Die letzten Dinge - Ulrich H.J. Körtner - E-Book

Die letzten Dinge E-Book

Ulrich H. J Körtner.

0,0

Beschreibung

Was dürfen wir hoffen? Das ist die Kernfrage, um die sich die Lehre von den letzten Dingen dreht, in der theologischen Fachsprache auch Eschatologie genannt. Sie handelt von dem,über das hinaus nichts mehr zu erwarten und zu hoffen ist,weil sich in ihm alle Hoffnungen endgültig erfüllen. Die Wiederkunft Christi, die Auferstehung der Toten, das Jüngste Gericht, Reich Gottes und ewiges Leben sind die überlieferten Glaubensinhalte, um die es dabei im Christentum geht. Doch wie kann von diesen Dingen unter den Bedingungen der modernen Lebenswelt gesprochen werden? Wie passen diese Glaubensaussagen zu unserem naturwissenschaftlichen Weltbild und unserer modernen Geschichtsauffassung? Auf diese Fragen antwortet dieses Buch in allgemeinverständlicher Sprache. Es bietet eine Einführung in die christliche Eschatologie und gibt zeitgemäße Antworten. Theologische Fachausdrücke werden auch LeserInnen ohne theologische Vorkenntnisse erklärt. Vor allem wird das Gespräch mit den Texten der Bibel als der Urkunde christlicher Hoffnung gesucht. Was genau vom Glauben erhofft wird, wie diese Hoffnung begründet ist und wie sich von ihr unter den Bedingungen der Gegenwart reden lässt, ist ebenso Thema wie die Lebenspraxis, die sich mit der christlichen Hoffnung verbindet.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 318

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Theologische Bibliothek

Herausgegeben von

Christoph Auffarth / Irene Dingel /

Bernd Janowski / Friedrich Schweitzer /

Christoph Schwöbel und Michael Wolter

Band 1

Ulrich H.J. Körtner

Die letzten Dinge

Ulrich H.J. Körtner

Die letzten Dinge

Neukirchener Theologie

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.d-nb.deabrufbar.

©2014

Neukirchener Verlagsgesellschaft mbH, Neukirchen-Vluyn

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Ekkehard Starke

DTP:Breklumer Print-Service

ISBN 978–3–7887–2781–9 (Print)

ISBN 978–3–7887–2782–6 (E-Book-PDF)

ISBN 978–3–7887–2810–6 (E-Pub)

www.neukirchener-verlage.de

Vorwort

Dass die neue „Theologische Bibliothek“ ausgerechnet von einem Buch über die letzten Dinge eröffnet wird, geht ganz in Ordnung, wird doch so verhindert, dass die Eschatologie – wie man die Lehre von den letzten Dingen auch bezeichnet – zu einem harmlosen Schlusskapitel der Dogmatik wird, wovor der evangelische Theologe Karl Barth eindringlich gewarnt hat. Verstanden als Lehre von der christlichen Hoffnung, gehört die Eschatologie ins Zentrum der Theologie.

Der christliche Glaube gibt nicht nur zu denken, sondern auch zu hoffen. Eschatologie ist die gedankliche Rechenschaft von der christlichen Hoffnung. Sie fragt, was wir begründeterweise im Leben wie im Sterben hoffen dürfen, welche Hoffnung für die Welt im Ganzen besteht und wie von dieser Hoffnung unter den Bedingungen der Moderne verantwortbar und verständlich gesprochen werden kann.

Dieses Buch richtet sich an alle theologisch Interessierten. Ganz ohne theologische Fachausdrücke, die aber erklärt werden, wird es nicht gehen. Die Literaturhinweise sind auf ein geringes Maß beschränkt. Vor allem wird das Gespräch mit den Texten der Bibel, der Urkunde christlicher Hoffnung, gesucht.

Mein Dank gilt den Herausgebern der „Theologischen Bibliothek“, die mich eingeladen haben, dieses Buch zu schreiben, und mir auf diese Weise die Gelegenheit gegeben haben, selbst neu über die heutigen Aufgabenstellungen und Herausforderungen der Escha­tologie nachzudenken. Danken möchte ich ferner Frau Mag. Elizabeth Morgan, Frau Györgyi Empacher-Mili und Herrn Jason Valdez, die mich bei der Literaturrecherche und bei den Korrekturen unterstützt haben.

Wien, im Januar 2013

Ulrich H.J. Körtner

Einleitung: Ende gut, alles gut?

„Am Ende wird alles gut sein. Und wenn es noch nicht gut ist, dann ist es eben noch nicht das Ende“, pflegt Sonny Kapoor in der britischen Filmkomödie „Best Exotic Marigold Hotel“ zu sagen. Er träumt davon, das gleichnamige heruntergekommene Hotel im indischen Jaipur, das sich im Besitz seiner Familie befindet, vor dem Ruin zu retten und in neuem Glanz erstrahlen zu lassen. Sein unerschütterlicher Optimismus hält allen Widrigkeiten stand und steckt schließlich auch seine aus Großbritannien mit falschen Versprechungen angelockten Hotelgäste an, die in Indien ihren Lebensabend verbringen wollen. Doch geht es in dem Film von John Madden, der auf Deborah Moggachs Roman „These Foolish Things“ basiert, nicht nur um die Sanierung eines Hotels, sondern auch um Alter und Endlichkeit, um Verlust und Einsamkeit. Das marode Hotel ist eine Metapher für die Lebenssituation seiner Gäste, die mit ihren unterschiedlichen Biographien, ihren Verletzungen und Brüchen, ihren unausgelebten Träumen und Sehnsüchten ihr bisheriges Leben hinter sich gelassen haben. Sie fragen sich, welche Hoffnungen und Möglichkeiten im fortgeschrittenen Alter noch bestehen, ob es möglich ist, sich mit der Vergangenheit auszusöhnen und mit langgehegten Lebenslügen aufzuräumen. Sie stehen vor der Frage, ob sie wirklich noch einmal neu anfangen können, ob sie am Ende ein erfülltes Leben geführt haben werden und ob es ihnen vergönnt ist, im Frieden mit sich und der Welt zu sterben.

