Gameshow – Der Preis der Gier - Franzi Kopka - E-Book
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Gameshow – Der Preis der Gier E-Book

Franzi Kopka

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Beschreibung

Gegen wen spielst du wirklich? 2126, New London: Als die siebzehnjährige Cass in die niedrigste Klasse der Gesellschaft verstoßen wird, weiß sie, dass es nur einen Weg gibt, dieser Hölle zu entkommen: Sie muss es in die nächste Gameshow schaffen. Wer an der Gameshow teilnimmt, kann ein Ticket nach ganz oben gewinnen – oder bezahlt die Chance mit dem Leben. Cass bekommt unerwartet Hilfe von Jax, dem besten Gamer in der Arena. Die beiden werden Verbündete im großen Spiel um ihr eigenes Leben und gesellschaftlichen Aufstieg. Doch ihr Deal und auch ihre Gefühle füreinander beruhen auf einer Lüge, die alles, was sie sich gemeinsam erkämpft haben, zum Einsturz bringen könnte. Ein kraftvolles, actionreiches Debüt über ein perfides System, das nur funktioniert, weil menschliche Gier keine Grenzen kennt.

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Seitenzahl: 493

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Franzi Kopka

Gameshow

Der Preis der Gier

Roman

 

 

Über dieses Buch

 

 

Gegen wen spielst du wirklich?

 

2126, nach dem 4. Weltkrieg, New London: Als die siebzehnjährige Cass durch einen Verrat ihres Vaters in die niedrigste Klasse der Gesellschaft verstoßen wird, weiß sie, dass es nur einen Weg gibt, dieser Hölle zu entkommen: Sie muss es in die nächste Gameshow schaffen – und gewinnen. Bereits das erste Game endet beinahe tödlich für Cass, doch vollkommen überraschend bekommt sie Hilfe. Von Jax: smaragdgrüne, unergründliche Augen und der beste Gamer in der Arena. Jax macht ihr ein Angebot, das Cass nicht ausschlagen kann, und die beiden werden Partner im großen Spiel um Aufstieg und Überleben. Doch beide bewahren ein Geheimnis, das ihr Abkommen auf tönerne Füße stellt.

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter www.fischerverlage.de/kinderbuch-jugendbuch

Biografie

 

 

Franzi Kopka wurde 1990 im bergischen Land als Tochter einer Buchhändlerin geboren. Dank der zahlreichen Romane im Haus ist sie mit der Frage »Was wäre wenn« aufgewachsen und hat schon früh damit angefangen, sich selbst Geschichten für ihre drei jüngeren Geschwister auszudenken. Die meisten Inspirationen begegnen ihr auf Reisen, vor allem in London, dem ihre große Liebe gilt und das das Setting »Gameshow – Der Preis der Gier« ist.

 

Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage finden Sie unter www.fischerverlage.de

Für meine Mama Christiane,

die mir von Anfang an beibrachte,

wie mächtig Wörter sein können.

Wetteinsatz ein Lachen bringt,

Coin für Coin das Herze singt.

Spielst du viel und voller Fleiß,

trägst auch du schon bald das Weiß.

 

Horace Scott, Mitbegründer von New London

Prolog

Die Stille war jedes Mal ohrenbetäubend. In ihr hallten all die Geheimnisse nach, die Schreie, jedes gequälte Aufstöhnen und jedes Flehen, dass es endlich vorbei sein möge.

Sie ließ ihr Instrument sinken. Ein Kind hatte es einmal als Zauberstab bezeichnet, und es hatte recht gehabt. In gewisser Weise konnte die Frau zaubern. Sie konnte aus traumatisierten Seelen freie Geister machen, aus Geheimnishütenden ahnungslose Gestalten, und wenn man sie dazu zwang, konnte sie ganze Existenzen auslöschen.

In Wahrheit wusste sie natürlich, dass es keine Magie war, sondern Wissenschaft, in der sie ihre ganz besondere Begabung gefunden hatte. Manchmal wünschte sie sich, dieses Talent abstreifen zu können, doch sie wusste, dass es außer ihr niemanden gab, der zu solcher Präzision fähig war. Es war keine Arroganz, so zu denken, es waren nüchterne Fakten. Und sosehr sie ihre Gabe verabscheute, so wenig wollte sie riskieren, zu werden wie dieser Mann im OP-Stuhl.

Seine Augen waren noch immer geschlossen. Ein Speichelfaden hing aus seinem leicht geöffneten Mund, ein Überbleibsel des Gebrülls, mit dem er sie angefleht hatte, es schnell zu tun. Er hatte nicht wissen können, dass sie ihm mehr als eine einzelne Erinnerung nehmen würde. Sobald er erwachen würde, würde er sich nicht einmal an seinen Namen erinnern können, so sehr hatte sie sein Gedächtnisimplantat malträtiert.

Sie schüttelte den Gedanken ab. Sie musste aufhören, sich in dieser Routine jedes Mal zu quälen. Ohne den Gedächtnislosen noch einmal anzusehen, rollte sie mit ihrem Drehhocker zu dem metallenen Tisch. Sie wollte gerade den Knopf drücken, als die Tür aufgerissen wurde. Sein Anblick trieb ihr den Stich der Gewissheit ins Herz.

»Sie wissen es.«

Die Frau versuchte, den Kloß in ihrem Hals zu ignorieren. »Wie viel Zeit haben wir noch?«

»Er wird heute nach Dienstende vorbeikommen.«

Jeder ihrer Muskeln verkrampfte sich. »Gut. Du musst sie sofort herbringen.«

»Aber –«

»Du hast mir versprochen, dass wir nicht diskutieren, wenn es so weit ist.« Für einen Moment kehrte die Stille zurück, in der die Frau ihren Blick milde werden ließ. »Ich weiß, dass es eine schreckliche Bürde ist, aber wir haben keine Wahl.«

Obwohl der Mann hochgewachsen war, wirkte er jetzt wie ein verlorener Schuljunge.

»Bitte.«

»Wenn sie hier ist, kann es sein, dass sie alles mit ansehen wird. Sie wird für immer –«

»Nein.« Ihre Stimme war mit einem Mal schärfer als jede Klinge. »Du bist fast genauso gut wie ich, also wirst du dafür sorgen, dass sie sich an nichts davon erinnern wird. Nicht, bis es notwendig ist.«

Der Mann starrte sie an, als hätte sie eine fremde Sprache gesprochen. Sie kannte ihn lange genug, um das Wechselbad in seinen fast schwarzen Augen zu verstehen, den Wandel von Ablehnung über Bestürzung zum Widerspruch bis zur Resignation, die in einem Hauchen über seine dunklen Lippen kam: »Ich werde eine Stunde brauchen.«

»Danke. Vielleicht wird auch alles anders enden, als wir befürchten.«

»Vielleicht.«

Sie teilten noch ein trauriges Lächeln, als der Patient neben ihnen aufstöhnte. Ab jetzt war wieder Routine gefragt.

Kapitel 1

»Zehntausend Pailletten, jede einzelne von Hand angenäht.« In der Stimme der Modeberatung schwingt Stolz, als hätte sie die Nadel selbst geführt. Sehr unwahrscheinlich. Sie trägt eins der leicht transparenten Handschuhmodelle, durch die man den Chip in ihrer rechten Handfläche hindurchschimmern sieht. Feinstes Platin, das beweist, wie gut der Laden auf der New Carnaby Street läuft. Kein Wunder, bei den Preisen.

»Was sagst du, Cass?« Eliza dreht sich auf dem Sockel von links nach rechts, so dass die purpurnen Pailletten glitzern wie ein Meer aus tausend Tautropfen in der Morgensonne. Zehntausend, korrigiere ich mich mit der Stimme der Beratung.

»Du siehst absolut umwerfend aus«, sage ich. Bei jeder anderen wäre ich neidisch, aber wenn es um Eliza oder Amanda geht, regt sich nur eine gewisse Bewunderung in mir. Wir kennen uns schon seit dem Kindergarten, und trotz aller Streitereien waren wir immer füreinander da. Selbst nach Mums Ausstieg. Schnell dränge ich den Gedanken beiseite.

»Findest du nicht, dass ich etwas blass aussehe?« Skeptisch dreht sich Eliza zu dem monströsen Spiegel, der die halbe Wand des Ankleidezimmers bedeckt.

Alles hier ist in warmen Cremetönen gehalten. Die Vorhänge der beiden Umkleiden, der Teppich, die Chaiselongue, neben der ein Tischchen mit Champagner und Pralinen steht, die beiden Podeste und selbst der Rahmen des Screens, der oben in der Ecke gerade ein Game live überträgt. Direkt darunter steht ein Terminal, damit die Kundschaft jederzeit eine Wette platzieren kann. Als hätte man beim Shoppen nichts anderes im Kopf!

»Quatsch!« Ich raffe den Saum meines Kleides und steige neben Eliza auf das Podest. »Du siehst aus wie eine Königin, die sich nächste Woche vom niederen Fußvolk verabschiedet.« Der Purpurton schmeichelt Elizas brauner Haut genauso wie ihren silbrig gefärbten Haaren und den ebenso hellen Augenbrauen. Darunter funkeln ihre dunkelgrünen Augen mit einer Mischung aus Lachen und Wehmut, die mir mitten ins Herz sticht.

Anstatt etwas zu sagen, dreht sie sich zu mir und schließt mich so fest in die Arme, dass ich die Tränen zurückhalten muss. Nur noch eine Woche. Ich weiß, dass ich mich freuen sollte. Elizas Eltern haben geschafft, wonach wir alle streben: Sie haben genug Coins erspielt, um sich ein Ticket für die weiße Zone kaufen zu können. In einer Woche wird Eliza das Leben als Gamblerin hinter sich lassen, alle blutigen Wetten, aber auch mich.

