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Die Wahrheit ist unantastbar Nach der großen Pandemie und einem erbitterten Krieg herrscht in Sestiby vollkommener Frieden. Eine allgegenwärtige KI sorgt für die Bevölkerung. Lügen gehören der Vergangenheit an, genau wie jene Emotionen, die Menschen unbedacht handeln lassen: Misstrauen, Eifersucht oder Wut. Nur Mae spürt diese verbotenen Gefühle – Gefühle, die sie ihr sicheres Leben kosten könnten. Als sie in das Partnerschaftsprogramm der Regierung gesteckt wird, steht sie unter strengster Beobachtung. Sie tut alles, um nicht aufzufliegen, wäre da nur nicht dieser gefährlich attraktive Typ mit den frostblauen Augen, der sie immer wieder provoziert – bis er ihr ganzes Weltbild mit nur einem Satz zum Einsturz bringt. Der Auftakt der emotionalen und hoch spannenden »Honesty«-Trilogie von Franzi Kopka
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Seitenzahl: 514
Franzi Kopka
Was die Wahrheit verbirgt
Band 1
Stell dir vor, du lebst in einer Welt, in der keiner mehr lügt. Du weißt, dass du allen Menschen bedingungslos vertrauen kannst. Allen, außer dir selbst.
Anfang des 24. Jahrhunderts herrscht der vollkommene Frieden. Emotionen wie Misstrauen, Wut oder Eifersucht, die Menschen unbedacht handeln lassen, gibt es nicht mehr. Gesichert wird dieser Frieden durch das Medikament VeriTab sowie die künstliche Intelligenz AISS. Doch obwohl Mae ihre VeriTab regelmäßig einnimmt, spürt sie all jene verbotenen Gefühle. Als sie von ihrem Freund verlassen wird, muss sie am Partnerschaftsprogramm der Regierung teilnehmen: Ihr stehen acht Wochen unter strengster Beobachtung bevor. Mae tut ihr Bestes, ihre Gefühle zu verstecken, aber dann lernt sie Grayson kennen. Und schon bald muss sie sich fragen, ob die ganze Geschichte von Wahrheit und Frieden nichts als eine große Lüge ist.
Weitere Informationen finden Sie unter www.fischerverlage.de/kinderbuch-jugendbuch
Franzi Kopka wurde 1990 im bergischen Land als Tochter einer Buchhändlerin geboren. Dank der zahlreichen Romane im Haus ist sie mit der Frage »Was wäre wenn« aufgewachsen und hat schon früh damit angefangen, sich Geschichten für ihre drei jüngeren Geschwister auszudenken. Heute vergeht kaum ein Tag, an dem sie keine Zeilen zu Papier bringt. Wenn sie nicht gerade schreibt, tauscht sie sich auf Instagram unter franzikopka mit ihrer Community über Bücher aus oder sammelt neue Inspiration.
Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage finden Sie unter www.fischerverlage.de
[Widmung]
[Karte]
Erst hat das [...]
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Danksagung
Für meine Schwester Karo,
die mich immer wieder daran erinnert, dass
das Leben selbst die besten Plottwists schreibt.
Erst hat das Virus 99 Prozent der Menschheit ausgelöscht. Dann haben die Lügen den Rest unserer Welt verseucht. Krieg ist entbrannt, hat sich durch jedes noch bestehende Land gefressen, bis auf den Karten nur noch Ascheflecken übrig waren. Aber es gibt ein Heilmittel, das wir Ernest Sestiby zu verdanken haben. Nur durch ihn haben wir einen Weg gefunden, Kriege für immer zu beenden und weiterzumachen. Die Schatten zu überwinden. Einen Teil der Welt wiederaufzubauen. In Frieden zu leben. Mit der Wahrheit in ihrer reinsten Form: VeriTab X02.
Die Wahrheit ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen, ist Verpflichtung aller Menschen und staatlichen Gewalten.
Das gute Gesetz, Art. 1, Absatz 1
Das MedPlex ragt wie ein Fremdkörper am Rand des Platzes auf. Es ist zu groß, zu weiß, zu modern für die Häuser ringsherum, aber gleichzeitig ist es der Beweis dafür, wie gut die Regierung für uns sorgt. Auf dem Dach thronen etliche SolarPanels, die den Stadtkern von Ring Fünf mit Energie versorgen. Jetzt, um kurz vor sieben, zeigen sie Richtung Osten, warten darauf, dass die Sonne über die ergrauten Dächer kriecht. Im Inneren des Gebäudes dürfte wie jedes Jahr eine ganze Entourage Behandelnder bereitstehen, um uns zu untersuchen. Sicherzustellen, dass wir gesund sind, sowohl körperlich als auch seelisch.
Ich muss ein Gähnen unterdrücken. Normalerweise falle ich gegen sechs von selbst aus dem Bett, nur am Tag der Check-ups scheint sich mein Körper beharrlich zu weigern, wach zu werden. Und warum muss es genau heute so arschkalt sein? Am Wochenende sah alles nach Frühling aus, letzte Nacht hat es wieder gefroren. Da hilft auch das Innenfutter nichts, das ich selbst in meinen Mantel genäht habe. Vor allem, wenn man darunter nur eine hauchdünne Bluse und Stoffhose trägt. Fröstelnd schiebe ich meine Hände tiefer in die Manteltaschen, rechts stoße ich gegen mein SmartPad und die EarPods, links ertaste ich das kleine Loch, das ich noch flicken möchte. Irgendwann mal.
Die Warteschlange schiebt sich weiter Richtung MedPlex. Heute sind die Geburtszyklen J8 bis M8 dran, weshalb alle hier zwischen siebzehn und zwanzig Jahre alt sind. Die jüngeren Zyklen mussten schon letzte Woche herkommen, darunter auch meine Schwester Cara. Paps und Dad haben ihren Termin wiederum erst nächste Woche.
Ein paar der Gesichter hier kommen mir bekannt vor. Aus der Schulzeit, der Nachbarschaft oder einfach vom letzten Check-up. Wie das Mädchen, das nur ein paar Reihen weiter vor mir steht und das Gesicht in meine Richtung gewandt hat, während sie sich mit dem Typ hinter ihr unterhält. Es wäre so leicht, ihre Aufmerksamkeit zu erregen, nur ein kleines Lächeln, ein Winken, aber stattdessen weiche ich ihrem Blick aus. Tue so, als hätte ich sie nicht bemerkt. Kein Blickkontakt, keine Gespräche. Keine Gespräche, keine Fragen. Keine Fragen, keine gefährlichen Antworten. Keine Überprüfung.
Das Mantra hat sich so tief eingebrannt, dass ich nicht einmal mehr weiß, von wem es kam. Vielleicht von Dad? Oder meinem Bruder Nick? Wenn ich genauer darüber nachdenke, könnte es sogar noch von Grandma stammen, spät abends geflüstert am Bett, als ich zu jung war, um die Tragweite dieser Worte zu verstehen.
Keine Fragen, keine gefährlichen Antworten. Keine Überprüfung. Je öfter ich es wiederhole, desto mehr weicht meine Müdigkeit Nervosität. Ich nehme einen tiefen Atemzug, lasse die Kälte in meine Lunge strömen, während ich rüber zu Nick schaue. Eigentlich hatte ich gehofft, wir könnten uns die gemeinsame Wartezeit mit Smalltalk vertreiben, aber wir waren noch keine Minute hier, als er einen Anruf bekommen und mich gebeten hat, ihn kurz zu entschuldigen. Seitdem steht er abseits der Schlange und telefoniert. Sicher hat es etwas mit seiner Arbeit zu tun.
Wann immer er die graue Uniform der Aufsehenden trägt, strahlt er eine gewisse Ernsthaftigkeit aus. Seine Haltung wird aufrechter, sein Blick härter. Nicht auf unsympathische Weise, sondern auf eine, die Sicherheit vermittelt, Kontrolle und Stabilität. Die sagt: Solange ich in der Nähe bin, kann und wird dir nichts passieren. Ich versuche, mich daran festzuklammern, die Nervosität aus meinem Körper zu verbannen.
Als Nick meinen Blick bemerkt, zucken seine Mundwinkel nach oben. Ich hoffe kurz, er würde das Telefonat endlich beenden, aber dann dreht er sich um und entfernt sich noch weiter von der Warteschlange. Seufzend schaue ich zu dem HoloBanner, das auf meiner Höhe an einer Laterne installiert wurde. Laut Anzeige ist unser Abschnitt in etwa acht Minuten dran. Wie ich Nick kenne, wird er sich in spätestens sieben wieder neben mir eingereiht haben. Weil er nie zu spät zum Check-up kommt. Oder irgendeinem anderen Termin.
Die Anzeige der Wartezeit rutscht in die Ecke, dafür wird eine Newsmeldung eingeblendet. Sicher wieder ein Reminder für den nächsten Geburtszyklus. Ich greife schon nach meinem SmartPad, als ich sehe, wer da auf dem HoloBanner erscheint. Eine Journalist und … Harold Green. Der vielleicht wichtigste Handelskontakt meines Arbeitgebenden Edgar Moore.
Sofort hole ich einen EarPod raus und stecke ihn ein. »AISS? Spiele Ton vom HoloBanner ab«, sage ich.
»Sehr gern, Maeander«, ertönt ihre vertraute Stimme direkt in meinem Ohr. Mit dem sanften Säuseln klingt AISS immer, als würde sie lächeln. Dabei ist sie nur eine Software, ein Artificial Intelligent Service System, das sowohl auf unsere Bedürfnisse als auch unsere Sicherheit achtet. Oder eben kurz: AISS.