Das angebliche indische Sprichwort vom guten Ende (das auch Oscar Wilde zugeschrieben wird, in seinen Werken aber nicht nachweisbar ist), das Kapoor ständig zitiert, durchzieht den Film als Leitmotiv. Es steht wie eine Verheißung über dem Hotel und den Menschen, die es dorthin verschlagen hat. Ihre Wunschbilder und persönlichen Hoffnungen, die sie haben aufbrechen lassen, stehen im krassen Gegensatz zur Schäbigkeit des maroden Hotels. Und auch die Metropole Jaipur bietet keineswegs das exotische Flair, von dem sie geträumt haben. Sie suchen das Paradies – und finden den Sehnsuchtsort als Trümmerhaufen vor. Doch allmählich schlägt sie dieser Ort in ihren Bann. Es sind die noch unausgeschöpften Möglichkeiten, die in dem halbverfallenen Gebäude schlummern, das Versprechen von Erfüllung und einem guten Ende, die an die spärlichen Spuren vom Glanz vergangener Tage erinnern. Und es ist nicht zuletzt das mitreißende Charisma des jungen Hotelmanagers, der allen Widerständen trotzt – auch seiner Mutter, die das verschuldete Hotel verkaufen will, das am Ende die neuen Bewohner dazu bringt, Kapoor bei der Verwirklichung seiner Vision zu unterstützen. Sie wird damit auch zu ihrer eigenen.

In dieser Geschichte klingen zentrale Motive von dem an, worum es in der sogenannten Lehre von den letzten Dingen geht. Dass am Ende alles gut wird, ist auch die Hoffnung des christlichen Glaubens. Und solange nicht alles gut ist, ist das Ende noch nicht gekommen. Mag das Ende der Geschichte auch von Schrecken begleitet sein, die in der Bibel geschildert werden, so sind diese selbst doch nicht das Ende, sondern bestenfalls sein Anfang (vgl. Mk 13,7). Am Ende aber, so die biblische Hoffnung, wird Gott abwischen alle Tränen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz. Das jedenfalls ist die Verheißung und Vision am Schluss der Johannesoffenbarung (Apk 21,4), dem letzten Buch der Bibel.

Die Bibel erzählt von Menschen, die nicht bloß von einem guten Ende und einer besseren Welt träumen. Sie sind von der Verheißung des kommenden Gottesreiches umgetrieben und werden zu einer Lebenspraxis der Hoffnung motiviert. Dass noch keineswegs alles gut ist, dass letztendlich gar nichts gut ist, weil es – so der Philosoph Theodor W. Adorno – kein richtiges Leben im falschen gibt, entmutigt sie keineswegs und lässt sie auch nicht an der Hoffnung auf ein gutes Ende irre werden. Ihre Hoffnung ist eine Hoffnung wider alle Hoffnung, die hofft, wo nichts zu hoffen ist (vgl. Röm 4,17; 8,24f), weil sie der göttlichen Verheißung mehr Glauben schenkt als den Erfahrungen und Tatsachen, die ihr zu widersprechen scheinen. Sie sieht sich bestärkt durch gegenläufige Erfahrungen von Heilungen beschädigten Lebens, von Liebe und Vergebung, von Versöhnung und Frieden, mögen diese auch fragmentarisch bleiben. Noch im Scheitern sieht sie das Unabgegoltene der Verheißung, das nicht offen zu Tage liegt, sondern sich bestenfalls wie ein rätselhaftes Spiegelbild zeigt (vgl. 1Kor 13).

Aufklärung und neuzeitliche Religionskritik argwöhnen, dass es sich bei dieser religiösen Hoffnung um eine Illusion, um frommes Wunschdenken oder, schlimmer noch, um billige Vertröstung handelt, die das Leid und das Unrecht in der Welt erträglicher machen und politische Machtverhältnisse, Ausbeutung und Unterdrückung verschleiern sollen. Freilich haben auch jene im 19. und 20. Jahrhundert entstandenen politischen Ideologien ihre Faszination eingebüßt, welche die Hoffnung auf bessere Zeiten und ein gutes Ende aller Dinge ins Diesseits verlegt und sie zu einem politischen Programm der Weltverbesserung, mehr noch: der Weltrevolution umgeformt haben. Aus dem vermeintlich notwendigen Ende mit Schrecken – der Revolution, die nun einmal ihre Opfer fordert – war ein Schrecken ohne Ende geworden war: totalitäre Machtapparate und Diktaturen, die das Leben und Denken der Menschen in allen Bereichen zu beherrschen suchten und deren Gewaltherrschaft Millionen von Menschen das Leben gekostet hat.

Ernüchtert vom Geist der Utopie scheint heute zwar das Ende denkbar – sei es als vom Menschen verursachter ökologischer Kollaps oder als atomares Inferno, sei es als Folge von Naturgewalten oder als kosmische Katastrophe; spätestens dann, wenn die Sonne, bevor sie für immer erlischt, sich ausdehnt und die Erde und alles Leben auf ihr im kosmischen Feuer verglüht, ist das Ende da. Aber dass es mit der Erde und den Menschen ein gutes Ende nehmen könnte, scheint dabei ausgeschlossen zu sein. Das Ende mit dem Heil zusammenzudenken, fällt der aufgeklärten Vernunft denkbar schwer, wenn sie dies nicht überhaupt für unmöglich hält. Das gilt auch für den eigenen Tod. Mag das Sterben zum natürlichen Lauf der Dinge gehören, so bedeutet der Tod doch nur das Verlöschen, härter gesprochen den Abbruch des Lebens, nicht aber seine Vollendung. Sich damit zu trösten, dass die Verstorbenen in der Erinnerung der Nachwelt weiterleben, bleibt ein schwacher Trost, zumindest für die meisten von uns, die wir auf keinen Nachruhm hoffen dürfen, sondern mit dem Tod ihrer Hinterbliebenen endgültig aus dem kollektiven Gedächtnis verschwinden oder bestenfalls noch ein Name mit Geburts- und Sterbedatum beim Standesamt sind.

Für die Facebook-Generation mag das so nicht gelten, geht doch im Internet nichts von dem verloren, was jemals gepostet und an Fotos und Videoclips in Netz gestellt wurde. Abgesehen von den erheblichen Datenschutzproblemen und abgesehen davon, dass es schon zu Lebzeiten praktisch unmöglich ist, Einträge wieder zu löschen, kann man sich fragen, ob der Eingang eines Menschen ins Archiv einer Website nicht eine schlechte Form der Unendlichkeit ist, weil die einst erhoffte Vollendung und das gute Ende ausbleiben. Die postmortale Präsenz des Individuums geht unter im massenmedialen Rauschen.