»Du bist kein Fußvolk, und sag das nie wieder«, wispert sie dicht an meinem Ohr. »Außerdem ist dein Dad verdammt gut im Wetten. Ich bin mir sicher, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis du auch zu den Neutrals kannst.«

Ich schiele auf meine Handschuhe, mit denen ich mich an Eliza festklammere. Die meisten tragen sie nur auf offener Straße oder Partys, auf denen man Angst haben muss, von einem talentierten Hacker überfallen zu werden. Ich muss sie außerhalb unserer Wohnung immer tragen. Blickdicht, dunkles Purpur, damit alle denken, ich wäre auch eine von ihnen. Ich hasse diese Dinger, aber wenn ich den Leuten zeigen würde, welche Farbe in meiner rechten Handfläche wirklich schimmert, würde man mich direkt aus dem Laden werfen. Ja, selbst wenn die Gewinnquote der kommenden Gameshow hoch genug wäre, müssten Dad und ich All-in gehen, um es zu schaffen. Und nicht einmal er wäre zu solch einem Risiko bereit.

»Ich werde dich vermissen«, raune ich heiser und weiß, dass es die Untertreibung des 22. Jahrhunderts ist. Als Am vor anderthalb Jahren zu den Neutrals gegangen ist, hat es mir das Herz gebrochen, aber damals war Eliza für mich da. Wenn sie geht, wird meine Welt in Scherben zerbrechen, und ich werde dastehen und lächeln müssen, als wäre es das Beste, was passieren kann.

Eliza löst sich von mir und wendet sich mit einem Räuspern an die Beratung. »Miss? Ich glaube, meine Freundin würde gerne noch ein paar andere Modelle anprobieren. Etwas mit weniger … Tüll.« Sie schaut auf den bauschigen Rock, der meine Beine umspielt. »Oh, und bitte lassen Sie sich Zeit bei der Auswahl.«

»Natürlich.« Ohne zu zögern verschwindet die Beratung.

»Cass, ich –«

»Schon gut«, unterbreche ich Eliza mit einem Lächeln, hinter dem das Bedürfnis brennt, den Tränen freien Lauf zu lassen. »Hilfst du mir kurz?« Ich steige von dem Podest und deute auf die kleine Knopfreihe an der Rückseite des Kleides. Es hat eine halbe Ewigkeit gedauert, bis die Beratung den letzten Knopf geschlossen hatte.

Als sich Eliza hinter mich stellt, streiche ich meine Locken aus dem Nacken über die Schulter. Meine Haare haben fast denselben dunklen Braunton wie die von Mum. Früher habe ich es abgestritten, ihr ähnlich zu sehen, aber jetzt suche ich nach jeder kleinsten Gemeinsamkeit. Mit etwas Phantasie sind meine Lippen genauso voll wie ihre, meine Wangenknochen unter dem Highlighter ähnlich markant, und ich habe ihre sportliche Statur. Gut, Letzteres liegt eher an meinem Schwimmtraining und dem Tanzen, aber was ich definitiv von Mum habe, ist meine Haut. Makelloses Hellbraun, das im Sommer jeden Sonnenstrahl einfängt, um die goldenen Untertöne noch mehr herauszukitzeln. Hätte ich ihre Sommersprossen, wäre es perfekt.

»Wow, dieses Kleid hier ist besser als jeder Keuschheitsgürtel«, neckt Eliza, die immer noch auf Höhe meiner Schulterblätter ist. »Bis dir das jemand vom Leib gerissen hat, ist jede Lust vergangen.«

»Ich wette, Lucys Korsage beim Winterball war schlimmer«, stichle ich zurück.

»Die war echt der Horror!« Eliza stöhnt auf. »Zum Glück war der Rock nicht mit der Korsage vernäht …«

»Weshalb Lucy ihn einfach ausgezogen und dich in ihr seidenes Bettlaken geworfen hat«, beende ich die Geschichte, die Eliza jedes Mal ein Grinsen entlockt. »Ich wette, sie wird sich riesig freuen, dich wiederzusehen.«

»Und wenn nicht, lasse ich mir von Am irgendeinen fiesen Taekwondo-Tritt beibringen.«

Jetzt muss ich lachen. »Du und Taekwondo? Das möchte ich sehen!«

»Liebend gerne. Sobald du bei den Neutrals einziehst, werde ich zur Feier des Tages eine Flasche Chilendra mit einem gezielten Roundhouse Kick entkorken, und dann lassen wir uns auf die verschwenderisch große Couch in meinem Zimmer fallen und lästern über meine viel zu perfekte Nachbarin Loreley Lèvene.« Eliza grinst mich durch den Spiegel an, und für diesen einen Moment lasse ich die Vorstellung zu. Ich zusammen mit meinen beiden besten Freundinnen, unserem sauteuren Lieblingswein und ohne Zwangswetten im Nacken.

»Okay, aber muss es ausgerechnet Loreley Lèvene sein?«, sage ich und verdrehe die Augen. »Von allen Ex-Frauen von Gamemaster Lèvene ist sie mit Abstand die Unsympathischste.«

»Deshalb müssen wir ja auch über sie lästern. Oh, wenn man vom Teufel spricht.« Eliza nickt hoch zu dem Screen, auf dem das Game gerade in den Hintergrund gerückt ist. Es läuft der brandneue Werbetrailer für die 84. Gameshow, eingeleitet vom Countdown. Noch acht Tage, bis wieder eine Saison der Grausamkeiten zu Ende geht. Zum Glück kann niemand meine Gedanken lesen. Für das Wort Grausamkeiten würde man mich nicht nur aus dem Laden werfen, man würde mich direkt zu einem Mnestika bringen, um mein Implantat checken zu lassen. Wie hat Dad letztes Jahr gesagt? Wer die Spiele nicht liebt, muss einen Defekt haben. Dann habe ich gerne einen Makel.

Hinter dem Countdown zeichnet sich das Ratszimmer des Casinums ab, dem Hauptsitz unserer Gamemaster. Das zwölfköpfige Tribunal sitzt an dem langen Tisch, in den mehrere Screens eingelassen wurden, dann zoomt die Kamera auf das Aushängeschild unserer Regierung: Youngsteen. Er ist vor fünf Jahren als jüngster Gamemaster aller Zeit eingestiegen und hat ein solch charmantes Lächeln, dass ich die Augen verdrehe.

Eliza unterbricht ihre Arbeit, um zweimal in die behandschuhten Hände zu klatschen. »Ankleide drei, Ton lauter.«

Sofort reagieren die Lautsprecher und lassen Youngsteens schmierige Stimme durch das Zimmer dröhnen. »… und wie Sie sehen können, laufen die Vorbereitungen auf Hochtouren!« Er steht auf und umrundet den Tisch, an dem die anderen konzentriert auf ihre Screens starren, sich wortlos miteinander abstimmen oder Anmerkungen machen.

Ich kenne jeden einzelnen Namen, jedes einzelne Gesicht. In der Schule haben so gut wie alle einen Gamemaster als Idol, und manche heften sich sogar eine Kopie der berühmten Anstecknadeln an ihre Uniform. Dabei ist es nicht mehr als eine elfenbeinfarbene Brosche in der Form eines Lorbeerkranzes. Darin die jeweiligen Initialen. AM für Adelia Marshall, GL für Gilleroy Lèvene, AS für Achamaz Sheripov oder natürlich der beliebteste Buchstabe: Y für Youngsteen. Jeder weiß, dass Youngsteen eigentlich anders heißt, aber er dachte wohl, er müsste sich einen besonders coolen Namen zulegen, wenn er schon in die Fußstapfen von Gamemaster Old Shad tritt. Ob Ams Dad immer noch mit Old Shad befreundet ist? Ich weiß, dass die beiden ein gutes Verhältnis hatten, bis Old Shad vor fünf Jahren zu den Neutrals gegangen ist. Vielleicht sitzt er gerade mit Ams Familie auf der Veranda, und sie stoßen im lauen Sommerwind mit Chilendra an.

Ich höre Youngsteen erst wieder zu, als das Bild von anderen Sequenzen überblendet wird. Flugzeuge werfen Bomben ab, solche, die ganze Stadtviertel mit einer Schallwelle zerlegen können. »Nach dem Vierten Weltkrieg lag unsere Welt in Schutt und Asche. England war nur noch ein blasser Schatten seiner selbst, begraben unter all dem Schrott und Unrat, dessen Bekämpfung die alte Regierung viel zu lange ignoriert hatte.« Aus Häusern werden Trümmerhaufen, umringt von Bergen aus Abfall, die mich unwillkürlich den Mund verziehen lassen. »Aber unser Gründervater Horace Scott hat sich von den Herausforderungen nicht abschrecken lassen.« Ein junger Mann läuft durch die zerstörten Straßen, aufrechter Gang, harter Blick. »Anstatt zu fliehen, hat er sich Unterstützung gesucht, mit deren Hilfe er unsere geliebte Nation erbauen konnte: New London.«

Im Zeitraffer entstehen aus den Ruinen neue Häuser, atemberaubend hohe Komplexe mit verspiegelten Glasfronten. Manche von ihnen drehen sich Richtung Himmel, andere haben eine bauchige oder spitze Form, und immer wieder blitzt zwischen den Fassaden das satte Grün von Parkanlagen auf. Die Purpurzone. Für viele Gambler ist sie der letzte Schritt, bevor sie zu den Neutrals gehen. Dann zoomt die Kamera heraus und gewährt einen flüchtigen Blick auf zwei weitere Zonen. Direkt an Purpur schließt Platin an, hier leben Dad und ich, seitdem Mum ausgestiegen ist. Die Häuser haben weniger außergewöhnliche Formen und sind ein paar Stockwerke niedriger. Doch auch bei uns gibt es noch ein paar grüne Flecken, die erst in der goldenen Zone ganz verschwinden. Bevor uns die Kamera Silber, Bronze oder gar den großen Zaun zeigt, der uns Gambler von den Gamern trennt, kehrt Youngsteen zurück auf den Bildschirm.

