Honesty. Was die Lüge uns kostet - Franzi Kopka - E-Book

Honesty. Was die Lüge uns kostet E-Book

Franzi Kopka

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Beschreibung

Die Wahrheit ist unantastbar Seit Grayson ihr die Wahrheit über die korrupte Regierung Sestibys erzählt hat, liegt Maes Welt in Scherben. Denn ihr Bruder Nick ist gerade als jüngstes Parlamentsmitglied vereidigt worden, und sie muss sich entscheiden, auf wessen Seite sie steht: auf der des Widerstands oder bei ihrer Familie, die ihr bisher alles bedeutet hat. Doch Mae kann nicht länger tatenlos dabei zusehen, wie die Bewohnenden Sestibys betrogen werden. Als sie für PR-Zwecke unfreiwillig in den Fokus der Medien gerät, beschließt sie, ihren Ruhm zugunsten des Widerstands zu nutzen und selbst tiefer in die Geheimnisse der Regierung einzutauchen. Auch wenn das bedeutet, sich öffentlich gegen den Mann stellen zu müssen, für den ihr Herz in Wahrheit schlägt. Der zweite Band der Honesty-Trilogie für alle Fans von dystopischen Romanen wie »Gameshow« oder »Tribute von Panem«. Voller Spannung, Rebellion und Romantik! Eine hochspannende Jugendbuchreihe ab 14 Jahren. Young Adult at it's best!

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Seitenzahl: 611

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Franzi Kopka

Honesty

Was die Lüge uns kostet

Band 2

 

 

Illustriert von Charly Kopka

Über dieses Buch

 

 

DIE WAHRHEIT IST UNANTASTBAR

Stell dir vor, du lebst in einer Welt, in der niemand mehr lügt. Du kannst allen Menschen bedingungslos vertrauen. Allen, außer dir selbst.

Seit Grayson ihr die Wahrheit über die korrupte Regierung Sestibys erzählt hat, liegt Maes Welt in Scherben. Denn ihr Bruder Nick ist gerade als jüngstes Parlamentsmitglied vereidigt worden, und sie muss sich entscheiden, auf wessen Seite sie steht: auf der des Widerstands oder bei ihrer Familie, die ihr Leben lang für sie da war. Doch Mae kann nicht länger tatenlos dabei zusehen, wie die Bewohnenden Sestibys betrogen werden. Als sie unfreiwillig in den Fokus der Medien gerät, beschließt sie, ihren Ruhm zugunsten des Widerstands zu nutzen. Auch wenn das bedeutet, sich öffentlich gegen den Mann stellen zu müssen, für den ihr Herz in Wahrheit schlägt.

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter www.fischerverlage.de/kinderbuch-jugendbuch

Biografie

 

 

Franzi Kopka wurde 1990 im bergischen Land als Tochter einer Buchhändlerin geboren. Dank der zahlreichen Romane im Haus ist sie mit der Frage »Was wäre wenn« aufgewachsen und hat schon früh damit angefangen, sich Geschichten für ihre drei jüngeren Geschwister auszudenken. Heute vergeht kaum ein Tag, an dem sie keine Zeilen zu Papier bringt. Wenn sie nicht gerade schreibt, tauscht sie sich auf Instagram unter franzikopka mit ihrer Community über Bücher aus oder sammelt neue Inspiration.

Inhalt

[Hinweis]

[Widmung]

[Karte]

[Übersicht der Ereignisse in Band 1]

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Danksagung

[Triggerwarnung]

Einen Hinweis auf potentiell belastende Themen finden Sie hier.

Für meinen Bruder Jonas,

der mich mit seinen klugen Gedanken

schon so oft beeindruckt hat.

Im Rahmen der Vereidigung von Ada Sotaro, Blaise Nolan und Nicholas Elking für die neuen Taskforces des Investigationssektors kam es vor wenigen Minuten zu einer Explosion im Kuppelsaal des Parlaments. Für die Bevölkerung Sestibys besteht ausdrücklich keine Gefahr. Es wird dennoch gebeten, das Regierungsgelände vorerst weiträumig zu umgehen.

Ein Update aus dem Parlament wird in Kürze erwartet.

 

Newsmeldung vom 29.04.2306

Kapitel 1

Ich atme. Vier Sekunden durch die Nase ein, sieben Sekunden Luft anhalten, acht Sekunden durch den Mund wieder aus. Es tut weh. Als würden die Splitter, die bisher nur in meinem Herzen waren, jetzt auch in meiner Lunge stecken. Laut der Behandelnden ist es eine geprellte Rippe, nichts, was die Zeit nicht wieder heilen würde. Zur Unterstützung hat man mir ein Medikament gegeben, meine zahlreichen Schnittwunden wurden mit HealFix versorgt.

Sie haben großes Glück gehabt, Maeander Elking, hallen die Worte des Behandelnden in meinem Kopf nach. Ein paar Tage Schonung, und es wird alles so sein wie vorher. Vielleicht ist er ein Liar, vielleicht glaubt er seinen eigenen Bullshit wirklich. In Wahrheit wird nichts mehr so sein wie vorher. Nicht, nachdem diese Fremden das Parlament gestürmt und die ganze Welt in Scherben geschlagen haben.

Ich sehe kurz zu Paps und meiner großen Schwester Vain, mit denen ich auf einem steril weißen Gang sitze und auf Neuigkeiten aus dem OP warte. Da ich jedes Zeitgefühl verloren habe, ziehe ich mein SmartPad aus dem Dekolleté. Eine Helfende hat es mir nach meiner Behandlung in die Hand gedrückt, auch wenn ich keine Ahnung habe, wo sie es herhatte. Ich aktiviere das Display. Achtzehn Uhr. Sitzen wir echt schon so lange hier? Mein Finger gleitet wie von selbst zum Messenger. Die App ist ausgegraut, genau wie die meisten anderen. Eine Maßnahme des Partner Evaluation Programs, damit wir uns ganz auf die Tests konzentrieren können, deren Ergebnisse uns zur perfekten Partnerschaft verhelfen sollen. Obwohl erst drei der geplanten acht Wochen vorbei sind, fühlt es sich an, als wäre es Jahre her, seit ich das Camp zum ersten Mal betreten habe – oder seit ich heute Morgen aufgestanden und für die Vereidigung meines Bruders Richtung Parlament gefahren bin.

Ich öffne die App des Programms, die über einen eigenen Messenger verfügt – mit limitiertem Kontingent. Vermutlich ist es für diese Woche bei den meisten aufgebraucht, was erklären würde, warum ich nicht einmal eine Nachricht von Therese habe. Schließlich müsste sie doch längst etwas von Grayson gehört haben, richtig? Oder möchte sie mir die schlechten Nachrichten lieber persönlich überbringen?

Bei dem Gedanken an ihn krampft sich mein Magen zusammen. Bevor sich ein verräterisches Zittern in meine Fingerspitzen stehlen kann, schicke ich mein SmartPad in den Ruhemodus und stecke es weg.

Atmen. Ein. Luft anhalten. Aus. Graysons Gesicht verdrängen. Das Blut verdrängen. Die Ungewissheit verdrängen. Mein Innerstes zusammenhalten.

Mein Blick huscht zu der Tür am Ende des Gangs, auf der in großen Buchstaben steht: Zutritt nur für medizinisches Personal. Darüber hängt ein HoloBanner mit der unheilvollen Aufschrift OP 5. Ich wusste nicht, dass es heute noch Operationen gibt, die derartig lange dauern. Andererseits müssen sie einen ganzen Menschen zusammenflicken.

Ein anderes SmartPad vibriert. Vains. Sie drückt den Anruf ungesehen weg. Es ist bereits das fünfte Mal, und ich vermute, dass es ihr Mann Keith ist, der heute Mittag direkt nach Hause gefahren ist. Nicht etwa wegen der Kinder, sondern weil seine Zeit zu kostbar ist, um hier herumzusitzen und zu warten. Allein für diese Aussage hätte ich ihm liebend gern eine reingehauen, was allerdings zu Fragen geführt hätte, die ich besser nicht aufwerfen sollte.