Keine Sekunde später höre ich die Journalist: »… kam alles durch die Prüfung der Inventurliste heraus. Harold Green, können Sie schon sagen, warum es erst zwei Wochen nach dem Vorfall aufgefallen ist?«
Edgars Handelskontakt sieht geradewegs in die Kamera, die Miene ist zu einer unleserlichen Maske verzogen. »Nein. Laut meinen Mitarbeitenden wurden die Listen als fehlerfrei geprüft. Es muss sich also um ein Problem mit AISS handeln.«
»Ein Problem mit AISS?«, wiederholt die Journalist in einem Tonfall, als hätte sie Zweifel. Ungewöhnlich. »Dann glauben Sie nicht, dass Sie einen von denen in Ihren eigenen Reihen haben?«
Jetzt verändert sich Harold Greens Ausdruck doch. Es sind nur Nuancen, die auf dem gestochen scharfen Display trotzdem zu erkennen sind. Leicht zusammengekniffene Augen, tiefere Runzeln auf der Stirn. »Ich möchte nicht daran glauben«, sagt er und wendet sich seinem Gegenüber zu. »Alle Mitarbeitenden werden nach der Vergabe der VeriTabs einem erweiterten Kontrollgespräch unterzogen. Wenn es wirklich einer dieser Liar geschafft hat, uns zu überlisten, muss es ihm gelungen sein, der Dosis zu entgehen. Und dann liegt das Problem nicht bei meiner Firma, sondern einzig und allein bei dem MedPlex, das seine Pflicht vernachlässigt hat.«
Scharfe Worte, die sogar die Journalist kurz aus dem Konzept bringen. Für einen unangenehm langen Atemzug herrscht Schweigen, bis sich die Journalist gefangen hat und Harold Green in Ruhe lässt. »Nun gut, wir danken Harold Green von Green Holding für diese erste Stellungnahme. In der außerstädtischen Fabrik wurden inzwischen alle Angestellten befragt, und es kann Entwarnung gegeben werden. Dem ersten Prüfbericht zufolge handelt es sich lediglich um die beiden Liar aus Ring Sieben.«
Eine Szene wird eingeblendet, in der zwei Frauen abgeführt werden. Die eine trägt noch eins der Hygienenetze, die dafür sorgen, dass lange Haare nicht in Maschinen geraten. Ihr Kopf und ihre Schultern hängen mutlos nach unten, sie taumelt, als würde sie ohne die Aufsehenden an ihrer Seite zusammenbrechen. Die andere hingegen hat das Netz heruntergerissen, so dass ihr die blonden Locken wild vom Kopf abstehen. Sie schreit aus voller Kehle, Speicheltröpfchen fliegen den Aufsehenden ins Gesicht, während sie trotz der gefesselten Hände versucht, Nicks Kollegschaft zu kratzen.
Laut der durchlaufenden Schlagzeile haben die Frauen Green Holding um fünf Ballen Leinen betrogen, allerdings war es nicht ihr schlimmstes Vergehen. Irgendwie ist es ihnen gelungen, gegen das höchste Gesetz unserer Welt zu verstoßen: Sie haben sich der Vergabe entzogen. Man wird sie vor Gericht stellen, aber jeder weiß, dass es für Liar nur ein Urteil geben kann: die Abschiebung nach Ring Acht und somit der endgültige Ausschluss aus der Gesellschaft.
»Sobald die Verhandlungen abgeschlossen sind, wird der volle Bericht gemäß Paragraf 5, Absatz 2 des Transparenzgesetzes online abrufbar sein«, erklärt die Journalist, während ich weiter die Liar ansehe, die sich mit Händen und Füßen gegen ihre Verhaftung wehrt.
Das passiert, wenn man seine VeriTab verweigert. Früher oder später verlieren sie alle den Verstand, weil das menschliche Gewissen nicht dafür gemacht ist, die Diskrepanz zwischen Wahrheit und Lüge zu ertragen. Jedenfalls nicht auf Dauer. Am Anfang sind die Symptome harmlos. Ein erhöhter Puls hier, gerötete Wangen da, nichts, was sofort auffallen würde. Nach spätestens zwei Tagen erleidet man die ersten emotionalen Überreaktionen, und dann ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis es vorbei ist. Bis das Herz vor Überlastung einfach aufhört zu schlagen. Diese Liar hier hat eindeutig eine der letzten Stufen erreicht. Bleibt nur zu hoffen, dass man ihr Leben vor der Aussiedlung nach Ring Acht noch retten kann.
»Ist Harold Green nicht einer von Edgars Kontakten?«
Mein Bruder ist so unvermittelt neben mir aufgetaucht, dass ich zusammenzucke. Ich habe mich immer noch nicht daran gewöhnt, dass er sich vor ein paar Tagen den Bart abrasiert hat. Jetzt wirkt sein Gesicht noch scharfkantiger, seine hellbraune Haut so ebenmäßig, als hätte er eine Angleichung gehabt. Beneidenswert.
»Richtig«, sage ich, während ich den EarPod rausnehme. Der Bericht ist sowieso vorbei. »Was wohl heißen dürfte, dass nachher eine Menge Arbeit auf mich wartet«, füge ich hinzu. Sicher wird Edgar mich bitten, alle Akten herauszusuchen, die aus Transaktionen mit Green Holding stammen. Nur für den Fall, dass der Investigationssektor auch bei ihm anklopft.
»Wahrscheinlich«, pflichtet mir Nick bei. »Leider muss ich dich trotzdem um einen Gefallen bitten … Du kennst meinen blauen Mantel? Den mit dem Reißverschluss?«
Das ist mal ein abrupter Themenwechsel. Nicks Frage steht noch keine Sekunde im Raum, und schon kitzelt die Wärme in meinem Rachen. Ein Reminder von Veritas, dass eine Antwort von mir erwartet wird. »Also, wenn du den meinst, mit dem du gestern Morgen so schnell aus dem Haus gelaufen bist, dann ja«, sage ich neckend und lasse den EarPod in meiner Manteltasche verschwinden. »Lass mich raten: Du hattest deine Uniform drunter und wolltest mit Paps nicht schon wieder über angemessene Kleidung diskutieren?«
Allein Nicks Augen verraten, dass ich richtigliege. Seit er vor knapp vier Jahren seinen ersten Studientag an der Silver University hatte, habe ich ihn nur einmal ohne seine Uniform gesehen: kurz vor dem Eingriff, dem sich alle zeugungsfähigen Personen unterziehen müssen, damit sie nicht versehentlich Kinder in die Welt setzen. Damals durften Paps und ich so lange bei Nick auf der Station bleiben, bis er nur mit OP-Hemd bekleidet davongeschoben wurde. Oh, und am ersten Jahrestag mit Kira hat er zumindest eine andere Hose getragen.
»Genau das«, erwidert Nick. »Und ich meine, du kennst Kiras Eltern: Edgar hat noch nie viel Wert auf Äußeres gelegt, und Gloria lässt sich sicher nicht von einem gebügelten Hemd und Chino beeindrucken.«
Bei der Erwähnung von Gloria muss ich mich zwingen, nicht die Augen zu verdrehen. Obwohl ich explizit bei ihrem Mann und nicht bei ihr angestellt bin, versaut sie mir auf der Arbeit regelmäßig die Stimmung. Keine Ahnung, wie Nick den Gedanken erträgt, sie irgendwann als Schwiegermutter zu haben. Wäre sie Aidens Mom, hätte ich längst … Was? Meine Gefühle für Aiden vergessen? Aufgehört, um uns zu kämpfen? Ein Stich jagt durch mein Herz, der Vorbote eines Gefühls, das ich nicht fühlen dürfte. Reflexartig bohre ich die Fingernägel in meine Handflächen, um mich nicht darin zu verlieren.
»Um was für einen Gefallen wolltest du mich jetzt genau bitten?«, knüpfe ich schnell ans ursprüngliche Thema an. »Wenn es was mit Gloria zu tun hat, bin ich leider raus. Ich habe mir fest vorgenommen, ihr heute nicht über den Weg zu laufen.« Und trotzdem trage ich genau die Klamotten, die sie mir Freitag mit gerümpfter Nase in die Arme gedrückt hat. Nur für den Fall der Fälle.
»Keine Sorge, ich wollte dich nur bitten, meinen Mantel später mitzubringen. Er müsste noch bei den Moores an der Garderobe hängen, nicht im Hauptflur, sondern beim Hintereingang.«
»Ich wollte nach der Arbeit vielleicht zu Aiden.« Noch ein Stich. »Warum fragst du nicht einfach Kira? Ich dachte, ihr wolltet heute Abend sowieso ins Theater?«
»Wollen wir auch. Allerdings weiß ich, wie neugierig Kira ist, und falls sie die Schatulle in der Innentasche bemerkt …«
»Nick!« Ich starre ihn fassungslos an. »Du hast den Verlobungsring in deinem Mantel versteckt?!«
»Schuldig.« Ungewohnt verlegen fährt er sich über das kurz geschorene Haar. »Eigentlich wollte ich den Ring direkt nach der Abholung nach Hause bringen, aber dann hat sich alles verzögert, und ich wollte auf keinen Fall zu spät zu diesem Dinner kommen, also bin ich direkt zu den Moores gefahren, der Abend wurde immer länger, dann hat mich Edgar in ein Taxi gesetzt … Um es kurz zu machen: Mir ist es gerade erst aufgefallen.«
»Dein Ernst?!« Überflüssige Frage.