Er lehnt jetzt lässig an dem Tisch und setzt eine nahezu andächtige Miene auf. »Aber Horace Scott hat uns mehr geschenkt als nur eine Nation. Er hat uns etwas gegeben, für das es wieder zu leben lohnt, etwas, nach dem wir alle streben können. Denn egal, in welcher Zone Sie aktuell wohnen: Bei der 84. Gameshow haben Sie alle die Chance aufzusteigen. Mit nur einer Wette können Sie nicht nur Ihr Leben verbessern, sondern das Ihrer ganzen Familie!«

Er lässt es so leicht klingen. Als dürfte man seine Familie einfach so mitnehmen, wenn man genug Coins für die nächste Zone verdient hat. Dabei lernen wir die Regeln schon von klein auf: Für jedes Familienmitglied, das man mitnehmen möchte, erhöht sich der wöchentliche Pflichteinsatz. Bei Eheleuten und leiblichen Kindern sind es nur fünf Prozent, bei Geschwistern bereits zwanzig, weiter entfernte Verwandte sind unbezahlbar. Die einzige Ausnahme sind minderjährige Halbwaisen – wie ich. Nur deshalb konnte mich Dad nach Mums Ausstieg einfach so mit nach Platin nehmen.

Youngsteen setzt zum Finale seiner Rede an. Er streicht die Krawatte an seinem purpurnen Seidenanzug glatt und schaut geradewegs in die Kamera. »Also zögern Sie nicht, wenn Sie nächste Woche vor den Terminals stehen, sondern fragen Sie sich lieber: Wo könnte ich morgen sein? Werkönnte ich morgen sein?« Er lächelt noch einmal gewinnend, dann kehrt er zurück an die Arbeit. Während wir noch das Tribunal über seinen Screens brüten sehen, ergänzt eine sanfte Frauenstimme: »Denken Sie daran: Wenn Sie innerhalb der nächsten sechs Tage eine All-in Wette anmelden, laden wir Sie zum exklusiven Pre-Dinner ein.«

Nein danke.

»Uuuund der letzte Knopf!« Triumphierend lässt Eliza von mir ab.

Das Kleid gleitet von meinen Schultern. Ich trete mit einem Schritt aus dem riesigen Tüllhaufen raus und werfe mir den Morgenmantel über. Die Beratung lässt sich wirklich verdammt viel Zeit.

Als mir Eliza dabei hilft, das Ungetüm wieder auf den Kleiderbügel zu hängen, flackert bereits das nächste Spiel über den Monitor. Allein beim Erklingen der Startmelodie stellen sich die Härchen in meinem Nacken auf. Ich klatsche zweimal in die Hände, aber bevor ich den Ton abstellen kann, geht Eliza dazwischen.

»Warte noch kurz!« Sie greift nach meinem Handgelenk und zieht mich auf die Chaiselongue. »Jetzt kommt diese niedliche Gamerin mit den zweifarbigen Augen. Ich schwöre dir, wenn sie’s in die Gameshow schafft und ein Ticket für die weiße Zone gewinnt, hat Lucy ernsthafte Konkurrenz.« Ohne den Blick vom Screen abzuwenden, schenkt uns Eliza Champagner ein und drückt mir das Glas in die behandschuhten Finger.

Ich schaue auf. Dank Dad kenne ich alle aktuellen Spiele, obwohl ich sie mir nie ansehe. Canyon Escape ist eins der besonders grausamen Games, in denen die Teilnehmenden einen Ausweg aus einer künstlich angelegten Schlucht finden müssen. Nur dass die Schlucht von Fallen übersät ist, es für jeden Kill Extrapunkte gibt und es absolut keinen Spaß macht, dabei zuzusehen, wie diese Menschen um ihr Leben ringen – leider bin ich eine der wenigen, die es so sieht. Gerade wird ein Junge, vielleicht siebzehn wie ich, von einer Speerspitze durchbohrt, die unvermittelt aus der Wand geschossen ist. Sein Schrei stellt mehr als nur die Härchen in meinem Nacken auf. Schnell stürze ich meinen Champagner herunter. Als Nächstes zoomt die Kamera auf eine Gamerin, und ich weiß sofort, dass sie Elizas Schwarm sein muss. Sie nennt sich Golden Freckles, ist locker zehn Jahre älter als wir und die schönste Frau, die ich je gesehen habe. Passend zu ihrem Gamertag leuchten etliche Sommersprossen auf ihrer kupferbraunen Haut, das dunkle Haar glänzt in dem geflochtenen Zopf, als wäre sie einer Shampoowerbung entsprungen, und dann sind da die Augen. Eins türkis, das andere braun, in beiden der ehrgeizige Ausdruck, der nach Sieg strebt.

Ich sehe weg. Während Eliza immer wieder zischend die Luft einsaugt oder erleichtert auflacht, fülle ich mein Glas nach. Dann knufft Eliza mich plötzlich in die Seite.

»Hey, Cass, dieser Jax wäre doch voll dein Typ, oder?« Neckend deutet sie nach oben. »Dreitagebart, dunkelbraune Haare und dann dieses enge Shirt, unter dem sich seine Muskeln abzeichnen. Sexy.«

Ich will nur einen flüchtigen Blick riskieren, damit Eliza Ruhe gibt. Als hätte Jax es geahnt, sieht er in genau diesem Moment in die Kamera, funkelndes Smaragdgrün, das unter den Strähnen hervorsticht, die ihm lässig in die Stirn fallen.

»Und?« Eliza schnappt sich eine Praline und steckt sie genüsslich in den Mund. »Komm schon, Cass, gib zu, dass er dir gefällt!«

»Ich …« Alle Worte bleiben mir im Hals stecken. Das, was jetzt zwischen den steinernen Wänden des Canyons passiert, macht selbst die attraktivsten Augen der Welt vergessen. Vor Jax stolpert eine Gamerin so unvermittelt, dass er ebenfalls aus dem Tritt kommt. Er stürzt über sie, und schon hat die Frau ein Messer gezückt, auf ihrem Gesicht ein siegessicheres Grinsen. Sie hat sich absichtlich fallen lassen. Reflexartig halte ich den Atem an. Wenn sie Jax tödlich trifft, kriegt sie 100 Extrapunkte für den Kill, doch er gibt nicht auf. Er wirft sich mit aller Kraft zur Seite, so dass ihre Klinge im Nichts landet, dann zückt er selbst ein Messer und treibt es der Fremden direkt in den Bauch. Die Entschlossenheit erlischt, das Smaragdgrün zieht sich zusammen, als würde Jax seine Tat bereuen. Ausgeschlossen. Wahrscheinlich habe ich es mir nur eingebildet, denn im nächsten Moment ist er wieder auf den Beinen und rennt mit eiskalter Miene weiter.

»Und er ist gut«, flötet Eliza neben mir, als hätte Jax gerade keine Frau umgebracht. »Vielleicht schafft er es ja nächstes Jahr in die Gameshow.«

Endlich klopft es an der Tür. Noch bevor die Beratung das Ankleidezimmer betritt, habe ich das Glas beiseitegestellt und in die Hände geklatscht. »Ankleide drei, Ton aus.«

»Eine unglaublich spannende Saison, nicht?«, säuselt die Dame, die einen ganzen Ständer hinter sich herzieht, auf dem etliche Kleider hängen. Alle in Purpur und eins schöner als das andere.

»Wow!« Eliza, die immer noch ihren Traum aus Pailletten trägt, springt begeistert auf. »Ich glaube, das hier würde mir noch besser stehen! Was sagst du, Cassie-Sparrow?« Sie nimmt ein tailliertes Modell aus Chiffon von der Stange und hält es sich an.

Dankbar für die Ablenkung, stehe ich auf. »Dir würde sogar ein Kartoffelsack stehen.«

»Mh, wenn er purpurn wäre, würde es garantiert für viel Aufmerksamkeit sorgen«, sagt Eliza mit solcher Ernsthaftigkeit, dass der Beratung kurz ihre Gesichtszüge entgleiten.

»Und Lucy könnte ihn dir innerhalb von Sekunden vom Leib reißen.«

»O ja, genauso hab ich mir das Wiedersehen vorgestellt! Sie als strahlende Schönheit im Weiß der Neutrals und ich in einem etwas besseren Kartoffelsack.«

Wir müssen beide lachen. Dann suchen wir für mich vier Kleider zum Anprobieren aus und besprechen währenddessen die letzten Details für Elizas Abschiedsparty. Am Ende habe ich das perfekte Purpur für meinen Hautton gefunden. Das Kleid ist bis zur Taille gerade geschnitten und geht dann in fließende Seide über, die meine Beine bei jedem Schritt umflattert.

»Damit wirst du mir garantiert die Show stehlen, aber es sei dir gegönnt«, sagt Eliza und hakt sich grinsend bei mir ein.

