GALAXIS SCIENCE FICTION, Band 30: INSEL DER TYRANNEN - Manly W. Wellman - E-Book

GALAXIS SCIENCE FICTION, Band 30: INSEL DER TYRANNEN E-Book

Manly W. Wellman

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Beschreibung

Der große Krieg war zu Ende gegangen. Auf die Vernichtung und das Chaos folgte die Herrschaft der Himmelsmenschen. Sie hatten sich zum Ziel gesetzt, auf den Ruinen neu aufzubauen und zukünftige Kriege mit allen Mitteln zu verhindern. Die überlebenden Menschen wurden in Städte deportiert, zwischen denen keine Verbindung bestand. Flugmaschinen besaß nur die herrschende Kaste der Himmelsmenschen, die von einer gigantischen Raumstation im Orbit um die Erde ihre Macht ausübte. Aber in den Städten wuchs die Unzufriedenheit, und die Raumstation der Himmelsmenschen wurde zum Symbol für die verhasste Tyrannei...

Insel der Tyrannen von Manly W. Wellman (geboren am 21. Mai 1903 in Kamundongo, Portugiesisch-Westafrika; gestorben am 5. April 1986 in Chapel Hill, North Carolina) erscheint in der Reihe GALAXIS SCIENCE FICTION aus dem Apex-Verlag, in der SF-Pulp-Klassiker als durchgesehene Neuausgaben wiederveröffentlicht werden.

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MANLY W. WELLMAN

 

 

INSEL DER TYRANNEN

- Galaxis Science Fiction, Band 30 -

 

 

 

Roman

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

INSEL DER TYRANNEN 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

Siebzehntes Kapitel 

Achtzehntes Kapitel 

Neunzehntes Kapitel 

Zwanzigstes Kapitel 

Einundzwanzigstes Kapitel 

Zweiundzwanzigstes Kapitel 

Dreiundzwanzigstes Kapitel 

Vierundzwanzigstes Kapitel 

 

Das Buch

 

Der große Krieg war zu Ende gegangen. Auf die Vernichtung und das Chaos folgte die Herrschaft der Himmelsmenschen. Sie hatten sich zum Ziel gesetzt, auf den Ruinen neu aufzubauen und zukünftige Kriege mit allen Mitteln zu verhindern. Die überlebenden Menschen wurden in Städte deportiert, zwischen denen keine Verbindung bestand. Flugmaschinen besaß nur die herrschende Kaste der Himmelsmenschen, die von einer gigantischen Raumstation im Orbit um die Erde ihre Macht ausübte. Aber in den Städten wuchs die Unzufriedenheit, und die Raumstation der Himmelsmenschen wurde zum Symbol für die verhasste Tyrannei...

 

Insel der Tyrannen von Manly W. Wellman (geboren am 21. Mai 1903 in Kamundongo, Portugiesisch-Westafrika; gestorben am 5. April 1986 in Chapel Hill, North Carolina) erscheint in der Reihe GALAXIS SCIENCE FICTION aus dem Apex-Verlag, in der SF-Pulp-Klassiker als durchgesehene Neuausgaben wiederveröffentlicht werden. 

  INSEL DER TYRANNEN

 

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Es war Abend. Die zweite Schicht unten in der Grube wusste, dass oben jetzt Abend war.

Sie wussten es, weil die ausdruckslose, laute Stimme des Lautsprechersystems durch die Korridore hallte: »Werkzeuge ablegen... Aufstellen und fertigmachen.« 

Wie alte Soldaten bildeten sie eine Reihe und standen in soldatischer Haltung da, die grauhemdigen Sträflinge der zweiten Schicht. Es waren lauter Lebenslängliche, Männer mit bleichen, unrasierten Gesichtern, Männer mit muskulösen Körpern, die die Arbeit an den schweren Maschinen im tiefsten Kellergeschoss der großen Atomit-Anlage von New York hart gemacht hatte. Hinter ihnen summten und dröhnten die Generatoren. Vor ihnen tauchten die Männer der dritten Schicht auf, ebenso grau gekleidet, ebenso bleich und hart, ebenso muskulös. Und vor ihnen die Wärter und hinter ihnen und zu beiden Seiten. Die Luft lastete schwer wie eine Flüssigkeit auf ihnen. Das musste sie schließlich auch, hier, fast 25 Kilometer unter der Erdoberfläche in der untersten Etage des Stadtgefängnisses von New York.