»Leider ja, und genau deshalb brauche ich deine Hilfe. Es würde schon reichen, wenn du ihn erst mal bei deinen Sachen versteckst. Hauptsache, Kira findet ihn nicht.«
Innerlich stöhne ich auf. Seit mir Nick von seinen Plänen erzählt hat, tue ich alles, um Kira auszuweichen. Denn nur eine unbedachte Frage, ein falsches Wort und ich müsste ihr jedes Detail über den Antrag erzählen. Sollte sie mitbekommen, dass ich an Nicks Mantel herumnestle …
»Schön.« Ich lenke ein. »Aber wenn sie mich erwischt, kann ich für nichts garantieren.«
»Ich weiß. Du hast trotzdem was bei mir gut.«
Während Nick redet, geht es wieder ein Stück weiter. Jetzt sind nur noch zwei Leute vor uns. Und schon ist die Nervosität zurück.
Im Foyer des MedPlex gibt es mehrere Terminals, um sich für den Check-up zu registrieren. AISS scannt mein Gesicht, dann erscheinen meine Basisangaben auf dem Display:
Maeander Elking, Geburtszyklus M8, Geschlechtsidentität: Weiblich, psychologischer Fragebogen eingereicht am: 10. März 2306.
Darunter die Einwilligung zum Check-up, die ich mit einem Fingerabdruck unterzeichne. Mein Puls geht schneller, als er sollte. Um die seelische Unversehrtheit zu prüfen, müssen wir spätestens einen Tag vor dem Check-up einen Fragebogen ausfüllen, den AISS direkt ans MedPlex übermittelt. Er beinhaltet über fünfzig Fragen, die sich mit dem aktuellen Schlaf- und Essverhalten beschäftigen, mit der Einstellung zur Arbeit, dem sozialen Umfeld und Hobbys. Ich habe meinen vorgestern abgeschickt, und nur wenn alle Antworten als unbedenklich eingestuft werden, wird man für den allgemeinen Check-up zugelassen. Jetzt lädt auf dem Display ein Balken mit der Überschrift: Daten werden analysiert.
Obwohl es selten länger als fünf Sekunden dauert, fühlt es sich an wie eine qualvolle Ewigkeit. Ich widerstehe dem Drang, auf meiner Unterlippe herumzukauen, schließlich weiß ich, dass AISS jede noch so kleinste Regung bemerkt. In öffentlichen Einrichtungen sind ihre Augen überall, auf jedem Flur, in jedem Zimmer – an jedem Terminal.
Endlich verfärbt sich das Display grün. Zugelassen.
Ich beiße mir auf die Zunge, um nicht vor Erleichterung aufzuheulen. Damit habe ich den ersten Schritt geschafft. Unter der Zulassung erscheint eine weitere Angabe: EG, Umkleide 3.Keine Fragen, keine gefährlichen Antworten. Keine Überprüfung. Hoffentlich winken mich die Behandelnden genauso schnell durch.
Zeitgleich mit Nick trete ich von den Terminals weg, und wir steuern gemeinsam den langen, steril-weißen Flur an.
»Wo musst du hin?«, frage ich.
»Erste Etage, Umkleide 11.«
Bei solchen Untersuchungen wird immer nach Geschlechtsidentität getrennt. Trotzdem habe ich gehofft, noch länger in Nicks Nähe bleiben zu können. Jetzt trennen sich unsere Wege schon nach wenigen Metern, denn kurz hinter dem Foyer führt eine Treppe nach oben. Daneben befinden sich zwei Aufzüge, an denen bereits mehrere Leute warten. Wir bleiben abseits von ihnen stehen.
Nicks Miene ist wieder ganz die eines Aufsehenden, keine Spur mehr von Verlegenheit. »Nach dem Check-up treffen wir uns genau hier wieder, okay?« Er sucht meinen Blick, und ich erkenne die Worte zwischen den Zeilen: »Solange du dich an die Regeln hältst, wird alles gut gehen. Vertrau mir.«
»Okay«, wiederhole ich eine Spur zu fahrig. Aber wenn Nick glaubt, dass alles gut wird, gibt es keinen Grund, daran zu zweifeln. Ich muss es nur schaffen, diesen einen winzigen Teil von mir für mich zu behalten. Genau wie in den letzten fünf Jahren. »Dann bis gleich.«
Ich wende mich zum Gehen, als mich Nick an der Schulter zurückhält. »Ach, und Mae?« In seinen Augen blitzt ein Necken auf. »Mal sehen, ob du meine Herzfrequenz in den CardioCases dieses Mal unterbieten kannst.«
Meine Gruppe besteht wie in den letzten Jahren aus dreißig Frauen. Als ich die Umkleide betrete, haben sich die ersten bereits ausgezogen, andere sitzen noch auf den Plastikbänken, um ihre Schnürsenkel zu lockern.
Ich meide wie gewohnt jeden Blickkontakt, während ich die Reihe ablaufe und nach einem freien Spind suche. Ganz hinten werde ich fündig, direkt neben der Tür, über der eine Signallampe rot leuchtet. Das Zeichen dafür, dass der angrenzende Untersuchungssaal gerade desinfiziert wird. Sobald die Lampe auf Grün springt, geht es weiter.
»Guten Morgen, liebe Anwesenden«, flötet AISS aus den Lautsprechern unter der Decke. »Der jährliche Check-up beginnt in Kürze. Bitte entledigen Sie sich jetzt Ihrer Kleidung und deponieren Sie diese in den vorgesehenen Spinden. Die Unterwäsche können Sie vorerst anbehalten.«
Ich ziehe meinen Mantel aus. Irgendwie scheint hier jeder jemanden zu kennen, überall um mich herum wird geredet, gelacht, gekichert. Die beiden neben mir schmieden Pläne fürs Wochenende, andere unterhalten sich über eine Party vom letzten Samstag. Etwas in mir ballt sich zusammen. Ein Anflug von Neid, gegen den ich mit einem tiefen Atemzug ankämpfe. Noch etwas, das ich nicht fühlen sollte. Und genau das ist der Grund, warum das Konzept Freundschaft für mich nicht klappen würde. Weil es unmöglich wäre, es auf Dauer vor anderen zu verstecken. Weil sie mich anzeigen würden, bevor wir überhaupt die Chance hätten, es bis zu dem Punkt in unserer Beziehung zu schaffen, an dem ich mit meiner Familie oder Aiden stehe. An dem sie verstehen, dass ich keine Liar bin, keine Gefahr für den Frieden, sondern nur … ein bisschen kaputt.
»Weißt du noch in der Fünften?!« Die Frau neben mir zieht ihre Schuhe aus, während sie ihre Freundin angrinst. »Die Sache mit Lehrender Pfeiffer?«
Ich versuche, nicht hinzuhören, mich ganz auf mich zu konzentrieren. Da reingehen, lächeln, mich untersuchen lassen, Nick wiedersehen, zur Arbeit fahren.
Nachdem ich Mantel und Boots in den Schrank gelegt habe, ziehe ich die Bluse aus. Paps hat sie heute Morgen extra gesteamt, damit nicht die kleinste Knitterfalte zu sehen ist. Der cremefarbene Stoff muss ein halbes Vermögen gekostet haben, weshalb ich vermute, dass sie aus Kiras Schrank stammt. Gloria würde nie auf die Idee kommen, Credits für mich zu verschwenden. Oder nette Worte. Das Einzige, was sie gesagt hat, als sie mir die Sachen gegeben hat, war: »Damit du so wenig Fünf ausstrahlst wie möglich.«
Ich würde lachen, wäre es nicht so bitter. Die Bluse verdeckt nur die Sommersprossen auf meinem Oberkörper, allerdings machen die rötlichen Sprenkel auch vor meinem Gesicht keinen Halt. Unzählige leuchtende Punkte auf beiger Haut. Als Kind mochte ich es, weil ich es für etwas Besonderes gehalten habe, dann kam der Schulausflug nach Ring Zwei, und ich habe es verstanden. Niemand, der genug Geld hat, würde freiwillig solche Makel auf seiner Haut zurücklassen. Niemand würde sich über zerzaustes Kupferhaar freuen, wenn es glänzen könnte, und niemand würde sich das verwaschene Seegrün meiner Augen kaufen, solange es Farben wie Smaragd, Lapislazuli oder sogar Rosenquarz gibt. Ich habe Paps damals gefragt, wann ich meine erste Angleichung habe, und er hat die Wahrheit ausgesprochen, die seitdem Teil meines Lebens ist: »Niemals, Maelein. Außer du heiratest gut, mindestens eine Zwei, besser eine Eins oder einen Center.« Ich wünschte, ich hätte wie Nick etwas mehr von Dads DNA bekommen, nur ein paar Makel weniger.
Immerhin bin ich in dieser Umkleide nicht die einzige Unperfekte. Manche haben Muttermale, andere Narben, Dellen in den Oberschenkeln, blaue Flecken, Dehnungsstreifen. Das macht es leichter, auch die Hose auszuziehen, bis ich wie alle anderen in Unterwäsche dastehe. Hellblau mit rosa Blumen. Das einzige Set aus meiner Kommode, das weder kleine Löcher noch ausgeleierte Gummibänder hat.
Kaum habe ich den Spind geschlossen, springt die Signallampe auf Grün. Ich schlinge noch schnell meine Haare zu einem Knoten zusammen, dann wird der Untersuchungssaal geöffnet. Er sieht genauso aus wie alle anderen, in denen ich bisher war. Weiße Fliesen, an der Wand ein HoloScreen, in der Mitte verteilt dreißig CardioCases. Oder wie Dad sie vor meinem ersten Check-up damals so liebevoll beschrieben hat: Bikes in Glaskästen.
