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Hat eine Liebe, die mit einer Lüge beginnt, eine Chance?
Rook hat eigentlich alles, was er je wollen könnte. Als Captain des NHL-Teams von Chicago ist er auf dem Höhepunkt seiner Eis-Hockey-Karriere angekommen: er ist erfolgreich, berühmt - und hat keine Probleme, weibliche Gesellschaft zu finden. Doch trotzdem hat Rook plötzlich das Gefühl, dass in seinem Leben etwas fehlt. Daher flieht er an einen Ort, an dem ihn hoffentlich niemand kennt: Alaska! Schon auf dem Flug dahin, muss Rook allerdings erkennen, dass seine geplante Auszeit nicht so ruhig wird, wie erhofft. Denn er hatte nicht mit Laiyne gerechnet, die ihm auf dem Flug praktisch in den Schoss fällt. Die Zeit mit ihr ist so viel mehr als Rook jemals zu träumen gewagt hätte. Aber viel zu schnell holt ihn die Realität wieder ein und seine und Laiynes Wege trennen sich. Bis sie ihm ein Jahr später unerwartet wieder begegnet ...
"Rook und Laineys Geschichte ist süß, humorvoll, unterhaltsam und nicht mehr aus der Hand zu legen." L. J. Shen, Spiegel-Bestseller-Autorin
Erster Band der GAME-CHANGER-Reihe
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Seitenzahl: 474
Titel
Zu diesem Buch
Widmung
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Epilog
Die Autorin
Die Romane von Helena Hunting bei LYX
Impressum
HELENA HUNTING
Game Changer
NICHT MEHR OHNE DICH
Roman
Ins Deutsche übertragen von Michaela Link
Hat eine Liebe, die mit einer Lüge beginnt, eine Chance?
Rook hat eigentlich alles, was er je wollen könnte. Als Captain des NHL-Teams von Chicago ist er auf dem Höhepunkt seiner Eishockey-Karriere angekommen: Er ist erfolgreich, berühmt – und hat keine Probleme, weibliche Gesellschaft zu finden. Doch trotzdem hat Rook plötzlich das Gefühl, dass in seinem Leben etwas fehlt. Daher flieht er an einen Ort, an dem ihn hoffentlich niemand kennt: Alaska! Schon auf dem Flug dahin muss Rook allerdings erkennen, dass seine geplante Auszeit nicht so ruhig wird, wie erhofft. Denn er hatte nicht mit Lainey gerechnet, die ihm auf dem Flug praktisch in den Schoß fällt. Die Zeit mit ihr ist so viel mehr, als Rook jemals zu träumen gewagt hätte. Aber viel zu schnell holt ihn die Realität wieder ein und seine und Laineys Wege trennen sich. Bis sie ihm ein Jahr später unerwartet wieder begegnet …
Dieses Buch ist für Den. Du zauberst an jedem einzelnen Tag ein Lächeln auf mein Gesicht. Danke für deine unerschütterliche Leidenschaft für das Lesen und deinen unglaublichen Gemeinschaftssinn.
Geburtstagsblues
»Wie stehen die Chancen auf Alkohol bei einer Geburtstagsparty für zwei Dreijährige?«
»Ähm … gering bis nicht vorhanden?« Die Stimme meiner Schwester knistert spöttisch durch die Autolautsprecher. »Warum gehst du überhaupt auf eine Geburtstagsparty für Kleinkinder? Ist das eine neue Dating-Strategie? Meinst du, du kannst mehr Frauen aufreißen, wenn sie dich mit kleinen Kindern sehen? Oh! Soll das so werden wie damals, als wir Kyle besucht haben, mit Max in den Zoo gegangen sind und fünf Frauen dir ihre Telefonnummer zugesteckt haben?«
Sie bezieht sich dabei auf einen Zwischenfall im letzten Sommer, als ich bei unserem älteren Bruder Kyle in L. A. zu Besuch war. Unser Neffe wirkt interessanterweise wie das Äquivalent zu Katzenminze auf Frauen. »Nein, Stevie, so ist es nicht. Die Party ist für die Kinder meines Mannschaftskameraden, und sein Schwager war mal Mannschaftskapitän, also ist es ja wohl normal, da mal vorbeizuschauen.«
»Ach so. Okay. Na ja, das macht es erheblich weniger aufregend.«
»Nicht alles in meinem Leben ist aufregend. Was ist mit dir? Irgendwelche Pläne für heute Nachmittag?« Ich habe keine andere Wahl, als das Gespräch vom Thema Dates abzulenken, da meine kleine Schwester stets ihre Meinung zu meinem glanzlosen Liebesleben kundtun muss.
»Ich habe heute Abend ein Date, daher bleibt mir nichts weiter übrig, als die Hälfte meiner Garderobe anzuprobieren, bevor ich zu dem Schluss komme, dass nichts gut genug ist, und dann werde ich loslaufen und mir etwas Neues kaufen müssen.«
»Ein Date? Wer ist er? Wie hast du ihn kennengelernt?«
»Hör dir mal selber zu, du klingst wie Dad.« Obwohl sie lacht, schwingt ein wenig Traurigkeit in ihrer Stimme mit. Wir haben unseren Dad vor drei Jahren an Folgeerkrankungen seines Diabetes verloren und stehen uns seitdem in unserer Familie ziemlich nahe, obwohl ich in Chicago lebe, mein Bruder an der Westküste wohnt und meine Schwester und meine Mutter von New York nach L. A. umgezogen sind. Meine Schwester ist dort zur Schule gegangen, und meine Mom hat beschlossen, dass es an der Zeit sei, in den Ruhestand zu treten, weswegen sie letzten Sommer, kurz nach Max’ Geburt, das Haus und die Farm verkauft hat und in den Westen gezogen ist.
»Er ist in meinem Studiengang, wir haben einige Kurse zusammen, und sein Name ist Joseph.«
»Wie oft warst du schon mit ihm aus?«
»Das ist unser zweites Date. Apropos Dates, wann hattest du dein letztes?«
Ich umklammere das Lenkrad und hasse es, dass wir schon wieder bei diesem Thema angelangt sind. »Keine Ahnung. Vor einer Weile. Ich hatte viel zu tun.«
»Du warst damit beschäftigt, dich nach Alaska-Girl zu verzehren.«
Es ärgert mich, dass sie diesen Spitznamen für die Frau, mit der ich den letzten Sommer in Alaska verbracht habe, immer noch benutzt. »Nenn sie nicht so.«
»Es ist ein Jahr her, R. J. Meinst du nicht …«
Ich biege auf den Parkplatz des Aquariums ein. »Ich bin jetzt da. Ich muss Schluss machen. Wir reden später weiter.« Ich würde gern behaupten, dass wir nicht oft über dieses Thema sprechen, aber dann müsste ich lügen. Stevie und Kyle erwähnen sie mindestens einmal im Monat. Ihr Name war Lainey. Ist Lainey. Vorausgesetzt, dass es sie noch immer irgendwo gibt.
Ich parke neben einem riesigen blauen Pick-up-Truck, der auf diesem Parkplatz voller silberner und schwarzer SUVs hervorsticht. Der Wagen gehört meinem Mannschaftskameraden Randy Ballistic, der höchstpersönlich an der Ladeklappe lehnt und etwas auf seinem Handy tippt.
Nachdem ich den Motor ausgeschaltet habe und aus dem Wagen gestiegen bin, marschieren wir gemeinsam über den Parkplatz. »Es überrascht mich ein wenig, dich hier zu sehen.« Er beäugt die Geschenke, die ich mir unter den Arm geklemmt habe und die in Raketen-Geschenkpapier eingewickelt sind.
»Ich habe die meisten von euch seit den Playoffs nicht mehr gesehen, deshalb dachte ich, es wäre schön vorbeizukommen.«
Er nickt. »Oh ja, ich habe zuerst versucht, da irgendwie rauszukommen, aber Lily hat darauf bestanden, dass wir die Einladung annehmen. Sie ist schon früher gekommen, um bei den Vorbereitungen zu helfen.« Randy und Lily sind schon genau so lange zusammen, wie ich bei der Mannschaft bin, und obwohl sie keine Kinder haben, besitzen sie zumindest einen Hund, was irgendwie wie Training für ein Baby ist.
Im Aquarium läuft eins der Kinder meiner Mannschaftskameraden vorbei, einen riesigen aufblasbaren Haifisch in Händen, und schreit aus Leibeskräften. Ich mag Kinder, und im Allgemeinen mögen Kinder mich. Aber ich ziehe die momentane Rolle als Onkel meines Neffen Max vor. Ich bin der Onkel, der tolle Geschenke macht, und wenn Max anfängt zu weinen, kann ich ihn meinem Bruder oder meiner Schwägerin zurückgeben und verschwinden.