Auch die Wärter hatten harte Gesichter und muskulöse Körper, aber sie trugen enganliegende, glänzende Uniformen, und in ihren geübten Händen lagen schussbereite Maschinenpistolen. Weitere Wärter standen oben auf den Gängen bereit. Einer mit zwei Streifen am Arm brummte einen Befehl. Die zweite Schicht marschierte in einen finsteren Korridor, den plötzlich der weiche, bleiche Schimmer der Sträflingsgesichter erhellte. Zwei Jahre in den unteren Bereichen der Atomit-Anlage reichten aus, um das Fleisch eines jeden Mannes mit den Elementen anzureichern, die diesen geisterhaften Schein erzeugten. Und diesen Schein verlor man nie wieder. Grubenschein nannten das die Ärzte und beharrten darauf, dass er harmlos sei. Die Sträflinge waren da anderer Ansicht, aber sie hatten gelernt, nie etwas in Frage zu stellen.

Die zweite Schicht bekam den Befehl zu marschieren. Und sie marschierte. Um eine Biegung im Korridor, um noch eine.

Dann erreichten die Männer den niedrigen Essraum mit den stählernen Barrieren. Die Tische und Bänke waren aus Metall, und Teller und Tassen mit Brühe und Kaffee standen bereit. Das Essen schmeckte nach den Vitaminkonzentraten und den Drogen, die man brauchte, um Männer, die 25 Kilometer unter der Erde ohne Sonnenlicht arbeiteten, gesund und am Leben zu erhalten. Und jenseits der Messe warteten die endlosen Reihen von Zellen, jede zwei mal drei Meter groß, jede mit ihrer Gittertür, einer Segeltuchpritsche und jede nach Desinfektionsmittel stinkend. Wieder ein Befehl, und die Männer der zweiten Schicht stapften auf ihre Bänke zu. Aber ehe sie Befehl erhielten, sich zu setzen, schob sich ein vierschrötiger Wärter mit Sergeantenstreifen am Arm an eine Luke.

»Sträfling Peyton!«, sagte er. »Nummer 688-549J. Peyton!« Ein Wärter ging an der Reihe Sträflinge entlang und holte einen Mann heraus. »Los, Peyton, melden Sie sich beim Sergeant! Die anderen – setzen!«

Sie setzten sich auf die Bänke und ließen den Wärter und Peyton stehen. Eine ruckartige Kopfbewegung des Wärters, und der Sträfling ging auf eine Tür zu.

Pierce Peyton, Nummer 688-549J, war mittelgroß und kräftig gebaut. Ein dunkler Stoppelbart bedeckte sein kantiges Kinn, die Oberlippe und die asketischen Wangen. Seine stahlblauen Augen in dem im Gefängnis bleich gewordenen Gesicht blickten bitter. Es waren die Augen eines Kämpfers.

»Was ist denn?«, knurrte er, und seine Stimme klang tief und rau.

»Fragen Sie mich nicht!«, erwiderte der Sergeant. »Der Direktor hat Sie rufen lassen. Gehen wir!«

Peyton schritt vor dem Sergeant einen Korridor entlang zu einer stumpfgrauen Stahlplatte mit der Aufschrift Dekompressionskammer. Der Sergeant drückte einen Knopf; die Platte glitt in die Wand, und die beiden betraten eine enge Kammer mit Stahlwänden. Der Sergeant drehte an einem Ventil. Ein leises Pfeifen war zu hören.

»Wir brauchen jetzt dreißig Minuten für den Druckausgleich«, erklärte er. »Wollen Sie inzwischen dort in der Ecke duschen?«

Peytons Augen leuchteten auf, als er zu der Duschkabine hinüberblickte. Gleichgültig was auch geschehen würde – den Luxus der Sauberkeit wollte er sich nicht entgehen lassen. Er stieß seine schweren Schuhe weg, zog die groben Socken von den Füßen und entledigte sich des grauen Hemdes, der formlosen Hose und der Unterwäsche. Dann schaltete er die Dusche ein und seifte sich von Kopf bis Fuß unter dem heißen Wasserstrahl ein. Anschließend trocknete er sich mit einem rauen Handtuch ab. Nacht wirkte seine Haut blutleer, aber seine Muskeln spielten bei der leisesten Bewegung und verrieten seine Bärenkräfte.