Direkt hinter dem Eingang werden wir von Behandelnden empfangen. Weiße Kittel, freundliches Lächeln. Wir müssen immer zu zweit eintreten, um uns einen VitaTrack verpassen zu lassen. Als die Behandelnde das Stanzgerät bei mir ansetzt, versuche ich, mich zu entspannen. Der Schmerz ist nicht schlimmer als bei einer Impfung. Ein kleiner Stich in den Oberarm, dann ist es schon vorbei. Jetzt prangt da ein erbsengroßes Silberplättchen zwischen meinen Sommersprossen. Aus den offiziellen Erklärungsvideos weiß ich, dass sie unsere Blutwerte messen, von Dad kenne ich die drei wichtigsten Parameter: Sauerstoffsättigung, Hormonspiegel, Blutzucker. Das sind genau die Fakten, auf die ich mich konzentriere, als ich weiter zu den Cases laufe. Fakten. Keine Gefühle. Ich weiß, dass die Bikes eigentlich Ergometer heißen. Sie bewegen sich nicht von der Stelle, aber sie geben Aufschluss darüber, ob das Herz-Kreislauf-System auch unter Belastung richtig funktioniert.
»Bitte gehen Sie immer weiter durch, bis alle CardioCases belegt sind«, weist uns eine Behandelnde an.
Ich bekomme eine der hinteren Kabinen. Kaum habe ich mich aufs Ergometer gesetzt, stellt sich der Sattel auf meine Höhe ein. Er ist bequemer, als er aussieht, an den Pedalen sorgen Halterungen dafür, dass man nicht abrutscht. Erst als alle sitzen, schließt sich die Glastür hinter uns. Es zischt.
»Die hermetische Abriegelung wurde eingeleitet«, säuselt AISS, was heißt, dass der benötigte Sauerstoff gleich nur noch aus den kleinen Löchern am Boden kommt. So kann genau gemessen werden, wie viel ich verbrauche.
Als ich die Griffe des Ergometers umfasse, fühlen sich meine Hände schwitzig an. Kein gutes Zeichen. Also, was weißt du noch?, versuche ich mich abzulenken. Mein Blick wandert zu der gläsernen Decke. In den Ecken sitzen schwarze Scanner. Gleich werden sie meinen gesamten Körper durchleuchten, jedes Organ überprüfen und sogar ein CT-Bild meines Gehirns machen. Laut Dad bewegt sich die Strahlenbelastung an der oberen Zulassungsgrenze, weshalb diese Art von Scan nur einmal jährlich erlaubt ist. Was reicht, um einen Großteil der körperlichen Krankheiten frühzeitig erkennen und behandeln zu können.
»Hallo, Maeander«, begrüßt mich AISS noch mal persönlich. Geräusche von außen sind nicht mehr zu hören. »Bitte halten Sie in der nächsten Minute so still wie möglich. Der BodyScan beginnt in drei … zwei … eins …«
Ein Piepton signalisiert den Start. Ich sitze stocksteif auf dem Ergometer und wage es kaum zu atmen. Bewegt man sich zu viel, verwackeln die Scans und man wird zu einer manuellen Nachuntersuchung geschickt, die deutlich länger dauert.
»Erledigt«, verkündet AISS schließlich. »Sie können jetzt anfangen, in die Pedale zu treten. Ich werde die Widerstände im Laufe der Sitzung variieren, um verschiedene Belastungsstufen zu simulieren.«
Am Anfang ist es immer leicht. Wie manuelles Biken im ersten Gang – ohne jede Steigung. Irgendwann klickt der erste Widerstand ein, dann wird er Stück für Stück stärker. Schweiß rinnt mir über den Rücken. Allein die Vorstellung, ich könnte so Nicks Herzfrequenz unterbieten, lässt mich auflachen. Ein Fehler. Jetzt fällt mir das Atmen noch schwerer. Ich bin nicht völlig untrainiert, aber Nick ist mindestens fünf Mal pro Woche in dem Fitnessstudio, das Aufsehenden vorbehalten ist. Wahrscheinlich sitzt er immer noch total entspannt auf dem Ergometer, während ich nur darauf warte, dass der Widerstand endlich geringer wird. Der einzige Trost? Ich habe keine Kraft mehr, nervös zu sein. Oder irgendetwas anderes zu spüren als brennende Muskeln und das Verlangen nach mehr Sauerstoff.
Am Ende japse ich förmlich nach Luft. Zum Glück geht es den meisten ähnlich, als wir gleichzeitig aus den Kabinen heraustreten. Wir kriegen alle eine Flasche Wasser und ein Handtuch, ehe wir einen Flur weitergeschickt werden. Er ist deutlich schmaler als der Hauptflur, und wenn man genau hinsieht, merkt man, dass wir in Ring Fünf sind. Da sind ein paar feine Risse in den Fliesen, an einer Deckenplatte schimmert ein gelblicher Fleck. Außerdem sind die Stühle, die den Flur zur linken Seite flankieren, alle aus Plastik. Ich bleibe lieber stehen, denn ich habe keine Lust, mit der nackten Haut an der Sitzfläche kleben zu bleiben.
Gegenüber gibt es eine lange Reihe von Türen, hinter denen die nächsten Untersuchungszimmer liegen. Keine Minute später werde ich aufgerufen.
Im Vergleich zum Saal ist das Untersuchungszimmer winzig. Die vordere Ecke wird von einem Vorhang abgetrennt, in den restlichen Raum quetschen sich ein Tisch mit mehreren Gerätschaften, die Dad sicher alle benennen könnte, ein Rollhocker und der Untersuchungsstuhl, bei dessen Anblick ich den Mund verziehe. Diesen Part hasse ich am meisten. Aber leider lässt sich nicht jede Art von Vorsorge mit ein paar Scans und VitaTrack abdecken.
»Maeander!« Eine Behandelnde tritt aus dem Schatten des Vorhangs. »Ich wusste doch, dass ich mich bei dem Namen nicht verlesen habe. Oliver und ich haben noch letzte Woche von dir gesprochen, aber ich hätte nicht gedacht, dass wir uns so schnell persönlich wiedersehen.«
Von mir gesprochen? Wiedersehen? Ich bemühe mich um ein höfliches Lächeln, während es in meinem Kopf rattert. Mit Oliver meint sie Paps, aber Paps kennt viele Leute. Und für gewöhnlich halte ich mich von seinen Kontakten genauso fern wie von allen anderen. Vor allem, wenn sie mich mit solch großem Interesse mustern wie diese Behandelnde. Keine Fragen, keine gefährlichen Antworten. Keine Überprüfung. Warum habe ich das Gefühl, es könnte heute schwieriger werden als sonst?
»Oh.« Die Behandelnde zieht die ergrauten Augenbrauen hoch. »Du kannst dich nicht mehr an mich erinnern, natürlich, ich meine, das ist jetzt wie viele Jahre her? Sechs? Sieben? Ja, ich bin sicher, es waren sieben.« Mit eifrigem Nicken geht sie rüber zu dem Tisch. »Margret Wieler«, wirft sie mir über die Schulter hinweg weitere, wenig hilfreiche Infos hin. »Dein Vater und ich sind zusammen im Planungskomitee für die Ringfeste. Wir haben das letzte Winterspektakel am Rathaus geplant, und das Kürbisschnitzen … Immer noch nichts?« Die Hand auf einer Schublade hält sie inne und schaut mich erwartungsvoll an.
»Nein. Tut mir leid«, erwidere ich entschuldigend.
»Na, wie dem auch sei.« Mit einem Handwink wischt Margret meine Worte weg. »Ich weiß noch genau, wie Oliver euch damals alle mitgebracht hat, dich und deine Geschwister. Ach, wie geht es deiner großen Schwester eigentlich? Hat sie nicht vor ein paar Jahren in Ring Zwei eingeheiratet? Was für eine überaus gute Partie.«
Und jetzt möchte ich nur noch wegrennen. Vain ist eins der letzten Themen, über die ich gern spreche. Was Veritas nicht davon abhält, die Wärme zurück in meinen Rachen zu treiben. »Vain ist jetzt eine Zwei, richtig«, antworte ich und fliehe hinter den Vorhang, um Margrets Musterung zu entkommen. »Aber ich weiß nicht, wie es ihr geht. Wir haben schon … länger nicht mehr gesprochen.« In meinem Hals bildet sich ein Kloß, den ich zu schlucken versuche. Erfolglos. Warum konnte mich nicht jemand anderes aufrufen? Irgendeine fremde Person, die sich allein für meine Gesundheit interessiert?
»Aah, verstehe«, plaudert Margret weiter. Es klingt, als würde sie die Schublade öffnen. »Vervain hat jetzt Kinder, richtig? Da wird die Zeit immer ein bisschen knapper. Wie viele waren es noch gleich? Ich glaube, Oliver hat ihre Namen mal erwähnt … Der Junge war irgendwas mit L… Leonardo? Louis?«
»Es sind drei Kinder«, bringe ich hervor, während ich Handtuch und Flasche auf einen Hocker lege. An einem Haken hängt ein foliertes OP-Hemd, das man überziehen kann, falls man sich ohne unwohl fühlt. Unwohl ist gar kein Ausdruck. Ohne zu zögern, reiße ich die Folie auf, während mich Veritas daran erinnert, dass ich noch nicht alle Fragen beantwortet habe. »Und sie heißen Leopold, Georgina und Martha«, füge ich widerwillig hinzu.