»Das ist hier wie eine Reklame für Empfängnisverhütung«, murmele ich, als ein kleiner Rotschopf schwankend vorbeiläuft, das Gesicht bedeckt mit Schokolade und einen Doughnut in der Hand. Das Kind, das definitiv meinem rothaarigen schottischen Mannschaftskameraden Lance Romero gehört, greift mit der Hand, mit der es seinen Doughnut festhält, nach Randys Bein, verfehlt es aber um ungefähr fünfzehn Zentimeter. Das führt dazu, dass der Junge über seine eigenen Füße stolpert.
Ich bin bei ihm und fange ihn auf, bevor er der Länge nach auf die Nase fällt. Er erschrickt, lässt den Doughnut los und bricht in Tränen aus.
»Hey, Kumpel, es ist alles in Ordnung.«
»Mein Doughnut!«, schreit er und stürzt sich auf die Süßigkeit.
»Fünf-Sekunden-Regel.« Randy zuckt die Achseln.
»Quinn! Heb kein Essen vom Boden auf«, ruft Poppy, die Mutter des Kindes und Romeros Ehefrau, vom anderen Ende des Aquariums.
Ich hocke mich vor den Kleinen hin. »Wie wär’s, wenn wir den da wegwerfen und dir einen neuen besorgen?«
»Ich will aber den da!!!«, schreit er mir ins Gesicht, dann wirft er sich auf den Boden und legt einen epischen Wutanfall hin.
Romero kommt herangepirscht. »Was macht ihr zwei mit meinem Sohn?«
Randy hebt beide Hände. »Er ist gestolpert und hat seinen Doughnut fallen lassen.«
Romero sieht mich an. Er ist ein netter Kerl, und ich mag ihn, aber manchmal hat er eine kurze Zündschnur, und ich möchte eigentlich nicht derjenige sein, der ihn auf die Palme bringt. »Ich habe ihm gesagt, dass wir besser einen neuen besorgen sollten, aber das hat ihm nicht besonders gefallen.«
Romero hebt seinen Sohn hoch und zuckt zusammen, als er dessen Gesicht sieht. »Quinn, mein Freund, so wirst du die Ladys nie für dich gewinnen. Wir waschen jetzt dein Gesicht und besorgen dir einen neuen Doughnut, ja?«
»Will aber den hier!« Er zeigt auf das Gebäck am Boden.
Romero tritt auf den fraglichen Doughnut. »Welchen Doughnut?«
»Daaaad! Mein Doughnut!«
Romero wirft uns beiden einen Blick zu. »Ich muss mich erst mal um das hier kümmern. Wenn die Party zu Ende ist, gehen wir in den Pub. Seid ihr zwei dabei?«
»Mit Kindern oder ohne?« Randy zieht eine Braue hoch und sieht Quinn an, der gegen den Griff seines Vaters ankämpft und sein mit Schokolade bedecktes Gesicht an dessen Arm verschmiert.
Romero verdreht die Augen. »Ohne. Was zur Hölle hätte es sonst für einen Sinn?« Er hebt sich das Kind über den Kopf und gibt den ganzen Weg zum Waschraum Flugzeuggeräusche von sich.
»Ich hätte einen Flachmann mitbringen sollen«, murmelt Randy, während er einen Plastikbecher mit Limonade füllt.
Ich entscheide mich für eine Flasche Wasser. Wir quatschen mit unseren Mannschaftskameraden, während ich nach Alex Waters Ausschau halte. Er ist Sportreporter geworden, nachdem er sich vom aktiven Eissport verabschiedet hat. Die Kamera liebt ihn, aber er hätte auch die Erfahrung und das Temperament, um eine Mannschaft zu trainieren, und ich will in Erfahrung bringen, ob die Gerüchte stimmen. Dass er den Wechsel in den nächsten Jahren vollziehen wird.
»Hey! Rookie! Wie läuft’s denn so? Freut mich, dass du es rechtzeitig zu der Party von Alaska nach Hause geschafft hast.« Alex schlägt mir auf den Rücken. Ich muss mich dagegen wappnen, damit ich nicht unter der Wucht seines Schlags vorwärtsstolpere. Alex ist ein großer Kerl, und nur weil er nicht länger auf dem Eis steht, bedeutet das nicht, dass er irgendetwas von seiner Muskelmasse verloren hätte.
Ich bekomme eine männliche Umarmung und ein Schulterklopfen. »Ich auch. Es läuft ziemlich gut. Ich gewöhne mich langsam ein – du weißt ja, wie das so ist. Außerdem freue ich mich auf das Training in der Vorsaison.«
»Die Mannschaft steht in diesem Jahr gut da. Wenn du mal über Strategie reden willst, ruf mich einfach an.«
Bevor ich fragen kann, taucht seine Frau auf. »Alex, da bist du ja! Könntest du bitte mit Robbie auf die Toilette gehen? Immer wenn wir auf der Damentoilette sind, versucht er aufs Waschbecken zu klettern und da reinzupinkeln.« Violet mustert uns mit einem leicht verkrampften Lächeln. »Hey, Leute, entschuldigt die Störung, aber es ist heute nicht mein Plan, mich aus dem Aquarium werfen zu lassen, weil ich meinem Sohn erlaubt habe, ein Waschbecken als Pissoir zu benutzen.«
Sie zeigt auf ein anderes Kind, von dem ich denke, dass es einer von Miller Buttersons vier Sprösslingen ist. Ich kann mir zwar irgendwie ihre Namen nicht merken, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass das Kind, das ich gerade ansehe, einer ihrer Zwillinge ist, was die Sache noch schwieriger macht. »Ich warte nur darauf, dass der da in eine der künstlichen Topfpflanzen pinkelt. In diesem Sommer fand Miller, die beste Möglichkeit, Liam und Lane windelfrei zu kriegen, sei die, ihnen zu erlauben, mit heraushängendem Schniedel herumzulaufen, damit sie pinkeln konnten, wann und wo es ihnen passte. Jetzt versucht Liam immer wieder, seine Hose auszuziehen, und wenn er irgendwo eine Pflanze sieht, denkt er, er darf draufpinkeln.«
»Das ist wirklich toll«, bemerkt Randy mit einem Schnauben.
Violet grinst. »Ja, nicht wahr? Liam war das Beste, was mir je passiert ist.«
Alex räuspert sich, und Violet verdreht die Augen. »Ich meine, um mir mein Schamgefühl abzutrainieren. Letztes Wochenende haben wir gegrillt, und Liam ist ins Gewächshaus gegangen. Sagen wir einfach, da drin befinden sich jetzt eine Menge kontaminierter botanischer Experimente.«
»Daddy, können wir jetzt endlich Eishockey spielen?« Robbie zupft Alex am Ärmel, während er mit der anderen Hand durch die Hose seine kleinen Kronjuwelen festhält.
»Na klar, Kleiner.« Er nickt uns zu. »Ich bin gleich zurück.«
Violet beobachtet, wie sie in der Herrentoilette verschwinden. »Robbie zielt gern auf die Salzpucks, weil er denkt, es sei wie mit seinem Schniedel Eishockey spielen.«
Randy nickt. »Ist fast genauso.«
Fünf Minuten später eilen alle Kinder zum Delfinbecken. Anscheinend findet dort eine Art Führung statt. Da keiner von uns Kinder hat, bleiben Randy und ich in der Nähe des Buffets. Ich schnappe mir einen Hühnchenwrap und eine weitere Flasche Wasser und frage mich, wie lange das noch so weitergehen wird, bevor wir uns auf den Weg in den Pub machen können. Ich schätze, da sie den Kuchen noch nicht gegessen haben, wird es noch eine Weile dauern.
Von der Horde Kinder ertönt ein Schrei. »Was zur Hölle ist da drüben los?«
»Ich habe keine Ahnung. Ich gehe mal nachsehen – vielleicht solltest du mit einigen dieser Mädchen plaudern.« Er deutet mit dem Kopf in die Richtung einer Gruppe von Aquarium-Mitarbeiterinnen, die uns anstarren und dabei tuscheln. Wir sind heute nicht besonders dezent, da wir alle Mannschaftsmützen und Shorts tragen.
»Ähm, das passt schon. Sie gehen wahrscheinlich alle noch auf die Highschool.« Ich folge ihm zum Delfinbecken, neugierig geworden, was das Kreischen und die Schreie bedeuten und woher das Schluchzen kommt.
»Bleibt alle ruhig! Es ist während der Paarungssaison völlig natürlich, dass so etwas passiert!« Die schrille, panische Stimme klingt vertraut. Vielleicht eine der Ehefrauen?
»Oh Scheiße«, murmelt Randy. Er ist noch eine Spur größer als ich mit meinen eins fünfundachtzig, daher schätze ich, dass er gerade etwas erblickt, das ich noch nicht sehen kann.
Ich gehe um die Gruppe herum; einige der Mütter haben sich das Gesicht ihres Kindes gegen den Bauch gedrückt, und ein kleiner Junge brüllt, dass jemand erstochen worden sei.
Aber der allgemeine Aufruhr dringt kaum zu mir durch, denn auf der anderen Seite des Meeres schreiender, lachender und weinender Kinder entdecke ich eine sehr vertraute Frau, die die beigefarbene Uniformbluse der Aquarium-Mitarbeiterinnen trägt.