»Eine phantastische Auswahl«, beteuert die Dame, was sie wohl auch gesagt hätte, wenn Eliza wirklich den Kartoffelsack genommen hätte. »Ich werde die Kleider gleich zur Kasse bringen lassen.«

Eliza nimmt sich noch eine Praline, dann verlassen wir Arm in Arm das Ankleidezimmer. Auch der Rest des Geschäfts ist in Cremetönen gehalten, nur die Geländer der Galerien werden von purpurnen Fäden durchzogen. Wir stehen auf der obersten Galerie, die nur für erlesene Kundschaft wie Eliza vorgesehen ist – und für mich als ihre beste Freundin. Dann schlendern wir zu dem gläsernen Lift und lassen uns vier Etagen tiefer ins Erdgeschoss bringen. Überall hängen Kleider und Anzüge in den verschiedensten Farben, und mittendrin sitzt Brien. Mein Chauffeur. Als er uns sieht, springt er auf und versucht, die Langeweile aus seinem glattrasierten Gesicht zu vertreiben.

»Miss Cassandra, wie ich sehe, waren Sie und Miss Eliza erfolgreich?« Er mustert die Stange, die von einem jungen Mann zur Kasse geschoben wird. Da sich Eliza nicht entscheiden konnte, nimmt sie gleich drei Kleider, das Seidene ist für mich.

»Sehr erfolgreich«, erwidert Eliza und tänzelt zur Kasse. Als der Angestellte den Betrag nennt, streift Eliza galant den Handschuh von ihren Fingern. Sie legt ihre Rechte auf die Konsole und keinen Atemzug später gehören die Kleider ihr. Der Chip in ihrer Handfläche leuchtet trotzdem weiterhin purpurn.

Würde ich mein Kleid selbst bezahlen, wäre ich so gut wie pleite. Deshalb tritt wie gewohnt Brien vor, um zu übernehmen, und wie gewohnt stellt er sich so nah vor die Konsole, dass niemand die Farbe seines Chips sehen kann. Ich weiß nicht genau, wie die Übereinkunft zwischen ihm und Dad aussieht, ich weiß nur, dass meine Kleider von Mums Erbe bezahlt werden. Es sind saubere Coins, die sie ohne Blutwetten verdient hat.

»Vielen Dank, Sir.« Der Mann hinter der Theke lächelt schmallippig. »Ich wünsche den Damen viel Freude mit den neuen Errungenschaften.«

Wir bedanken uns und wenden uns zum Gehen. Kurz vor dem Ausgang schaue ich noch einmal zu einem der vielen Monitore. Das Spiel neigt sich gerade dem Ende zu, und laut Liste sind sowohl Golden Freckles als auch Jax lebend ins Ziel gelangt. Obwohl es mich nicht interessieren sollte, entweicht mir ein erleichterter Seufzer.

»Alles in Ordnung, Miss Cassandra?« Brien mustert mich besorgt, während er mir die Tür aufhält.

»Cassie-Sparrow, kommst du?«, ruft Eliza von draußen. »Wir verpassen noch das Training!« Sie steht bereits vor unserem Wagen und winkt mir zu.

Scheiße, wie sehr ich das vermissen werde! Ich mime ein Lächeln und laufe raus. In mir tickt mein ganz persönlicher Countdown: Noch sieben Tage, bis die Welt zerbricht.

Kapitel 2

Die Zeit mit Eliza verfliegt viel zu schnell. Es fühlt sich an wie ein Wimpernschlag, und wir spornen uns zum letzten Mal beim Training gegenseitig an. Ein Wimpernschlag, und sie sitzt zum letzten Mal neben mir im Stochastikkurs, wir treffen uns zum letzten Filmabend mit Ole, essen ein letztes Eis bei Lucianos, trinken ein letztes Bier im Connor’s. Wieder ein Wimpernschlag, und der Tag ist da. Obwohl es noch einiges für die Party am Abend vorzubereiten gibt, treffen wir uns in Mums altem Lieblingscafé, dem Nonchalant. Angesichts der schwülen Hitze haben wir uns drinnen vor den Ventilator gesetzt, direkt am Fenster. Etliche Pflanzen ranken sich wild durch Madricks gesamten Laden. Dazwischen stehen zusammengewürfelte Tische und Stühle in verschiedenen Holztönen, nichts passt zusammen, und trotzdem strahlt es ein gemütliches Flair aus. Vor allem gibt es nur zwei Terminals, und auf dem Screen in der Nähe wird der Kanal mit den seichten Games gezeigt. Golf, Schwimmturniere oder Tanzwettbewerbe. Alles harmlose Spiele, die nur von Newbies, Seniors oder für untauglich eingestuften Gamern bestritten werden. Früher waren Mum und ich jede Woche hier, um bei Torte und Kaffee unsere Pflichtwette zu leisten, nie einen Coin mehr, nie auf ein tödliches Game.

»Ein Frappuccino mit Haselnuss für Eliza und ein Eiskaffee mit besonders viel Karamell für meine treuste Kundin.« Madrick stellt die randvollen Gläser vor uns ab und schenkt uns ein Schmunzeln. Obwohl ich ihn seit meiner Kindheit kenne, hat er sich nie wirklich verändert. Er trägt wie immer einen dichten Bart, eine Fransenweste über einer viel zu großen Tunika mit Blumenprint, das passende Haarband drückt seine brustlangen Haare an der Stirn platt. »Geht zur Feier des Tages natürlich aufs Haus.«

Eliza nimmt einen Schluck und lehnt sich mit einem genussvollen Seufzer zurück. »Sorry, Cass, aber es wird schwer, dieses Abschiedsgeschenk zu toppen. Danke, Maddy.«

»Ist mir eine Freude«, sagt er, während der nächste Kunde nach ihm winkt. »Nur den Spitznamen werde ich nicht vermissen.« Dann klemmt er sich mit einem Zwinkern sein Tablett unter den Arm und schlendert seelenruhig ein paar Tische weiter.

»Okay, gehen wir noch mal alles durch.« Eliza zieht einen Zettel aus ihrer Tasche. Super altmodisch, aber sie ist der Meinung, dass man sich Dinge besser merken kann, wenn man sie auf Papier schreibt. »Kleid? Check. Haare und Make-up? Meine Stylistin kommt zwei Stunden vorher. Deko? Hängt. Alkohol? Ich hoffe, du hast kein Problem mit einem Kater. Essen? Genug, um nie wieder essen zu wollen. Blumen … Fuck!« Eliza reißt die Augen auf.

Meinen Strohhalm zwischen den Lippen sehe ich sie an.

»Es tut mir so, so leid, Cass, aber ich muss gleich wieder los!« Hektisch faltet sie den Zettel zusammen und stopft ihn zurück in ihre Tasche. »Ich habe Mum versprochen, die Magnolien selbst zu überprüfen, bevor sie angebracht werden. Und du kennst meine Mum ja, sie …«

»Ist eine Perfektionistin. Ich weiß.« Normalerweise würde ich eine wegwerfende Geste machen und etwas sagen wie: Kein Problem, sehen wir uns später im Connor’s? Aber heute ist es etwas anderes. Wir werden uns nie wieder in unserem Lieblingspub auf der Ecke treffen oder zusammen Madricks Eiskaffee trinken. Der letzte Schluck quält sich durch meine brennende Kehle, während ich mir verstohlen über die Augen wische.

Dann greift Eliza über den Tisch hinweg nach meiner Hand. »Hey, Cassie-Sparrow.« Anders als Madrick werde ich meinen Spitznamen vermissen. »Egal, wie viele heute Abend kommen, ich werde an meiner besten Freundin kleben wie Karamellsirup, nur weniger süß und viel nerviger.«

Mein Lachen ist heiser. »Ist das ein Versprechen oder eine Drohung?«

»Ich denke, beides.« Grinsend beugt sich Eliza über den Tisch, um mir einen Kuss auf die Wange zu drücken. »Ach, und Cass? Ich habe nachgedacht. Du hast mich doch gebeten, Am super viel von dir zu erzählen. Warum schreibst du ihr nicht einfach einen Brief und sagst es ihr so persönlich?«

»Einen Brief?« Irritiert mustere ich meine Freundin, die ihren Frappuccino in einem Schluck herunterstürzt und sich die Handtasche umhängt.

»Warum nicht?« Dann lehnt sie sich noch einmal zu mir, um ihre Stimme zu senken. »Ich denke, wenn ich es geschickt anstelle, könnte ich ihn über die Grenze schmuggeln.« In ihren Augen funkelt Abenteuerlust.

»Du würdest für mich das Gesetz brechen?!«, zische ich und weiß nicht, ob ich es ihr ausreden oder ihr einfach um den Hals fallen soll.

»Viel zu harte Worte. Ich würde eher sagen, wir dehnen die Regeln ein bisschen. Unterschreib einfach mit meinem Namen, und bei der Grenzkontrolle behaupte ich, er wäre von mir.« Eliza zuckt lässig mit den Schultern. »Als ob sie das verbieten könnten.«

Auf einmal wird das Brennen in meiner Kehle milder. Es könnte tatsächlich klappen. Vielleicht kann ich Am nicht sehen, aber ich könnte ihr selbst schreiben, was in den letzten anderthalb Jahren passiert ist. Von diesem Arschloch Troy Danfort, dem letzten Schwimmturnier und meinem ersten siegreichen Schachspiel gegen Brien. Allein die Vorstellung, wie das Muttermal unter Ams Lippe tanzt, während sie über meine Geschichten lacht, lässt mein Herz aufgehen.

Ich drücke Eliza, so fest ich kann. »Danke!« Dann stürze ich meinen eigenen Eiskaffee herunter und folge ihr zurück in die Junihitze.