Als er nach seiner Kleidung griff, hielt der Sergeant ihn zurück. »Bloß Unterwäsche und Socken«, sagte er.

Sie verließen die Kammer durch eine zweite Schiebetür und betraten einen Lift. Er trug sie lautlos in die Höhe und hielt an. Wieder verbrachten sie einige Zeit in einer Druckkammer und fuhren dann mit dem Lift weiter. Und das wiederholte sich noch ein drittes und ein viertes Mal. Das bedeutete, dass seit Peytons Schichtende zwei Stunden verstrichen waren. Er hatte Hunger, sagte aber nichts.

Wieder eine Liftfahrt. In der Dekompressionskammer fanden sie diesmal einen Stuhl vor, und daneben wartete ein Kalfaktor im weißen Mantel. »Rasieren Sie Peyton!«, befahl der Sergeant.

Peyton setzte sich. Der Kalfaktor fuhr mit einem elektrischen Rasierapparat über Peytons kantiges Kinn und stutzte das zottelige schwarze Haar mit den vereinzelten grauen Strähnen. Peyton saß stumm und ausdruckslos da. Sein Gesicht wirkte jetzt hart und angespannt. Auch das Grübchen am Kinn ließ ihn nicht freundlicher erscheinen. Stumm hielt der Kalfaktor ihm einen Spiegel hin. Peyton sah hinein, grinste und zeigte seine geraden, gleichmäßigen Zähne. Er war in der Atomit-Anlage nicht jünger geworden, seit – ja, wie lange war es her? Zwanzig Jahre? Sie kamen ihm wie eine Million Jahre vor.        

Dann wieder weiter hinauf, durch weitere Druckkammern, die sechste, die siebente und die achte. Peyton störte das nicht. Wenn man Jahre in der drückenden Atmosphäre der Grube gelebt hatte, brauchte man Zeit, um sich auf den niedrigeren Luftdrucken auf Meereshöhe einzustellen. Und gleichgültig, was auch dort auf ihn wartete... nun, er hatte Zeit.

In der neunten Kammer wartete wieder ein Kalfaktor, der ihnen Kaffee und Sandwiches anbot. Neben dem Kalfaktor lagen ein paar weiße Hemden und einige billige Anzüge. »Verpassen Sie ihm was!«, befahl der Sergeant kauend.

Peyton hatte keine Mühe, ein passendes Hemd, eine Hose und ein Jackett zu finden. Nur die hellbraunen Schuhe, in die er schlüpfte, wirkten klobig an seinen Füßen. Dann reichte ihm der Mann eine Krawatte, dunkelrot mit blauem Muster. Peyton erkannte sie.

»Die habe ich getragen, als man mich hier einlieferte«, sagte er. »Was ist denn aus meinen anderen Sachen geworden?«

»Die Mode hat sich geändert«, erinnerte ihn der Sergeant. »Sie waren zwanzig Jahre aus dem Verkehr gezogen, Peyton. Wir schreiben jetzt das Jahr 1998.«

Peyton blickte in einen Spiegel an der Wand, band sich die Krawatte und musterte das kantige weiße Gesicht mit dem kurzgeschorenen, melierten Haarschopf.

»Stehen Sie nicht da und bewundern sich – so schön sind Sie nicht!«, herrschte der Sergeant ihn an. »Der Alte möchte Sie am frühen Morgen sehen. Die meiste Zeit haben wir in den Druckkammern verbracht.«

Und dann ging die Liftreise weiter, von einer Dekompressionskammer in die andere. Schließlich erreichten sie einen weiteren Korridor mit Metallwänden, grau wie die anderen, aber schwach erleuchtet, mit Licht aus irgendeiner indirekten Lichtquelle. Am Ende war ein Gitter und dahinter ein Posten. Auf Anweisung des Sergeanten drückte der Posten einen Knopf, und eine Schiebetür öffnete sich.

»Okay, gehen Sie rein!«, befahl der Sergeant Peyton. Und Peyton betrat das Büro des Direktors.

Peyton war schon einige Male hier gewesen, aber das lag Jahre zurück, vor der Zeit, als man ihn in die Grube eingeliefert hatte. Es war dasselbe Büro mit seinem Schreibtisch, den Aktenschränken und den Instrumentenreihen an den Wänden. Nur der Direktor war neu. Ein blonder Mann mit wichtiger Miene, so saß er hinter seinem Schreibtisch, strahlend in dem grauen Tuch seiner Gefängnisuniform. Er war allein – immer allein, wie die Sträflinge behaupteten.