Vain steht auf und streckt ihre Glieder. Abgesehen von den vielen Schnittwunden auf ihren Handrücken sieht sie aus, als hätte sie einen normalen Arbeitstag hinter sich. Ihr Gesicht ist immer noch makellos geschminkt, die Haltung erschreckend aufrecht und ihr Blick zwar müde, aber weit entfernt von einer emotionalen Überreaktion. Paps, der im Sessel neben mir sitzt, gibt ein leises Schnarchen von sich. Sein Kopf ist auf sein Brustbein gesunken, seine kupferroten Locken haben sich gegen das Haargel durchgesetzt und tanzen endlich wieder zerzaust in alle Richtungen. Obwohl ich die Erschöpfung in jeder Faser meines Körpers spüre, kann ich nicht einmal an Schlaf denken. Allein das Sitzen in diesem Sessel ist die reinste Folter.

Die Tür gleitet unter leisem Zischen auf. Ich habe aufgehört, zu zählen, wie oft unsere Hoffnungen bereits enttäuscht wurden, und trotzdem springe ich jedes Mal auf die Beine. Paps hebt ruckartig den Kopf, und auch Vain hält in ihrer Bewegung inne.

Es ist ein Helfender in blassgrüner Kleidung. Als er uns sieht, zuckt er bedauernd mit den Schultern und geht weiter. Wieder keine Neuigkeiten. Scheiße. Anstatt mich zu setzen, versuche ich, einen Blick ins Innere des OPs zu erhaschen, aber hinter der Tür befindet sich nur ein weiterer Gang. Dann gleitet sie wieder zu, und wir sind genauso schlau wie vorher. Paps stöhnt auf, Vain streckt ihren Rücken durch, ich will nur noch schreien.

Atmen, Mae, ermahne ich mich innerlich. Obwohl man AISS nicht sehen kann, spüre ich die Anwesenheit der künstlichen Intelligenz in jedem splitternden Atemzug. Als würde sie nur darauf warten, dass ich mich verrate. Dass eins der Gefühle durchbricht, die ich in unserer heuchlerischen Welt nicht fühlen dürfte. Da ist die heiße Wut auf Kane und alle anderen hohen Tiere, die uns mit ihrem charmanten Lächeln ins Gesicht lügen. Die Hilflosigkeit, nichts dagegen unternehmen zu können. Und die nackte Angst. Um die Menschen, die ich mit ganzem Herzen liebe, so sehr, dass ich nicht einmal darüber nachdenken darf, sie zu verlieren.

»Will noch jemand Kaffee?« Vain hat ihre Dehnübungen beendet und mustert uns fragend. Nicht einmal jetzt lässt sie Sorge durch ihre Miene schimmern, geschweige denn Angst. »Ich meine natürlich einen richtigen Kaffee, nicht diese Brühe aus dem Automaten.«

»Kaffee klingt gut.« Paps rafft sich auf. »Und ich müsste auch mal einen Happen essen. Wenn ich mich nicht täusche, habe ich unten ein Café gesehen. Was ist mit dir, Maelein? Begleitest du uns, oder sollen wir dir was mitbringen?«

Sie sind beide so gelassen. Die Vorstellung, jetzt ein Sandwich zu essen und dabei über belangloses Zeug zu plaudern, ist unerträglich. Aber ich mache weder Paps noch Vain einen Vorwurf. Schuld ist das Betäubungsmittel, das mit jeder Vergabe frisch durch ihre Adern fließt. Der Widerstand nennt es Sedatium, und seit ich davon weiß, sehe ich gewisse Reaktionen mit anderen Augen. Was nicht heißt, dass es weniger schmerzen würde.

»Nein danke. Ich habe keinen Hunger«, erwidere ich und versuche, meine Mundwinkel zu einem Lächeln zu überreden. Keine Chance. Es ist, als wäre mein Vorrat an aufgesetztem Lächeln bei meinem Auftritt im Parlament restlos aufgebraucht worden.

»Du kannst uns auch einfach so begleiten«, bietet Paps an. Sein Gesicht wirkt gerötet, aber sicher täuscht der Eindruck. Als man seine Schnittwunden versorgt hat, wurde er genauso abgeschminkt wie ich, so dass seine Haut eine Mischung aus leuchtenden Sommersprossen und roten Striemen mit transparentem Pflasterfilm ist. Keine Ahnung, wie Vain es geschafft hat, dass nur ihre Hände etwas abbekommen haben. Andererseits trägt sie einen dicken Mantel über ihrem gelben Seidenkleid, und ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie ihre Arme nach der Explosion aussahen. Eigentlich sind die meisten Details verschwommen, ich sehe nur zwei Personen in völliger Klarheit vor mir: Grayson und Dad.

»Nein danke«, wiederhole ich. »Lasst es euch schmecken.«

»Wir werden sicher nicht lange weg sein. Bis gleich, Maelein.« Paps’ Vorrat wird niemals erschöpft sein. Er schenkt mir sein typisches Lächeln, das Grübchen auf seine Wangen zeichnet. »Wenn du es dir doch noch anders überlegst, weißt du ja, wo du uns findest.«

Und wieder vibriert Vains SmartPad.

Dieses Mal wirft sie doch einen Blick aufs Display und zuckt kaum merklich zusammen. Dann drückt sie den Anruf erneut weg und schiebt ihren Arm unter Paps’. »Ich brauche jetzt wirklich diesen Kaffee.«

Als die beiden weg sind, bin ich allein auf dem riesigen Gang. Gefühlt ist hier alles dreimal so groß wie in dem MedPlex, in dem wir unsere jährlichen Check-ups haben. Ich drehe mich um die eigene Achse, unschlüssig, was ich jetzt tun soll. Es fühlt sich falsch an, mich wieder zu setzen und nichts zu tun. Ohne länger nachzudenken, laufe ich los. Vorbei an etlichen Türen, die zu Untersuchungszimmern führen, an Pflanzen und Snackautomaten, an weiteren Sitzgruppen, an VisionScreens, auf denen unten die immer gleiche Schlagzeile durchläuft:

Zwischenfall lässt Vereidigung abrupt enden. Es besteht keine Gefahr für die Bevölkerung. Mehr Informationen werden gegen Abend erwartet.

Zwischenfall. Es ist eine lächerlich harmlose Bezeichnung für das, was wirklich passiert ist. Inzwischen ist es sechs Stunden her, seit sich diese schwarzen Gestalten vom SkyWalk des Parlaments abgeseilt haben. Sechs Stunden, seit sie mit roter Farbe diese unheilvollen Worte auf die Glaskuppel gesprayt haben: The program is a lie. Das Programm ist eine Lüge. Ich bin noch nicht dazu gekommen, richtig darüber nachzudenken, und auch jetzt habe ich keine Ruhe dafür. Sechs Stunden, seit die Welt zersprungen ist. Sechs Stunden, seit erst Grayson, dann Dad … Ich spüre das Brennen hinter meinen Augen. Nicht hier und nicht jetzt. Wenn ich sechs Stunden durchgehalten habe, werde ich auch jetzt nicht einknicken.

Ich laufe weiter und blinzle die aufsteigenden Tränen weg. Dahinter lauern die Bilder, die ich wahrscheinlich nie wieder aus meinem Kopf kriegen werde. Das ganze Blut an meinem Arm, das nicht von mir kam, sondern von einem Mann, der leblos am Boden lag, die Suche nach meiner Familie, Aidens Umarmung, der winzige Fetzen Vertrautheit, der Weg zum geheimen Ausgang – der Schuss, der Grayson erwischt hat. Ich habe nicht einmal gezögert. Anstatt meine Familie nach draußen zu begleiten, bin ich zu Grayson gestürzt. Dad wollte mich aufhalten, aber ich habe ihn davon überzeugt, mich gehen zu lassen. Zumindest dachte ich, ich hätte ihn überzeugt. Dabei hätte ich es besser wissen müssen. Es stand so deutlich in seinem Blick, es lag in dem Kuss, den er mir auf die Stirn gedrückt hat, es schwang in jeder einzelnen Silbe, mit der er mich gebeten hat, auf mich aufzupassen.

Laut Aiden ist Dad auf halber Strecke umgedreht, um mich zu holen. Sie wollten ihn noch davon abhalten, aber er … hat nicht auf sie gehört. Dabei hätten fünf Sekunden Verzögerung gereicht, vier, drei, ich habe keine Ahnung, wann genau Dad in Reichweite dieser Bombe war, ich weiß nur, dass die Explosion keinen sonderlich großen Radius gehabt haben kann. Ansonsten hätte sie weitaus mehr in Mitleidenschaft ziehen müssen – Grayson, Jamar und mich eingeschlossen.