Erst nachdem ich das Hemd übergezogen habe, streife ich den Slip von meinen Hüften. Ob der VitaTrack erhöhtes Adrenalin registriert? Und was ist mit meinem Puls? Hier gibt es zwar keine Scanner, aber ich weiß, dass AISS ihn unter gewissen Voraussetzungen von der Halsschlagader ablesen kann. Reflexartig löse ich den Haarknoten und streiche die zerzausten Locken nach vorne. Ein schwacher Versuch, aber was bleibt mir anderes übrig?
»Drei!«, wiederholt Margret enthusiastisch. »Bitte grüß Vervain, wenn du mit ihr sprichst, ja? Vielleicht kann sie sich ja noch an mich erinnern.«
Bezweifle ich. Seit Vain unter die Zweier gegangen ist, habe ich das Gefühl, dass sie sich nicht einmal an ihre eigene Schwester erinnert. Sonst würde sie sicher öfter anrufen. Oder wenigstens schreiben. »Mache ich«, sage ich trotzdem. »Also, falls ich daran denke.« Jede Faser meines Körpers sträubt sich dagegen, den Vorhang zurückzuziehen. Ich ringe meinen Widerstand nieder. Draußen lasse ich mich auf die Kante des Untersuchungsstuhls sinken, während ich die gepolsterten Beinstützen mustere. Nur noch ein paar Minuten, Mae, dann ist es vorbei.
»Also schön, meine Liebe, werfen wir doch einen kurzen Blick in deine Akte.« Margret nimmt ein HoloPad vom Tisch und rollt mit dem Hocker zu mir. »Aktuell ist hier nur ein offener Vermerk, ansonsten hat die Analyse deines Fragebogens nichts Auffälliges gezeigt.« Sie scrollt über das Display. »Und hier haben wir es auch schon. Beim Punkt Schlafverhalten hast du angegeben, du würdest in letzter Zeit öfter hochschrecken. Als Grund hast du Albträume aufgeführt.« Sie schaut fragend zu mir hoch. »Kannst du dich an den Inhalt dieser Albträume erinnern?«
Scheiße. Ich habe geahnt, dass das Thema zur Sprache kommt, aber da war diese winzige Hoffnung, ich könnte mich irren. Schon ist die Wärme zurück, und ich weiß, dass ich keine Chance habe. Gebe ich nicht binnen weniger Sekunden eine Antwort, wird aus Wärme Hitze. Ein Brennen, das sich schmerzhaft ausbreitet, erst im Gaumen, dann auf der Zunge. Wenn ich noch länger warte, wird es den ganzen Hals erfassen und schließlich das Herz. Bisher habe ich es nur einmal so weit kommen lassen, dass mein Herz einen Schlag ausgesetzt hat, allerdings weiß ich, dass es diese Antwort nicht wert ist.
»Teilweise«, sage ich in dem Versuch, ruhig zu bleiben. Gleichmäßig weiterzuatmen.
Margret macht sich Notizen. »Sind es verschiedene Albträume, oder ist es immer derselbe?«
»Weder noch. Manche Elemente bleiben gleich, andere variieren jedes Mal.«
»Was sind das für Elemente?«
Wie gern würde ich fragen, ob dieses Nachhaken beruflich oder persönlich motiviert ist, aber das würde mir die Antwort auch nicht ersparen. »Früher oder später werde ich immer … verlassen«, murmle ich eine Spur zu heiser.
»Verlassen?« Margrets Blick zuckt zu meinen Händen. Ich weiß genau, wonach sie sucht: einem Verlobungs- oder gar Ehering. Allerdings wird sie nur Sommersprossen und eine kleine Narbe am Zeigefinger finden.
»Richtig.« Ganz egal, wie tief ich ein- und ausatme, wie sehr ich versuche, mir irgendwelche Fakten ins Gedächtnis zu rufen, das Stechen in meinem Herz lässt sich nicht mehr ignorieren. Diese brandgefährliche Mischung aus Eifersucht und Angst, die Woche für Woche schwerer auf mir lastet.
Margret sieht wieder auf. Jetzt mustert sie mich so durchdringend, dass ich mich am liebsten in Luft auflösen würde. Wie tief wird sie wohl bohren? Und was, wenn sie auf den Kern der Sache trifft?
Auf einmal wird Margrets Blick weich. »Nun, Oliver hat erzählt, es wäre gerade nicht ganz einfach.« Ein Seufzer. »Glaubst du, ein therapeutisches Gespräch könnte für ein besseres Schlafverhalten sorgen?«
Paps hat mit einer Fremden über Aiden und mich geredet? Ich glaube, mir wird schlecht. »Nein.« Immerhin ist Veritas da ganz meiner Meinung. »Waren das dann alle Fragen?«
»Sekunde«, Margret scrollt am HoloPad hoch und runter, »ja, das waren vorerst alle. Dann machen wir jetzt nur noch schnell die Abstriche, ich entferne den VitaTrack, und du bist für heute fertig.« Sie schenkt mir ein mitfühlendes Lächeln, das an meinen inneren Mauern rüttelt. Bitte lass es einfach schnell vorbei sein. Margret rollt rüber zum Tisch und zieht ein Paar Latexhandschuhe über.
Der Abstrich aus dem Mundraum ist schnell erledigt, dann kommt der unangenehme Part. Widerwillig lege ich die Beine hoch in die vorgesehenen Stützen. Nur noch ein paar Minuten. Nur noch einmal durchatmen, so tun, als wäre Margret eine andere Behandelnde, und ich kann verschwinden.
Ich starre an die Decke, während ich das Rascheln von Plastik höre. Wahrscheinlich packt sie gerade das kleine Bürstchen aus.
»Jetzt wird es einmal kurz piksen …«
Autsch.
»Uuund erledigt. Siehst du, das ging doch ganz schnell.«
Nicht schnell genug, widerspreche ich lautlos. Kaum dass Margret ein Stück nach hinten gerollt ist, nehme ich die Beine runter, ziehe das Hemd so weit wie möglich über die Schenkel und rutsche zurück an die Kante.
»Also, du kennst das Prozedere ja bereits. Ende der Woche wird der volle Gesundheitsbericht am HoloTerminal abrufbar sein«, fasst Margret zusammen, während sie das Stäbchen in eins der Geräte auf dem Tisch steckt und ihre Handschuhe wegschmeißt. »Sollte es Auffälligkeiten oder weiteren Behandlungsbedarf geben, sendet AISS einen Termin in der entsprechenden Fachabteilung mit, eine Verschiebung ist nur aus triftigen Gründen möglich.« Es ist die übliche Abschlussrede. Dabei wischt Margret wieder über ihr HoloPad – und stockt. »Ach, ganz vergessen. Bevor du gehst, brauchen wir noch eine Blutprobe. Neuer Standard bei allen unter einundzwanzig.«
Dad hat nichts von einem neuen Standard erwähnt. Ich schlucke trotzdem jede Nachfrage hinunter. Nicht, dass sich Margret ermutigt fühlt, weitere Anekdoten auszugraben. Jetzt konzentriert sie sich ganz darauf, meine Vene beim ersten Versuch zu treffen und das Röhrchen mit Blut zu füllen. Vain wird bei solchen Entnahmen immer übel, ich habe kein Problem damit, hinzusehen. Vielleicht ist das der Teil, den ich von Dad geerbt habe.
Als Margret fertig ist, entfernt sie geübt den VitaTrack und rollt einen HealFix-Stick über beide Einstichstellen. Es hört sofort auf zu bluten, zurück bleibt nur das Schimmern des transparenten Pflasterfilms. Jetzt nur noch einmal die Mundwinkel heben, eine Abschiedsfloskel sagen und …
»Weißt du, Maeander«, grätscht Margret in meine Gedanken. »Nach allem, was ich von Oliver gehört habe, bist du ein wirklich tolles Mädchen. Also egal, wie sich dein Aiden entscheidet: Ich bin sicher, du wirst nicht in Ring Sieben enden.«
Das war’s. Alles, was ich bisher so mühsam zusammengehalten habe, droht, über mir zusammenzubrechen. »Ich …« Es ist nur ein Krächzen. »Danke.« Dann forme ich mit Zeige- und Mittelfinger ein V, berühre die Stelle über meinem Herzen und fasle halb im Gehen: »Für die Wahrheit.«
Keine Ahnung, ob Margret mit dem üblichen »Für den Frieden« antwortet, ich weiß nur, dass ich hier wegmuss. So schnell wie möglich. Ich schlüpfe hastig in meinen Slip und laufe raus. Hinter meinen Augen ein verräterisches Brennen.
Mit der Beseitigung von Unwahrheiten konnten die Menschen von jenen Gefühlen geheilt werden, die ihre Wahrnehmung verzerren und zu unbedachten Handlungen führen: Wut. Hass. Panik. Missgunst. Neid. Trauer. Eifersucht.
Eine Äußerung dieser destruktiven Gefühle wird ab sofort als »emotionale Überreaktion« klassifiziert und gilt als Symptom eines Liar. Weitere Überprüfungen sind Voraussetzung zur tatsächlichen Feststellung der Schuld.
Auszug aus »Erweiterung der guten Gesetze«, veröffentlicht von Ernest Sestiby, 04.04.2096
AISS sieht mich. AISS hört mich. AISS wird wissen, dass etwas nicht … Jetzt reiß dich zusammen!, ermahne ich mich innerlich. Meine Schritte sind vielleicht etwas schneller als sonst, und ich habe sowohl Handtuch als auch Wasserflasche im Untersuchungsraum liegen lassen. Aber noch schaffe ich es, gegen die Tränen anzukämpfen. Noch gibt es nichts, was mich verraten würde.