Der Direktor blickte auf und sah Peyton an, der stumm und stramm vor dem Schreibtisch stand. Ein manikürter Finger legte einen Schalter an einem kleinen Gerät um, das auf dem Tisch stand.

»Peyton«, sagte die Computerstimme. »Pierce. N.M.I. Seriennummer 688-549J.« 

Der Finger ließ den Schalter los. »Stehen Sie bequem, Peyton!«, befahl der Direktor und drückte erneut auf den Schalter.

»Alias Blacky«, verkündete der Computer. »Alter bei Einlieferung sechzehn. Vorsätzlich begangener Mord. Lebenslang.« Das stimmte. Alles stimmte.

»Akte«, fuhr der Computer fort. »G-6. Erstes Jahr LL., zwei Ex-T. Zweites Jahr LB, ein Ex-T...«

Der Finger ließ den Schalter los. »Den Rest brauchen wir nicht, Peyton. Ich kann Ihnen genauso gut wie der Computer sagen, was in Ihrer Akte steht. Sie sind hier wegen Mordes eingeliefert worden.«

Peyton sagte nichts. Sträflinge sprachen nie mit dem Direktor oder anderen Gefängnisbeamten, wenn man ihnen das nicht ausdrücklich befahl. Und selbst wenn er etwas sagen sollte – was für einen Sinn hatte es denn, zu behaupten, dass er den Revolver nicht angerührt hatte? Ein Jugendlicher, der 1978 in Richmond ausgerissen und nach New York gekommen war. Dort hatte er sich mit zwei Verbrechern zusammengetan, die er für bedeutende Leute hielt, und hatte ihnen bei einem Überfall auf das Lohnbüro einer Fabrik in Brooklyn helfen wollen. Und dann hatte ein Angestellter versucht, Widerstand zu leisten, und war erschossen worden; dann die hastige Flucht seiner Komplizen und seine Ergreifung durch die Polizei.

»Man hat Sie hierhergebracht, damit Sie ein Verbrechen sühnen«, sagte der Direktor. »Man hat Sie anständig behandelt, als Sie kamen, Sie gingen zur Schule. Sie erhielten Bücher. Sie benahmen sich vernünftig und erwiesen sich als rehabilitierungsfähig...«

Wieder bewegte er den Schalter. »Intelligenzquotient 144«, sagte der Computer.

Der Direktor ließ den Schalter los. »Das hätten Sie jetzt nicht hören sollen, Peyton«, sagte er. »Aber jetzt wissen Sie es. Überdurchschnittliche geistige Gaben. Sie hätten hier etwas werden können.«

Was werden können? Ein sechzehnjähriger Junge, dazu verdammt, sein Leben im Gefängnis zu Ende zu leben? Peyton zwang sich, sich nichts anmerken zu lassen. Überdurchschnittliche Intelligenz oder nicht – Blacky Peyton war nicht clever gewesen. Aber das erkannte er zu spät. Peyton hätte in den oberen Etagen bleiben und dort Arbeit bekommen können, wie die anderen Jungen seiner Altersgruppe. Er hätte Kalfaktor werden und vielleicht in der Gefängnisschule bleiben können.

»Sie versuchten zu entfliehen«, erinnerte ihn der Direktor mit einer Stimme, die ebenso unpersönlich klang wie die des Computers. »Im ersten Jahr zwei Versuche. Man hat Sie erwischt und in die Atomit-Abteilung gesteckt. Das Jahr darauf haben Sie wieder einen Fluchtversuch unternommen. Und deshalb kamen Sie in die Grube und blieben dort.«

Richtig. Völlig richtig. Deshalb also. Man hatte Peyton zu den anderen Verrückten, Unbelehrbaren gesteckt, zu denen, die immer Schwierigkeiten machten, zu denen, die immer wieder zu fliehen versuchten, zu denen, deren Namen immer wieder auf schwarzen Listen auftauchten. Das waren die Leute, die die Maschinen bedienten, in denen das Atomit hergestellt wurde, das für die Zivilisation draußen von so grundlegender Wichtigkeit war. Nur unten in der Grube reichte der atmosphärische Druck aus, um die Fabrikationsprozesse ungestört ablaufen zu lassen. Die Männer, die man dorthin schickte, waren Leute, die in den Augen des Gesetzes ihr Schicksal verdient hatten. Blacky Peyton war einer von ihnen gewesen. »Nun, Peyton«, fragte der Direktor, »stimmt das?«