Während sich in der Moderne einerseits die Tendenz beobachten lässt, mit dem möglichen Ende zu rechnen, das kein Heil verspricht, gibt es in der Neuzeit die gegenläufige Entwicklung, die Weltgeschichte als eine unendliche Geschichte zu deuten, wenngleich den Individuen ihr natürliches Ende bevorsteht. Diese unendliche Geschichte kann als Fortschrittsgeschichte erzählt werden, angetrieben von der Hoffnung auf bessere Zeiten und Lebensverhältnisse, ermöglicht durch Aufklärung, Bildung und gesellschaftliche Reformen, durch Wissenschaft und Technik. Die Einzelnen haben an diesem Fortschritt allerdings nur in begrenztem Ausmaß und für ihre begrenzte Lebenszeit teil. Sie können aber für künftige Generationen hoffen, denen es einmal besser gehen soll.

Historische Skepsis versteht die Geschichte als einen ergebnisoffenen Prozess, in dem sich Fortschritte und Rückschritte die Waage halten, nicht nur, weil es auch Perioden des Niedergangs gibt, sondern auch weil sich der Fortschritt selbst immer wieder um seine Früchte bringt. Je mehr der Mensch das Schicksal in die eigene Hand nehmen und die Welt nach seinen Vorstellungen umgestalten und verbessern möchte, desto unkontrollierbarer werden die Folgen seines Tuns und damit die Ausgangsbedingungen für künftiges Handeln. „Also: nicht etwa nur die erfolglose, gerade auch die erfolgreiche Machensplanung plant sich – wenigstens partiell – um den Erfolg. Darum wird – im Zeitalter des schicksalsvernichtenden Machens­eifer der Menschen – das Gutgemeinte nicht das Gute; das absolute Verfügen etabliert das Unverfügbare; die Resultate kompromittieren die Intentionen; und die absolute Weltverbesserung mißrät zur Weltkonfusion.“1

Doch gleich, ob man nun an den beständigen Fortschritt glaubt oder nicht – ist eine unendliche Geschichte, eine Geschichte, die gar kein Ende hat – es mag ein gutes oder ein schlechtes sein –, überhaupt denkbar?

1979 veröffentlichte Michael Ende seinen Roman „Die unendliche Geschichte“, mittlerweile ein Klassiker der deutschen Kinderbuchliteratur. Er erzählt die Geschichte des etwa zehnjährigen Bastian Balthasar Bux, der das Land Phantásien retten soll, und seinem Alter Ego Atréju. Bastian gerät über die Lektüre eines Romans mit dem Titel „Die unendliche Geschichte“ in das vom Nichts bedrohte Reich Phantásien. Was zunächst nur eine bloße Geschichte ist, wird für Bastian immer mehr zur Wirklichkeit, aus der er aber am Ende mit Hilfe der Romanfigur Atréju in seine angestammte Realität zurückfindet. Endes Roman ist eine verwickelte Geschichte vom Buch im Buch und verheißt eine Geschichte in der Geschichte, die niemals endet. Den Buchdeckel zieren zwei Schlangen, die sich wechselseitig in den Schwanz beißen. Aber kann es eine Geschichte ohne Ende überhaupt geben? Setzt eine erzählbare Geschichte nicht immer schon voraus, dass man ihr Ende kennt? (Nebenbei bemerkt, hatte Michael Ende zeitweilig erhebliche Mühen, seinen Roman abzuschließen, weil ihm zunächst kein überzeugendes Ende einfiel.) Vor diesem Problem steht nicht nur jeder Geschichtenerzähler und Romancier, sondern auch die wissenschaftliche Geschichtsschreibung.

Wenn man aber eigentlich schon das Ende der Geschichte kennen muss, bevor man sie erzählen kann, ist dann nicht der Gegenstand jeglicher Geschichtsschreibung die Vergangenheit? Beginnt dann nicht jede Historiographie wie jede Erzählung mit den einleitenden Worten: „Es war einmal …“?

Zur Geschichte der modernen Geschichtstheorie gehört freilich auch die „Entdeckung der Zukunft“2als gemeinsamer gesellschaftlicher Erwartungszeitraum. Nicht nur die Geschichtswissenschaft, sondern auch die Theologie fragt nach dem Unabgegoltenen der Vergangenheit. Die eigene Gegenwart kann nicht länger als das „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) gesehen werden, auf welches die Vergangenheit hinausläuft, sondern diese hat eine eigene Zukunft, die sich mit unseren Erwartungen nicht decken muss. Folglich kann es auch keine abschließenden Urteile über die Vergangenheit geben.

Es fragt sich aber nicht nur, ob und mit welchem Recht historische und ethische Urteile über die Vergangenheit gefällt werden können, sondern auch, worin die Wirklichkeit der Vergangenheit besteht. Nach dem berühmten Diktum Leopold v. Rankes will die Geschichtswissenschaft „blos zeigen, wie es eigentlich gewesen“3. Die historische Wirklichkeit besteht freilich nicht ausbruta facta, die für sich selbst sprechen, sondern die historischen Quellen und Fakten sprechen nur zu dem, der sich an sie wendet und sie befragt. Fakten und Deutungen lassen sich nicht einfach trennen, so dass die Frage nach der geschichtlichen Wirklichkeit oder der Wahrheit historischer Aussagen ein eminent hermeneutisches Problem darstellt. Die vergangene Wirklichkeit erschließt sich nur im Wechselspiel zwischen Rekonstruktion und Interpretation. Johann Gustav Droysen, einer der Hauptvertreter des Historismus im 19. Jahrhundert, war sich dessen durchaus bewusst. Die Geschichtswissenschaft beruht nach seiner Auffassung darauf, dass wir aus noch vorhandenen Quellen „nicht die Vergangenheiten herstellen, sondern unsere Vorstellungen [!] von ihnen begründen, berichtigen, erweitern wollen“4. Ernst Troeltsch und Max Weber erkannten freilich, dass die umfassende Historisierung alles Wissens mit innerer Notwendigkeit zur Relativierung aller Wahrheits- und Geltungsansprüche führt. Ethische Letztbegründungen geraten dadurch ebenso in die Krise wie der Gedanke einer göttlichen Offenbarung und letzten Wahrheit.

Wie nun einerseits über die Bedeutung der Kategorie der Zukunft für unser Verständnis von Geschichte und Gegenwart nachzudenken ist, so muss andererseits die Frage gestellt werden, welche Rolle der Gedanke des Endes bzw. die Kategorie der Endlichkeit für unser Verständnis von Zukunft spielt. Ist die Zukunft prinzipiell als unendliche zu denken, oder ist die Zukunft endlich wie wir selbst? Es stellt sich mit anderen Worten die Frage nach der Endlichkeit oder Unendlichkeit der Zeit. Die heute gängige physikalische Kosmologie nimmt an, dass der Kosmos und damit die Zeit einen Anfang hatten, den sogenannten Urknall oder Big Bang. Muss aber, was einen Anfang hat, darum auch notwendigerweise ein Ende haben? Und wäre dann Unendlichkeit mit Ewigkeit gleichzusetzen, oder unterscheiden sich beide Begriffe voneinander?