Ich folge der Beschilderung zurück zur Umkleide, dieses Mal sind nur zwei andere Frauen da. Wortlos gehe ich an ihnen vorbei und öffne die Tür des Spinds. Zittern meine Fingerspitzen? Ich balle die Hände zu Fäusten, dann lasse ich wieder locker. Eigentlich wollte ich noch kurz duschen, aber es ist besser, wenn ich so schnell wie möglich verschwinde. Hoffentlich ist Nick schon durch. Bei den Männern geht es meist etwas schneller, allein, weil dieser eine Abstrich fehlt.
Meine Bluse ist vom Haken gerutscht und zerknittert. Egal. An der schwarzen Stoffhose klebt Staub. Egal. Mit betont ruhigen Bewegungen ziehe ich mich an, das bemühte Lächeln brennt auf meinem Gesicht. Es gibt nicht gerade viele Ratgeber dazu, wie man eine Panikattacke abwendet, schließlich sollten sie gar nicht erst existieren. Aber irgendwie ist Dad trotzdem mal an einen Artikel für mich rangekommen. Neben den darin erklärten Atemtechniken hat mir bisher eine Empfehlung am besten geholfen: »Spielen Sie das Worst-Case-Szenario bis zum Ende durch, fragen Sie sich, was die Konsequenz wäre, und Sie werden erkennen, dass es weniger gravierend ist, als Ihnen die Angst gerade einreden möchte.«
Okay. Worst-Case-Szenario: Im schlimmsten Fall hat AISS meine emotionale Überreaktion längst bemerkt. Im schlimmsten Fall warten vor der Umkleide bereits ein paar Aufsehende aus Nicks Kollegium und fordern mich auf, ihnen zum Zwecke einer Überprüfung zu folgen. Ob sie meine Hände genauso fesseln würden wie bei der Liar in den News? Bei meiner ersten und bisher einzigen Überprüfung haben sie mich einfach mit nettem Lächeln gebeten, sie zu begleiten. Allerdings war ich auch gerade mal zwölf Jahre alt. Aber egal, ob Handschellen oder nicht: Im schlimmsten Fall bringen sie mich in ein Verhörzimmer und injizieren mir eine hochkonzentrierte Dosis Veritas. Dann stellen sie mir all die Fragen, die man potenziellen Liar stellt, und am Ende werden sie erkennen, dass ich keine Liar bin. Dass ich die VeriTabs wie vorgeschrieben nehme und sie bei mir genauso wirken wie bei allen anderen – abgesehen von der Sache mit den geheilten Emotionen.
Falsch. Das ist nicht der Ausgang des Worst-Case-Szenarios. Es ist nur das, was beim letzten Mal passiert ist. Allerdings sind Überreaktionen zu Beginn der Pubertät nicht unüblich. Bei manchen macht die Hormonumstellung einfach eine häufigere Anpassung der VeriTab-Dosierung notwendig als bei anderen. Aber jetzt bin ich fast achtzehn, also was, wenn sie mir dieses Mal nicht glauben? Die Vorstellung ist absurd. Denn ich bin keine Liar. Aber warum schlägt mein Herz dann nur noch heftiger gegen meine Rippen? Und warum möchte ich auf gar keinen Fall noch mal in einem dieser Verhörzimmer sitzen? Vielleicht, weil es keine richtigen Präzedenzfälle für die Diagnose kaputt gibt. Weil ich nicht weiß, was sie mit mir machen würden. Ob sie einfach nur meine Dosis anpassen würden, ob sie mich von einer Forschungsabteilung zur anderen jagen, um herauszufinden, wo mein Defekt liegt, ob sie mich trotzdem als Liar klassifizieren, mich nach Acht schicken, mich von allen trennen, die ich … Stopp!
Ich schlüpfe in die Schuhe, werfe den Mantel über und knalle den Spind heftiger zu, als beabsichtigt. »Sorry«, murmle ich an die Frauen gewandt, die sich erschrocken nach mir umsehen.
Und weg hier. Die Tür gleitet auf – keine Aufsehenden. Nur ein Behandelnder, der mit wehendem Kittel und einem HoloPad unter dem Arm über den Flur eilt. Ich laufe in die entgegengesetzte Richtung, den Blick zu Boden gerichtet, damit AISS so wenig wie möglich von meinem Gesicht sieht. Ob meine Augen gerötet sind? Das Brennen ist jedenfalls immer noch da, vielleicht sogar stärker als vor meinem Gedankenexperiment.
Nick sitzt auf den Stufen. Als er mich sieht, nimmt er seine Wasserflasche und steht sofort auf. »Und, wie …?« Er unterbricht sich. »Komm mit.« Nach all den Jahren erkennt er die Warnsignale sofort. Deshalb verzichtet er auch darauf, mir seine Hand anzubieten oder mich sonst irgendwie zu berühren. Weil er genau weiß, dass jede Form von Mitgefühl nur dafür sorgt, dass ich tiefer in meine Emotionen rutsche. Stattdessen mimt er Normalität. »Ich weiß nicht, ob du es schon gesehen hast, aber Paps hat vorhin in der Familiengruppe geschrieben. Dad und er wollen jetzt heute Abend doch rüber zu den Caivanos«, sagt er im beiläufigen Plauderton. »Noch mal ein paar Sachen für die Geburtstagsfeier besprechen, auch wenn wohl wieder nur die üblichen paar Leute kommen.«
Seine Worte schwappen einfach über mich hinweg, während ich stoisch weiterlächle. Wir verlassen das MedPlex, aber noch bin ich nicht aus der Gefahrenzone raus. Der Vorplatz wird ebenfalls von AISS überwacht, und dann sind da noch unsere SmartPads und EarPods, die immer mithören. Normalerweise finde ich diese Funktion praktisch, denn ein Satz reicht, und AISS schreibt für mich mit, spielt die gewünschte Musik ab oder erinnert mich an offene To-dos. Nur jetzt würde ich sie am liebsten einfach abschalten.
Wir schlagen den Weg Richtung Bahnhof ein. Zwischen zwei Häuserreihen tauchen wir ab, Nick läuft einen halben Schritt vor mir. Dabei textet er mich weiter mit Smalltalk zu, von dem ich kaum etwas mitkriege. Denn Margrets letzte Sätze hallen viel zu laut in mir nach: Also egal, wie sich dein Aiden entscheidet: Ich bin sicher, du wirst nicht in Ring Sieben enden. Keine Ahnung, in welcher Detailschärfe Paps von meiner Situation erzählt hat, aber wie schön, dass sie sich sicher ist.
Nick bleibt so unvermittelt stehen, dass ich beinahe in ihn hineinlaufe. Wir stehen genau zwischen zwei Häusern, auf Höhe eines Spalts, der kaum einen Meter breit und dafür sicher acht tief ist. An die Fassade des linken Hauses presst sich eins der Abfallsysteme, aus denen der Müll sofort unterirdisch abtransportiert wird. Nick schaut sich flüchtig um, dann schiebt er sich in die Nische, holt SmartPad und EarPods raus und … wirft einfach alles durch die Klappe des Müllbehälters.
Ich starre meinen Bruder entsetzt an, aber er bedeutet mir nur mit einem Nicken, das Gleiche zu tun. Keine Ahnung, wie er das später erklären möchte, ohne von Veritas verbrannt zu werden. Trotzdem schiebe ich die Hand in meine Manteltasche, hole alles raus, auf dem AISS installiert ist, und zwänge mich zu Nick in die Nische. Meine Hände zittern, als ich meine vielleicht teuersten Besitztümer einfach wegschmeiße. Ohne weiter darüber nachzudenken, drücke ich mich an Nick vorbei, laufe so tief in die Sackgasse, bis mich der Hausschatten verschlingt. Erst als ich ganz hinten bin, wage ich es, mich gegen die Wand zu lehnen – meine Beine fühlen sich an wie Gummi. Mit einem lautlosen Schluchzer auf den Lippen lasse ich mich auf den Boden sinken, ringe um Luft, um freien Atem, um Klarheit für meine Gedanken.
»Was ist passiert?« Nick geht vor mir in die Hocke, seine Stimme ist nur ein Raunen.
Selbst in solchen Situationen ist auf Veritas Verlass. »Meine Behandelnde«, bringe ich zwischen zwei zu kurzen Atemzügen heraus. »Sie ist eine von Paps’ … Freundinnen. Und sie wusste von Aiden.« Jetzt rollt wirklich eins dieser Mistdinger über meine Wange. Schnell wische ich die Träne weg.
Nick verzieht keine Miene. »Hat sie jemanden informiert?«, fragt er.
»Nicht in meinem Beisein, nein.« Ich ziehe die Knie enger an den Körper, um gegen den Druck in meiner Brust anzupressen. »Aber ich bin relativ überstürzt gegangen.«
»Gegangen oder gerannt?«
»Gegangen«, wiederhole ich. »Und ich habe versucht zu lächeln.«
»Hat AISS dich darauf angesprochen?«
»Nein.«
»Okay. Ich werde dir gleich noch eine Frage stellen, und du antwortest erst, wenn aus Wärme Hitze wird.« Er sieht mir in die Augen, und ich weiß, dass er gleich die Sekunden zählen wird. »Was war dein erster Gedanke, als ich euch damals Kira vorgestellt habe?«
Natürlich wählt er eine möglichst unangenehme Frage. Nach zu kurzer Zeit fängt mein Rachen Feuer und treibt die Wahrheit über meine Lippen: »Dass sie viel zu hübsch ist, um sich in eine Fünf wie dich zu verlieben.« Das Brennen im Hals ebbt sofort ab, nur meine Wangen glühen weiter.