Peytons stählerne Augen bohrten sich in die des Direktors. »Ja, Herr Direktor«, antwortete er. »Wenn Sie mich schon fragen – es stimmt. Aber Sie haben mich doch nicht den ganzen Weg aus der Grube heraufkommen lassen, um meine Akte mit mir zu besprechen.«

Ein Lächeln auf dem rosigen Gesicht des Beamten. »Da haben Sie recht, Peyton. Ich habe Sie hierherkommen lassen, um etwas anderes mit Ihnen zu besprechen.«

Er legte einen anderen Schalter um. »Wollen mal sehen – drei Wochen«, sagte er im Selbstgespräch. Und dann verkündete die mechanische Stimme: »Sträfling Averyman, Saul, Nummer 712-104L, geriet um 16.42 Uhr in den Rollmechanismus. Arbeitskittel wurde von den Rollen erfasst. Entkommen unmöglich. Und während Averyman immer näher an die Maschine herangezogen wurde, sprang Sträfling Peyton, Pierce, Nummer 688-549J, auf die Maschine zu und hielt die Rollen mit bloßen Händen auseinander, eine beachtliche Kraftleistung.«

Der Direktor ließ den Schalter los. Das Kästchen verstummte. »Ach, das!«, sagte Peyton.

»Ja, das.«

»Was ist denn so Besonderes daran?«, wollte Peyton wissen. »Wir helfen uns immer gegenseitig, ob das die Rollen sind oder die Fräser oder die Pressen. So ist das die ganze Zeit. Ich habe schon andere Männer gerettet, und andere haben mich gerettet.«

»Sträfling Averyman war etwas Besonderes«, sagte der Direktor.

Peyton starrte ihn an. Er hatte instinktiv gehandelt. Er hatte nicht erwartet, dass Averyman etwas sagen würde. Er hatte mit nichts gerechnet. Aber etwas war geschehen, und jetzt stand er hier im Büro des Direktors. Das bedeutete, dass Averyman ein Spion war, den die Gefängnisleitung in die Grube versetzt hatte. Wenn der Rest der Schicht erfuhr, dass Blacky Peyton einen Spitzel gerettet hatte, würden sie ihn halbtot schlagen.

»Ich habe mir nichts dabei gedacht«, brummte er.

»Peyton, das ganze Gefängnissystem ist Ihnen dankbar«, sagte der Direktor. »Der Bericht ist an das New-York-Uptown-Kommando gegangen, und das Uptown-Kommando ist Ihnen ebenfalls dankbar.«

»Wirklich?« Mehr brachte Peyton nicht heraus.

Der Direktor zog eine Schublade auf und entnahm ihr eine Lochkarte mit roter Markierung.

»Uptown hat seit gestern Abend einen neuen Stadtmanager«, sagte Peyton. »Und bei solchen Beförderungen geschehen manchmal seltsame Dinge. Manchmal kommt es auch zu Begnadigungen. Ihr Name war gerade in den Akten, folglich...«

Er reichte Peyton die Karte.

Eine Anweisung, unterzeichnet vom Sekretär des Begnadigungsausschusses. Und die Anweisung besagte, dass Sträfling Peyton, Pierce, Nummer 688-549J, bedingungslos aus dem Gefängnis zu entlassen sei. Darunter standen das Datum und ein Lochcode für die EDV-Anlage sowie ein offizielles Siegel. »Sie können sich setzen, wenn Sie wollen«, bot der Direktor an.

Peyton nahm auf dem Besuchersessel Platz. Er starrte die Begnadigung mit geweiteten Augen an.

»Sie sind frei, Peyton! Sie können wieder in die Welt hinausgehen.«

»Die Welt«, wiederholte Peyton. »Die Welt.« Wie würde die Welt aussehen, nach zwanzig Jahren? Unten in der Grube hörte man nie Nachrichten. Nur Gerüchte. Peyton runzelte die Stirn.

»Es hat sich natürlich einiges geändert«, sagte der Direktor, als könnte er Gedanken lesen. »In jeder Beziehung geändert.« Er hielt ihm etwas hin. »Nach all den Jahren in der Grube brauchen Sie eine dunkle Brille. Sie müssen sich erst wieder an die Sonne gewöhnen. Und... da, das steht Ihnen zu.«

Er zählte von einem Stapel Geld fünf Scheine ab, faltete sie zusammen und reichte sie Peyton, der sie in die Hosentasche steckte. Dann stand er, immer noch benommen, auf.