 

Stifte, Papier, mein Schreibtisch. Die ersten Worte fallen mir schwer, aber schon nach drei Sätzen möchte ich nicht mehr aufhören. Als ich gerade dabei bin, ihr von meinem letzten Date mit Troy zu erzählen, bevor er hintenrum mit Heriett rumgeknutscht hat, höre ich die Haustür. Überrascht halte ich inne und lausche. Brien hat heute seinen freien Nachmittag, also kann es nur Dad sein, den ich schon seit Tagen nicht mehr gesehen habe. Und vor der Parade habe ich auch nicht mehr mit ihm gerechnet.

Seinen schlurfenden Schritten nach ist er müde oder betrunken – oder beides. Erst als er an meinem Zimmer vorbeigelaufen ist, merke ich, dass ich den Atem anhalte, und muss innerlich lachen. Als ob Dad nach mir sehen würde. Kurz darauf fällt die Tür vom Badezimmer ins Schloss, und ich höre das Rauschen der Dusche. Ich schiele zu meinem leeren Wasserglas. Da ich Dad am liebsten nicht über den Weg laufen würde und nicht weiß, wie lange er bleiben wird, sollte ich jetzt für Nachschub sorgen.

Ich ziehe meine Schlappen über die nackten Füßen, um alle Geräusche zu dämpfen, nehme das Glas und schleiche über den Flur in unsere riesige Wohnküche. Obwohl wir schon drei Jahre hier wohnen, kann ich mich nicht an die Größe gewöhnen und auch nicht an das polierte Weiß der Fronten oder an die Kochinsel mit der Dunstabzugshaube, die gleichzeitig als Monitor fungiert. Gegenüber liegt unser Wohnzimmer, frei von jeder Gemütlichkeit, aber so modern, dass Dad vor seinen Freunden damit angeben kann. Das Highlight ist der gigantische Quantum-Dot-OLED-TV mit dem neusten Atmosphere-Soundsystem. Davor erstreckt sich eine helle Sofalandschaft mit purpurnen Kissen. Mum hätte nichts von alledem gemocht, aber Mum ist nicht hier.

Während ich das Glas an der integrierten Wasserbar des Kühlschranks fülle, fällt mein Blick auf einen purpurnen Umschlag. Seit wann kriegen wir klassische Post?

Ich lausche noch einmal Richtung Badezimmer, in dem die Dusche weiterhin plätschert. Dann nehme ich den Brief, der an Familie Pierson adressiert ist. An Dad und mich. Meine Fingerspitzen zucken nervös, als ich eine Karte aus dem Umschlag ziehe. Blütenweißes, dickes Papier, auf dem in purpurnen Lettern ein einziges Wort prangt: Einladung. Mein Magen tanzt in einer bitteren Vorahnung. Du irrst dich, Cass. Dad würde niemals … Nicht ohne … Und wenn doch? Meine Gedanken überschlagen sich, während ich die Karte umdrehe. Geschwungene Lettern, die handgeschrieben aussehen, obwohl sie mit Sicherheit gedruckt wurden.

Sehr geehrte Familie Pierson,

 

herzlichen Glückwunsch! Da Sie eine All-in Wette für die 84. Gameshow angemeldet haben, laden wir Sie hiermit herzlich zum Pre-Dinner ein. Bitte identifizieren Sie sich beim Grenzübertritt mittels Ihres Chips. Und vergessen Sie nie:

 

›Spielst du viel und voller Fleiß,

trägst auch du schon bald das Weiß.‹

 

Ihre Gamemaster

Darunter das heutige Datum, die Uhrzeit und die Adresse der nobelsten Wetthalle in der Purpurzone. Die Karte droht mir aus der Hand zu rutschen. Das muss ein Irrtum sein!

»Cassandra.«

Ich wirble auf dem Absatz herum zu Dad, der mit nassen Haaren auf dem Flur steht und mich ansieht. Obwohl er geduscht hat, sieht er nicht gut aus. Sein Gesicht ist aufgedunsen, die Augen wässrig, und selbst sein Bart, auf den er sonst so viel Wert legt, wirkt ungepflegt. Nur den Anzug hat er gewechselt, helles Flieder, am Revers eine dieser schrecklichen Anstecknadeln. Natürlich trägt er die von Youngsteen.

»Ich dachte, du wärst bei Eliza.« Nach drei Jahren mit seinem treuen Freund Alkohol gelingt es ihm, seine Worte ohne jegliches Lallen hervorzubringen. Obwohl er garantiert getrunken hat.

Ich schlucke schwer. »Sie musste noch die Blumen überprüfen.«

»Mhhhh.« Dad nickt vor sich hin. »Wie ich sehe, hast du meine kleine Überraschung schon gefunden.« Er kommt näher, ich weiche instinktiv zurück.

»Überraschung?«, wiederhole ich krächzend. »Du meinst, du hast wirklich –«

»Natürlich! Hast du dir die Gewinnquote mal angesehen, Cassie? Das ist unsere große Chance.«

Nach drei Schritten sitze ich in der Falle. Die Kante der Theke presst schmerzhaft in meinen Rücken, während Dad mir seine Hand entgegenstreckt. Unter seiner Haut zeichnen sich in einem Platinschimmer die Ziffern ab, siebenstellig, was er allein Mum zu verdanken hat. Und trotzdem müsste er seine Coins verdoppeln, um zu den Purpurnen zu kommen. Vervierfachen, um uns aus dem Leben als Gambler zu befreien.

»Wenn du mitziehst, könnten wir mit dieser einen Wette genug gewinnen. Genug, um uns endlich ein Ticket zu kaufen wie Rémy und Lucien und Gregor. Hörst du, Cassie? Das Ziel ist so verdammt nah!«

Bei jeder Silbe schlägt mir der strenge Geruch seines Atems entgegen. Als ich Dad in die Augen sehe, zucke ich zusammen. Früher sah das Blau meinem Saphirblau sehr ähnlich. Jetzt ist es überschattet von Gier, aber das ist es nicht, was mir Angst macht. Es ist die Bereitschaft, uns beide in den Abgrund zu stürzen.

»Cassie.« Er nimmt mein Kinn zwischen seine Finger, so dass ich nicht mehr ausweichen kann. »Ich habe es immer wieder sehr genau ausgerechnet. Wenn ich All-in gehe, musst du nur 15000 setzen. 15000 Coins, und wir sind frei. Können den ganzen Scheiß hinter uns lassen.«

Am liebsten würde ich lachen, aber es bleibt mir im Hals stecken. Mein Chip verzeichnet magere 20000 Coins, umgeben von einem Kupferschimmer. Wenn Dad verliert, würde man mich sofort in die bronzene Zone schicken. Ich war noch nie dort, allerdings reichen die Geschichten über Schlägereien, Diebstahl am helllichten Tag und Aufstände, um niemals einen Fuß dorthin setzen zu wollen.

Seufzend lässt mich Dad los. »Wenn du den Mund so verziehst, siehst du ihr noch ähnlicher, Spätzchen. Und wir wissen doch beide, dass sie –«

»Vergiss es.« Schnell schlucke ich den Kloß herunter. »Wenn du dir so sicher bist, dann mach es. Aber lass mich aus der Sache raus.« Als ich mich an ihm vorbei quetschen will, greift er nach meinem Handgelenk. Ruckartig reißt er mich zurück. Dann ist Dad so nah, dass mir sein Geruch den Magen umdreht.

»Ich musste deiner Mutter versprechen, dich nie zu einer Wette zu zwingen.« Danke, Mum. »Aber vielleicht solltest du noch mal unsere Chancen ausrechnen. Heute Abend. Beim Pre-Dinner.«

Er lässt mein Handgelenk so abrupt los, dass meine geschlossene Faust gegen mein Brustbein schlägt. »Heute Abend?« Meine Stimme klingt schrill, während Dad seinen Anzug glattstreicht. »Das kannst du nicht machen! Du weißt, wie wichtig diese Party für mich ist! Das ist meine letzte Chance, Eliza noch mal zu sehen und mich richtig von ihr zu verabschieden! Bitte. Dad.«

»Verabschieden?« Argwöhnisch runzelt er die Stirn. Mein Schweigen reicht als Antwort, und kurz wird sein Ausdruck weich. »Weißt du, Spätzchen, was auch immer du Eliza heute Abend sagen möchtest, hat auch Zeit bis nächste Woche.« Fast schafft es das Lächeln bis in seine Augen. »Wenn wir bei den Neutrals sind. Also gib dir etwas Mühe.« Ein liebloses Klopfen auf die Schulter, bevor er sich umdreht. In der Haustür bleibt er noch einmal stehen. »Ach, und Cassandra? Zieh das Kleid an, das später geliefert wird, und mach keinen Scheiß. Brien ist dazu angehalten, dich pünktlich abzuholen und nicht von der vorgegebenen Route abzuweichen. Und vergiss nicht deine Handschuhe. Wir wollen uns ja nicht blamieren.«

Die Haustür fällt ins Schloss. Nach dem ersten Schock löse ich mich aus meiner Starre und schmeiße die Einladung in den Mülleimer. Wenn Dad denkt, er könnte mich davon abhalten, Eliza zu sehen, kennt er mich noch weniger, als ich dachte. Ich brauche nur einen guten Plan.