Dad lag auf der Schwelle zwischen Geheimgang und den Überresten des Kuppelsaals. Ich sehe ihn noch genau vor mir, den versengten Anzug, all das Blut, den geöffneten Brustkorb, das entstellte Gesicht mit dem verbrannten Bart. Während sich Jamar weiter um Grayson gekümmert hat, bin ich zu ihm gekrochen. Kurz darauf war Nick plötzlich an meiner Seite. Er hat mir geholfen, Dads Lunge mit frischer Luft zu füllen und das Herz zu massieren, bis die Behandelnden kamen. Kein einziger von ihnen konnte uns versprechen, dass Dad es schaffen wird.

Mein SmartPad vibriert. Ich bleibe mitten auf dem Gang stehen und hole es heraus. Eine Nachricht von Nick. Endlich. Nachdem er mir mit Dad geholfen hat, sind wir zusammen ins zentrale MedPlex – wo wir Paps, Vain und Cara getroffen haben. Unsere kleine, zu Tode verängstigte Schwester, die kurz davor war, durch eine emotionale Überreaktion aufzufallen. Nick hat sie sofort auf seinen Arm gehoben und angeboten, sie erst mal nach Hause zu bringen. Er hat nicht einmal seine Wunden versorgen lassen.

Cara und ich sind gut angekommen. Ich habe ihr eins von Dads Bonbons gegeben, und sie ist gerade eingeschlafen. Gibt es bei euch Neuigkeiten?

Die kleine Zwei in der Ecke meines SmartPads zeigt, wie viel Nachrichtenkontingent ich diese Woche noch habe. Es fühlt sich an, als würde mich diese kleine Zahl verhöhnen, die eigentlich in die Camps gehört. Nicht in das verfluchte MedPlex des Centers.

Nein, keine Neuigkeiten.

Während ich tippe, wird Nicks Kontingent eingeblendet. Wo sonst höchstens eine Drei steht, prangt jetzt ein kleines Unendlichkeitssymbol. Vielleicht ein Bonus für seine Beförderung?

Am liebsten würde ich fragen, wie es Cara geht, aber es wäre zu gefährlich. Mit Dads Bonbons meint Nick sicher die Tabletten, die jede Art von starken Gefühlen unterdrücken. Bisher dachte ich, Cara wäre genauso frei von emotionalen Überreaktionen wie der Rest meiner Familie, aber seit ihrem Schrei im Parlament bin ich mir nicht mehr sicher. Also schreibe ich nur:

Meinst du, ich habe auch eine Chance, mein Limit aufheben zu lassen?

Vielleicht. Gib mir eine Minute.

Erledigt. Allerdings gilt deine Freigabe nur für Kontakt mit der Familie.

Das waren keine dreißig Sekunden. Aber tatsächlich zeigt mein SmartPad nun auch ein Unendlichkeitssymbol. Ob die Dinge jetzt immer so laufen? Nick tätigt irgendeinen Anruf, und dreißig Sekunden später gehen seine Wünsche in Erfüllung? Es sollte mich mit Stolz erfüllen, aber stattdessen verkrampfen sich meine Finger um das SmartPad. Weil in dieser Sekunde eine Erinnerung auftaucht, die ich bislang verdrängt habe: Nick hat mich belogen. Nein, er hat nicht wirklich gelogen, aber er ist meiner Frage ausgewichen, was unter dem Einfluss echter VeriTabs unmöglich sein sollte. Ich sehe die Situation wieder gestochen scharf vor mir, wir beide umringt vom Scherbenmeer des Kuppelsaals, seine gefestigte Miene, meine Frage, was hier los sei – seine Gegenfrage, ob ich ihm vertraue. Keine. Echte. Antwort.

Mein Herz drängt in heftigen Schlägen gegen meine Rippen. Ich hatte schon vorher die Vermutung, aber jetzt weiß ich, dass Nick falsche VeriTabs nimmt. Fuck … Fuck!

Ich starre auf den Chatverlauf. Nick wartet sicher auf eine Reaktion, aber was soll ich schreiben? Jedes Wort fühlt sich plötzlich falsch an, und gleichzeitig ist er immer noch mein verdammter Bruder. Der Nick, der unzählige Male dafür gesorgt hat, dass AISS nichts von meinen emotionalen Überreaktionen mitbekommt. Der Dads Tabletten extra ins Camp geschmuggelt hat, der sie bei sich behalten hat, damit man mich nicht damit erwischt, und der mir trotzdem so sehr vertraut, dass er mich als Bezeugende für seine Vereidigung ernannt hat. Auch wenn er mich damit ins Rampenlicht gezerrt hat, weiß ich, dass es seine Art war, der Welt zu zeigen, wie nahe wir uns stehen.

Ich atme ein, halte die Luft an, atme aus. Nick liebt mich. Und er liebt Cara. Wir sind immer noch seine Welt, also was, wenn er es auf absurde Weise für uns getan hat? Wenn er die falschen VeriTabs nur nimmt, um uns besser schützen zu können, um niemandem im Parlament von unseren emotionalen Überreaktionen erzählen zu müssen?

Der Gedanke sollte mich trösten, denn er ist nicht abwegig. Als Grayson mir das Gegenmittel verabreicht hat, meinte er, ich hätte Glück, dass Nicks Liebe für mich größer sei als sein Pflichtgefühl, aber genau hier kommt der Haken, der jeden Trost zerreißt: Nick hält mich einfach nur für kaputt. Wenn er mich also schützt, dann in dem Glauben, dass Veritas bei mir wirkt. Würde er herausfinden, dass ich inzwischen eine Liar bin …

Bei der Vorstellung schnürt sich mir die Kehle zu. Ohne darüber nachzudenken, tippe ich:

Danke, Nick. Ich hab dich lieb.

Es ist die reinste aller Wahrheiten, und trotzdem fühlt es sich an wie eine Lüge. Denn bedingt echte Liebe nicht immer, dass man auch die Schattenseiten voneinander kennt? Als Nicks Antwort keine paar Sekunden später auftaucht, tut es anders weh.

Ich hab dich auch lieb, Mae. Meldest du dich, wenn du etwas von Dad hörst?

Natürlich. Und falls Cara noch mal aufwachen sollte, lies ihr die Geschichte von Seveilla vor. Am besten das Kapitel mit den Katzen.

Kaum habe ich die Nachricht abgeschickt, wird mir bewusst, dass ich gerade vorgeschlagen habe, die Geschichte der Forschenden vorzulesen, die maßgeblich an der Entwicklung von Sedatium beteiligt war. Leider ist es trotzdem Caras Lieblingsgeschichte, deshalb belasse ich es dabei und schließe das Chatfenster. Im gleichen Moment trudelt eine Benachrichtigung von AISS ein. Aufgrund der Ausnahmesituation wird die Anwesenheitspflicht im Camp bis morgen früh ausgesetzt. Um spätestens zehn müssen jedoch alle zurück sein, die das Programm erfolgreich beenden wollen – und nicht in diesem MedPlex liegen.

Meinetwegen hätten sie die Anwesenheitspflicht auch eine ganze Woche aufheben können. Oder einen Monat. Ein Jahr. Ein Leben. Denn alles in mir sträubt sich dagegen, in vierzehn Stunden wieder in irgendeinem Labor zu sitzen und Tests über mich ergehen zu lassen.

Ich stecke das SmartPad weg. Auf dem nächsten Gang steht wieder einer dieser Snackautomaten. In unserem MedPlex gibt es ähnliche – mit Bezahlfeld, an das man seine digitale CreditCard halten muss. Hier sind die Sachen gratis. Vor ein paar Wochen hätte ich mich über einen Schokoriegel gefreut, jetzt kommt es mir wie ein weiterer Riss im vermeintlich perfekten System vor. Die, die kaum Geld haben, müssen für jeden kleinsten Luxus bezahlen, während er für die Reichen einfach zum Inventar gehört.

Ich laufe weiter und weiter, bis ich auf zwei vertraute Menschen stoße, die am Rand des Gangs sitzen.