Lainey.
Alaska-Girl.
All die verrückten Häschen
14 Monate vorher
»Oh mein Gott! Oh mein Goooooott!« Angesichts der schieren Lautstärke des Schreis und dem plötzlichen Klingeln in meinem Ohr nach zu schließen, ist mir vermutlich das Trommelfell geplatzt.
Früher einmal hätte man diese weibliche Reaktion wegen meiner erstaunlichen Fähigkeiten im Einsatz meines Schlägers (und damit meine ich nicht die auf dem Eis) erwarten können. Allerdings sitze ich gerade in einem Flugzeug nach Seattle und warte darauf, dass der Rest der Passagiere einsteigt. Und obwohl ich schon häufiger öffentlich Sex hatte, habe ich mich dabei gewöhnlich auf Orte mit Türen beschränkt, wie zum Beispiel öffentliche Toiletten. Aber so etwas tue ich nicht mehr. Ich habe diesem Konzept den Rücken gekehrt.
Ich winde mich, als sich die Kreissäge neben mir in den Sitz fallen lässt und mir immer noch ins Ohr brüllt. »Rook, ich habe dich seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen! Wie verrückt ist das denn! Ich kann nicht glauben, dass wir im selben Flugzeug sitzen!«
»Total verrückt?« Es war mir gelungen, unter dem Radar zu bleiben, ohne erkannt zu werden … bis jetzt. »Ist das dein Platz?« Bitte, sag Nein.
»Nein.« Sie zieht für eine Sekunde einen Schmollmund, bevor sie ein breites Grinsen sehen lässt. »Aber ich sitze direkt hinter dir! Ein Upgrade in der letzten Minute. Fliegst du allein? Was machst du in Seattle?«
»Ich treffe mich mit meinem Bruder.« Das entspricht nicht ganz der Wahrheit; mein Bruder und ich sind in Anchorage verabredet, aber das braucht sie nicht zu wissen. Woher zur Hölle kenne ich diese Tussi? Ich zermartere mir das Hirn auf der Suche nach einem Namen, irgendetwas. Sie kommt mir bekannt vor – aber es ist keine angenehme Erinnerung.
»In Seattle?«
Ich nicke.
»Also fliegst du tatsächlich allein! Ich auch! Ich wette, ich kann die Person, die hier sitzt, dazu bringen, mit mir den Platz zu tauschen.«
»Oh, das brauchst du nicht zu tun.«
»Natürlich muss ich das tun, Dummkopf!« Sie drückt meinen Arm. »Dann können wir plaudern!«
Ich versuche immer noch, sie einzuordnen, aber es ist nicht einfach. Es ist mir peinlich zuzugeben, dass es in der Zeit, in der ich in Chicago Profi-Eishockey gespielt habe, einige Jahre gab, in denen ich ziemlich viel herumgevögelt habe. Ich habe so ziemlich jedes Häschen gebumst, das mir in den Schoß gefallen ist. Bis die Kacke am Dampfen war.
Dann habe ich eine Pause von den Häschen gemacht, nachdem ich eine Leistenflechte versehentlich für einen Befall mit Filzläusen gehalten hatte – was mir beinahe die ganze Saison den Spitznamen Läuschen eintrug, dank meinen Mannschaftskameraden, diesen Arschlöchern. Aber ab und zu begegne ich einer der Frauen, mit denen ich während meiner Partytage geschlafen habe. Es ist immer peinlich. Es waren eine Menge Frauen in einer sehr kurzen Zeitspanne. Manchmal mehr als eine gleichzeitig. Es war schlimm. Ich bin nicht stolz darauf.
Und dann kam diese Erpressung mit der vorgetäuschten Schwangerschaft …
Oh, zur Hölle, nein. Jetzt weiß ich wieder genau, wer diese Frau ist. Sie ist die Erpresserin. Es war definitiv das Krasseste, was ich je erlebt habe. Sie hat alle paar Wochen Gipsabdrücke von dem wachsenden Babybauch ihrer Schwester gemacht, sich die Abdrücke dann unter die Bluse geschoben und Fotos davon online gestellt, und jedem einzelnen hat sie meinen Namen als Schlagwort zugefügt. Bis ich meinen Anwalt darauf angesetzt habe. Die Sache mit dem Genitalpilz war auch ungefähr zu der Zeit passiert. Und hat meine Puckhäschen-Tage ein und für alle Mal beendet.
»Wie ist es dir ergangen? Was treibst du so? Du siehst großartig aus! Was machst du in Seattle? Moment mal, die letzte Frage habe ich schon gestellt!«
Auf keinen Fall werde ich in der Lage sein, fünf Stunden lang neben ihr zu sitzen und nüchtern zu bleiben.
Als die Frau, die den Platz neben mir gebucht hat, endlich an Bord kommt, ergreift meine übermäßig enthusiastische Erpresserin sofort die Initiative. Sie drückt mir den Arm und presst die Wange an meine Schulter, und ihr extra riesiges Lächeln passt genau zu ihren extra riesigen Augen. Vermutlich versucht sie, unschuldig zu wirken, aber in Wahrheit sieht sie einfach nur irre aus.
»Heyyy!«, sagt sie zu der Frau in mittleren Jahren. »Also, ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, aber mein Freund hat unsere Plätze gebucht und konnte keine nebeneinander bekommen. Wir feiern unser einjähriges Jubiläum, und es ist das erste Mal, dass wir in der ersten Klasse fliegen.« Sie kräuselt die Nase. Das lässt sie seltsam aussehen. Sie wirkt außerdem beunruhigend überzeugend mit ihrer Lüge. »Hätten Sie etwas dagegen, den Platz mit mir zu tauschen, damit wir zusammensitzen können?« Sie klimpert mit den Wimpern.
Ich versuche Blickkontakt zu der Frau herzustellen, aber sie ist zu konzentriert auf die Erpresserin, um meine panische Miene zu bemerken. »Ah, das ist ja so süß. Natürlich kann ich mit Ihnen tauschen.«
»Viiielen Dank! Ich habe Platz 3C.«
Die Dame geht zu der Reihe hinter uns. Na toll. Jetzt habe ich keine Fluchtmöglichkeit mehr.
Sissy, an deren Namen ich mich endlich erinnert habe, hört während des Starts nicht auf zu reden. Sobald wir in der Luft sind, bestelle ich mir einen Scotch on the Rocks und zwar gleich einen Doppelten. Ich werde eine Menge Alkohol brauchen, um das hier zu überleben.
Ungefähr eine halbe Stunde nach dem Start beugt sie sich zu mir rüber, ihr Mund an meinem Ohr und ihre Hand auf meinem Bein. Sie ist meinen Kronjuwelen viel zu nah, als dass es noch schicklich gewesen wäre. Ich versuche ihre Hand wegzuschieben, aber sie bohrt mir die Nägel ins Fleisch. »Ich muss mal zur Toilette. Wollen wir uns dort treffen?«
»Ähm, da passe ich kaum allein rein, geschweige denn mit jemand anderem.«
»Vielleicht sollte ich stattdessen um Decken bitten.« Sie zwinkert mir übertrieben zu.
Ich senke die Stimme zu einem Flüstern. »Hast du vergessen, dass du behauptet hast, von mir schwanger zu sein? In sämtlichen sozialen Medien?«
Sie wirft den Kopf in den Nacken und lacht laut. »Oh mein Gott! Rook, du bist ja sooo witzig! Das war doch nur ein Scherz!«
Diese Tussi ist total durchgeknallt. »Du hast das ungefähr zwei Monate lang gepostet.«
»Na ja, du hast aufgehört, auf meine Nachrichten zu antworten, und ungefähr einen Monat lang dachte ich, ich wäre vielleicht wirklich schwanger.«
»Wir haben ein Kondom benutzt.«
»Ja, aber dieser Kinderwunsch-Drink, den meine Schwester genommen hat – den habe ich ebenfalls probiert.« Sie wedelt mit der Hand. »Wie dem auch sei. Es hat für mich nicht so funktioniert wie für sie, was ein Jammer ist, denn ich denke, wir würden hübsche Babys zusammen machen.« Wieder kuschelt sie sich an meinen Bizeps. »Wir könnten es noch einmal versuchen, wenn du für eine Weile in Seattle bleibst.«
»Sorry, ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist.«
»Warum nicht?«
Weil du geisteskrank bist. »Ich bin in einer festen Beziehung«, lüge ich.
»Oh.« Sie hört auf, meinen Arm zu umklammern. »Wirklich? Ich habe dich nie mit jemandem gesehen, und ich folge dir auf allen Social-Media-Accounts. Ich musste lauter neue einrichten, nachdem du mich blockiert hattest.« Sie scheint verärgert darüber zu sein.