 

Als ich am Abend pünktlich im Fahrstuhl stehe, blinzelt mein Spiegelbild zweifelnd zurück. Die blutrote Farbe des Kleides schmeichelt meinem Teint, der Schnitt wirkt, als wäre es für jemanden entworfen worden, dessen Taille zehn Zentimeter tiefer sitzt. Typischer 1920er Stil. Ein plissierter Rockteil, roter Haarschmuck und eine lächerlich kleine Handtasche. Zum Glück ist mein Abschiedsgeschenk für Eliza klein genug, um es neben dem Smartphone reinzukriegen. Den Brief für Am habe ich kurzerhand in meinen Ausschnitt gestopft.

Brien empfängt mich im Foyer. »Sie sind da.«

»Und wenn ich einfach abhaue?«

»Dann wissen wir beide, dass Sie nicht weit kommen würden.« Er öffnet die Tür, durch die gerade zwei unserer Nachbarn schlendern. »Nach Ihnen.«

Ich verdrehe die Augen, obwohl er recht hat. Da ich minderjährig bin, können Dad und er jederzeit die Koordinaten meines Chips ermitteln. Ansonsten wäre ich schon früher geflohen und hätte mir ein Taxi genommen.

In Dads Limousine wartet eine kleine Schachtel auf mich. Als ich sie öffne, kann ich mir ein sarkastisches Lachen nicht verkneifen. Es gibt nichts, was ich mir mehr wünschen würde. Wenn ich einen Brechreiz provozieren wollte.

»Glaubt er echt, dass ich die trage?«, frage ich und lasse die hässliche Anstecknadel wieder unter dem Deckel verschwinden. Es ist die gleiche wie Dads. Wahrscheinlich hofft er, ich würde bei diesem grauenhaften Dinner im Partnerlook mit ihm auftreten.

»Nun, wir könnten einen kleinen Unfall inszenieren.« Brien rückt den Spiegel zurecht, um mich auf der Rückbank zu mustern. »Vor der Wetthalle gibt es sicher ein Abflussgitter, über dem ich zufällig parken könnte.«

»Brien!« In gespieltem Entsetzen reiße ich die Augen auf. »Schlägst du ernsthaft vor, dieses überaus kostbare Schmuckstück im Abfluss zu versenken?«

»Nein, Miss Cassandra, natürlich nicht. Ich meine nur, dass diese Handschuhe äußerst glatt aussehen, und wenn Sie die Nadel im falschen Moment anstecken möchten … Unfälle passieren selbst den Besten unter uns, nicht wahr?« Sein Schmunzeln zeichnet Grübchen auf seine Wangen, bevor er den Motor startet.

Am liebsten würde ich ihn in meinen Plan einweihen, aber es ist eine Sache, eine hässliche Brosche loszuwerden. Sich den direkten Anweisungen meines Dads zu widersetzen eine ganz andere. Also beiße ich mir auf die Zunge und suche nach unverfänglichen Themen. »Ganz schön schwül heute, oder?«

»In der Tat.«

»Letztes Jahr im Juni war es nicht so heiß, oder?«

»Nun, es war ähnlich heiß, allerdings hat es das ganze Wochenende lang geregnet. Man hatte schon die Befürchtung, keiner würde am nächsten Tag zur Parade kommen.«

»Stimmt. Aber Dad wollte trotzdem hin, und du hast den Regenschirm immer so gehalten, dass mir das Wasser direkt in den Nacken gelaufen ist.«

»Oh, wenn ich mich recht entsinne, haben Sie sich über die kleine Abkühlung gefreut.«

»Gerüchte«, necke ich und schaue nach draußen. Das Restaurant zwei Straßen weiter ist wie immer gut besucht, genauso wie die kleine Boutique, in der ich mein erstes Shirt als Platin gekauft habe. Wenn Dad morgen verliert … Ich darf nicht einmal dran denken. Fröstelnd schaue ich auf zu den digitalen Billboards, die hier und da an den Häusern kleben oder sie gar überragen. Es läuft wieder der Werbespot für morgen, groß untertitelt, damit man jedes Wort ohne Ton versteht.

Fünf Blocks liegen hinter uns. Mit jeder Straße, die an uns vorbeizieht, steigt meine Nervosität. Ich habe keine Ahnung, ob es funktionieren wird, aber es ist einen Versuch wert. Endlich erreichen wir die Grenze zwischen Platin zu Purpur. Die Grenzgarde liest meinen Chip aus und lässt die purpurne Barrikade im Boden versinken. Der Wagen rollt weiter. Ich bin jedes Mal fasziniert von den eigenwillig geformten Hochhäusern, die sich im Herzen von New London gen Himmel schieben. Lass dich nicht ablenken, Cass.

Nur noch drei Blocks. Meine Tasche fest umklammert, atme ich tief durch, die Hand auf dem Türhebel. Nur noch zwei, eins …

»Scheiße, Brien, brems doch endlich, VERDAMMT!« Meine Stimme ist schrill genug, um Briens Reflexe zu aktivieren.

Der Gurt presst die Luft aus meinen Lungen. Kurz flattern meine Lider. Dann löse ich den Gurt, raffe mein Kleid zusammen und ziehe an dem Türhebel – verschlossen. Aus meinem Ziehen wird ein Zerren, dann ein wütendes Rütteln. »Lass mich raus, Brien! Du hast kein Recht, mich gegen meinen Willen festzuhalten!«

»Und Sie haben kein Recht, mir solch einen Schrecken einzujagen, Miss Cassandra!«, erwidert Brien, der mich im Rückspiegel mustert. Seine behandschuhten Finger hat er so fest in das Lenkrad gekrallt, als wäre er unfähig, es je wieder loszulassen. »Die Anweisungen Ihres Vaters waren eindeutig.«

Am liebsten würde ich ihm etwas Fieses an den Kopf werfen, aber seine verkrampfte Haltung weckt Schuldgefühle in mir. Also lasse ich schnaubend von dem Griff ab, der sich sowieso keinen Millimeter bewegen lässt. »Mein Vater und du habt ja keine Ahnung, wie wichtig diese Party ist!«

»Ich war auch mal ein junger Platin wie Sie, Miss, aber ich kann Ihnen sagen, dass es keine Party der Welt wert ist, einen Unfall zu riskieren.«

Bisher dachte ich, Brien wäre Bronze, höchstens Silber. Dass unter seinem Handschuh ein Platinchip schlummert, überrascht mich. Dennoch hat er keine Ahnung, wovon er redet. »Diese Party schon.«

Kommentarlos lässt Brien den Wagen wieder anrollen. Mit jedem Meter sehe ich meine Chance schwinden, Eliza noch einmal zu sehen.

»Seit Mum weg ist, bist du echt unausstehlich geworden«, füge ich hinzu und bereue es sofort, denn Brien zuckt sichtlich zusammen. Dann lenkt er den Wagen in eine Haltebucht.

»Ich sorge mich nur um Ihre Sicherheit, Miss Cassandra. Etwas, das Ihre Mutter genau so getan hätte«, erklärt er mit ruhiger Stimme. »Allerdings hätte sie auch gewollt, dass Sie sich von Miss Eliza verabschieden können. Also, wenn ich mich nicht täusche, hat der linke Vorderreifen auf den letzten Kilometern an Luft verloren, und ich werde ungefähr vierzig Minuten brauchen, um den Reifen zu wechseln.« Seine Hand zuckt zur Entriegelung. »Versprechen Sie mir nur, dass Sie pünktlich zurück sind. Und nächstes Mal fragen Sie mich einfach.«

»Versprochen!« Ich beuge mich über den Sitz, um Brien einen Kuss auf die glattrasierte Wange zu drücken. »Du bist der Beste, Brien, und hey, immerhin hab ich jetzt ein schlechtes Gewissen.« Meine Bemühung, schuldbewusst zu blinzeln, scheitert an dem Grinsen, das sich hartnäckig auf mein Gesicht stiehlt.

»Jetzt machen Sie, dass Sie hier rauskommen, bevor ich es mir anders überlege.« Kopfschüttelnd betätigt Brien den Hebel.

Klick.

»Bin gleich zurück.« Ich springe aus dem Auto und denke sogar an die Handschuhe. Wenn Dad das sehen könnte, wäre er stolz auf mich – bis er mir für den Rest meines Lebens Hausarrest gibt.

Kapitel 3

Trotz der Handschuhe falle ich auf wie eine Rose unter tausend glitzernden Magnolien. Ich bin die Einzige, die sich nicht an den Dresscode Goodbye Gambler – Ein letztes Mal Purpur gehalten hat. Manche mustern mich argwöhnisch, andere fangen an zu tuscheln, und ein paar tun so, als würden sie mich nicht kennen. Ich verdrehe die Augen. Wenn sie wüssten, dass ich auf dem Weg zum Pre-Dinner bin, würde niemand so reagieren.

Eliza und ihre Familie haben sich selbst übertroffen. Jeder der ausladenden Räume ist mit purpurnen Magnolien geschmückt, jede einzelne so makellos, als hätte man sie gezeichnet. Sie hängen in den Türrahmen, schmiegen sich als Girlanden um die großen Säulen im Wohnzimmer und schwimmen in dem länglichen Brunnen, der den Flur säumt. Es ist alles noch eine Spur größer als bei uns, noch luxuriöser, noch moderner. Ich bewundere gerade die Blüten unter der Decke, als ich unsanft mit jemandem zusammenstoße.

»Pass doch auf, wo du hinläufst!«

Es ist Eliza, die mit verschränkten Armen vor mir steht und etwas säuerlich guckt. Ihre Wimpern wurden zu einem dichten, schwarzen Kranz verlängert, und ihr Schmollmund glänzt, als hätte sie Morgentau geküsst.