Wir gelangen mit solchen Fragen in den Bereich der Theologie. Und tatsächlich lässt sich beobachten, dass auch eine vermeintlich rein profane Geschichtsschreibung nicht ohne gewisse Hintergrundannahmen auskommt, die metaphysischer oder sogar theologischer Natur sind, wobei es sich nicht unbedingt um christliche Theologie handeln muss. Zu ihnen gehört, wie der Historiker Lucian Hölscher in seinen grundlegenden Arbeiten zur modernen Geschichtstheorie gezeigt hat, die Annahme, auf welche auch die Geschichtswissenschaft kaum verzichten kann, dass die Welt eine Einheit sei. Nur das Konzept einer einheitlichen Wirklichkeit begründet nämlich die Gewissheit, dass es sich bei der historischen Erinnerung an vergangene Personen und Ereignisse ebenso wie bei der Erwartung von zukünftigen Geschehnissen „um Realitäten handelt, die auch unabhängig von unserer unmittelbaren subjektiven Wahrnehmung existieren“5. Zwar hat sich die Geschichtswissenschaft schon im 18. Jahrhundert von der starken Annahme der Existenz Gottes und seines Handelns gelöst, jedoch an den ursprünglich Gott zugeschriebenen Attributen der unendlichen Zeit und des unendlichen Raumes festgehalten.

In der modernen Kulturgeschichte tritt an die Stelle des klassischen Einheitskonzepts die Vorstellung eines Netzwerks, „dessen Fäden die Vielzahl der historischen Erfahrungswelten und dessen Knoten die Übergänge aus der einen in die andere bezeichnen“6. Leitkategorie ist dabei der Begriff der Erfahrung. Ein radikal konstruktivistisches Geschichtsmodell, wie es einem kulturwissenschaftlichen Verständnis von Geschichtswissenschaft zugrunde liegt, unterzieht Hölscher einer grundlegenden Kritik. Es schaffe keine Klarheit, „wie vergangene Ereignisse im Vergangenheitsbezug des Historikers ihren existentiellen Sinnbezug tatsächlich erhalten“7, und bleibe daher entweder Stückwerk oder verfange sich in seinen eigenen Widersprüchen. Demgegenüber plädiert Hölscher für eine Theorie der Geschichte, „die ihre theologischen Implikationen nicht leugnet oder ausklammert, sondern produktiv weiter verhandelt“8.

Wer über die theologischen Implikationen moderner Geschichtsauffassungen nachdenkt, stößt unweigerlich auf die christliche Lehre von den letzten Dingen, die in der Fachsprache der Theologen auch als Eschatologie bezeichnet wird. Von ihr handelt dieses Buch. Daserste Kapitelgibt eine Übersicht über Gegenstand und Geschichte der Eschatologie und versucht, den Wahrheitsanspruch eschatologischer Aussagen über die Zukunft der Welt und das Ende der Geschichte zu klären. Die Sprache der Hoffnung ist eine andere als die Sprache historischer oder naturwissenschaftlicher Tatsachen.

Daszweite Kapiteluntersucht das Verhältnis von Eschatologie und Apokalyptik. Schon im Neuen Testament stößt man auf apokalyptische Bilder und Denkformen, die sich auch in der weiteren Geschichte des Christentums finden. Apokalyptische Vorstellungen prägen die Weltsicht von Endzeitsekten und fundamentalistischen Bewegungen. Umstritten ist aber, ob der christliche Glaube und seine Zukunftshoffnung in einer Sprache ausgedrückt werden können, die auf apokalyptische Bilder und Denkmuster ganz verzichtet. Ist eine unapokalyptische Lehre von den letzen Dingen denkbar, oder bleibt eine christliche Eschatologie auf die Sprache der Apokalyptik angewiesen, zumal dann, wenn sie gegenüber modernen Spielarten von Apokalyptik sprachfähig bleiben will?

Dasdritte Kapitelbefasst sich mit dem Zeitverständnis, das einer christlichen Auffassung von Geschichte und Eschatologie zugrunde liegt. Die biblische Überlieferung deutet die Zeit als befristete Zeit. Nicht nur die Lebenszeit des Menschen, sondern auch die Weltzeit wird als befristet gesehen. Zentral für ein theologisches Zeitverständnis ist der Begriff der Zukunft, wobei jedoch zwischen zwei verschiedenen Zukunftsbegriffen zu unterscheiden ist. Ein Begriff von Zukunft im Sinne dessen, was noch aussteht, aber als Möglichkeit schon in der Gegenwart beschlossen liegt, ist von jener Zukunft zu unterscheiden, unter der das Zu-Kommen Gottes, das Kommen Gottes in die Welt – sein Advent – zu verstehen ist. Diese Zukunft und ihre Möglichkeiten lassen sich nicht aus innerweltlichen Gegebenheiten ableiten, sondern sie spielen der Welt von außen neue Möglichkeiten zu. Das Kommen Gottes aber ist nach christlichem Glauben in einer noch näher zu erklärenden Weise mit Person, Leben und Sterben Jesu von Nazareth verbunden. Sein Auftreten, seinen Tod und seine biblisch bezeugte Auferstehung deutet der christliche Glaube nicht nur als Mitte der Zeit, woran sich bis heute unsere Zeitrechnung orientiert, die die Geschichte in die Zeit vor und nach Christus einteilt. In ihm sind vielmehr auch Anfang und Ende der Zeit beschlossen.

Die Lehre von den letzten Dingen ist recht verstanden die Lehre von der christlichen Hoffnung. Sie handelt von dem, über das hinaus nichts mehr zu erwarten und zu hoffen ist, weil sich in ihm alle Hoffnungen endgültig erfüllen. Worin im einzelnen diese Hoffnung besteht, was also genau vom Glauben erhofft wird, wie diese Hoffnung begründet ist und wie sich von ihr unter den Bedingungen der Gegenwart reden lässt, ist Gegenstand desviertenKapitels.