»Die Beziehung ist auch ziemlich neu.«
»Wir befinden uns in einer anderen Zeitzone, daher wäre es im Prinzip kein Betrug, richtig? Oder du könntest einfach für mich in einem Becher kommen, wenn du denkst, das sei ein Problem. Sie halten ein paar Tage, solange sie nicht austrocknen.«
Ich verbringe die nächsten Stunden damit, ihre Annäherungsversuche abzuwehren. Was die Flüge meines Lebens betrifft, ist dieser hier bisher der schlimmste. Ich würde jederzeit Turbulenzen und einen weinenden Säugling Sissy vorziehen. Die Folter wird in die Länge gezogen, als der Pilot ankündigt, dass wir vor der Landung noch eine Stunde über der Landebahn kreisen müssen.
Sissy eilt neben mir her, als wir endlich aus dem Flugzeug steigen. Sie versucht immer noch, mich davon zu überzeugen, dass ein Betrug in einer anderen Zeitzone okay wäre. Sie folgt mir bis zum Gate, dann schlingt sie sich um mich wie ein Tintenfisch.
Schließlich greift die Security ein, und sie ist gezwungen, mich loszulassen. Die ganze Situation verstärkt mein Gelübde, nie wieder mit einem Häschen zu schlafen, ganz gleich, wie heiß es ist.
Sicherheitskuscheln
Es ist mir trotz unserer verzögerten Landung gelungen, meinen Anschlussflug nach Anchorage zu erwischen. Ich bin dankbar, dass die Person neben mir diesmal einen Anzug trägt. Ich mache es mir auf meinem Platz gemütlich – es ist ein Sitz am Gang und nicht am Fenster. Das entspricht nicht meinen Vorlieben, aber ich werde es überleben, solange ich kein verrücktes Häschen neben mir habe.
Ich stecke mir Hörer in die Ohren und stöpsele sie in die Entertainment-Konsole für einen Film. Nach dem letzten Flug verdiene ich drei Stunden seichte Unterhaltung.
Gerade als ich mich für einen Action-Film entschieden habe, landet jemand auf meinem Schoß. Zuerst denke ich, dass ich angemacht werde – wieder einmal. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Frauen sich mir buchstäblich an den Hals werfen. Doch normalerweise sitze ich dann nicht in einem Flugzeug, aber eingedenk meines letzten Fluges sollte mich im Moment nichts mehr überraschen. »Was zur …«
»Es tut mir so leid!«, sagt die Stimme, die zu dem Körper auf meinem Schoß gehört. Die Frau müht sich, sich aufzurichten, prallt aber würgend zurück, und eine Welle aus seidigem dunklen Haar klatscht mir ins Gesicht. Es riecht nach Pfefferminz und Gurke – das wäre auch ganz schön gewesen, wenn ich es nicht im Mund gehabt hätte.
Sie hält sich mit einer Hand an meinem Hemd fest und reißt mir meine Ohrhörer heraus. Die andere Hand krallt sich unter das Tuch, das fest um ihre Kehle gewickelt ist. Sie liegt der Länge nach über meinem Schoß, ihre Beine baumeln über die Armlehne, und ihr Gesicht ist auf der gleichen Höhe wie meins. Sie versperrt den Gang, sodass niemand an uns vorbeikommt. Und sie macht ein ziemliches Spektakel. »Mein Schal sitzt fest«, schnarrt sie. »Oh mein Gott. Ich erwürge mich selbst. Es tut mir so leid. Es ist ja so peinlich.« Je mehr sie kämpft, desto fester zieht sich der Schal, und in Panik strampelt sie wild mit den Beinen.
Ich stütze sie mit einem Arm ab. »Halten Sie eine Sekunde lang still.«
Sie erstarrt, wobei sie immer noch mein Hemd festhält, ihre Augen groß vor Panik. Ich drehe den Kopf zur Seite und beuge mich vor. Ihre Lippen berühren meine Wange.
»Oh!« Sie versucht sich wegzudrehen, aber sie sitzt wirklich fest, daher landet ihre Nase in meinem Ohr, und ihre Lippen drücken sich immer noch auf mein Kinn.
»Geben Sie mir nur noch ein paar Sekunden, dann sind Sie frei.« Sie stößt an meinem Kinn die Luft aus, und ihr warmer Atem kitzelt an meiner Haut. Ich hebe ihren Koffer hoch und ziehe mit dem Fuß den Schal aus dessen Rad.
Die Frau lockert den Stoff um ihre Kehle und holt lang und tief Luft. »Danke. Vielen, vielen Dank. Das ist nicht die Art, wie ich sterben wollte – auf dem Schoß eines attraktiven Mannes ersticken.« Sie presst die Augen zusammen und macht Anstalten aufzustehen. »Es tut mir so leid.«
Mit abgewandtem Blick rafft sie den Schal zusammen, der überhaupt kein Ende zu nehmen scheint. Das gibt mir Zeit, sie zu mustern. Okay, verflucht. Diese Frau ist heiß. So wie Übergieß-mich-mit-Benzin-und-zünde-mich-an-heiß. Sie hat langes dunkles Haar, von einem Braunton, der so tief ist, dass er fast schwarz wirkt. Ihre Augen haben die Farbe von Kaffee oder Schokolade – irgendetwas mit Koffein darin. Irgendetwas, das mich aufputschen würde. Und ihr Gesicht … verdammt. Hohe Wangenknochen, volle Lippen, eine zarte Nase, gewölbte Brauen, dichte Wimpern.
Ich betrachte den Rest des Pakets und stutze, denn ihr Outfit ist einfach … außergewöhnlich. Sie trägt einen Multifunktionsparka, der ihre Figur verbirgt, aber nach ihren Beinen zu urteilen ist sie wahrscheinlich schlank. Das ist jedoch nur eine Vermutung, bei all den Schichten Kleidung, die sie trägt. Und dieser Schal muss eine Meile lang sein, so oft wie sie ihn sich um den Hals schlingen muss, daher auch die Beinahe-Strangulierung.
Ihre kleine Garderobenfehlfunktion hat dazu geführt, dass eine ganze Schlange von Leuten darauf wartet einzusteigen, deshalb eilt sie den Gang entlang und wirft mir ein weiteres »Tut mir so leid« über die Schulter zu, während sie zu ihrem Sitz verschwindet.
Ich bin fast enttäuscht. Fast, aber nicht ganz. Ich setze meine Hörer wieder auf und überlasse mich für die nächsten drei Stunden irgendwelchen Filmen.
Sobald ich in Anchorage gelandet bin, rufe ich meinen Bruder an. Wir treffen uns immer hier, damit wir mit einer Propellermaschine nach Kodiak Island fliegen können. Das ist ein Familienritual seit meinen Teenagerzeiten. Obwohl unser Dad vor zwei Jahren gestorben ist, setzen Kyle und ich diese Tradition fort und verbringen einige Wochen in Alaska, um zu angeln. Das ist meine Lieblingsbeschäftigung während der spielfreien Zeit und das, worauf ich mich die meiste Zeit des Jahres freue, auch ohne meinen Dad.
»R. J., hey, ich versuche schon seit Stunden, dich zu erreichen.« Er klingt seltsam, vielleicht besorgt.
»Ich habe mich im Flugzeug nicht ins WLAN eingeloggt. Wo bist du? Ist alles in Ordnung?«
»Es geht um Joy.« Er hustet, als versuche er, seine Gefühle unter Kontrolle zu bekommen.
Ich lasse mich auf den nächstbesten Stuhl fallen. »Ist alles in Ordnung mit ihr?« Joy ist seine schwangere Frau. Mir ist bewusst, dass Kyle im nächsten Jahr auf keinen Fall drei Wochen mit mir in Alaska herumhängen wird. Nicht mit einem kleinen Kind. Er würde vielleicht ein langes Wochenende bekommen, aber dies ist für einige Jahre die letzte Reise, die wir zusammen unternehmen werden, vor allem wenn ein Kind zu weiteren führt.
»Man hat bei ihr einen Schwangerschafts-Diabetes diagnostiziert. Die Ärzte haben ihr Bettruhe verordnet.«
Das erklärt das Zittern in seiner Stimme. Ich richte mich höher auf, ein Gefühl der Enge in der Magengrube, da wir unseren Dad an Folgeerkrankungen im Zusammenhang mit Diabetes verloren haben. »Was bedeutet das? Wird sie sich wieder erholen? Geht es dem Baby gut?«
»Ja, es ist alles okay. Ihr geht es gut. Dem Baby geht es gut.« Er klingt, als versuche er sich selbst zu beruhigen, nicht mich. »Sie muss nur überwacht werden. Der Arzt sagt, es sei nicht ungewöhnlich. Es ist nicht wie das, was Dad hatte – es ist total anders.«
Ich entspanne mich ein wenig. »Okay, das ist gut. Soll ich nach L. A. kommen?«
»Nein. Das brauchst du nicht. Wir kommen zurecht. Mom und Stevie reden davon, Stevies Sachen jetzt hierher zu bringen, statt später im Sommer.« Unsere jüngere Schwester sitzt an ihrer Masterarbeit und hat beschlossen, dass sie im Westen sein will, weit weg von den kalten Wintern.