»Wow«, sage ich. »Du siehst phantastisch aus.«

»Cass?« Überraschung blitzt in ihren Augen auf. Dann zieht sie mich in eine feste Umarmung. »Sorry, dass ich dich nicht sofort erkannt habe! Was ist aus der purpurnen Seide geworden, die wir gekauft haben?«

Entschuldigend verziehe ich den Mund. »Ging leider nicht anders. Dad möchte, dass ich ihn heute Abend zum Pre-Dinner begleite.«

In nur einem Atemzug löst sich ihre Überraschung in Entsetzen auf. »Ach du Scheiße. Dann will er es wirklich versuchen?«

»Die eine große Wette.« Die Worte schmecken bitter.

Eliza greift nach meiner Hand und zieht mich zu einer abgelegenen Sitzecke, in der gerade ein Pärchen rumknutscht. »Widerlich«, kommentiert Eliza laut genug, um die beiden zu unterbrechen.

Als Ole aufsieht, bereue ich es, mir beim Reinkommen keinen Champagner genommen zu haben. Ansonsten könnte ich ihn jetzt demonstrativ in sein vertrautes Gesicht schütten.

»Schon wieder?«, frage ich stattdessen spöttisch, und als ich erkenne, wen Ole da gerade abgeleckt hat: »Mit ihr?!«

Herietts süffisantes Lächeln macht es nicht besser. Es gehören natürlich immer zwei dazu, aber es erinnert mich unangenehm an den letzten Schulball, auf dem ich sie mit Troy erwischt habe. Danach habe ich mir geschworen, nie wieder auf einen Macho wie ihn reinzufallen.

Die Leidenschaft ist so plötzlich aus Oles Gesicht gewichen, dass seine ohnehin helle Haut noch blasser wirkt. Purpur steht ihm nicht. »Der Alkohol«, versucht er sich zu rechtfertigen. »Sonst hätte ich sie niemals angerührt, ich schwöre!«

»Arschloch«, erwidern Eliza und ich zeitgleich.

Herietts Lächeln verrutscht. Sie schließt eine noch wüstere Beschimpfung an, bevor sie ihre Handtasche schnappt und wutentbrannt davonstürmt.

»Spar dir deine lächerlichen Ausreden, Ole«, fügt Eliza hinzu. »Wenn du Am schon wieder betrügen musst, hättest du dir echt einen anderen Ort dafür aussuchen sollen.« Sie verpasst Ole einen Klaps auf den Hinterkopf.

»Hab’s ja kapiert, es tut mir leid«, erwidert er zischend. »Du wirst es ihr sagen, richtig?«

Eliza und ich wechseln einen vielsagenden Blick. Seit wir uns kennen, haben Am, Eliza und ich noch nie etwas voreinander verheimlicht, und gerade Ole sollte das wissen.

»Fuck.« Stöhnend vergräbt er den Kopf zwischen den Händen. »Ich wette, Heriett hat sich nur an mich rangemacht, weil sie wusste, dass ihr hier seid. Sie konnte Amanda noch nie leiden.«

»Und du Ärmster bist darauf reingefallen.« Meine Stimme trieft vor Sarkasmus, während ich mich neben ihm auf die Couch fallen lasse. »Du weißt, dass ich dich mag, aber du bist und bleibst einer der größten Scheißkerle von ganz New London.«

»Ich weiß. Habt ihr eine Idee, wie ich es wiedergutmachen kann?«

»Gutmachen?«, höhnt Eliza, die sich auf seine andere Seite setzt. »Versuch doch einfach mal, dich ein paar Monate lang von fremden Lippen fernzuhalten. Nur so ein Tipp unter Freunden.«

»Und ihr glaubt echt, Amanda hat sich da drüben noch keinen anderen Typ geangelt?«

Die Sache zwischen Am und Ole war schon früher kompliziert. Im Kindergarten haben sie ständig gegenseitig ihre Bilder zerstört und sich hinterher kichernd Wangenküsse gegeben. In den Jahren danach haben sie sich etliche Male getrennt, einander betrogen, verziehen, es mit einer offenen Beziehung versucht und sich schließlich ewige Treue geschworen, als Am zu den Neutrals gegangen ist. Und keiner hat geglaubt, dass es hält.

»Seht ihr! Wäre nett, wenn du erst mal den anderen Typ auscheckst, bevor du es ihr erzählst. Und sag ihr, dass mich Cassie-Sparrow künftig auf jede Party begleiten wird, um mich im Auge zu behalten.« Flüchtig mustert er mein rotes Kleid. »Wobei es echt nett wäre, wenn sich meine Begleitung an den Dresscode halten würde.«

»Ich befürchte, du musst dir eine andere Anstandsdame suchen«, erwidere ich nüchtern. »Mein Dad erwartet mich beim Pre-Dinner.«

»Ach du Scheiße!« Ole wählt dieselben Worte wie Eliza, wobei seine Augen begeistert funkeln. »Dein Dad auf dem Pre-Dinner? Das ist ja abgefahren! Weiß er denn von deinem Vermögen? Oder verheimlichst du etwa was vor uns?«

Seufzend ziehe ich meinen rechten Handschuh aus. »Leider nein.« Ich öffne die Faust so, dass die beiden meinen bronzenen Chip sehen können.

»Okay, Cass, du weißt, dass ich noch nie kapiert habe, warum du diese winzigen Wetten abschließt, aber was dein Dad vorhat, finde selbst ich zu riskant.« Eliza zeichnet mit seidigen Fingerspitzen die Nullen in meiner Handfläche nach. »Ich meine, wenn er gewinnt, können wir bald mit Am auf unserer neuen Veranda sitzen und ihr gemeinsam bei einem Gläschen Chilendra von Oles Eskapaden erzählen, aber sollte etwas schiefgehen …«

»… muss ich zu den Bronzenen«, vervollständige ich den Satz. »Erst mal werden sie mich sicher in eins dieser Internate stecken, aber sobald ich volljährig bin, muss ich mir eine schäbige Wohnung suchen, und vielleicht lohnen sich dann endlich die vielen Tanzstunden, wenn ich mir als Stripperin ein paar Coins –«

»Jetzt hört mal auf, so pessimistisch zu sein! Cass, wann hat dein Dad zuletzt eine größere Wette verloren?« Ole schiebt Eliza beiseite, um mich auffordernd zu mustern.

»Nicht mehr seit Mums Ausstieg«, gebe ich zu.

»Und er verbringt wie viel Zeit in den Wetthallen?«

»Jede freie Minute.«

»Siehst du. Vielleicht solltet ihr ein klein bisschen Vertrauen in den alten Mann haben, bevor ihr euch vorstellt, wie Cassie-Sparrow dieses widerliche Viertel betreten muss. Und jetzt Hand her.« Ole hat seinen Handschuh so schnell von seiner Rechten gezogen und meine Finger umfasst, dass ich nur überrascht aufkeuchen kann, als ich die Anfrage in meinem Kopf spüre. »Nimm sie schon an«, fordert mich Ole auf. »Falls ich falsch liege, möchte ich nicht dafür verantwortlich sein, wenn Cassie-Sparrow den Dreck von den Wänden fressen muss. Bitte.«

»Lass mich sofort los!«, fauche ich eine Spur zu scharf, während seine Anfrage aussteht. »100000 Coins, für die wie viele sterben mussten? Ich will das nicht, und das weißt du.«

»Sorry, dass wir nicht alle das Privileg haben, auf gewaltfreie Coins zurückgreifen zu können. Jetzt nimm es einfach an. Bitte.«

Autsch.

»100000 Coins«, wiederholt Eliza anerkennend. »Da hat jemand wirklich ein verdammt schlechtes Gewissen. Aber er hat recht, Cass. Wir wollen nur, dass du in Sicherheit bist.«

»Wie rührend von euch.« Alles in mir wehrt sich dagegen, Oles Coins anzunehmen. In dieser Sache war ich Mum schon immer sehr ähnlich, ihre kleine Rebellin, die blutigen Spielen nichts abgewinnen kann. Sie hat immer dafür gesorgt, dass nichts in meinem Leben mit Blutcoins bezahlt wird. Seit ihrem Ausstieg trägt Brien diese Verantwortung. Er führt genaustens Buch über meine Ausgaben, damit ich weiß, wann es Zeit ist, mir einen Job zu suchen. Noch ist von meinem Erbanteil genug übrig, um mit achtzehn nach Gold ziehen zu können – theoretisch. Wenn Dad verliert, ist mein Anteil auch weg. Dann war’s das mit dem Privileg, das mir Ole gerade unter die Nase gerieben hat.

»Wenn du es nicht annehmen willst, versprich uns wenigstens, dass du vorsichtig bist.« Aus Elizas Hoffnung ist Sorge geworden. »Leiste deine Pflichtwette, und falls etwas schiefgeht, nimm Oles Coins an, damit du wenigstens zu den Silbernen kannst. Bei den Bronzenen gab es gerade erst wieder Ausschreitungen.«

Ich fröstle und muss an das Versprechen meiner Mum denken. Wie sie mir als Kind eine Strähne aus dem Gesicht gestrichen und zärtlich geflüstert hat: Für dich wird es immer nur bergauf gehen, meine Kleine. Denn Spatzen sind zum Fliegen geboren.

Manchmal frage ich mich, ob sie es wirklich nicht hat kommen sehen? Ob sie wirklich nicht wusste, dass Dads Verstand von Gier zerfressen wird, wenn sie geht?

»Also schön. Hiermit verspreche ich hoch und heilig, dass ich darüber nachdenken werde.« Mit diesen Worten lehne ich Oles Anfrage ab. Wenn es hart auf hart kommt, bleiben mir nach der Degradierung zu Bronze immer noch vierundzwanzig Stunden, um meine Sachen zu packen und bei Ole vorbeizuschauen. Vierundzwanzig Stunden, um all meine Prinzipien zu verraten.