Nicks Mundwinkel zucken nach oben. »Stimmt ja auch.« Seine Miene entspannt sich. »Das waren nur zwei Sekunden. Deine Dosis scheint entsprechend richtig eingestellt zu sein.« In anderen Worten: Es gibt für ihn keinen Grund, mich zu melden oder gar selbst in Gewahrsam zu nehmen. Denn er weiß, dass ich meine VeriTab regelmäßig nehme, schließlich sitzt er bei der Vergabe in der Regel daneben.
Ich presse die Lippen zusammen. Ein Teil von mir würde gern wissen, was in seinem Kopf vor sich geht, für wie kaputt er mich wirklich hält. Aber ich traue mich nicht, zu fragen. Es gibt Wahrheiten, die muss man einfach nicht provozieren.
»Hier.« Nick greift in seine Innentasche und holt ein Blister Tabletten raus.
Eine Welle der Erleichterung brandet in meinem Magen auf. Dads Beruhigungsmittel. Sofort strecke ich die Hand aus und lasse mir eine der weißen Tabletten in die Handfläche drücken. Mir ist bewusst, dass ich sie nur in absoluten Ausnahmesituationen nehmen darf, aber das hier ist eine. Denn in spätestens zehn Minuten muss ich aus dieser Ecke kriechen und zum Bahnhof laufen, ansonsten verpasse ich den Zug nach Ring Zwei. Und falls auf der Arbeit jemand fragt, warum ich zu spät bin … Ich lege die Tablette auf meine Zunge.
Nick gibt mir sein Wasser. Als ich die Flasche ansetze, erregt etwas hinter Nick meine Aufmerksamkeit. Am Ende der Gasse steht jemand. Eine Silhouette, die vor der Morgensonne nicht mehr ist als ein diffuser Schatten, eine gesichtslose Person, die sich abrupt abwendet. Ob sie mich erkannt hat? Nein, vielleicht hat sie jemanden gesehen, aber es ist unmöglich, dass sie auf diese Entfernung tatsächlich ein Gesicht erkennen konnte. Und wenn doch? Dann sollte ich erst recht hier wegkommen.
Ich spüle die Tablette hinunter. Da ich nüchtern bin, müsste sie schnell wirken. »Danke.« Ich gebe Nick die Flasche zurück, dann lasse ich mich von ihm auf die Beine ziehen. Sie fühlen sich immer noch wackelig an, aber wenigstens hat sich mein Puls beruhigt.
»Meinst du, es geht wieder?« Nick mustert mich prüfend.
Ich horche in mich hinein. Irgendwo in mir sticht weiter diese Eifersucht, irgendwo nagt weiter die Angst vor einer erneuten Überprüfung. Aber es fühlt sich bereits jetzt dumpfer an, eher wie ein fernes Echo als ein realer Teil von mir. »Ich denke schon, ja. Und jetzt lass uns von hier verschwinden.«
»Nichts lieber als das. Aber vorher müssen wir da noch ein paar Sachen aus dem Müll bergen.«
»Was?!«
Nick hat sich bereits umgedreht und steuert auf das Abfallsystem zu. Ich stolpere hinter ihm her.
»Wie gesagt: Wir müssen da noch etwas bergen«, wiederholt er. »Oder dachtest du, ich würde zulassen, dass wir unsere SmartPads wirklich wegschmeißen?«
»Ich dachte … ja.« Irritiert sehe ich dabei zu, wie Nick durch die Klappe greift. »Und dass wir eine verdammt gute Erklärung brauchen werden, warum unsere SmartPads zeitgleich im RecycleCenter landen.«
»Was sie nicht tun werden.« Tatsächlich muss Nick nicht einmal tief in den Behälter greifen, um unsere Sachen herauszuholen. Er gibt mir SmartPad und EarPods zurück – beides ist frei von Schmutz und scheint auch sonst unversehrt.
Wie zur Hölle …?
Nick schüttelt nur den Kopf. Da ich weiß, dass uns AISS ab jetzt wieder zuhört, verkneife ich mir alle Fragen, und Nick wechselt zurück zu Smalltalk: »Ach ja, Paps wollte übrigens wissen, ob du heute Abend auch mitmöchtest«, sagt er. »Ich habe geschrieben, du hättest vermutlich schon etwas vor.«
»Vermutlich«, plappere ich nach, und dieses Mal ist da kein Stechen in meiner Brust. Nur eine angenehme Watteschicht, die noch eine Weile anhalten wird.
Obwohl wir in dieselbe Richtung müssen, trennen sich unsere Wege am Bahnhof. Während Nick und ein paar andere Wartende RapidTrain 05 nehmen dürfen, steige ich zusammen mit dem Rest in Linie 106. Es ist der einzige CityTrain, der von hier bis zu Ring Zwei durchfährt, auch wenn er dafür gute anderthalb Stunden braucht. Bis dahin sind Nick und die anderen sogar mit einmal Umsteigen fast im Center.
Ich erkämpfe mir einen Fensterplatz auf einem Vierer. Dann raffe ich meine Haare im Nacken zusammen, binde sie zu einem tiefen Zopf und stecke beide EarPods ein. Gut sichtbar für mein Umfeld, damit niemand auf die Idee kommt, mich anzusprechen. »AISS? Spiele das neue Album von Secret Sirens«, murmle ich gerade laut genug, damit sie mich hören kann. Auch wenn ich weiß, dass mich die Songs heute nicht so berühren werden wie sonst. Die Kehrseite von Dads Tabletten. Sie unterdrücken zwar alle gefährlichen Gefühle, aber auch die guten, die Freude, das Kribbeln und die Gänsehaut, wenn ein Akkord besonders gelungen ist.
Eine Weile lausche ich den Songs, ehe ich mein SmartPad rausziehe. Drei neue Nachrichten in der Familiengruppe, sonst nichts. Kein Lebenszeichen von Aiden, kein »Ich vermisse dich« oder wenigstens ein »Guten Morgen«. Hatte er heute nicht Frühschicht?, versuche ich, sein Schweigen vor mir selbst zu rechtfertigen. Vielleicht. Ich meine, er hätte so etwas erwähnt, aber ich bin nicht sicher. Ich weiß nur, dass er heute nicht zum Check-up musste. Er stammt zwar aus demselben Geburtszyklus wie Nick, aber da er in Ring Vier lebt, war sein MedPlex mit den Terminen früher dran als unseres.
Wie von selbst klicke ich durch die Apps. Als ich GoSocial öffne, versteife ich mich auf dem Sitz. Ann hat ihr Profilbild heute Morgen geändert. Wo sie vorher allein in die Kamera gegrinst hat, steht sie jetzt hinter Aiden und hat ihren Kopf auf seine Schulter gelegt. Ich wünschte, sie würden nicht zusammenpassen, aber das Foto könnte der Werbung für eine Dating-App entsprungen sein. Ann hat seidig glänzendes, schulterlanges Haar, dessen Schwarz perfekt mit Aidens zerzauster Mähne harmoniert. Ihre Haut hat den gleichen warmen Braunton wie seine, sie haben beide dunkle Augen, und das Schlimmste: Sie sehen glücklich aus. Ann hat die Arme um Aidens trainierte Brust geschlungen, hinter der sein Herz fast zehn Jahre nur für mich geschlagen hat. Ich habe gelernt, mich anzupassen, und mich an vieles gewöhnt. Aber es gibt Dinge, die zerreißen einen jedes Mal aufs Neue, die fühlen sich an wie ein giftiger Stachel, der sich immer tiefer in die Seele gräbt. Bis jede gute Erinnerung von einem Schatten getrübt wird, über den nicht einmal Dads Tabletten hinwegtäuschen können.
Ich presse die Lippen so fest zusammen, dass es schmerzt. Mein Blick zuckt zu dem Pärchen, das mir gegenüber sitzt. Oder vielmehr zu ihren verschränkten Händen, an denen Eheringe glänzen. Feines Kupfer, nicht teuer, aber wertvoller als jeder Credit. Bis vor drei Wochen dachte ich noch, Aiden und ich hätten dasselbe, etwas, das nichts und niemand auf der Welt trennen kann. Aber dann hat er Ann getroffen, und irgendein Funke in ihm war sofort entflammt. Jetzt klammere ich mich an der Hoffnung fest, dass unsere Liebe älter ist, beständiger, logischer. Dass der Funke wieder erlischt, wenn wir genug Zeit miteinander verbringen und er sich an sein Versprechen erinnert: Ich war gerade mal sieben, er neun, als er mir den Verschluss einer alten Plastikflasche an den Finger gesteckt und geschworen hat, mich zu heiraten, wenn wir alt genug sind. Wir waren zwar jung, aber Veritas hat die Worte zugelassen, und das heißt, Aiden hat damals daran geglaubt.
Ohne darüber nachzudenken, wechsle ich zurück in unseren Chat und lasse meine Finger über das Display fliegen.
Guten Morgen. ❤ Check-up überstanden. Wie geht’s dir?
Abschicken. Aiden wird zwar als offline angezeigt, aber sobald er die Nachricht sieht, wird er antworten müssen. Beim Schreiben ist Veritas zwar gnädiger als beim Reden, aber nach spätestens dreißig Sekunden schickt es erste Krämpfe durch die Finger.