»Mom und Stevie kommen? Bist du dir sicher, dass ich nicht auch kommen soll?«
»Absolut. Du weißt ja, wie Mom ist – sobald sie etwas von Bettruhe gehört hat, hat sie angefangen zu packen. Es klingt viel ernster, als es ist, aber ich kann nicht nach Alaska kommen. Ich will Joy jetzt nicht allein lassen, und es kommt wirklich nicht infrage, so weit weg von ihr zu sein. Es tut mir leid, R. J., ich weiß, wie sehr du dich darauf gefreut hast.« Er klingt hin- und hergerissen, was ich nicht will, nicht wenn Joy mit Komplikationen zu kämpfen hat.
Ich verberge meine Enttäuschung. »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Ich verstehe das. Joy und das Baby stehen an erster Stelle.«
»Wenn du nicht allein weiterreisen willst, kannst du hierherkommen.«
Ich denke über das Angebot nach. Ich liebe meinen Bruder. Wir stehen uns ziemlich nah, obwohl wir Tausende Meilen voneinander getrennt leben, aber ich brauche diesen Urlaub. Ich brauche diese Zeit weit weg von den Medien und den ständigen Forderungen, Zeit, in der niemand irgendwelche Erwartungen an mich stellt. Ich muss an einem Ort sein, an dem ich mich meinem Vater nahe fühle. Mehr als alles andere sehne ich mich nach dem Frieden und der Abgeschiedenheit, die ich in Alaska finde, und der Flucht vor dem Zirkus, zu dem mein Leben geworden ist. Im vergangenen Jahr ist unser Mannschaftskapitän in den Ruhestand getreten, und ich habe seine Aufgabe übernommen. Er war sehr beliebt bei der Mannschaft und eine Legende im Sport, daher muss ich in große Fußstapfen treten.
»Danke, Kyle, aber ich werde ein paar Lachse fangen, mir einen gewaltigen Bart stehen lassen und vier Tage hintereinander nicht duschen.«
Er lacht. »Ich dachte mir, dass du das sagen würdest. Wenn ich später nachkommen kann, rufe ich an. Also, ich werde auf jeden Fall anrufen. Melde dich alle paar Tage, damit ich mich davon überzeugen kann, dass du nicht von einem Bären gefressen worden bist – und ich werde dich über die Dinge hier auf dem Laufenden halten.«
Der Handy-Empfang kann dort, wo wir normalerweise wohnen, ziemlich instabil sein, und das ist genau das, was ich will. Ich will Zeit haben um abzuschalten und einfach Mensch zu sein, kein NHL-Mannschaftskapitän. »Mach dir keine Sorgen um mich. Mit den Bären werde ich schon fertig – kümmer du dich einfach um deine Familie. Ich schicke Fotos.«
Wir verabschieden uns, und ich lasse den Kopf gegen die Wand fallen. Es nervt, dass mein Bruder nicht kommen kann, aber ich will trotzdem die Zeit in der Hütte, selbst wenn ich allein dort bin.
Eine halbe Stunde später trage ich meine Tasche zu der Cessna. Als ich das erste Mal mit einem so kleinen Flugzeug geflogen bin, habe ich mir die Seele aus dem Leib gekotzt, mittlerweile habe ich gelernt, auf dem Flug von Seattle nach Anchorage nichts zu trinken.
Ich bin der Letzte in der Schlange dieses winzigen Achtsitzers, was in Ordnung ist. Es ist ein kurzer Flug, und man hat von fast jedem Platz aus eine spektakuläre Aussicht aus dem Fenster. Bis auf die Plätze ganz hinten – die sind ein wenig beengt.
Ich muss mich ducken und zur Seite drehen, um in das Flugzeug zu steigen. Das kommt davon, wenn man mehr als einen Meter achtzig groß ist und mehr als zweihundert Pfund wiegt. Der Flieger ist fast voll, nur noch ein Platz frei … ganz hinten im Flugzeug. Ich schlängele mich durch den schmalen Gang. In die Ecke geschmiegt, eine Handtasche auf den Bauch gedrückt, sitzt dieselbe dunkelhaarige Frau, die mir auf dem vorangegangenen Flug in den Schoß gefallen ist. Okay, das könnte interessant werden.
Sie schaut vom Fenster weg, und ihr nervöses Lächeln verblasst, als ihre Augen sich weiten. Ihre Wangen werden rot, und sie hebt eine Hand an den Mund. »Oh nein.«
Ich grinse und kämpfe gegen ein Kichern an, während ich mich auf den Platz neben ihr setze. Es ist tatsächlich so eng wie auf einer Sitzbank im Schulbus.
Sie rutscht näher ans Fenster und versucht, mehr Platz für mich zu schaffen. Dann lässt sie die Hand sinken. »Es tut mir so leid, dass ich auf Sie gefallen bin.«
Ich lasse ein Grinsen aufblitzen und zwinkere ihr zu. »Das war bisher der aufregendste Teil dieser Reise, zerbrechen Sie sich darüber also nicht den Kopf.«
»Ich wollte Sie nicht küssen. Ich meine, Ihre Wange.« Die Röte in ihren eigenen Wangen vertieft sich noch. »Oh mein Gott, Lainey, halt einfach die Klappe und lass den armen Mann in Ruhe«, murmelt sie und zieht den Kopf ein.
»Es ist wirklich okay. So was kann doch mal passieren.«
Sie späht wieder zu mir empor, und ein winziges Lächeln zieht die rechte Seite ihres Mundes nach oben.
Ich strecke die Hand aus. »Ich bin R. J.«
Ich weiß nicht, warum ich ihr diesen Namen nenne. Mein Vater hat mich so genannt, und mein Bruder und meine Schwester tun es immer noch, aber das ist auch alles. Alle anderen nennen mich Rook oder Rookie. Vielleicht weil sie nicht zu wissen scheint, wer ich bin und ich nicht will, dass sie es herausfindet? Tja, jetzt ist es zu spät.
Sie lässt ihre in einem Fäustling steckende Hand in meine gleiten und verzieht dann das Gesicht. Nachdem sie ihren Fäustling ausgezogen hat, versucht sie es noch einmal. Ihre Hand ist warm und ein wenig feucht – und viel kleiner als meine –, aber ihr Griff ist fest. Sie schüttelt kräftig meine Hand. »Ich bin Lainey.«
»Hey, Lainey.«
»Hey, R. J.« Sie sieht mir einige Sekunden in die Augen. Immer noch kein Hauch von Wiedererkennen, fantastisch.
»Also, was führt Sie nach Alaska?«, frage ich, während ich mich anschnalle.
Ihre Augen leuchten auf. »Nun, ich schreibe gerade eine Masterarbeit, und mein Fokus liegt auf im Wasser lebenden Tieren. Ich bin fasziniert von Delfinen und Walen, daher verbringe ich sechs Wochen hier draußen, um sie zu studieren.«
»Eine Masterarbeit, hm? Sie müssen ziemlich klug sein.«
Sie zuckt die Achseln. »Ich lerne einfach gern. Das ist meine dritte Masterarbeit.«
»Ihre dritte? Wie alt sind Sie?« Sie sieht nicht alt genug aus, um einen ersten Masterabschluss zu haben, geschweige denn einen dritten. Obwohl die Schuld daran vielleicht ihr Outfit trägt.
»Fünfundzwanzig.«
»Und dies ist Ihre dritte Arbeit?«
Sie beißt sich auf die Unterlippe und nickt. »Hmm-hmm. Ich lerne gern Neues und bekomme immer wieder volle Stipendien. Ich habe einen Master in Sexualtherapie und einen anderen in Geologie. Diese Arbeit dreht sich um maritime Biologie. Insbesondere um im Meer lebende Säugetiere. Ich dachte, es wäre interessant, die Paarungsmuster von Delfinen im Gegensatz zu denen von Walen zu studieren.«
»Wie hängen all diese Themen zusammen?«
Sie zuckt die Achseln. »Eigentlich überhaupt nicht. Ich habe einfach viele unterschiedliche Interessen. Haben Sie zum Beispiel gewusst, dass Delfine sich nicht nur zum Zweck der Fortpflanzung paaren, sondern auch aus Vergnügen, wie Menschen?«
»Hm. Nein, das habe ich nicht gewusst.« Aber jetzt denke ich an Sex und dass ich lange Zeit keinen mehr hatte.
»Oh ja, sie sind sexuell sehr aktiv. Es stimmt aber nicht, dass sie sich fürs Leben paaren wie Hummer, denn das tun sie nicht. Sie suchen sich mehrere Partner. Genau wie einige Menschen das tun, obwohl wir in der westlichen Gesellschaft soziologisch konditioniert werden, uns einen einzigen Partner zu nehmen und bei ihm zu bleiben, im Gegensatz zu den Delfinen. Sie haben Sex, weil es Spaß macht.«
Sie beißt sich in die Fingerspitze. »Tut mir leid, ich lasse mich leicht mitreißen. Ich habe zur Vorbereitung auf diese Reise viel gelesen, und mein Gehirn ist so voller Fakten, dass sie manchmal einfach aus meinem Mund sprudeln. Ich kann aufhören zu reden, wenn Ihnen das lieber wäre.« Sie deutet auf das Telefon in meinen Händen, um das die Ohrhörer gewickelt sind.