Meine Freunde wechseln einen Blick, der zeigt, wie gut sie mich kennen. Und genau deshalb lassen sie das Thema fallen.

»Okay, wenn wir schon in trauter Dreisamkeit hier sind, brauche ich mal euren Sinn für Ästhetik.« Ole holt sein Smartphone raus. »Ich denke, ich habe das perfekte Motiv für mein nächstes Tattoo gefunden. Was sagt ihr?«

Er zeigt uns das Bild von einem muskulösen Unterarm. Tiefschwarze Tinte und unzählige Linien, die in kleinen Punkten enden. Jede Einzelne ist perfekt, ohne einem erkennbaren Muster zu folgen. Mal zweigen drei oder vier Linien von einer anderen ab, dann nur eine oder zwei. An ein paar Enden fehlen die Punkte, als wäre das Motiv noch nicht vollendet.

»Also, erst mal müsstest du dir noch mehr Muskeln wachsen lassen«, stichelt Eliza. »Aber du bist ja gerade in der Massephase, richtig?«

Ole verdreht die Augen. »Und jetzt ernsthaft?«

»Sieht ein bisschen aus wie das Innere eines Computers«, stelle ich fest. »Haben diese Linien denn irgendeine Bedeutung? Vielleicht eine für jede Flasche Chilendra, die du vernichtet hast?«

»Oder ein Punkt für jeden Seitensprung?«, fügt Eliza neckend hinzu. »Dann müsste Am einfach nur nachzählen.«

»Ach, jetzt kommt schon! Ich hab an euren Sinn für Ästhetik appelliert und nicht an eure moralische Seite. Würde mir so was stehen oder nicht?«

»Wenn du damit leben kannst, dass es im Alter aussieht wie ein Bild von Kubert Hicks: Warum nicht?« Eliza nickt zu dem Gemälde, das über der Anrichte hängt. Es sieht aus, als hätte jemand Wasser über einen Haufen von Linien gekippt, die jetzt verzerrt ineinanderlaufen.

Ich muss mir ein Lachen verkneifen.

»Von wem willst du dich überhaupt inspirieren lassen? Zeig mal her.« Eliza hat Ole das Smartphone schneller aus der Hand gerissen, als er widersprechen kann. »Ach, guck mal, Cass, ist das nicht dieser schnuckelige Gamer, gegen den Golden Freckles gespielt hat?«

Tatsächlich. Obwohl ich das Spiel in den letzten Tagen verdrängt habe, sind diese smaragdgrünen Augen unverkennbar. Und was auch immer ich mir eingebildet habe, während des Games in ihnen zu sehen: Ich habe mich getäuscht. Das hier ist der echte Jax. Sein Blick ist eisern, als würde er sich nicht dafür interessieren, wie viele durch seine Klinge sterben. Ob die Punkte am Ende der Linien dafür stehen? Einer für jedes seiner Opfer? Ein feiner Schauer gleitet über meinen Rücken.

»Okay, okay, ich hab’s kapiert. Ihr findet es lächerlich. Wenn ich jetzt also bitte mein Eigentum zurückhaben dürfte.« Ole hält Eliza grimmig seine Hand hin.

»Lass dich nicht ärgern, mein Lieber«, sagt sie noch, bevor sie Oles Aufforderung nachkommt. »Ich finde die Bilder von Kubert Hicks übrigens ganz ästhetisch. Ach, Cass? Hast du eigentlich … Du weißt schon. Worüber wir heute Morgen gesprochen haben?«

Unwillkürlich geht mein Puls schneller. Ich nicke und ziehe den Umschlag aus meinem Dekolleté. Shit. Er ist so zerknittert, als hätte ich ihn jahrelang mit mir herumgetragen.

Ole beobachtet uns mit hochgezogener Augenbraue. »Ach, meine legal erworbenen Coins sind nicht gut genug, aber ein Gesetzesverstoß ist kein Problem?«, bemerkt er zynisch. »Und als ich dich gefragt hab, meintest du, du würdest nichts schmuggeln, zukünftige Miss Neutral.«

»Jedenfalls keins deiner verschwitzten T-Shirts.« Eliza lässt den Umschlag in ihrem eigenen Ausschnitt verschwinden.

»Danke«, forme ich mit den Lippen und lächle flüchtig. Mir bleibt nicht mehr viel Zeit. »Ole, besorgst du uns etwas zum Anstoßen?«

»Eigentlich sollte ich nein sagen, aber was tut man nicht alles für seine liebsten Freundinnen.« Er rafft sich auf und verschwindet in der Menge.

Ich rutsche näher zu Eliza. Obwohl sich alles in mir dagegen sträubt, öffne ich meine Tasche und hole das Abschiedsgeschenk heraus. Es ist ein kleines, flaches Päckchen, umwickelt mit Seidenpapier und einer Schleife. »Ist vielleicht nicht so gut wie Madricks Frappuccino, aber ich hoffe, du magst es trotzdem.« Mein Versuch, einen Scherz zu machen, treibt nicht nur mir die Tränen in die Augen.

Ich sehe das Zittern in Elizas Fingerspitzen, als sie das Papier abstreift. Der digitale Bilderrahmen zeigt gerade das Foto vom letzten Winterball mit Am. Eliza klammert sich grinsend an Lucy, Am steht in ihrem hellblauen Ballkleid direkt neben Ole, und ich lehne mich mit rausgestreckter Zunge vor die beiden. Troy habe ich unauffällig rausgeschnitten.

»Es ist … perfekt«, wispert Eliza heiser, während das Motiv wechselt. Jetzt sind nur wir beide zu sehen, auf dem Treppchen bei unserem ersten Schwimmturnier. Es war das erste und einzige Mal, dass ich nicht ganz oben stand, sondern links unter Eliza.

Bevor das nächste Bild noch mehr Erinnerungen wecken kann, fällt mir Eliza um den Hals. Alles, was wir in den letzten Tagen zurückgehalten haben, stürzt jetzt über uns zusammen wie ein Kartenhaus in einem Herbststurm. Ich spüre ihre Tränen auf meiner nackten Schulter, den erstickten Schluchzer, der ihren Körper schüttelt. Meine Hände klammern sich an ihr fest, während mit jedem Atemzug Splitter von meinem Herz brechen.

Für dich wird es immer nur bergauf gehen, meine Kleine. Warum habe ich dann das Gefühl, geradewegs in den Abgrund zu sehen?

Weil er deine einzige Chance ist. Ich schiebe Eliza ein wenig von mir weg, um sie anzusehen. Mehr braucht es nicht. Unser Gelächter ist verklungen, jedes Necken erloschen. Meine beste Freundin droht genauso zu zerbrechen wie ich, und in diesem Moment weiß ich, dass ich keine andere Wahl habe. Wenn ich bei ihr bleiben möchte, muss ich in diesen Abgrund springen, den Dad geöffnet hat – in der Hoffnung, danach höher zu fliegen denn je.

»Ich liebe dich, Eliza Brisley.«

»Und ich liebe dich, Cassie-Sparrow.«

 

Das Foyer der Wetthalle ist atemberaubend schön und beängstigend zugleich. Gold, Platin und Purpur versuchen einander in Torbögen, Verzierungen und Bodenfliesen zu übertrumpfen, vervielfacht durch die Spiegel, die den Raum an drei Seiten säumen. Nur die gegenüberliegende Wand ist in Mahagoni gehalten, um die darauf angebrachten Porträts besser zur Geltung zu bringen. Zwölf Ölgemälde von unseren ersten Gamemastern. Angeführt von Horace Scott.

Unter ihren wachsamen Blicken husche ich durch das Tor, lasse meinen Chip auslesen und betrete die Galerie, unter der sich der große Saal erstreckt. Jazzmusik schlägt mir so dröhnend entgegen, dass ich zusammenzucke. Darunter mischen sich angeregte Gespräche und lautstarkes Gelächter. Da Brien draußen geblieben ist, bin ich auf mich gestellt. Ich gehe zum Geländer und sehe mich suchend nach Dad um. Es müssen mehrere hundert Menschen sein, die, gekleidet im Stil der 1920er, durch den Saal flanieren, sich am Buffet bedienen oder sich um den Monitor scharen, auf dem das aktuelle Spiel übertragen wird. Davor stehen mehrere Konsolen mit der Rangliste. Obwohl ich noch nie auf einem Pre-Dinner war, ahne ich, dass das der Ort ist, an dem die großen Entscheidungen getroffen werden. Der perfekte Platz für Dad.

Auf dem Weg nach unten fallen mir drei Dinge auf. Die vielen Wachleute in ihrem schlichten Grau, die vielen Anstecknadeln und die vielen nackten Hände. Als würde sich hier keiner darum Sorgen machen, von einem anderen Gast bestohlen zu werden. Alle gestikulieren leichtsinnig herum, halten Champagnergläser oder begrüßen einander mit direktem Hautkontakt.

Umso näher ich den Menschen am Tisch komme, desto mehr achte ich auf ihre Augen. Darin derselbe Schatten wie bei Dad, gierig nach dem großen Sieg. Wahrscheinlich werden über die Hälfte von ihnen morgen Abend zum Gamer, vielleicht noch mehr. Der Gedanke sollte mich beunruhigen, aber seit ich meine Entscheidung getroffen habe, fühle ich mich seltsam dumpf.

»Der Junge ist dem Tod öfter von der Schippe gesprungen als jeder andere! Er ist ein Ass!«, lallt jemand zu meiner Rechten.