Ich schließe den Messenger wieder. Direkt daneben prangt seit einem Monat das Logo der Partnerschafts-App Eternity: zwei ineinander verhakte Ringe. Der Notfallplan, über den ich nicht einmal nachdenken möchte. Also packe ich das SmartPad weg und schaue nach draußen, konzentriere mich ganz auf die Landschaft, an der wir mit zweihundert Stundenkilometern vorbeirasen, und auf die Musik.
Obwohl es keine echten Grenzen gibt, bilde ich mir ein, den Übergang von Ring Fünf zu Vier sehen zu können. Die Häuser werden etwas hübscher, manche Fassaden wurden im Fachwerkstil bemalt, auch wenn natürlich kein echtes Holz in ihnen verbaut ist. Viel zu teuer. In Ring Drei weichen die kargen Kiesvorgärten Gestrüpp, das auf die wärmeren Monate wartet. Dazwischen das immer gleiche Bild: weite Flächen vertrockneter Erde. Früher sollen an genau diesen Stellen riesige Felder gewachsen sein, im Museum habe ich Fotos gesehen, von knallgelbem Raps und Blumen und Mais. Aber dann kam der Krieg und mit ihm die Chemiewaffen, die einen Großteil des Bodens verseucht haben, so dass innerhalb der Ringe kaum noch etwas wächst – außer man hat genug Credits, um sich entsprechenden Dünger und die Bewässerung leisten zu können. Wie die Menschen in Ring Zwei.
Je näher wir dem Ziel kommen, desto mehr grüne Flecken gibt es: Gräser, Frühblüher, hin und wieder zieht sogar eine Baumgruppe an uns vorbei, vielleicht der private Forst von jemandem, bei dem die Geschäfte besonders gut laufen. Edgar hat mal darüber nachgedacht, einen zu erwerben, allerdings weiß ich, dass er seine Credits für etwas anderes spart. Denn sollten Kira und Nick wirklich heiraten, bekommen beide den Status des Älteren, was bedeutet, Kira müsste nach Ring Fünf ziehen – außer jemand legt eine beachtliche Summe auf den Tisch. Und ich weiß, dass Edgar gedenkt, dieser Jemand zu sein.
Kurz darauf hält der Zug an. Endstation. Mit dem Quietschen der Türen stehlen sich die Gedanken zurück, die ich gerade verdrängt hatte. Mein Puls nimmt Anlauf, wird jedoch von Dads Tablette gedrosselt. Was, wenn AISS doch jemanden informiert hat? Oder wenn mich diese Person am Ende der Gasse erkannt hat? Wenn die Aufsehenden da draußen auf mich warten?
Ich schiebe die Hände in meine Manteltaschen, bevor mein Körper auf die Idee kommt, mich mit einem Zittern zu verraten. Mit gestrafften Schultern verlasse ich den Zug, betrete den Bahnsteig. Mein Blick huscht von links nach rechts, scannt jede Person, die auf den nächsten Zug wartet. Keine graue Uniform weit und breit. Niemand, der mich auffordert, mitzukommen. Wie es aussieht, bin ich ein weiteres Mal davongekommen.
»Verlobungsring für Kira«, von M.E.
Das Haus der Moores liegt nur fünfzehn Minuten von der Station entfernt, direkt an der Kreuzung zweier Straßen. Es ist bedeutend größer als unseres, hat drei Stockwerke, und die Fassade ist schneeweiß, was daran liegt, dass Gloria sie regelmäßig reinigen lässt. Auf der zweiten Etage gibt es sogar einen kleinen Balkon, der an Kiras Zimmer angrenzt, gleich darüber schält sich ein Erkerfenster aus den schwarzen Dachschindeln. Es gehört zu Edgars Büro und ist mein Lieblingsplatz für die Pause. Wobei ich bezweifle, dass ich heute sonderlich viel Pause bekommen werde.
Ich gehe an den Stufen vorbei, die zur offiziellen Eingangstür hochführen, und steuere den Hintereingang an. Die schmale dunkelgrüne Tür an der Seite des Hauses, die nicht ganz so regelmäßig aufpoliert wird. Selbst Glorias Hang zur Perfektion hat irgendwo seine Grenzen – und zwar meist an dem Punkt, an dem es um ihre Angestellten geht.
Ich tippe den Code in das Display neben der Tür, ein Klicken ertönt, und schon kann ich den Knauf aufdrehen. Theoretisch könnten sich die Moores auch Gleittüren leisten, aber irgendwie stehen sie auf diese altmodische Optik.
Im Flur springt direkt das Licht an. Er ist leer. Perfekt. Sofort laufe ich zur Garderobe – falls man die paar Kupferhaken an der Betonwand so nennen kann. Dort hängen nur drei Jacken. Die knallrote gehört Luisa, die in der Küche arbeitet, der dunkelgrüne Mantel muss von Brigit sein (wahrscheinlich selbst genäht), und der letzte ist Nicks. Ohne zu zögern, schiebe ich die Hand in die Innentasche. Gefunden. Jeder Triumph wird von meinem dumpfen Inneren erstickt. Da mir Nick den Ring genaustens beschrieben hat, widerstehe ich dem Drang, die Schatulle zu öffnen, und lasse sie nahtlos weiter in meine eigene Innentasche wandern. Oder sollte ich sie lieber …?
»Mae?!«, überlagert eine Stimme die Musik in meinen Ohren. »Hast du schon die News gesehen? Über Harold Green?« Es ist Luisa, die gemerkt haben muss, dass sich meine EarPods ins Angestelltensystem der Moores eingeloggt haben.
»Ja, schon mitbekommen«, erwidere ich. »Und, AISS? Musik aus.« Sofort bricht der Song ab, stattdessen höre ich über meine EarPods das Klirren und Scheppern von Kochgeschirr.
»Eine ganz schön ernste Sache«, sagt Luisa über den Krach hinweg. »Meinst du, sie schicken den Investigationssektor auch zu uns?«
»Vielleicht.« Ein lautes Klirren jagt Schmerz durch meine Ohren. »Und warum klingt es so, als würdest du gerade ein ganzes Festmahl zubereiten?«, frage ich zischend.
»Weil es genau das wird – hoffentlich. Die Eisenhauers kommen heute kurzfristig zum Dinner, und Gloria will, dass alles perfekt wird.«
»Die Eisenhauers?« Ich hänge meinen Mantel neben Nicks und nehme die Schatulle doch wieder aus der Tasche. »Sind das nicht die mit diesem versnobten Sohn?«
»Genau die. Gloria hofft wohl immer noch, ihn mit Kira verkuppeln zu können.«
Ich verdrehe die Augen, während ich die Schatulle unschlüssig in den Fingern drehe. Wenn ich sie in meine Hosentasche stecke, zeichnet sie sich auf jeden Fall ab. »Aber sie weiß schon, dass Kira heute Abend mit meinem Bruder ins Theater geht?«, hake ich nach, obwohl ich bezweifle, dass Luisa überhaupt von diesem Date weiß.
»Keine Ahnung, was geplant war, aber Gloria meinte, ich solle mit acht Personen rechnen.«
Soweit ich weiß, sind die Eisenhauers zu dritt, die Moores zu fünft. In anderen Worten: Gloria hat Kira fest eingeplant. Nicht, dass es mich überraschen würde. Es wäre nicht das erste Date, das sie mit ihren Plänen durchkreuzt, und wie ich Nick kenne, wird er es hinnehmen. Weil er genau weiß, dass alles andere einen Diskurs zufolge hätte, in dem er sich bei Gloria nur weitere Sympathiepunkte verspielt.
»Okay.« Ich lasse die Schatulle testweise in meinem Dekolleté verschwinden. Auf gar keinen Fall. Mir fehlt eindeutig Oberweite, um das zu einem sinnvollen Versteck zu machen. »Hast du Edgar heute schon gesehen? Und weißt du, wie er die Sache mit Harold Green aufgenommen hat?«
»Nein und nein.« Das Scheppern ist einem schmatzenden Geräusch gewichen, als würde Luisa Teig kneten. »Aber ich habe Gloria eben schimpfen hören, er habe die dritte Etage seit den News nicht einmal verlassen.«
Und das um gerade mal elf Uhr, was für ein Verbrechen. Die Ironie schmeckt süß, auch wenn ich weiß, dass Veritas mich so etwas nie laut aussprechen lassen würde. »Ich werde gleich mal sehen, was ich tun kann«, sage ich, während ich doch wieder zum Mantel schiele, aber wenn ich ihn mit hochnehme und Edgar fragt …
Ein Klingeln an der Tür reißt mich aus den Gedanken. Da es an meine EarPods übertragen wird, muss es vom Hintereingang kommen.
»Ah, Mae, kannst du eben aufmachen?«, fragt Luisa. »Meine Hände sind voller Teig, und Brigit muss dringend die Kleider für heute Abend fertig umnähen.«
»Klar, ich bin sowieso noch unten.« Eigentlich ist es nicht mein Job, Liefernden zu öffnen, aber die paar Minuten fallen jetzt auch nicht mehr ins Gewicht. Ich lasse die Schatulle zurück in meine Manteltasche gleiten und nehme einen der beiden EarPods raus, ehe ich aufmache.
Vor der Tür steht ein Typ mit altmodischer Umhängetasche. Ein Mailer. Er kann kaum älter sein als ich, und trotzdem ist er dem Kupferring nach bereits verheiratet.
»Du bist weder Luisa noch eine Moore«, stellt er fest.