»Mae!« Therese springt sofort von ihrem Sessel auf und fällt mir um den Hals. Als sie mich an sich drückt, stoße ich ein leises Zischen aus. Diese geprellte Rippe tut verdammt weh. »Oh, Shit, du siehst echt übel aus.« Therese ist von mir abgerückt, um mich mit weit aufgerissenen Augen zu mustern. »Kann ich dir irgendwas holen? Was zu trinken? Oder einen Snack? Oder … was zum Anziehen? Ich wette, die haben hier irgendwo MedPlex-Kleidung, die du dir ausleihen kannst, ich meine, ist dir nicht arschkalt?! Mir ist arschkalt, und ich hab einen richtigen Mantel an – warte, willst du vielleicht meinen Mantel, oder …?«

»Therese.« Pierre ist ebenfalls aufgestanden, um unserer Freundin eine Hand in den Rücken zu legen. »Mit Verlaub, aber Mae sieht gerade nicht so aus, als wäre sie in der Lage, so viele Fragen auf einmal zu beantworten.«

»Klar. Ich meine, sorry, Süße, vergiss das alles. Keine Antwort notwendig. Ich bin nur … Ist dir echt nicht kalt?« Therese schürzt die Lippen, die ausnahmsweise ungeschminkt sind. »Allein die Vorstellung, so rumzulaufen, lässt mich zittern.« Ihr Körper wird von einem Schaudern geschüttelt, und sie schlingt ihren Mantel noch enger um sich. Darunter trägt sie die Kleidung aus den Camps, die allein warm genug sein sollte. Weiße Hose, weiße Jacke, beides mit einem dunkelroten Streifen an der Seite.

Ihre Frage steht offen im Raum, und ich weiß, ich muss binnen der nächsten Sekunden antworten. Unwillkürlich sehe ich an mir herunter. Ich trage immer noch das Seidenkleid, das Julverne Monroe, der PR-Beratende meines Bruders, für mich ausgesucht hat. Es war mal salbeifarben und bodenlang, jetzt ist es verdreckt von Blut und Staub, der Rock zerrissen. Ein Streifen Seide fehlt, weil ich damit Graysons … Blutung stoppen wollte.

»Mir ist warm genug, danke«, erwidere ich, ohne zu wissen, ob es stimmt. Abgesehen von dem Kleid trage ich nur ein paar Schlappen, die mir eine Helfende halbherzig hingeworfen hat, bevor sie sich um den nächsten Notfall kümmern musste. Wahrscheinlich sollte ich frieren, aber ich merke es nicht. »Habt ihr …?« Die nächsten Worte bleiben mir im Hals stecken.

»… was von Grayson gehört?«, hilft Therese aus.

Ich nicke. »Genau.« Tief in mir pocht das schlechte Gewissen. Als ich Dad dort habe liegen sehen, hatte ich keine Kraft mehr, mich weiter um Grayson zu kümmern. Erst habe ich die einen im Stich gelassen, dann die anderen, und obwohl ich niemals alle hätte retten können, fühlt es sich beschissen an.

»Wir waren gerade eben bei ihm«, antwortet Pierre. »Sie konnten die Kugel erfolgreich entfernen. Er ist noch erschöpft, aber es sieht gut aus.«

Es sieht gut aus. Die Erleichterung überrollt mich wie eine Welle. Meine Beine knicken unter mir weg, Therese und Pierre sind sofort zur Stelle, um mich zu halten. Dieses Mal kann ich die Tränen nicht zurückhalten. Ich rede mir ein, dass es okay ist. Dass es Freudentränen sind, für die man mich unmöglich anzeigen kann, dabei ist es so viel mehr. In diesen Tränen liegen alle aufgestauten Ängste, der ganze Schmerz, die Wut, der Frust, untätig hier zu stehen, während Fremde um Dads Leben kämpfen. Immerhin haben sie Graysons gerettet.

Therese zieht mich in ihre Arme. Sie hält mich, während ich an ihrer Schulter weine und mir jedes Schluchzen verkneife. Pierre sagt nichts, streicht nur behutsam über meinen Rücken, was ich als gutes Zeichen werte.

Als neben uns eine Tür aufgleitet, hebe ich den Kopf. Zwei Menschen kommen aus einem Krankenzimmer. Selbst wenn mir Therese keine Fotos der beiden gezeigt hätte, hätte ich zumindest die Frau sofort erkannt. Die Ähnlichkeit mit Therese ist verblüffend. Beide haben diese blauen Augen, die an einen wolkenlosen Sommerhimmel erinnern, geschwungene Lippen, die gleiche Stupsnase, und sogar die Haarfarbe ist identisch. Explosive Cherry, ein knalliger Rotton, der mit ihrer beigen Haut harmoniert. Thereses Tante Rose ist nur ein Stück kleiner als sie, und statt einer wilden Lockenmähne trägt sie einen kinnlangen Bob. Ihr Mann Peter ist einen halben Kopf größer als sie, blasser und lässt sich neben einem dunklen Kinnbart einen kleinen Bauch stehen.

»Er ist gerade eingeschlafen«, sagt Rose. Mit solch leiser Stimme, als hätte sie Sorge, Grayson zu wecken. Dabei ist die Tür zugeglitten, kaum dass sie und Peter das Krankenzimmer verlassen haben.

»Dafür konnten wir noch mal mit seinem Behandelnden sprechen.« Peter spricht ähnlich gedämpft. »Da das Parlament zugesagt hat, allen Verletzten die bestmögliche Behandlung zukommen zu lassen, wird er das MedPlex in wenigen Tagen verlassen können.«

»Es sieht ganz so aus, als könnte er das Programm erfolgreich abschließen«, fügt Rose hinzu, begleitet von einem erleichterten Lächeln. »Es soll nicht einmal die kleinste Narbe zurückbleiben.«

Ich löse mich von Therese. »Kann ich … zu ihm?«, frage ich, bevor ich die Tränen wegwische.

Es scheint, als würden Rose und Peter mich erst jetzt bewusst bemerken. Sichtlich überrascht sehen sie mich an.

»Die Besuchszeit ist offiziell vorbei, deshalb schätze ich, es kommt ganz darauf an, wer du bist?« Rose mustert mich von oben bis unten, aber da ist keine Abneigung in ihrem Blick. Eher ein flüchtiges Erkennen. Sicher hat sie die Vereidigung im VisionScreen verfolgt, nur sehe ich jetzt definitiv nicht mehr aus wie diese polierte Fake-Eins.

»Ich bin Mae. Eine … Freundin.« Ich stolpere über den Satz, denn am liebsten würde ich sagen, seine Freundin, aber nach unserem Gespräch auf dem Parlamentsplatz dürften wir ziemlich weit von einer Beziehung entfernt sein. Die Erinnerung brennt wie Salz in meiner wunden Seele. Wir waren zu dritt, Grayson, Jamar und ich, und ich wollte wissen, wie Jamar es schafft, die Freundschaft zu meinem Bruder aufrechtzuerhalten – obwohl sie auf verschiedenen Seiten stehen. Er meinte, es würde helfen, gemeinsame Feinde zu haben, also habe ich Grayson zum Feind erklärt – nicht mit meinem Herzen, nicht einmal wortwörtlich, aber es ändert nichts daran, dass ich ihm den Rücken zugekehrt habe. Ich bin gegangen, nur um Nick mit einem gefakten Lächeln um den Hals zu fallen und ihm zu dem Job zu gratulieren, den er niemals hätte annehmen dürfen.

»Mae, natürlich!« Das flüchtige Erkennen wird zu einem regelrechten Strahlen. Anstatt mir die Hand zu geben, zieht Rose mich in eine kräftige Umarmung. Ich beiße mir auf die Zunge, um mich von dem Schmerz abzulenken. »Es freut mich so, dich endlich kennenzulernen! Therese hat uns so viel von dir geschrieben, allerdings wusste ich nicht, dass du auch mit Grayson befreundet bist.« Sie wirft Therese einen vorwurfsvollen Blick zu, aber meine Freundin zuckt nur irritiert mit den Schultern. Klar, denn der einzige Mensch, der von meinen Gefühlen für Grayson weiß, ist Jamar.