Ich stecke es in die Tasche. »Nein, Sie sind interessanter als alles, was ich mir da drauf anhören könnte.«
Ihr Lächeln wird noch breiter, dann zieht sie abermals den Kopf ein und errötet. Gott, ich vermisse schüchterne Frauen. Die sich mir nicht an den Hals werfen, weil sie mit einem Star schlafen wollen.
»Was ist mit Ihnen? Warum besuchen Sie Kodiak Island?« Sie mustert mich, als versuche sie, mich zu ergründen.
Ich bin lässig gekleidet und trage Jeans, T-Shirt und einen Kapuzenpulli. »Ich komme jeden Sommer her, um mit meinem Bruder zu angeln, aber in diesem Jahr schafft er es nicht, daher bin ich allein.«
»Oh. Was für ein Pech.«
Ich zucke die Achseln. »Es ist in Ordnung für mich. Manchmal ist es schön, von all dem Wahnsinn wegzukommen und mit der Natur in Frieden zu sein, verstehen Sie das?«
»Oh ja, definitiv. Ich habe ein Jahr lang in Seattle studiert. Nun, eher einen Monat lang. Es war viel.« Sie schaudert und schüttelt den Kopf. »Ich komme nicht aus einer Großstadt. Unser Dorf hatte weniger als zweitausend Einwohner, daher war es eine gewaltige Veränderung. Großstädte können aufregend sein – aber auch Furcht einflößend. Kommen Sie aus Seattle?«
»Ich bin in New York aufgewachsen.«
»Ich wollte immer mal dorthin, aber es sieht so … überwältigend aus.«
»Nun, um fair zu sein, ich bin im Hinterland New Yorks aufgewachsen, und das ist etwas ganz anderes als die City. Es ist in manchen Gebieten ziemlich ländlich.«
»Oh ja, das habe ich mal irgendwo gelesen.«
Der Pilot informiert uns, dass wir die Freigabe für den Start haben. Lainey presst sich ihre Fäustlinge an die Brust, dann rollen wir auch schon zur Startbahn.
»Geht es Ihnen gut?«
»Ich bin noch nie mit einem so kleinen Flugzeug geflogen«, antwortet sie.
»Es wird schon gut gehen. Versprochen. Ich habe das mindestens zwanzigmal gemacht, und ich habe jeden einzelnen Flug überlebt.«
Ihre Augen sind groß, als sie nickt, dann schaut sie aus dem Fenster, während wir Fahrt aufnehmen. Als die Räder sich vom Asphalt lösen, umklammert sie meinen Unterarm. »Oh! Das ist viel holpriger als das große Flugzeug, nicht wahr?«
»Ja. Ein wenig. Sie werden sich daran gewöhnen.«
Sie lässt meinen Arm los und drückt wieder ihre Fäustlinge an sich. »Tatsächlich bin ich heute überhaupt zum ersten Mal in meinem Leben geflogen.«
»Wirklich?«
»Der erste Flug war schön. Ich meine, neben mir hat ein sehr alter Mann mit Unmengen Nasenhaaren gesessen, der nach Mottenkugeln roch, aber davon abgesehen war er in Ordnung. Sie riechen viel besser als er.« Abermals errötet sie. »Wie dem auch sei, ich schätze, in einem so kleinen Flugzeug wie diesem spürt man alles viel intensiver.«
Diese Frau ist wie ein Atemzug frischer Luft. Und ihre Unschuld ist reizvoll, vor allem da ich während der nächsten Wochen allein sein werde. Doch Kodiak Island ist ziemlich teuer, deswegen könnte dieser kurze Flug alles sein, was ich von Lainey sehen werde. Ich werde das Beste aus dieser Stunde Normalität machen. »Ich kann nicht glauben, dass dies Ihre ersten Flüge sind.«
»Normalerweise nehme ich den Zug, wenn ich irgendwohin will. Aber es gibt keinen Zug zur Insel, und ich war mir nicht sicher, ob ich die lange Fahrt mit der Fähre aushalten kann, also bin ich jetzt hier.« Wir fliegen in eine kleine Turbulenz, und sie gibt ein leises Quieken von sich, dann begräbt sie das Gesicht an meiner Schulter. »Es tut mir so leid«, murmelt sie in meinen Arm. »Sie kennen mich überhaupt nicht, und ich benutze Sie wie einen Teddybären.«
Ich lache. »Ich würde auf Ihren Schoß klettern, damit Sie mit mir kuscheln können, aber ich denke nicht, dass ich auf Ihren Schoß passen würde.« Aber sie würde definitiv sehr schön auf meinen Schoß passen.
»Traurigerweise nicht – Sie sind ziemlich riesig.« Sie drückt meinen Bizeps und lässt ihn mit einem langsamen Ausatmen los.
»Wie wäre es, wenn ich einfach das tun würde?« Ich lege ihr einen Arm um die Schultern.
»Das ist schön.« Sie rückt ein wenig näher an mich heran und kuschelt sich an mich. »Jetzt fühle ich mich viel … sicherer.«
Ich bin mir nicht sicher, ob sie mit mir flirtet oder einfach wirklich einen menschlichen Kontakt braucht, um gegen ihre Angst zu kämpfen, aber ich genieße es, daher lasse ich es einfach zu. »Sicherer ist gut.«
»Das ist es«, pflichtet sie mir bei.
Ich verbringe die nächsten Minuten damit, ihr die Geografie zu erklären, während sie aus dem Fenster schaut, aber als wir in eine weitere Turbulenz geraten, erbleicht sie.
»Oh nein!« Sie drückt sich eine Hand auf den Mund.
»Alles in Ordnung mit Ihnen?«
Sie schüttelt den Kopf, hört dann aber abrupt damit auf und erbleicht noch mehr. »Ich fühle mich nicht besonders.«
Ich greife in die Sitztasche vor uns und hole die Kotztüte heraus. Nachdem ich hineingeblasen habe, um die Tüte zu öffnen, reiche ich sie ihr. »Vielleicht atmen Sie einfach in das Ding.«
Sie nimmt mir die Tüte mit zitternden Händen ab und beugt sich vor, und ihr Haar gleitet ihr über die Schultern. Ich greife danach und wickele mir die weichen seidigen Strähnen um die Hand, damit sie ihr nicht im Weg sind.
Und dann muss sie sich übergeben. Sie versucht leise zu sein, während sie noch einige weitere Male würgt. Ich streiche ihr mit dem Daumen über den Nacken, und sie bekommt eine Gänsehaut.
Mit meiner freien Hand suche ich in meinen Taschen nach einem Taschentuch, dankbar dafür, als ich eine ganze Packung in meinem Kapuzenpulli finde. Sie sind zerknittert, aber unbenutzt, daher reiche ich sie ihr. Lainey wendet den Kopf ab, wischt sich mit einem Taschentuch über den Mund und lässt das besudelte Ding in die Tüte fallen. Sie rollt den oberen Rand einige Male zusammen, um die Tüte zu verschließen.
Ich lasse ihr Haar aus meiner Hand gleiten und streiche ihr über den Rücken. »Sind Sie okay?«
»Abgesehen davon, dass mir das Ganze schrecklich peinlich ist, geht es mir gut«, murmelt sie. »Ich weiß nicht, was ich mit dem Ding machen soll.« Sie hält die Tüte hoch.
»Kommen Sie, ich kümmere mich darum.«
»Oh Gott, nein. Mein Erbrochenes ist da drin.«
»Es ist besser, wenn sie im Müll landet als irgendwo sonst, nicht wahr?«
»Oh ja, im Mülleimer ist sie viel besser aufgehoben.« Sie überreicht mir die Tüte.
Ich löse meinen Sicherheitsgurt, schlängele mich durch den Gang und werfe die Tüte in den Mülleimer im vorderen Teil des Flugzeugs, dann kehre ich zu meinem Platz zurück. »Fühlen Sie sich besser?«
»Ein wenig. Es tut mir so leid. Ich bin die schlimmste Person, neben der man in einem Flugzeug sitzen kann.«
»Das stimmt gar nicht. Tatsächlich gefällt es mir, jemandes persönlicher Teddybär zu sein. Ich würde mich freiwillig für eine dauerhafte Anstellung melden, falls eine Stelle frei wäre.« Ich lasse eine Hand in meine Tasche gleiten und stöbere darin herum, bis ich mein Päckchen Kaugummi finde und es ihr anbiete.