»Was werde ich draußen tun?«, fragte er. »Ich weiß nichts über das Leben draußen. Ich habe, seit man mich hierhergeschickt hat, nichts mehr von meiner Familie gehört. Ich verstehe nur etwas von Atomit, und auch da bloß die rein mechanische Seite.«

»Auch dafür ist gesorgt.« Der Direktor reichte ihm eine weitere Karte. »Nehmen Sie draußen vor dem Tor die Magnetbahn. An der dritten Haltestelle in der Stadt steigen Sie aus und melden sich im Büro des Beschwerdeausschusses. Dort wird man Ihnen einen Arbeitsplatz besorgen.« Jetzt stand er auch auf. »Viel Glück! Wollen Sie mir die Hand geben, Peyton?«

Peyton berührte die Finger des Direktors kaum. Dann öffnete sich eine Außentür. Peyton schlurfte wie im Traum ins Freie.

Er war frei.

Großer Gott, wer hätte das gedacht, frei! 

Draußen.

Wie würde es draußen sein?

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Peyton wurde an drei Stellen von Wärtern kontrolliert. Er zeigte jedem seine Begnadigungskarte und durfte weitergehen. Schließlich stand er in dem von Mauern umgebenen Gefängnishof. Ein Posten mit umgehängtem Automatikkarabiner überprüfte die Begnadigungsurkunde, und Peyton studierte einstweilen die Welt.

Über den Wänden lag graue Morgendämmerung. Gegenüber der Tür, aus der Peyton gekommen war, befand sich ein Tor aus schweren Eisenstangen. Und dahinter erhob sich in der Ferne ein Gewirr von Türmen – New York. Peyton erkannte keinen der Türme.

»Die Sonne!«, schrie er plötzlich auf.

Sie stieg über den Horizont, und der stumpfe Himmel wurde hell. Peyton wandte sein bleiches Gesicht dem Licht entgegen und hatte das Gefühl, als wären seine Augen mit Säure bespritzt worden. Er zuckte zusammen und holte die dunkle Brille aus der Tasche.

»Okay!«, sagte der Posten und reichte ihm die Karte zurück. »Hinaus jetzt! Und wollen wir beide hoffen, dass Sie nie mehr zurückkommen.«

Langsam öffnete sich vor ihm das Eisentor. Dahinter war graues Pflaster, ein paar Nebengebäude und ein Kiosk.

»New Yorker U-Bahn hier!«, kreischte eine tote Stimme. »New Yorker U-Bahn hier! New Yorker U...« 

Sie hallte aus einem Lautsprecher über dem Kiosk. Peyton trat ein. Es gab kein Drehkreuz, nichts zu zahlen. Er erreichte den Bahnsteig, als gerade ein Zug angebraust kam. Die Türen öffneten sich. Peyton trat ein. Er war allein im Abteil.

Der Zug schoss davon. Magnetzug, hatte der Direktor gesagt. Er flog wie eine Kugel im Lauf. Und dann hielt er an, so plötzlich, dass Peyton beinahe hingefallen wäre. Die Türen öffneten sich. Dritte Haltestelle, hatte der Direktor gesagt. Peyton wartete, die Tür schloss sich, und der Zug sauste weiter, hielt an und setzte sich erneut in Bewegung. An der dritten Haltestelle trat Peyton auf den Bahnsteig hinaus. Ein Lift trug ihn in die Höhe.

Dann stand er auf der Straße – nein, in einer Passage mit metallenen Wänden und einem metallenen Dach, so breit wie eine Straße. Er brauchte jetzt keine Brille und nahm sie wieder ab. Das Pflaster unter seinen Füßen war metallisch, und draußen huschte plötzlich etwas vorbei, das wie ein Auto wirkte. Es war olivgrün und kleiner als die Autos, an die Peyton sich erinnerte. Die Form war der eines Eies ähnlich. Wieder huschte eines vorbei und noch eines. Vielleicht waren es Lieferfahrzeuge. Keines der Fahrzeuge schien einen Auspuff zu haben, und man hörte auch nichts.