»Natürlich kannst du zu ihm«, fährt Rose fort. »Aber erwarte nicht zu viel. Laut seinen Behandelnden wird er bis morgen Mittag durchschlafen.«

»Die Medikamente«, erklärt Peter. »Das ist übrigens Rose, Thereses und Graysons Tante, und ich bin ihr Mann, Peter.«

»Ich weiß.« Egal, wie sehr ich es versuche, meine Mundwinkel weigern sich beharrlich, ein Lächeln zu formen. »Therese hat mir auch viel erzählt.«

»Jedenfalls mehr als du mir«, neckt Therese. »Ich hoffe, dir ist klar, dass ich spätestens im Camp darauf bestehen muss, dass du mir jedes kleine Detail über Grayson und dich erzählst?!«

»Klar.« Meine Stimme klingt gepresst. An Thereses Stelle wäre ich sauer oder wenigstens ein bisschen verletzt, dass ich nichts gesagt habe, aber sie wirkt superentspannt. Genau wie ihre Tante Rose, wie Peter oder Pierre. Keiner von ihnen sieht aus, als hätte es heute einen Anschlag auf das Parlament gegeben. Geschweige denn einen beinahe tödlichen Bauchschuss auf eine geliebte Person. Sedatium macht einen wirklich grandiosen Job – vielleicht hat man ihnen sogar irgendwie eine Extradosis untergejubelt?

»Also gut, das Taxi ist hier«, sagt Peter in die Runde. »Pierre, du bist dir sicher, dass wir dich nirgends rauslassen sollen?«

Pierre nickt. »Absolut sicher. Der Wagen meines Vaters ist bereits auf dem Weg und sollte in wenigen Minuten hier sein. Aber ich begleite euch gern nach unten.«

»Was ist mit dir, Mae? Sollen wir noch kurz warten?«, bietet Rose an. »Wir kommen sowieso an eurem Camp vorbei, also würde es sich anbieten.«

Das Camp ist ungefähr der letzte Ort, an dem ich gerade sein will. Lieber würde ich hierbleiben, bis Dad aufwacht – und nach Hause fahren. Zu Nick und Cara. Selbst wenn es nur für eine einzige Nacht ist.

»Nein danke«, erwidere ich nach zu vielen Sekunden und schelte mich innerlich für die Unachtsamkeit. »Mein Dad ist …« Ich bringe es nicht über die Lippen. Stattdessen nicke ich ziellos in den Gang hinter mir, als lägen dort die fehlenden Wörter.

Therese greift nach meiner Hand. »Verdammt, Süße, das tut mir so leid. Sag Bescheid, wenn ich was für dich tun kann, okay? Und du hast Peter ja gehört. Sie kriegen hier alle die beste Versorgung.«

Sofort schießt das Brennen zurück in meine Augen. Dieses Mal kann ich es unmöglich als Freudentränen verkaufen, weshalb ich dagegen ankämpfe. »Mache ich«, sage ich knapp. »Danke, Therese. Und danke, Pierre.«

Ich weiß nicht, ob Pierre überhaupt versteht, wofür mein Dank ist. Aber erstens hat mich der Skyler-Erbende bei der ersten Explosion reflexartig nach unten gezogen und so größere Verletzungen verhindert. Und zweitens war es sein Verdienst, dass es Therese und ein paar andere aus unserem Camp unversehrt nach draußen geschafft haben. Er kannte den Hinterausgang von der Generalprobe und hat keine Sekunde gezögert, sie dorthin zu bringen.

»Das Taxi hat mir gerade einen Reminder geschickt.« Peter hält sein SmartPad hoch. Natürlich ist es eins der modernen, transparenten Modelle. »Ich will nicht drängeln, aber ich muss auch noch beim Restaurant vorbei, bevor Gustav weg ist. Es gab Probleme mit einer Kühleinheit.«

Stimmt, Peter hat ein Restaurant. Eine Info, die Therese beim Eröffnungsbankett eingestreut hat.

»Ist es wirklich okay, wenn wir dich hier allein lassen?« Therese hält meine Hand immer noch fest umklammert, und endlich sehe ich eine andere Regung in ihren Augen. Sorge. Zumindest einen Hauch davon.

»Ist es. Versprochen.« Lüge. Ich zucke kaum merklich zusammen, denn es ist unheimlich, wie leicht es mir nach so kurzer Zeit über die Lippen geht. Notlüge, korrigiere ich mich in dem Versuch, es vor mir zu rechtfertigen.

Ich lasse mich von Therese in eine letzte, vorsichtigere Umarmung ziehen, Pierre haucht mir einen Kuss auf die Wange, Rose und Peter streichen mir über den Rücken. Viel zu viele Berührungen für meine inneren Dämme. Ich atme gegen die Splitter an, während sich die anderen umdrehen und gehen.

Jetzt gibt es nur noch mich und die Tür zu Graysons Zimmer.

Kapitel 2

Graysons Brustkorb hebt und senkt sich in tiefen, gleichmäßigen Zügen, die Augen sind geschlossen.

Lautlos trete ich näher an sein Bett. Neben der Erleichterung nagt die Unsicherheit, ob er mich überhaupt sehen wollen würde, und dann ist da noch dieses Gerät, das seinen Körper vom Hals abwärts bedeckt. Es wirkt wie ein gläserner Sarg, der die Bettdecke ersetzt, durchwebt von etlichen Drähten, von HoloScreens, auf denen Diagramme leuchten, und von bläulichen Lasern, die in willkürlichem Rhythmus über seinen Oberkörper huschen. Seinen nackten Oberkörper. Es ist das erste Mal, dass ich ihn so sehe. Ein Teil von mir jault vor Sehnsucht auf, aber gleichzeitig fühlt es sich abgrundtief falsch an. Hier zu stehen und ihn so zu sehen, so verletzlich, so entblößt, ohne dass er überhaupt davon weiß.

Mit einem schweren Schlucken verändere ich meinen Fokus. Ich suche nach der Stelle, an der die Kugel in seinen Körper eingedrungen ist. Es ist ein unbedeutend kleines Loch, die Ränder sind geschwärzt, und je länger ich die Stelle anstarre, desto klarer wird mir, dass die Laser keinesfalls willkürlich tanzen. Sie scheinen einem klaren, komplizierten Muster zu folgen, das sich auf die Einschussstelle und das Gewebe ringsherum konzentriert. Wäre Dad hier, könnte er mir bestimmt erklären, wie dieses Gerät funktioniert.

Und wenn Dad nie wieder etwas erklären kann?

Jede Faser meines Körpers spannt sich an.

»AISS?«, frage ich in die Stille.

»Ja, Maeander?«, meldet AISS sich zurück. »Was kann ich für Sie tun?«

Ich habe keine Ahnung, wo sich die Lautsprecher verstecken, aber jetzt habe ich Gewissheit, dass AISS auch in diesem Zimmer jedes Wort hört – und jede Regung sieht. Also beiße ich mir auf die Wange, so heftig, dass jedes andere Gefühl kurz übertüncht wird. »Gibt es etwas Neues von meinem Dad?«

»Arthur befindet er sich derzeit in der Obhut der Operierenden auf Ebene Fünf.« Selbst jetzt säuselt sie sanft vor sich hin, als wäre es nicht mehr als eine belanglose Plauderei. »Er ist in den besten Händen, entsprechend besteht kein Grund zur Sorge.«

Es fällt mir schwer, ihr nicht ins virtuelle Gesicht zu lachen. »Ich weiß, wo er sich derzeit befindet«, sage ich mit bemüht ruhiger Stimme. »Um meine Frage zu präzisieren: Mit welcher Wahrscheinlichkeit werden die Operierenden sein Leben retten?«

»Unter Berücksichtigung vergleichbarer Fälle, dem aktuellen Stand der Forschung sowie der Fähigkeiten der zugeteilten Operierenden errechne ich eine Wahrscheinlichkeit von achtunddreißig Prozent.«

Achtunddreißig Prozent. Mir wird schlecht.

»Aufgrund dieser Information und Ihrer angespannten Körperhaltung muss ich fragen, Maeander: Haben Sie das Gefühl, demnächst einer emotionalen Überreaktion zu erliegen?«

O ja. Wäre ich allein, würde ich schreien, schluchzen, um mich schlagen. Ich würde all die Ohnmacht herauslassen, die heiß durch meine Adern pulsiert, die quälende Ungewissheit, wer diese Menschen waren, die das Parlament gestürmt haben, warum behauptet wurde, das Programm wäre eine Lüge, und warum zwei Menschen, die ich liebe, hier gelandet sind. Einer davon mit einer Überlebenschance von lächerlichen achtunddreißig Prozent!

