genauer: des Heiligen Geistes, dann ist nicht der Mensch, sondern Gott selbst der Schöpfer der Gottheit in uns. Die Erschaffung dieses Gottes, der in Jesus Christus Mensch geworden ist und sich durch das freimachende Evangelium bezeugt, unterscheidet sich kategorial von allen sonstigen Göttern, die Menschen sich in ihrem Herzen machen, welches Johannes Calvin als eine Götzenfabrik bezeichnet hat.50
Durch die von Gott selbst im Glauben bewirkte Erschaffung der Gottheit wird freilich auch der Glaubende selbst neu erschaffen, wie Luther ausführlich in seiner Auslegung von Gal 2,20 darlegt. Paulus formuliert an der Stelle paradox: „Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir.“ Luther betont, dass die Redeweise in Gal 2,20 christologisch begründet ist. Allein als solche ist sie wahr, aber auch paradox; „eine völlig ungewöhnliche und unerhörte Redeweise“51, wobei Luther zwischen Ich, Person und Substanz unterscheidet. Von je meinem Ich sei nicht in meiner Person oder Substanz die Rede. Von dieser müsse man vielmehr völlig absehen. Durch den Glauben werden der gerechtfertigte Sünder und Christus gewissermaßen zu einer Person, „die man von ihm nicht losreißen kann, sondern beständig ihm anhangt und spricht: Ich bin Christus; und Christus wiederum spricht: Ich bin jener Sünder, der an mir hängt und an dem ich hänge“52. Die personale Verbindung zwischen dem Ich und Christus dürfe aber keinesfalls im Sinne der fides caritate formata interpretiert werden, welche den Glauben fälschlicherweise tugendethisch als Habitus auffasst. Tatsächlich wird der Glaube niemals zum Vermögen des Menschen.
Religionskritik kann diese Beschreibung der Zusammengehörigkeit von Gott und Glaube bestenfalls nur als Selbsttäuschung begreifen. Wenn allein der Glaube den Zugang zu jenem Gott eröffnet, von dem nach Luther das biblische Evangelium spricht, dann kann eine Luther folgende Theologie allerdings nicht beim Sein, sondern nur beim Strittigsein Gottes beginnen.53 Gottes Sein ist abseits seiner Offenbarung, die im Glauben erfahren wird, nicht zugänglich. Zwar vollzieht Luther nicht in der Weise eine radikale Abkehr von der traditionellen Lehre von der natürlichen Gotteserkenntnis, wie sie insbesondere Karl Barth vollzogen hat. Aber auch Luther nimmt an der traditionellen Unterscheidung und Zuordnung von natürlicher und geoffenbarter Gotteserkenntnis eine erhebliche Korrektur vor, versteht er doch die geoffenbarte – allein durch die Schrift (sola scriptura) und allein im Glauben (sola fide) gewisse – Gotteserkenntnis nicht als bloße Ergänzung der natürlichen; „vielmehr steht zwischen beiden die Frage nach dem wahren Gott. Insofern muß man im Sinne Luthers sowohl sagen, daß die Vernunft etwas von Gott weiß, wie auch, daß sie nichts von Gott weiß. Eine gleichsam ,neutrale‘ Gotteserkenntnis ist für die Vernunft nicht möglich.“54 Natürliche Theologie gibt es bei Luther letztlich nur so, dass alle vorgläubige Rede von Gott vom Glauben aus interpretiert, und das heißt einerseits in Anspruch genommen, andererseits aber auch radikal kritisiert wird, spielt doch die ungläubige oder vorgläubige Vernunft „blinde Kuh mit Gott und tut eitel Fehlgriffe und schlecht immer neben hin, dass sie das Gott heißt, das nicht Gott ist, und wiederum nicht Gott heißt, das Gott ist, welches sie keines täte, wo sie nicht wüsste, das Gott wäre, oder wüsste eben, welches oder was Gott wäre.“55
Mit dem Gott Martin Luthers ist auch die Frage nach Rechtfertigung, welche die Geschichte des Christentums und des Abendlandes bis in das 20. Jahrhundert hinein umgetrieben hat, aus dem Blickfeld geraten. Oder sollte man besser umgekehrt sagen, dass mit letzterer der Gott Luthers abhanden gekommen ist? Bei Jean Paul und Dostojewksi, auch bei Nietzsche, Kafka, Thomas Mann und Robert Walser war diese Frage noch lebendig. Die Frage, wie der sündige Mensch vor Gott gerechtfertigt werden kann, war das beherrschende Thema der Reformation im 16. Jahrhundert. In der Moderne wurde Luthers Frage nach dem gnädigen Gott durch die angeblich radikalere nach der Existenz Gottes abgelöst. So dachte selbst der Lutherische Weltbund auf seiner Vollversammlung 1963. Doch Martin Walser präpariert scharfsinnig heraus, dass die Frage nach der Existenz Gottes keineswegs radikaler als jene nach dem gnädigen Gott ist.
Eine Gesellschaft, der die Rechtfertigungsproblematik in ihrer radikalen religiösen Dimension, wie sie allen voran bei Paulus, dann bei Augustin, Luther und Calvin durchbuchstabiert wird, abhanden gekommen ist, verfällt dem Irrtum, als genüge es zur Rechtfertigung der eigenen Person, Recht zu haben. Das Rechthaben aber gerät zur Rechthaberei. „Recht zu haben“, so Walser, „ist der akzeptierte Ersatz für Rechtfertigung. Eine Art Bewusstseinsimperialismus auch. Oft genug verbunden mit Macht und Machtgefühl. Zeitgeistopportunität. Was ist denn political correctness anderes als eine Domestizierung des Gewissens, eine Passe partout-Rechtfertigung?“56 Eben in solcher Selbst-Rechtfertigung aber besteht jene Versuchung, von der Walser spricht und gegen die er anschreibt. Sie hat eine übertribunalisierte Lebenswelt entstehen lassen, die die Vorstellung eines göttlichen Weltgerichts für einen obsoleten Mythos hält, zugleich aber in kleiner Münze tagtäglich das Weltgericht vollzieht, ohne dass es wie bei Luther Aussicht auf Gnade und Vergebung gibt.
Der Gott Luthers ist „ein glühender Backofen voller Liebe“57