Sie zieht mir das Päckchen aus der Hand. »Ich liebe Sie heiß und innig.«
Ich lache. »So einen miesen Geschmack haben Sie im Mund, hm?«
»Ganz scheußlich. Ich habe am Flughafen einen Burrito gegessen.«
»Oooh. Schlechte Entscheidung, das.«
»Das können Sie laut sagen.« Sie steckt sich einen Kaugummi in den Mund, schließt die Augen und kaut einige Male.
»Besser?«
»So viel besser.« Sie will mir das Päckchen zurückgeben, aber ich schließe ihre Hand darum.
»Sie gehören ganz Ihnen.«
»Vielen Dank.« Sie steckt die Kaugummis in ihre Handtasche, holt eine kleine Flasche Desinfektionsmittel heraus und spritzt sich etwas in die Hand, bevor sie es an mich weiterreicht.
Bevor ich weiß, wie mir geschieht, befinden wir uns im Sinkflug. Laineys Hände sind auf ihrem Schoß zu Fäusten geballt, und sie presst die Augen fest zusammen.
»He.« Ich lege den Arm abermals über die Rückenlehne des Sitzes. »Ihnen passiert schon nichts. Ihr menschlicher Teddybär sitzt gleich neben Ihnen und steht zur Verfügung zum Sicherheitskuscheln.«
Sie lächelt nervös und rückt näher an mich heran, dann drückt sie sich fest an mich. »Danke, dass Sie so nett sind, R. J.«
Ich weiß nicht, ob sie das auch sagen würde, wenn sie wüsste, dass ich vor ihr verberge, wer ich wirklich bin. Aber hier in diesem Flugzeug bin ich kein Stürmer und Mannschaftskapitän der NHL, der überall in dem Ruf steht, ein Aufreißer zu sein. Ich bin nur ein Mann, und sie ist nur ein Mädchen.
Eine Hütte im Wald
Wenn dieses Flugzeug abstürzt, sterbe ich wenigstens mit einem guten Gefühl.
R. J. besitzt die Art von Attraktivität, die eine Frau dazu bringt, nicht mehr darauf zu achten, was sie tut und sich mit ihrem eigenen Schal fast zu erwürgen. Er ist groß und gut gebaut, sein dunkles Haar lockt sich in seinem Nacken, seine haselnussbraunen Augen haben einen dunkelgrünen Ring, und er hat ein Lächeln, bei dem mir ganz schwummrig wird.
Ich drücke mich an ihn, und er hat den Arm über die Rückenlehne des Sitzes gelegt, sodass seine Finger auf meiner Schulter ruhen und mich beschützen. R. J.s Arm ist sehr fest und solide und dick wie ein Baumstamm. Außerdem riecht er toll, nach frischer Wäsche und einem Rasierwasser mit einem Hauch von Pfefferminze, wie von dem Kaugummi, das er mir gegeben hat, um meinen Mundgeruch loszuwerden.
Er hat sich um meine Tüte mit Erbrochenem gekümmert. Das war furchtbar peinlich und unglaublich süß zugleich. Zumindest ist es zu der Beinahe-Strangulierung mit dem Schal gekommen, bevor ich mich übergeben habe. Gegenwärtig kralle ich eine Faust in seinen Kapuzenpulli und drücke mir meine Fäustlinge mit der anderen Hand an die Brust. Außerdem versuche ich immer wieder, das Gesicht in seiner Achselhöhle zu vergraben. Trotz des langen Fluges von Seattle hierher und dem winzigen, beengten Raum in diesem Flugzeug gelingt es ihm, nach Deo zu riechen.
Er bedeckt meine Hand, die in seinen Pulli gekrallt ist, mit seiner.
»Entschuldigung.« Ich löse meine Finger gewaltsam aus dem weichen Stoff, aber bevor ich die Hand wegziehen kann, fädelt er seine Finger zwischen meine. Es ist ein unerwarteter Akt von Intimität.
»Noch ein paar Minuten, dann sind wir wieder auf dem Boden«, beruhigt er mich.
Ich drücke ihm die Hand, während das Flugzeug tiefer sinkt, und quieke in meiner Angst, als die Räder den Asphalt berühren. Dann drücke ich das Gesicht an R. J.s Brust.
Schließlich, als klar ist, dass wir über die Landebahn holpern, spähe ich nach oben.
R. J. schaut grinsend auf mich herab; es ist entwaffnend charmant. »Wir haben überlebt.«
Ich schaue aus dem Fenster auf die Berge, die sich zu meiner Rechten erheben, und das Wasser zu meiner Linken. »Ja.« Jetzt, da wir auf dem Boden sind, ist mir das alles wieder furchtbar peinlich. »Danke, dass Sie ein persönlicher Beschützer und menschlicher Teddybär waren.«
R. J. lächelt noch breiter. »Es war mir wirklich ein Vergnügen.«
»Ich weiß nicht, ob es für irgendjemanden ein Vergnügen sein kann, mich kotzen zu sehen, aber danke, dass Sie so nett zu mir waren.« Ich sammle meine Handtasche und meine Fäustlinge ein und überzeuge mich davon, dass ich alles habe, bevor wir von Bord gehen. Unser Gepäck wartet auf der Landebahn auf uns. Die kalte Luft, die vom Wasser kommt, lässt mich schaudern, wahrscheinlich weil ich während der vergangenen Stunde in meinem Parka vor mich hin gekocht habe. Ich stopfe die Hände in meine Fäustlinge und versuche, mir das Haar aus dem Gesicht zu streichen – aber das ist nicht besonders effektiv, solange ein ordentlicher Wind weht.
»Erlauben Sie mir, Ihnen zu helfen«, erbietet R. J. sich, als er meinen Kampf bemerkt. Er wirft sich seine riesige Reisetasche über eine Schulter und schnappt sich den Griff meines Koffers, und wir machen uns auf den Weg in die Wärme und Sicherheit des Ankunftsterminals. Ich beeile mich, mit seinen langen Schritten mitzuhalten.
Sobald wir drinnen sind und der Wind nicht länger ein Problem darstellt, stopfe ich die Fäustlinge in meine Handtasche und flechte schnell mein Haar, damit ich mich nicht wieder damit herumärgern muss, wenn wir nach draußen gehen. R. J. bleibt stehen, als wir den Mietwagenschalter erreichen. »Wohin fahren Sie von hier aus?«
»Ich habe eine Hütte ungefähr zehn Meilen außerhalb von Kodiak. Sie liegt angeblich am Wasser. Ich wollte eine authentische Alaska-Erfahrung.« Die ausgedruckte Wegbeschreibung vom Flugplatz zur Hütte befindet sich in meiner Handtasche.
»Also brauchen Sie einen Mietwagen?« R. J. deutet auf die Autovermietung. »Ich besorge mir ein Auto. Wenn Sie wollen, kann ich Sie nach Kodiak fahren, und Sie können sich dort einen Wagen mieten – das wird erheblich günstiger ohne die Flughafensteuer.«
Ich befingere verlegen die Spitzen meines Zopfs. »Oh, das ist wirklich nett von Ihnen, aber ich habe keinen Führerschein.«
R. J. legt den Kopf schräg, seine Miene neugierig. »Wie wollten Sie denn zu Ihrer Hütte kommen?«
»Ich wollte mit einem Bus in die Stadt fahren und dann für den Rest des Weges ein Taxi nehmen.«
»Oder ich könnte Sie einfach hinfahren.«
»Das kann ich unmöglich von Ihnen verlangen. Wir müssen vielleicht in unterschiedliche Richtungen.«
»Sie haben gesagt, Ihre Hütte liegt zehn Meilen außerhalb von Kodiak, richtig? Ich fahre ohnehin in diese Richtung. Es macht mir nichts aus, Sie abzusetzen – es sei denn, Sie warten noch auf jemanden?«
»Oh nein, ich bin ganz allein.« Ich versuche die Hände still zu halten, statt beim Sprechen damit zu gestikulieren, was ich immer tue, wenn ich nervös bin. Ich bin übrigens oft nervös.
R. J. zieht die Brauen zusammen. »Also sind Sie allein hier draußen ohne ein Auto?« Das scheint ihm Sorgen zu bereiten, was natürlich bedeutet, dass es auch mir plötzlich Sorgen macht.
»Ich kann jederzeit ein Taxi rufen, wenn ich in die Stadt muss.« Zu Hause bin ich mit dem Fahrrad überall hingefahren. Und während meines kurzen Aufenthalts in Seattle habe ich öffentliche Verkehrsmittel benutzt. Das war definitiv nervenaufreibend. All diese Menschen auf so engem Raum zusammen.
Es wäre eine gute Idee, mir hier ein Fahrrad zu besorgen, damit ich in die Stadt fahren kann, um Lebensmittel und andere Dinge einzukaufen. Dann brauche ich keine höflichen Gespräche mit irgendwelchen Taxifahrern zu führen. Außerdem gibt es eine Menge Filme über Psychokiller, die arglose Opfer auflesen und so. Ich will keinem dieser Killer über den Weg laufen, während ich hier bin. Ich setze den Kauf eines Fahrrads auf meine mentale To-do-Liste. Vor allem bin ich müde und brauche eine Dusche und vielleicht ein wenig Ruhe nach diesem langen Tag.