Dasfünfte Kapitelschließlich handelt vom Leben aus Glauben bzw. vom Leben, das von der christlichen Hoffnung getragen ist. Es geht dabei nicht allein um Ethik, jedenfalls nicht in einem verengten Sinne, der sich auf das menschliche Handeln beschränkt, sondern auch um das Gebet und den gemeinschaftlichen Gottesdienst der christlichen Gemeinde. Die letzten Dinge sind nicht in einem zeitlichen Sinne als die letzten Ereignisse zu denken, sei es im Sinne einer naturwissenschaftlichen Kosmologie, sei es im Sinne eines mythischen Zeitverständnisses, sondern es geht um das Letztgültige, das ewigen Bestand hat, weil es teilhat am ewigen Leben Gottes. Gemessen an der letzten und letztgültigen Wirklichkeit Gottes leben wir im Vorletzten, wie es Dietrich Bonhoeffer genannt hat. Im Vorletzten gerät der Glaube immer wieder in Bedrängnis und Zweifel. Im Vordergrund steht aber nicht die Erfahrung der Anfechtung, sondern die Erfahrung, von allen gottlosen Bindungen befreit zu werden zu einem Leben in Liebe, Freude und Dankbarkeit. Die Freiheit bleibt aber gefährdet und wird durch Erfahrungen fortbestehender Unfreiheit konterkariert. Zum Leben im Vorletzten gehören darum das Wachen und Beten ebenso wie die Feier des kommenden Gottes. Darum steht am Ende des Buches der Versuch, den christlichen Gottesdienst als symbolische Vergegenwärtigung christlicher Eschatologie und ihrer Lebenspraxis zu interpretieren.

1 Marquard, Ende des Schicksals?, 81.

2 Hölscher, Die Entdeckung der Zukunft.

3 v. Ranke, Vorrede, 7.

4 Droysen, Historik, 20.

5 Hölscher, Einheit, 24.

6 Hölscher, Einheit, 33.

7 Hölscher, Einheit, 31.

8 Hölscher, Einheit, 32.

I. Eschatologie – die Lehre von den letzten Dingen

1. Begriff und Begrifflichkeit der Eschatologie

Eschatologie ist die Lehre von den letzten Dingen. Unter den letzten Dingen versteht man die letzten Geschehnisse am Ende der Zeiten, die in der biblischen Überlieferung als heilsgeschichtlich-apokalyptisches Drama geschildert werden, nicht nur in der Johannesoffenbarung, sondern auch in der sogenannten synoptischen Apokalypse (der Endzeitrede Jesu bei Markus, Matthäus und Lukas9) oder bei Paulus in 1Kor 15.Tò éschatonheißt im Griechischen unter anderem das Ende. Daher können wir die Bezeichnung Eschatologie auch mit „Lehre vom Ende“ übersetzen, wobei die mythisch ausgemalten Einzelheiten und ihre Abfolge von untergeordneter Bedeutung sind. Gemeint ist das Ende der Welt und mit ihm das Ende der Zeit. Der christliche Glaube rechnet einerseits mit einem solchen definitiven Ende aller Dinge, hofft aber, dass dieses Ende nicht bloß Abbruch, Zerstörung und endgültiges Aus bedeutet. Die Hoffnung des Glaubens richtet sich vielmehr auf die Vollendung aller Dinge, auf die endgültige Erfüllung der biblischen Verheißung des Reiches Gottes, eines neuen Himmels und einer neue Erde. Die Eschatologie ist darum gleichermaßen die Lehre vom Ende wie von der Vollendung der Welt als der Schöpfung Gottes.

Die Bezeichnung Eschatologie leitet sich vom griechischentò éschaton,im Pluraltà éschataher, dem Superlativ vonekbzw.ex. Er bedeutet so viel wie„am weitesten“, „am weitesten entfernt“, „das Äußerste“, „das Letzte“, was im örtlichen wie im zeitlichen Sinn oder auch im Sinne einer Rangfolge gemeint sein kann.10Zum Beispiel beinhaltet der Ausdruck für „der äußerste Winkel“ im Griechischen auch das Wortéschaton. Es kann aber auch den geringsten Platz bedeuten, den jemand in einer Hierarchie oder etwa an einer Festtafel einnimmt.Tò éschatonkann auch das zeitliche Ende bedeuten, auf das nichts weiter folgt.

Die alttestamentliche Tradition kennt die Erwartung eines besonderen Tages, an dem der Gott Israels eingreifen und das Geschick seines Volkes wenden wird. Die Vorstellung vom Tag Jahwes11steht auch hinter der neutestamentlichen Erwartung des Jüngsten Tages,heéschate heméra,12der mit der Wiederkunft Christi in Verbindung gebracht wird. An manchen Stellen wird im Neuen Testament von den letzten Tagen im Plural gesprochen.13Auch kann von der letzten Stunde (éschate hóra) die Rede sein.14

Der wiederkommende Christus sagt von sich in der Johannesapokalypse, er sei der Erste und der Letzte, das Alpha und das Omega, der Anfang und das Ende.15Das Ende und die Vollendung der Welt und der Geschichte sind also in Jesus Christus beschlossen. Auf ihn gründet sich die christliche Hoffnung, dass es mit der Schöpfung Gottes ein gutes Ende nehmen wird.

Von dieser Hoffnung sprechen auch die großen christlichen Glaubensbekenntnisse. Die eschatologischen Aussagen des Apostolikums lauten, dass Christus, sitzend zur Rechten des Vaters, wiederkommen wird, zu richten die Lebenden und die Toten. Im dritten Artikel wird der Glaube an die Vergebung der Sünden, die Auferstehung der Toten (wörtlich: Auferstehung des Fleisches [carnis resurrectio]) und das ewige Leben bekannt. Das Nicäno-Konstantinopolitanische Glaubensbekenntnis ergänzt die Aussage über die Wiederkunft Christi zum Jüngsten Gericht durch den Zusatz, das Reich (basileía/regnum) Christi werde kein Ende haben. Am Schluss des Bekenntnisses bekennen die Gläubigen, dass sie auf die Auferstehung der Toten (resurrectio mortuorum) und das Leben der zukünftigen Welt (vita venturi saeculi) warten (prosdokein/exspectare).