Ich brauche vier gefährlich lange Sekunden, bis ich es schaffe, meine geballten Fäuste zu lockern. »Nein.« Wieder schaue ich nach oben. »Es ist viel zum Verarbeiten, aber ich weiß, dass die Operierenden ihr Bestes geben.«

Achtunddreißig Prozent.

»Das freut mich zu hören. Sollte sich an Ihrer emotionalen Lage etwas ändern, zögern Sie nicht, mir Bescheid zu geben«, erwidert AISS. »Eine Überprüfung ist stets zu Ihrem Besten.«

Klar. Das Parlament ist zwar frei von AISS Augen und Ohren, aber sie wird trotzdem wissen, was mit den Menschen passiert, die durch eine Überprüfung fallen. Vor allem wenn man bei ihnen Verbindungen zum Widerstand oder gar einem Gegenmittel vermutet. Außer diese Arschlöcher haben es echt geschafft, es sogar vor AISS zu verbergen. Aber was ist dann mit den Abgeordneten, die echte VeriTabs nehmen? Sind sie womöglich so überzeugt davon, das Richtige zu tun, dass sie keinen Grund sehen, es AISS zu melden? Weil es in ihren Augen kein Verbrechen ist?

»Mae?«

Der Gedanke zerspringt. Sofort reiße ich mich von der Decke los. Grayson liegt noch genauso da wie eben, nur seine Augen sind offen. Diese einzigartigen frostblauen Augen, aus denen es nur einen Blick braucht, um mein Herz aus dem gewohnten Takt zu bringen.

»Grayson.« Ich stehe wie angewurzelt da. »Tut mir leid, ich … wollte dich nicht wecken.«

»Hast du nicht«, erwidert er, und ich weiß nicht, ob es eine Lüge ist. Den Kopf leicht zur Seite gedreht, mustert er mich. Dann kräuselt er die Stirn. »Du bist verletzt.« Es klingt fast, als wäre er besorgt. Wegen mir.

Dieses Mal kann ich mir das Lachen nicht verkneifen. Es dringt leise und schief und ein bisschen zu verzweifelt aus meiner Kehle. »Du liegst in einem verdammten gläsernen Sarg«, krächze ich. »Das hier sind nur Kratzer.« Ich zucke mit den Schultern und streiche mir über die Oberarme.

Grayson hebt die Augenbrauen. »Das nennst du Kratzer?«

»Im Vergleich zu deinen Wunden? Ja.« Die Arme immer noch um mich geschlungen, trete ich einen Schritt näher. »Grayson, ich … Das, was zwischen uns passiert ist … Auf dem Parlamentsplatz …« Ich klammere mich regelrecht an mir fest. Wie entschuldigt man sich bei jemandem, den man erst geküsst und dann zum Feind erklärt hat?

»Du musst nichts sagen.« In Graysons Stimme schwingt Bitterkeit. »Es ist okay.«

Schon wieder diese drei absurden Wörter. Es sind dieselben wie auf dem Parlamentsplatz, und tief in mir weiß ich, dass sie gelogen sind. In Wahrheit ist absolut nichts okay, aber würde ich es laut aussprechen, würde AISS garantiert hellhörig werden. Also bleibt mir nichts anderes übrig, als den Widerspruch zu schlucken und so zu tun, als wäre alles in Ordnung. Meine Finger pressen sich noch fester in meine Oberarme. Es brennt in den Schnittwunden, aber ich brauche den Halt.

»Kannst du …?« Meine Stimme bebt. Ich nehme einen tiefen Atemzug, versuche, alle Gefühle zu tilgen. »Du hast mir mal von einem Schlaflied erzählt«, setze ich neu an. »Würdest du es noch mal singen? Bitte?« Ich weiß genau, dass Grayson die Anspielung auf AISS geheimen Pausenmodus versteht. Er wird über das Aufsagen einer deutschen Strophe ausgelöst – die ich nicht kenne.

Grayson weicht meinem Blick aus. »Nicht jetzt, nein«, murmelt er mehr in sich hinein.

Autsch. Das war eindeutig. In den letzten Wochen bin ich so oft gefallen, dass ich dachte, den Boden längst erreicht zu haben. Gut zu wissen, dass der Fall doch noch tiefer gehen kann …

»Okay«, presse ich hervor. »Ich bin jedenfalls froh, dass du überlebt hast.« Ein schweres Schlucken voller ungesagter Worte. »Bis dann, Grayson.«

Keine Antwort, nicht einmal ein letzter Blick. Mein Herz kreischt, aber in diesen Abgrund habe ich mich ganz allein gestoßen. Allen brennenden Wünschen zum Trotz wende ich mich zum Gehen. Meine Schritte sind schwer, denn insgeheim warte ich auf ein Flüstern, auf ein leises »Halt«, ein »Bitte bleib noch«, ein gehauchtes »Warte«. Nichts.

Die Tür gleitet auf. Ich bin halb draußen, als ich hinter mir einen Signalton höre. Der VisionScreen, der im Zimmer hängt, ist angesprungen. Beim Anblick des rot durchlaufenden Banners halte ich inne.

Jetzt live aus dem Center: Alles über die heutige Vereidigung und die notwendige Unterbrechung.

In meiner Kehle kratzt ein bitteres Lachen. O ja. Als ob das Parlament zum ersten Mal wirklich alles mit der Öffentlichkeit teilen würde. Da ich gespannt bin, welche Story sie uns auftischen wollen, pendle ich zurück in Graysons Zimmer. Die Tür geht zischend zu.

Hinter dem roten Banner wird ein Bild des Parlaments eingeblendet. Es sieht genauso aus wie immer. Ein gläsernes Schloss, auf Hochglanz poliert, davor der große Platz, der von mehreren historisch erhaltenen Gebäuden und echten Bäumen gesäumt wird.

Einige Sekunden passiert nichts, dann erklingt der Einspieler des CenterTalks, und es wird live ins Studio geschaltet. Heute ist es in ungewohnt neutralen Tönen gehalten. Weiße Sessel, heller Teppich, grauer Tisch mit einem Bouquet weißer Blumen. Mittendrin steht Irony James, die ein schwarzes, extravagantes Kleid trägt, ihr Afro wurde geglättet. Die Kamera zoomt näher an sie heran. Ich rechne mit Schnittwunden in ihrem Gesicht, aber ihre Haut wirkt wie immer makellos. Und als wäre das allein nicht absurd genug, wurde sogar ihre Augenfarbe angeglichen. Vielleicht sind es auch nur Kontaktlinsen, die das Orange von der Vereidigung hinter hellem Grau verstecken.

»Guten Abend, liebes Publikum.« Selbst jetzt strahlt Irony in die Kamera. Sie wirkt dabei nicht ganz so enthusiastisch wie heute Mittag, aber es reicht trotzdem, um die Härchen in meinem Nacken aufzustellen. »Seit über fünfzehn Jahren stehe ich als Moderierende in diesem Studio und informiere Sie über die neusten Entwicklungen in Sestiby. In all diesen Jahren haben wir das gewohnte Programm nur zweimal unterbrochen. Beim ersten Mal haben wir den Tod unseres geschätzten Präsidierenden Wilmar betrauert, der heimtückisch von einem Liar erschossen wurde.«

Auf dem HoloScreen des Studios wird ein Foto von Präsidierendem Wilmar eingeblendet. Von dem alten weißen Mann mit dem Spinnengeflecht von Haaren und dem unbarmherzigen Blick. Grayson hat einmal gesagt, es wären Männer wie Kane oder Wilmar gewesen, die unsere alte Welt aus purer Selbstgefälligkeit in den Ruin gestürzt hätten. Ob Wilmar auch ein Liar war? Ein machthungriger Herrscher, der seine dunkle Seite nur gut zu verstecken wusste?