»Okay.« Er kratzt sich den Nacken. »Aber erlauben Sie mir zumindest heute, Sie zu fahren.«
»Nur wenn es nicht zu viel Mühe macht.« Er kommt mir ungefährlich vor, gar nicht wie ein Psychokiller.
Er schenkt mir das gleiche Lächeln wie zuvor, ein Lächeln, das durch und durch geht. »Es macht nicht die geringste Mühe, Lainey.«
Ich warte bei unserem Gepäck, während er die Schlüssel für seinen Wagen abholt. Dann gehen wir zu dem Parkplatzwächter, wo ein riesiger grauer Truck mit Überrollbügeln und hüfthohen Reifen auf uns wartet.
R. J. lädt unsere Taschen in den Kofferraum und hilft mir auf den Beifahrersitz, bevor er um die Motorhaube herumgeht und selbst einsteigt. Er stellt im Radio einen Lokalsender ein und dreht die Lautstärke herunter, während wir den Schildern nach Kodiak folgen.
»Es ist einfach so schön hier.« Ich kann den Blick nicht von den Bergen in der Ferne losreißen oder von dem Wasser zu meiner Rechten.
»Das ist es wirklich – und friedlich, vor allem wenn man die Stadt hinter sich lässt und auf dem Wasser ist«, antwortet R. J.
Es dauert nicht lange, und wir fahren durch die Stadt Kodiak, wo wir anhalten, um Lebensmittel zu kaufen. Es ist ein wenig peinlich, Nahrungsmittel mit jemandem zu kaufen, den ich nicht kenne, aber ich bin froh über die Gelegenheit, mich mit Grundnahrungsmitteln zu bevorraten. Denn alles, was ich in meiner Handtasche habe, sind einige Müsliriegel.
Er hilft mir, meine Einkäufe im Truck zu verstauen, dann programmiert er die Adresse meiner Hütte in sein GPS und schenkt mir ein schiefes Lächeln. »Sie wohnen tatsächlich nur eine Dreiviertelmeile von der Hütte entfernt, in der ich sein werde. Wie stehen die Chancen, dass so etwas passiert?«
»Es ist ein ziemlich verrückter Zufall, nicht wahr?« Es ist außerdem zu schön, um wahr zu sein.
Ich habe ein Kribbeln im Bauch, als entlang der Straße Ladenfronten und Häuser hohen Bäumen weichen. Ich sitze allein in einem Wagen mit einem Mann, den ich kaum kenne, und wir fahren in die Wildnis, wo es nicht allzu viele Menschen gibt. Im Allgemeinen ist es mir lieber so, es sei denn, es ist meine Familie, die ich kenne und der ich vertraue. Aber im Moment bin ich nervös und unsicher. »Meine Hütte hat angeblich Satellitenfernsehen. Ich mag den Discovery Chanel besonders, und natürlich ist Animal Planet immer faszinierend.« Mir wird bewusst, dass ich plappere, deshalb stelle ich ihm eine Frage. »Sehen Sie auch fern?«
»Ja, ich sehe fern.« Er lächelt, konzentriert sich aber weiter auf die Straße.
»Haben Sie eine Lieblingssendung?« Das ist gut. Ich kann mehr über ihn in Erfahrung bringen. Vielleicht haben wir noch andere Dinge gemeinsam als eine Vorliebe für Alaska.
»Natürlich, das hängt von meiner Stimmung ab und wie viel Zeit ich habe. Manchmal sehe ich stundenlang irgendwelche Shows.«
»Oh, ich auch! Einmal habe ich mir eine ganze Staffel Criminal Minds auf einmal angesehen, was keine gute Idee war. Ich bin total paranoid geworden und dachte, ein Serienkiller würde mich jeden Moment entführen.« Ich sehe zu R. J. hinüber, und meine Nerven spielen verrückt.
Er ist riesig, viel größer als ich. Und obwohl ich Kurse in Selbstverteidigung belegt habe, bin ich mir nicht sicher, ob ich gegen jemanden, der so massig ist wie er, etwas ausrichten könnte. Was ist, wenn er vorhat, mich in seine Hütte zu bringen und dort festzuhalten, wie ein Haustier? Oder wie eine Geisel? Ich sollte bei dem Gedanken panischer sein. Wie die Dinge liegen, rast mein Herz auch so.
Er wendet den Blick für eine Sekunde von der Straße ab. »Ich verspreche Ihnen, dass ich kein Serienmörder bin.«
»Sind Sie Gedankenleser?« Was zur Hölle habe ich mir dabei gedacht, in einen Wagen zu einem Mann zu steigen, den ich in einem Flugzeug kennengelernt habe? Ich kann meine Mutter förmlich hören, wie sie wegen dieser dummen Entscheidung ausrastet. Wenn er mich tatsächlich entführt, werde ich nie wieder einen ihrer Vorträge hören. Ich bin mir nicht sicher, wie ich dazu stehe. Ich liebe sie, aber einer der Gründe, warum ich hier draußen bin, ist die Tatsache, dass sie mich auf eine überwältigende Weise erdrückt.
R. J. lacht, was mich daran erinnert, dass ich eine Frage gestellt habe, bevor ich mich in meiner ängstlichen Gedankenspirale verloren habe. »Nein, aber Ihr Gesichtsausdruck sagt irgendwie alles. Ich bin einfach ein Mann, der einige Wochen in der Wildnis rumhängen will und vorhat, ein paar Fische zu fangen. Sie sind bei mir sicher.«
»Das hoffe ich.« Ich ringe die Hände, und vor Furcht wird mein Mund trocken und meine Handflächen werden feucht. Verdammt. Warum muss ich mir um alles Sorgen machen?
Er nimmt den Fuß vom Gaspedal und zeigt auf das Beifahrerfenster. Wir fahren an einem roten Briefkasten vorbei, auf dem Sweet View Home steht. »Das ist meine Einfahrt. Ihre Hütte liegt nicht allzu weit entfernt am anderen Ende der Straße.«
Eine Minute später nimmt er eine Rechtskurve auf einen schmalen Lehmweg, dessen Mitte überwuchert ist. Dort wachsen in einem Streifen circa dreißig Zentimeter lange Gräser. Äste streifen die Spiegel, als wir an ihnen vorbeifahren. Es ist eine holprige Fahrt, und ich ärgere mich, dass ich nicht zur Toilette gegangen bin, solange wir noch in der Stadt waren.
Der Weg führt schließlich auf eine Lichtung und zu einer winzigen Hütte.
»Oh! Wie süß!« Ich klatsche in die Hände, ganz aufgeregt, dass ich endlich am Ziel bin und immer noch lebendig.
Zum ersten Mal in meinem ganzen Leben werde ich ein echtes Abenteuer genießen. Ganz allein. Dies wird anders sein als meine kurze Zeit an der University of Seattle. Es wird friedlich und ich werde total sicher sein. Hier wird mir nichts Schlimmes zustoßen. Es wird toll werden. Zumindest rede ich mir das ein, während sich in meinem Magen genug Knoten formen, um einen professionellen Entfesselungskünstler vor ein Problem zu stellen.
Als wir uns der Hütte nähern, sieht sie nicht mehr ganz so süß aus. Diese Hütte ist tatsächlich ziemlich baufällig.
R. J. runzelt die Stirn. »Sind Sie sich sicher, dass das die richtige Adresse ist?«
Ich wühle in meiner Handtasche nach dem Ausdruck der Bestätigungs-E-Mail. Ich streiche das Blatt glatt. Die Zahl auf der Hütte stimmt mit der Adresse auf der E-Mail überein, aber auf dem Foto sieht die Hütte erheblich besser aus. »Jepp, wir sind hier richtig. Vielleicht war die Anzeige alt?«
»Ja. Vielleicht. Kann ich Ihnen helfen, sich einzurichten?«
»Sie haben schon so viel für mich getan. Sie müssen sich sicher selbst in Ihrer Hütte einrichten.« Ich greife nach dem Riemen meiner Handtasche, um nicht abermals die Hände zu ringen. Natürlich mache ich mir jetzt Sorgen, dass ich ihn hereinbitten sollte und dass er vielleicht vorhaben könnte, zu bleiben und mit mir abzuhängen. Aber ich bin müde, und ich glaube nicht, dass ich unter diesem Parka sehr gut rieche.
»Es macht mir nichts aus. Lassen Sie mich zumindest helfen, Ihre Sachen in die Hütte zu tragen.«
Ich kämpfe gegen die Paranoia an, dass er das nur anbietet, damit er mich an mein Bett ketten kann. Wenn er wirklich ein Serienmörder wäre, hätte er mich einfach in seinen Bunker geschleppt, statt mich bei meiner Hütte abzusetzen. Außerdem wäre es irgendwie peinlich, wenn ich meine Sachen selbst tragen würde, während er im Auto sitzt. »Okay. Natürlich. Vielen Dank.«