Die Wiederkunft Christi und sein ewiges Reich, das Jüngste Gericht, die Auferstehung der Toten und das ewige Leben sind also Kernelemente des christlichen Glaubens und nicht etwa nur beiläufige Aussagen. Eschatologie hat die Interpretation dieser Grundaussagen zur Aufgabe. Dabei kommt es auch darauf an, die inneren Sachbezüge aufzuzeigen, die zwischen den eschatologischen Aussagen und den übrigen Aussagen der Bekenntnisse bestehen. In beiden altkirchlichen Bekenntnissen, die bis heute Bestandteil der christlichen Liturgie sind und Sonntag für Sonntag im Gottesdienst gesprochen werden – das Apostolikum in den Kirchen des lateinischen Westens, das Nicäno-Konstantinopolitanum in den Kirchen des Ostens, aber auch in den westlichen Kirchen –, bildet die Hoffnung auf die Wiederkunft Christi zum Jüngsten Gericht den Abschluss des zweiten Artikels. Die Eschatologie ist also aufs engste mit der Christologie verbunden. Einerseits bildet die Christologie den systematischen Rahmen der Eschatologie. Andererseits kann man mit gleichem Recht sagen, dass die Eschatologie den Rahmen der Christologie bildet. Einerseits gründen die eschatologischen Hoffnungen des christlichen Glaubens im Christusgeschehen, in der Menschwerdung, in Leiden, Tod und Auferweckung Christi, andererseits wird das Christusgeschehen überhaupt nur im Horizont der Eschatologie verständlich, nämlich im Kontext der Hoffnung auf das Reich Gottes und die Vollendung der Schöpfung.

Der Terminus „Eschatologie“ begegnet uns freilich noch nicht in der Bibel. Es handelt sich vielmehr um eine Wortschöpfung lutherischer Dogmatiker in der Mitte des 17. Jahrhunderts, welche die Themenbestände, die mit dem Ende der Welt und der Hoffnung auf die Vollendung der göttlichen Heilsgeschichte zu einem eigenen dogmatischen Lehrstück ausgebaut haben. Erstmals taucht die Bezeichnung Eschatologie bei Philipp Heinrich Friedlieb (1603-1663) und Abraham Calov (1612-1686) auf. Der lateinische Titel lautet „De Novissimis“. Während die lutherische Dogmatik dieser Epoche – die altprotestantische Orthodoxie genannt – den Akzent auf den Gedanken des Endes legt, betont die reformierte Theologie den Gedanken der Vollendung des göttlichen Heilswerkes in Jesus Christus und im Heiligen Geist. Das Ziel aller Dinge ist die Verherrlichung Gottes. Die theologischen Akzentunterschiede werden auch darin deutlich, dass die lutherische Orthodoxie von der vollständigen Vernichtung der Welt, derannihilatiomundi, spricht, während die reformierte Orthodoxie die Vorstellung von der Erneuerung der Welt, derrenovatio mundi, vertritt. Offenbar unter dem Einfluss Friedrich Schleiermachers (1768-1834) hat sich die Bezeichnung „Eschatologie“ seit Beginn des 19. Jahrhunderts durchgesetzt.

Innerhalb der Eschatologie hat sich eine Reihe begrifflicher Unterscheidungen eingebürgert. Zum einen unterscheidet man zwischen futurischer und präsentischer Eschatologie. Während diefuturische Eschatologiedie zukünftige Vollendung der Welt und der Geschichte zum Gegenstand hat, richtet diepräsentische Eschatologiedas Augenmerk auf das schon jetzt eingetretene und erfahrbare Heil. Im Neuen Testament sind beide Formen der Eschatologie anzutreffen. Futurische Eschatologie liegt vor, wo von der Wiederkunft Christi in der Zukunft und von Geschehnissen am Ende der Zeiten gesprochen wird. Auf eine präsentische Eschatologie stoßen wir dagegen z.B. in jenen Passagen des Johannesevangeliums, die davon reden, dass sich die Geschehnisse von Gericht und Totenauferstehung für die Glaubenden schon in der Gegenwart vollziehen. Im Johannesevangelium finden wir sowohl präsentische als auch futurische Aussagen. Einerseits heißt es in Joh 5,24: „Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht in das Gericht, sondern er ist vom Tode zum Leben hindurchgedrungen.“ Andererseits lesen wir einige Verse weiter (Joh 5,28): „Es kommt die Stunde, in der alle, die in den Gräbern sind, seine Stimme hören werden, und werden hervorgehen, die Gutes getan haben, zur Auferstehung des Lebens, die aber Böses getan haben, zur Auferstehung des Gerichts.“ Präsentische und futurische Eschatologie stehen auch bei Paulus nebeneinander, allerdings nicht unverbunden, sondern in einer spannungsvollen Einheit, die durch die Formel „schon jetzt – noch nicht“ ausgedrückt werden kann. Einerseits ist das eschatologische Heil schon jetzt Gegenwart. So kann Paulus in 2Kor 6,2 schreiben: „Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade, siehe, jetzt ist der Tag des Heils!“ Andererseits steht das volle Heil noch aus. Naherwartung der baldigen Wiederkunft Christi und der Vollendung der Gottesherrschaft, die aber doch noch aussteht, spricht aus den Worten in Röm 13,11, wonach das Heil inzwischen näher sei als zu der Zeit, als Paulus und seine Adressaten zum Glauben gefunden haben. Das jetzt schon erfahrene Heil ist ein Angeld auf die künftige Vollendung, und das volle Heil steht noch aus. Zwar sind die an Christus Glaubenden schon gerettet, jedoch auf Hoffnung hin (Röm 8,24). Einerseits sind die Christusgläubigen schon jetzt mit Christus gekreuzigt und der Sünde gestorben, andererseits steht ihre Auferstehung nach paulinischer Lehre noch aus. Zwar gilt für die Getauften, dass sie auch jetzt schon mit Christus in einem neuen Leben wandeln (Röm 6,3f). Doch die Hoffnung, Christus auch in der Auferstehung gleich zu sein, bleibt eine Erwartung für die Zukunft (Röm 6,5).

Eine weitere begriffliche Unterscheidung ist diejenige zwischen individueller und universaler Eschatologie. Während Thema derindividuellen Eschatologieder Tod des Einzelnen, das individuelle Gericht, die individuelle Auferstehung und das ewige Leben oder die ewige Verlorenheit des Einzelnen sind, handelt dieuniversale Eschatologievon der Wiederkunft Christi, dem Jüngsten Gericht, der allgemeinen Totenauf­erstehung, dem Ende oder der Vollendung der Welt, dem Reich Gottes bzw. dem ewigen Leben, Himmel und Hölle als Orten der ewigen Seligkeit oder der ewigen Verdammnis.