»An die zweite Unterbrechung werden sich die meisten von Ihnen gut erinnern. Denn vor gerade einmal fünf Wochen stand ich hier, um gemeinsam mit Abgeordnetem Kane den Start des innovativen Partner Evaluation Programs zu verkünden.«

Es werden Ausschnitte aus dem CenterTalk mit Kane gezeigt, in dem er mir und etlichen anderen versprochen hat, niemals nach Ring Sieben zu müssen. Weil es für jeden von uns die perfekte Partnerperson gibt. Auch nur eine Lüge? Da ist die Frage wieder, die pfeilschnell durch meinen Kopf saust, einmal alles durchbohrt und doch nicht stecken bleibt. Vielleicht weil ich längst ahne, wie hart die Suche nach Antworten werden wird.

»Heute sollte ebenfalls ein Tag zum Feiern werden«, fährt Irony fort. »Zum ersten Mal seit der Gründung des Parlaments durften wir die Vereidigung von gleich drei neuen Mitgliedern bezeugen. Ada Sotaro, Blaise Nolan und Nicholas Elking, drei junge, dynamische Menschen, die ab Sommer unter Abgeordneter Kaldirim ausgebildet werden, um die drei neuen Taskforces des Investigationssektors zu leiten.«

Sie zeigen den Kuppelsaal, der noch intakt ist, das große Publikum, von dem etwa ein Viertel die weiße Kleidung der Camps trägt, die Bühne mit Ada, Blaise, Nick – und mir. Ich sehe aus wie eine Fremde. Mein Kupferhaar wurde hochgesteckt und hat einen ungewohnten Glanz, meine Haut ist eine ebenmäßige Fläche aus beigem Make-up, die Lippen darin viel zu rot, der Blick zu verunsichert. Immerhin habe ich meine Hände sittsam vor dem Körper verschränkt, anstatt an meiner Nagelhaut zu knibbeln.

»Nachdem alle Unterschriften geleistet wurden, hat uns Präsidierende Deliah Fallon mit großen Neuigkeiten überrascht.« Während Irony spricht, läuft die Aufnahme im Hintergrund weiter. So viele einstudierte Gesten, so viel gestelltes Lächeln. »Aus familiären Gründen hat sich unsere Präsidierende entschieden, ihr Amt an einen Mann zu übergeben, für den sich das Parlament noch gestern Abend einstimmig entschieden hat. Da Sie alle wissen, wen ich meine, bitte ich Sie jetzt um tosenden Applaus für meinen heutigen Gast!« Irony macht eine Pause, um Beifall einspielen zu lassen.

Unwillkürlich schaue ich zurück zu Grayson. Er hat die Augen wieder geschlossen, nur das tiefe Heben und Senken seines Brustkorbs beweist, dass er lebt. Warum habe ich nicht bemerkt, dass er wieder eingeschlafen ist?

Als der Applaus abebbt, zieht es meinen Blick zurück zum Screen. Im Gegensatz zu Grayson sieht Kane blendend aus. Vor fünf Wochen habe ich in ihm nur zwei Dinge gesehen: den Abgeordneten des Partnerschaftssektors und Paps’ großes Vorbild. Jetzt sehe ich in ihm einen Liar mit viel zu adrett gestutztem Bart, viel zu aufrechtem Gang, einem viel zu verschlagenen Lächeln. Jetzt sehe ich in ihm ein skrupelloses Arschloch, das im Verdacht steht, das ganze Parlament auf seine Seite ziehen zu wollen, und das sicher kein Problem damit hat, dass in den Katakomben des Parlaments Menschen gefoltert werden. Ein Arschloch, das seit heute der mächtigste Mann in Sestiby ist. Wobei, streng genommen wurde seine Vereidigung nicht beendet.

»Irony, so schnell sieht man sich wieder.« Kane schüttelt die Hand der Moderierenden. »Sie sehen gut aus.«

»Das Kompliment kann ich nur zurückgeben, Abgeordneter. Oder sollte ich Präsidierender sagen?« Neckend deutet Irony auf die Sitzecke.

Wie gewohnt zähle ich die Sekunden. Allerdings hätte es ein Liar wie Kane nie so weit geschafft, wenn er dieses Spiel nicht perfekt beherrschen würde. Er lässt keine zwei Sekunden verstreichen, bevor er antwortet: »Präsidierender ist richtig.« Zeitgleich mit Irony lässt er sich in den Sessel sinken. »Die offizielle Zeremonie wurde zwar unterbrochen, allerdings konnten wir die Unterschriften heute Nachmittag im geschlossenen Kreise nachholen. Um zu gewährleisten, dass sich unsere liebe Deliah ab sofort ganz um ihre Familie kümmern kann.«

So viel also dazu. Schöne Scheiße.

»Das sind großartige Neuigkeiten«, erwidert Irony strahlend. »Dann darf ich an dieser Stelle wohl meine Glückwünsche aussprechen.«

»Vielen Dank.« Ein bescheidenes Nicken.

»Wenn wir über Unterbrechungen reden, kommen wir doch direkt zum eigentlichen Thema dieser Sondersendung.« In einem Atemzug wird Ironys Miene ernster. »Die meisten von Ihnen waren live dabei, als unsere drei neuen Parlamentsmitglieder unterzeichnet haben, Sie waren dabei, als Deliah Fallon abgedankt hat, und Sie waren dabei, als der Bildschirm plötzlich schwarz wurde. Wie Sie wissen, ein technischer Defekt, der allerdings auf ein weitaus tragischeres Ereignis zurückzuführen war.«

Der HoloScreen im Hintergrund verändert sich. Wo vorhin noch Aufnahmen der Vereidigung liefen, wird jetzt das Standbild einer Überwachungskamera eingeblendet. Darauf sind einige der schwarz maskierten Gestalten zu sehen, die das Parlament gestürmt haben – nur von den roten Spraydosen ist keine Spur zu erkennen. Kein Wunder. Laut einer Helfenden wurde die Aufnahme in dem Moment unterbrochen, in dem sich die Gestalten vom SkyWalk abgeseilt haben. Außer denen, die live vor Ort waren, hat niemand die unheilvollen Worte gelesen. Nein, etwas sagt mir, dass das Graffiti kein Teil der neuen Geschichte sein wird.

»Diese Menschen, die Sie im Hintergrund sehen, gehören zu einer radikalen Gruppierung, die sich selbst Speakers of Truth nennt«, übernimmt Kane das Wort, und ich werde hellhörig. »Sie besteht vollständig aus Liar, die sich binnen weniger Wochen im Untergrund formiert haben, um unser geliebtes Sestiby ins Chaos zu stürzen. Und so ungern ich es zugebe, aber heute haben sie uns getroffen.«

Das Standbild wird durch ein weiteres ersetzt. Es zeigt den zersplitterten Kuppelsaal – ohne Verletzte, ohne Tote. Nur die gläsernen Trümmer, in denen sich nicht das kleinste bisschen Blut spiegelt. Ich bezweifle nicht, dass diese Aufnahme echt ist. Denn das würde erklären, warum Kane erst jetzt eine offizielle Stellungnahme abgibt. Wahrscheinlich lag Dad noch nicht einmal auf dem OP-Tisch, als sie angefangen haben, alle Spuren zu beseitigen, die beweisen, wie grausam die Vereidigung wirklich geendet hat.

»Inzwischen wissen wir, dass es einem Liar gelungen ist, sich in das Parlament einzuschleusen, genauer gesagt in das Sicherheitspersonal«, redet Kane weiter. »Fatalerweise ist er auf eine Lücke im System gestoßen, durch die er den Speakers of Truth – oder wie ich sie lieber nennen möchte, den Speakers of Lies – Zutritt zu unserem heiligsten Inneren verschaffen konnte.« Alles an Kane unterstreicht den vermeintlichen Wahrheitsgehalt seiner Aussage. Die felsenfeste Stimme, die betroffene, aber entschlossene Mimik. Nur ich habe keine Ahnung, wie viel davon stimmt. »Kurz nachdem die Kameras ausgeschaltet wurden, sind fünfundzwanzig stark bewaffnete Liar in das Parlament eingedrungen. Wir wissen bereits, dass sie durch besagten Insider Informationen über Deliahs Rücktritt hatten und verhindern wollten, dass meine Vereidigung rechtmäßig abgeschlossen werden kann.«

Während er spricht, muss ich mir auf die Zunge beißen, damit mir keine zynische Bemerkung rausrutscht. Als ob wenige Wochen reichen würden, um einen solchen Angriff zu planen. Wer auch immer diese Speakers of Truth sind, sie müssen sich Monate, wenn nicht gar Jahre auf diesen Tag vorbereitet haben – was bedeutet, dass sie AISS bei der Gefährdungsanalyse überlistet haben müssen. Und mir fällt nur ein Weg ein, um das zu schaffen: mit dem Gegenmittel der Thustras.