Das Licht kam von Kugeln in der Decke über ihm. Es war heller als das Licht im Gefängnis, aber nicht unangenehm. Die Passage schien meilenlang zu sein. An den Wänden neben ihm gab es Türen. Er hörte viele Stimmen. Wieder summte ein Auto vorbei. Peyton hätte gern eines gehabt. Vielleicht würde er sich eines kaufen, wenn er an dem Arbeitsplatz, an den man ihn vermitteln würde, genügend Geld verdient hatte. Er würde sich jetzt gleich bewerben. Das hier war der richtige Ort. Über der Tür stand Begnadigungsausschuss. Er ging auf die Tür zu, die sich vor ihm öffnete – Fotozelle natürlich – und trat in einen Korridor. Vor ihm öffnete sich eine Lifttür.

»Wohin?«, fragte eine Stimme von irgendwoher.

Peyton runzelte die Stirn. Er war allein in dieser kleinen Kabine. »Wohin?«, wiederholte die Stimme. »Begnadigungsausschuss«, sagte Peyton.

»Begnadigungsausschuss«, wiederholte die Stimme, und der Lift schoss in die Höhe. Dann hielt er an. »Begnadigungsausschuss«, sagte die Stimme wieder, und die Tür öffnete sich. Peyton trat in einen breiten Gang. Ihm gegenüber öffnete sich abermals eine Tür, und er betrat einBüro.

Ein schlankes Mädchen mit gebleichtem Haar und einem enganliegenden Minirock nahm seine Arbeitskarte und ging ins Nebenzimmer. Peyton blickte ihr nach und empfand ein eigenartiges Rühren. Er hatte seit zwanzig Jahren keine Frau mehr gesehen, obwohl er wusste, dass das Gefängnis auch Frauen beherbergte. Manche verrichteten sogar leichte Arbeit in der Grube. Nun, jetzt würde er vielleicht sogar ein Mädchen bekommen können.

Dann war sie wieder zurück, hinter ihr kam ein plumper, etwas geckenhaft gekleideter junger Mann mit einem Schnurrbart, der ebenso gebleicht wirkte wie das Haar des Mädchens. »Ah!«, sagte er und musterte Peytons Arbeitskarte in seiner weichen Hand. »Peyton. Ja. Ah, ja. Wir haben Sie schon erwartet.«

Er und Peyton nahmen an einem niedrigen Stahltisch Platz. »Es ist schon alles vorbereitet«, sagte der Mann. »Mein Name ist Harrett. Ich bin stellvertretender Abteilungsleiter.« Wieder blickte er auf die Karte. »Sie haben mit Maschinen gearbeitet?«

Peyton nickte. »Ja, Mr. Harrett. Ich habe in der Grube gearbeitet und einen Atomitfräser bedient.«

»Atomit... ah, ja. Sie werden jetzt natürlich etwas anderes machen. Regierungsprojekt, wissen Sie. Wir dürfen nicht darüber sprechen.«

»Natürlich nicht«, nickte Peyton. »Ich verstehe schon.«

»Man hat Ihnen eine Arbeit zugewiesen«, fuhr Harrett fort. »Sie kommen in die Bergwerke, ein paar Kilometer nördlich von hier.«

»Bergwerke?«, unterbrach ihn Peyton. »Jetzt hören Sie mal zu, Mr. Harrett! Ich bin jahrelang unter der Erde gewesen. Ich würde lieber im Freien arbeiten, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«

»Wenn es mir nichts ausmacht«, wiederholte Harrett, und es klang etwas spöttisch. »Aber es macht mir etwas aus, Peyton.«

Peyton runzelte die Stirn. Seine Augen waren jetzt ganz schmal. »Was soll das heißen, Mr. Harrett?«

»Nun«, Harrett lächelte. »Sehen Sie, Sie haben doch Erfahrung mit Atomit...«

»Natürlich habe ich die«, nickte Peyton. »Ich habe an den Maschinen gearbeitet. Manchmal habe ich auch Inerton-Behälter gefertigt.«

»Aber, aber!«, erregte sich Harrett. »Bitte, sprechen Sie nicht darüber! Ich sagte Ihnen doch – Anweisung der Regierung. Peyton, ich weiß nicht, ob man bei Ihrer Begnadigung über Ihre Kenntnisse nachgedacht hat.« Er gestikulierte. »Sie... nun, Sie sind in gewisser Weise ein peinlicher Fall.«

»Sie meinen wohl, ich könnte etwas über Atomit ausplappern?«, fragte Peyton und lehnte sich vor.