Eine grundsätzliche Schwierigkeit der Eschatologie besteht darin, die individuelle Hoffnung und die universale Hoffnung zusammenzuhalten und zusammenzudenken. Jeder Versuch gerät in eine unauflösbare Spannung. Sie besteht darin, nämlich „daß nur entweder die Kontinuität der Welt oder die Kontinuität des Selbst hin zur Vollendung klar gedacht werden kann. Denkt man die Kontinuität der Welt hin zur Vollendung, dann verschwimmt die Kontinuität des Ich, denkt man die Kontinuität des Selbst, verschwimmt die Kontinuität der Welt.“16 Geschichtliche Utopien von einem heilvollen Endzustand der Welt bieten eigentlich keine Hoffnung für die jetzt Lebenden oder bereits Gestorbenen, die die erhoffte Vollendung von Welt und Geschichte nicht mehr erleben. Die individualisierte Hoffnung auf Auferstehung der Toten oder ein Weiterleben nach dem Tod löst sich dagegen von dem Schicksal der gesamten Welt und des Kosmos.

2. Zur Geschichte christlicher Eschatologie

Der Ausbau der Eschatologie zu einem eigenen dogmatischen Lehrstück hängt im 17. Jahrhundert mit dem Wechsel von der sogenannten synthetischen zur analytischen Methode in der protestantischen Dogmatik zusammen. Während die synthetische Methode sich darauf beschränkte, die zentralen Themen reformatorischer Theologie –locigenannt – in eine gewisse Ordnung zu bringen, die aber keine logisch-deduktive Abfolge bedeutete, beruht die analytische Methode der Hoch- und Spätorthodoxie auf einem heilsgeschichtlichen Schema. Sie denkt vom Ziel der Theologie (finis theologiae) her, nämlich dem ewigen Leben, zu dem sie hinführen möchte. Der analytischen Methode liegt also ein eher didaktischer Gesichtspunkt zugrunde.

Gegenüber der Theologie der Reformatoren verschieben sich damit die Gewichtungen. Zwar könnte man sagen, dass die Eschatologie dadurch, dass sie zu einem eigenen Lehrstück ausgebaut wurde und die Klimax der Heilsgeschichte bildet, eine Aufwertung erfahren hat. Im Vergleich zu Luther oder auch Calvin rückt die Eschatologie damit jedoch aus dem Zentrum ans Ende der Theologie. Für Luther ist die Eschatologie insofern zentral, als seine Rechtfertigungslehre ohne den Horizont des göttlichen Gerichts gar nicht zu verstehen ist. Die aktuelle Zusage der Rechtfertigung in Gestalt der Evangeliumsverkündigung, die sich an den Einzelnen und an die Gemeinde richtet, rückt die Gegenwart der Glaubenden in eine eschatologische Perspektive ein. Zwar steht die Vollendung des Heilsgeschehens noch aus, weshalb der gerechtfertigte Sünder in seinem gegenwärtigen Leben als Gerechter und Sünder zugleich (simul iustus et peccator) anzusehen ist. Empirisch betrachtet (in re) ist er nach wie vor ein sündiger Mensch. Unter dem Blickwinkel der Glaubenshoffnung (in spe) ist er jedoch schon jetzt um Christi willen als Gerechter zu betrachten. Tod und Auferstehung zum ewigen Leben finden schon jetzt im Leben der Glaubenden statt, deren Existenzvollzug durch ihre Taufe bestimmt ist. Die Taufe, die im Glauben beständig angeeignet sein will, bedeutet, wie Luther im Kleinen Katechismus erklärt, dass der alte Adam in den Glaubenden durch tägliche Reue und Buße ersäuft werden und sterben soll, während zugleich täglich neu ein neuer Mensch herauskommen und auferstehen soll, der ewig vor Gott in Reinheit und Gerechtigkeit lebt. Die Eschatologie wird also nicht vom aktuellen Glauben abgetrennt, sondern im Gegenteil, der rechtfertigende Glaube ist bei Luther „realisierte und aktualisierte Eschatologie“17.

Das gilt grundsätzlich auch für Melanchthon, wenngleich es bei ihm im Vergleich mit Luther zu Veränderungen in der Behandlung der Eschatologie kommt. In der ersten Fassung seiner Dogmatik, den „Loci communes“ von 1521, wird das Thema der Eschatologie im Zusammenhang des Lehrstücks über die Rechtfertigung und den Glauben angesprochen. Im Anschluss an Hebr 11,1 charakterisiert Melanchthon den Glauben als Zuversicht auf Dinge, die zu erhoffen sind. Er besteht darin, sowohl den biblischen Gerichtsdrohungen, mehr noch aber den Verheißungen, zu glauben, d.h. auf Gottes Barmherzigkeit und Güte zu vertrauen. Der Verheißungsglaube ist aber bei Melanchthon zugleich Schöpfungsglaube und Glaube an die göttliche Vorsehung sowie an die Unsterblichkeit. In der Neubearbeitung seiner Dogmatik, den „Loci praecipui theologici“ von 1559, hat Melanchthon zwei eigene Lehrstücke über die Herrschaft Christi und die Auferstehung der Toten ausformuliert, die auf das Lehrstück von der göttlichen Erwählung oder Vorherbestimmung (De praedestinatione) folgen. Der Akzent liegt nun mehr auf der endzeitlichen Eschatologie als auf ihrer gegenwärtigen Realisierung. Ein Motiv, das hinter dieser Akzentverschiebung steht, ist die Kritik an der Umdeutung der Eschatologie zu einer politischen Hoffnung, wie sie auf Seiten der Täufer und des linken Flügels der Reformation stattgefunden hat.

1559 erschien auch die letzte Ausgabe von Calvins „Institutio christianae religionis“. Wie die Theologie Luthers ist auch diejenige Calvins durchgängig eschatologisch ausgerichtet. Auch Calvin beschreibt das Leben des Christenmenschen als beständiges Sterben und Auferstehen (mortificatioundvivificatio). Das in vier Bücher gegliederte Werk behandelt die Themen der Eschatologie in Buch III, also noch nicht am Schluss, wie es die Dogmatiken der altprotestantischen Theologie tun. Das einschlägige Kapitel über die Meditation des zukünftigen Lebens (Inst. III,9) befindet sich ziemlich genau in der Mitte des Werkes. Das hängt damit zusammen, dass der Aufbau der „Institutio“ in ihrer Letztgestalt zwar dem Apostolischen Glaubensbekenntnis folgt, doch Calvin gliedert das Apostolicum nicht in drei, sondern in vier Artikel, weil er das Wirken des Heiligen Geistes in innerliches und äußerliches Wirken einteilt. Zu den äußeren Mitteln, derer sich der Heilige Geist bedient, gehören die Kirche, die Sakramente und die weltliche Obrigkeit. So endet die „Instiutio“ mit einem Kapitel über die Verschiedenheit und Vereinbarkeit von geistlichem und bürgerlichem Regiment (Inst. IV,20). Aus der Perspektive des Glaubens ist das irdische Leben im Hier und Jetzt ein Elend, während sich die Hoffnung des Glaubens ganz auf das künftige, ewige Leben richtet. Die ewige Heimat des Menschen ist im Himmel, die Erde ist dagegen ein Ort der Verbannung und ein Grab. In platonisierender Sprache bezeichnet Calvin den irdischen Leib als Kerker der Seele. Eine ausgebaute Lehre von der Seele und ihrer Unsterblichkeit gewinnt bei Calvin besonderes Gewicht. Hier zeigt sich wie schon bei Melanchthon humanistischer Einfluss. Buch III der „Institutio“ endet mit einem Kapitel über die künftige Auferstehung (Inst. III,25). Darin erklärt Calvin, dass die Auferstehung im Glauben zwar bereits vollkommen erfüllt sei, dass sich die Hoffnung des Glaubens aber auf die himmlische Vollendung der Erlösung richte. In der vorchristlichen Vorstellung von der unsterblichen Seele sucht Calvin einen Anknüpfungspunkt für die christliche Auferstehungshoffnung, betont aber, dass die künftige Existenz wie die irdische eine leibliche sein wird. Der neue Leib wird aber nach Calvins Überzeugung kein von dem jetzigen gänzlich verschiedener sein, sondern es wird dieser irdische Leib von Gott verklärt werden. Die Identität zwischen irdischer und postmortaler Existenz wird also nicht nur durch die unsterbliche Seele, sondern auch durch den eigenen Leib gewährleistet. Seine Substanz bleibt identisch, während sich seine Beschaffenheit verändert. Im Sinne eines doppelten Gerichtsausgangs rechnet Calvin damit, dass die einen zum ewigen Leben auferstehen werden, die anderen aber zu einem „Leben“ im ewigen Tod.

Während Luther von starker Naherwartung erfüllt war und seine Theologie apokalyptische Züge trägt, steht Calvin der Apokalyptik ganz ablehnend gegenüber. Eschatologie wird bei ihm zu einer individualisierten Sehnsucht nach Erlösung. Allerdings hofft Calvin auch auf die Erneuerung der Welt. Zwar werden die Auferstanden im ewigen Leben, den Engeln gleich, keine Nahrung mehr nötig haben. Sie brauchen also eigentlich die Schöpfung nicht mehr, um die natürlichen Bedürfnisse zu befriedigen, die für das irdische Leben charakteristisch sind. Doch hat die erneuerte Schöpfung eine ästhetische Bedeutung. Wie schon die jetzige Welt als Schöpfung das Schauspiel der göttlichen Herrlichkeit aufführt (theatrum gloriae Dei), so wird auch die künftige Glückseligkeit darin bestehen, die Schönheit der erneuerten Schöpfung betrachten und genießen zu können, ohne dass man von ihr noch zur Erhaltung des Lebens Gebrauch machen müsste (Inst. III,25,11).

Bei allen Unterschieden, die in der Ausgestaltung der Eschatologie zwischen den Reformatoren bestehen, gibt es doch eine grundlegende Gemeinsamkeit. Die Lehre von der Rechtfertigung allein durch den Glauben führt zu einer radikalen Abkehr von jeglichem Verdienstgedanken. Abgelehnt werden die Unterscheidung zwischen zeitlichen und ewigen Strafen und die Vorstellung vom Fegfeuer, die Lehre vom himmlischen Schatz der guten Werke der Heiligen sowie das auf diesen Vorstellungen gründende Ablasswesen und die Seelenmessen. Die reformatorische Rechtfertigungslehre hat also zu einer radikalen Umformung der gesamten Eschatologie geführt, die bis heute einen Unterschied zwischen den Konfessionen begründet.

Wenn die altprotestantische Dogmatik ein eigenständiges Lehrstück von den letzten Dingen entwickelt, so dient dieses eben auch der kontroverstheologischen Auseinandersetzung mit der katholischen Theologie. Bereits im Mittelalter ist im katholischen Lehrbetrieb ein eigener Traktat über die Eschatologie entstanden, der die eschatologischen Einzelthemen und -motive, die in der Zeit der Alten Kirche meist unsystematisch behandelt worden sind, zusammenfassen sollte.18Der neue Traktat schließt nun die Lehre von den Sakramenten ab, so z.B. bei Petrus Lombardus (1095/1100-1160) oder Hugo v. St. Victor (gest. 1141). Die Eschatologie kann in der mittelalterlichen Theologie aber auch in Verbindung mit der Lehre von der Vollendung der Schöpfung oder als Abschluss der Christologie erörtert werden. Im Rahmen einer von der aristotelischen Philosophie geprägten Ontologie kann der Eindruck entstehen, als spreche die Eschatologie von Ereignissen und Orten, die man sich dinghaft nach raumzeitlichen Kategorien vorzustellen habe. In der Spät- und Neuscholastik entwickelt sich die Eschatologie regelrecht zu einer „Physik der letzten Dinge“19.

Während die Eschatologie der altprotestantischen Dogmatik das Ende und die Vollendung der Welt zum Gegenstand hat, richtet sich das Interesse in der Zeit des Pietismus und der Aufklärung immer mehr auf die Vollendung der Kirche oder die Hoffnung auf einen innerweltlichen Fortschritt von Kultur und Sittlichkeit.

Gegenstand der Eschatologie sind z.B. bei Schleiermacher „die Kirche in ihrer Vollendung“ und der „Zustand der Seelen im künftigen Leben“20. Allerdings erhebt er Einwände gegen den Ausdruck „Dinge“, da es sich bei den Gegenständen der Eschatologie nicht um raumzeitliche Gegebenheiten handele, sondern um eine Hoffnung, die in mythischen oder visionären Vorstellungen dargestellt wird. Schleier­macher betont die Bildhaftigkeit eschatologischer Aussagen, die sich nicht in ein systematisches Gesamtkonstrukt pressen lassen, aber in der Vorstellung von der Wiederkunft Christi ihr organisierendes Zentrum haben. Daher bezeichnet er die einzelnen Lehrstücke der Eschatologie auch als „prophetische Lehrstücke“, die im Unterschied zu anderen Teilen der Glaubenslehre nicht von gegenwärtigen, sondern von möglichen künftigen Erfahrungen sprechen. Letztere entziehen sich aktueller Überprüfung und sind daher von untergeordnetem Wert. Schleiermacher stellt die sinnliche Vorstellungswelt der Eschatologie grundsätzlich infrage, indem er „das Gebundensein des menschlichen Geistes an die Erdscholle“21