»Nein, dort, wo wir Sie hinschicken, nicht. Die Bergwerke...«

Peyton schüttelte erregt den Kopf. »Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich nicht mehr ins Bergwerk will! Habe ich denn gar keine Wahl?«

»Nein«, sagte Harrett, »Sie haben keine Wahl.«

So war das also. Genau, wie es in der Grube gewesen war. Nur höflicher. Peyton runzelte erneut die Stirn und beugte sich noch weiter vor. Seine breiten Schultern strafften sich. »Kann ich nicht einmal Einspruch erheben?«

»Ich fürchte, nein. Wir wollen nicht unvernünftig sein, Peyton. Dieser Ausschuss hat die Pflicht, Sie zu rehabilitieren...«

»Nun, dann rehabilitieren Sie jemand anderen.« Peyton stieß seinen Stuhl zurück und stand auf. »Ich will Ihren Job nicht.« Er wandte sich zur Tür.

Harrett erhob sich. Seine Hände flatterten. »Peyton!«, rief er mit schriller Stimme. »Sie können doch hier nicht einfach weggehen!«

»Und ob ich das kann!«, sagte Peyton.

Harrett rannte um den Tisch herum, stand jetzt neben ihm. »Sie sind ein ehemaliger Sträfling!«, sagte er. »Sie haben kein Geld. Wenn Sie in dieser Gesellschaft in Freiheit gesetzt werden, werden Sie rückfällig und...«

»Ach, halten Sie doch das Maul!« Peyton wandte sich erneut zur Tür.

»Halt!«, rief Harrett. »Verlassen Sie dieses Büro nicht!«

Eine Seitentür flog auf, und ein weiterer Mann trat ein. Er war plump wie Harrett, aber an ihm wirkte die Plumpheit kompakt und hart. Er trug eine blaue Uniform, die bis zum Hals zugeknöpft war, und an einer Wange hatte er eine Narbe.

»Verhaften Sie ihn!«, befahl Harrett.

Der Uniformierte stellte sich zwischen Peyton und die Tür. Die beiden musterten einander eine Sekunde lang ausdruckslos.

Dann warf sich Peyton auf den Uniformierten, tauchte unter einem Schlag des Polizisten weg und schmetterte dem Mann die Faust ins Gesicht. Und gerade, als die Rechte krachend gegen die Kinnlade des Polizisten schmetterte, hatte die Linke auch schon ihr Ziel gefunden. Binnen weniger Sekunden hatte Peyton sechs Schläge gelandet.

Bereits beim fünften fing der Mann an, zusammenzusacken. Beim sechsten lag er auf dem Boden. Das Mädchen mit dem gebleichten Haar war an der inneren Tür aufgetaucht und schrie jetzt hysterisch. Harrett war zu einem Tisch gerannt und wollte auf einen Knopf drücken, aber Peyton war über seinen niedergeschlagenen Widersacher hinweggesprungen, packte Harrett jetzt am Arm und zerrte ihn weg.

»Weg von dem Schreibtisch«, befahl er, »sonst kriegen Sie auch eins über den Schädel! Hinsetzen!«

Harrett sank auf seinen Stuhl. Seine Augen waren vor Furcht geweitet.

»So ist’s gut! Nur ruhig! Nur ruhig!«, riet Peyton. »Wenn Sie eine Bewegung machen, ehe ich hier weg bin, lege ich Sie neben diesen Bullen auf den Boden!«

Er trat vor und stellte sich zwischen das Mädchen und die Druckknöpfe. Sie starrte ihn an. Vielleicht war das gar nicht nur Angst, was in ihren Augen leuchtete. Erstaunen war da auch zu sehen, vielleicht sogar Bewunderung.

»N-n-nicht...«, stammelte sie. »Bitte, fassen Sie mich nicht an!«

Peyton grinste, und seine weißen Zähne blitzten. »Könnte Spaß machen, Baby, aber ich hab jetzt keine Zeit.«

Und dann hetzte er zur Tür hinaus und zum Lift. Die Schiebetür öffnete sich wieder vor ihm. »Wohin?«, fragte die ruhige, körperlose Stimme.

»Erdgeschoss«, sagte Peyton.

»Erdgeschoss.« Der Lift tauchte mit ihm hinunter, bremste und öffnete sich. »Erdgeschoss«, verkündete die Stimme.