Übelkeit brandet in meinem Magen. Nein, Trish würde niemals … Was, Mae?, fordert mich der Zweifel heraus. Einen Schlag gegen die Arschlöcher ausführen, deren Lügen sie längst aufgedeckt hat?

Ich schlucke schwer, denn Fakt ist, dass ich weder Trish noch die Thustras wirklich kenne. Mein ganzes Wissen über den Widerstand beschränkt sich auf ein einziges Gespräch mit Grayson. Beim Verabreichen des Gegenmittels hat er mir versprochen, dass ich ab jetzt nicht mehr allein bin. Dass von jetzt an mehr als zweihundert Thustras auf mich aufpassen werden – und dass ich vielleicht irgendwann die Chance bekomme, Teil einer Revolution zu sein. Irgendwann. Nicht ein paar Tage später – oder?

Mein Blick gleitet zurück zu Grayson. Trotz allem, was zwischen uns war, hätte er meine Familie und mich niemals ohne Vorwarnung ins offene Messer laufen lassen. Dasselbe gilt für Jamar – außer natürlich die beiden wussten nichts von Trishs Plänen … Wie zur Hölle konnte das bedingungslose Vertrauen, in dem ich erzogen wurde, dermaßen schnell fragiler werden als jede Seifenblase?

»Wirklich unfassbar«, sagt Irony passenderweise. Auch wenn ihre Reaktion natürlich Kane gilt. »Dabei muss diesen Speakers of Lies doch wohl klar gewesen sein, dass es höchstens eine kleine Verzögerung nach sich zieht. Auf Kosten von etlichen …«

»Abgesehen davon, dass bei Menschen nach einer gewissen Zeit ohne VeriTab das rationale Denken aussetzt, muss ich leider widersprechen«, fällt Kane ihr ins Wort, ohne dabei unhöflich zu wirken. »Wir glauben, dass sie auf weit mehr als eine kleine Verzögerung aus waren. Angesichts ihrer Bewaffnung und des Auftretens gehen wir davon aus, dass es ihr Ziel war, Deliah und mich zu töten.«

»Töten«, wiederholt Irony und verschluckt sich dabei. Sie angelt nach ihrem Wasserglas. Einen großen Schluck und ein Räuspern später hat sie sich wieder unter Kontrolle. »Mit Verlaub, Präsidierender, doch was genau sollte das Motiv sein, die Regierung ihrer Vorsitzenden zu berauben? Wir beide kennen die Satzung gut genug, um zu wissen, dass die Handlungsfähigkeit des Parlaments jederzeit sichergestellt ist. Selbst im Todesfall der Präsidierenden.«

»Das ist richtig«, entgegnet Kane. »Allerdings scheint dieses Attentat eher persönlich motiviert gewesen zu sein.«

»Wie genau dürfen wir das verstehen?«

»Sie wissen, dass Deliah und ich bereits seit Jahren befreundet sind, deshalb stünde mir nichts ferner, als ihre Kompetenzen in Frage zu stellen.« Es sind die Nuancen zwischen den Zeilen, die verraten, dass Kane genau das tun wird. »Verstehen Sie es also bitte als sachliche Feststellung, wenn ich sage, dass die finanziellen Mittel der Regierung in den vergangenen Jahren recht einseitig verteilt waren. Primär sind sie in die Unterstützung von Partnerschaften und Familien geflossen, was ich Deliah hinsichtlich ihrer persönlichen Lebensplanung nicht verdenken kann.«

Es fällt mir schwer, das wütende Pulsieren in mir nicht nach außen zu tragen. Wo auch immer Deliah gerade ist: Ich hoffe, sie schmeißt etwas mit voller Wucht gegen ihren VisionScreen. Und wird dabei nicht von AISS beobachtet.

»Eine Verteilung, die Ihrem Sektor wohlgemerkt zugutekam«, wirft Irony seltsam harsch ein. »Andernfalls wäre die Umsetzung der Camps sicher schwierig geworden.«

»Das ist wieder ein anderer Budgetpool, allerdings möchte ich nicht bestreiten, dass der Partnerschaftssektor von Deliahs Entscheidungen profitiert hat. Doch es ist nur einer von zwölf Sektoren, die alle entsprechende Aufmerksamkeit verdient haben, und wer meine bisherigen Publikationen in Magazinen wie Parlament Inside gelesen hat, weiß, dass ich vorhabe, die Gelder effektiver zu verteilen.« Kane lässt sich kein bisschen aus der Ruhe bringen. Seine Mundwinkel sind zu einem feinen Lächeln verzogen, das eine Bein hat er auf das andere gelegt. »An der Spitze der Investitionen wird der Investigationssektor stehen und damit verbunden das Sicherheitsmanagement Sestibys. Um zu gewährleisten, dass Individuen wie die Speakers of Lies künftig aufgespürt und nach Ring Acht gebracht werden, bevor sie solch entsetzlichen Schaden anrichten können. So gesehen war der heutige Tag ihre letzte Chance für einen solchen Angriff – und diese haben sie genutzt. Wobei ich mir nicht verkneifen kann, zu sagen, dass es ein äußerst bescheidener Versuch war. Immerhin sitze ich jetzt hier und erfreue mich ebenso guter Gesundheit wie Deliah – während alle Speakers of Lies in Gewahrsam genommen werden konnten. Die Gefahr ist entsprechend vollständig gebannt.«

Im Hintergrund leuchtet immer noch das gläserne Scherbenmeer. Jeder polierte Splitter scheint Fragen und Zweifel zu spiegeln, die von Kane und Irony gekonnt ignoriert werden. Nur in mir pulsieren sie mit jedem schmerzhaften Herzschlag. Wer genau sind diese Speakers of Truth? Wie konnten sie einen Anschlag planen, ohne bei der Gefährdungsanalyse aufzufallen? Hat Trish etwas damit zu tun, oder haben sie womöglich ein eigenes Gegenmittel? Und wie viele Speakers of Truth lauern da draußen noch? Kane behauptet zwar, alle wären in Gewahrsam genommen worden, doch ich bezweifle, dass eine solch organisierte Gruppe sämtliche Mitglieder gleichzeitig losgeschickt hat. Oder … war das alles nur ein großer Bluff, um Kanes künftige Budgetverteilung zu rechtfertigen? Bei der Vorstellung frisst sich die Kälte so tief in mich rein, dass ich mir doch Thereses Mantel wünsche. Ja, nach allem, was ich inzwischen weiß, scheint kein Szenario unmöglich. Einzig das Graffiti passt in keins der Bilder …

»Es freut uns selbstverständlich, Sie beide bester Gesundheit zu wissen«, erwidert Irony. »Dennoch sollten wir über den entstandenen Schaden reden, einschließlich der Menschen, die verletzt wurden.«

Kane nickt vor sich hin. »Ich verstehe das Interesse an diesen Informationen, allerdings ist es zu früh, um verlässliche Aussagen treffen zu können. Der Architekturschaffende Frankie Skyler begutachtet derzeit den materiellen Schaden. Was die anwesenden Gäste betrifft, kann ich mit Stolz sagen, dass die Behandelnden binnen weniger als fünf Minuten vor Ort waren und alle Verwundeten erfolgreich bergen und ins zentrale MedPlex bringen konnten. Die meisten haben Schnittwunden von der zersplitterten Kuppel davongetragen, allerdings wurde mir versichert, dass sie rückstandslos verheilen werden. Im Falle von Narben kommen wir selbstverständlich für die Angleichung auf.«

Kein Wort über die Toten. Kein Wort über Menschen wie Dad, die immer noch im OP liegen. Was für ein mieser Heuchler! Aber leider auch ein verdammt guter. Denn streng genommen hat er nicht gelogen – er hat nur nicht die ganze Wahrheit gesagt.

»Allgemein möchte ich an dieser Stelle die Chance nutzen, um mich in aller Form bei denjenigen zu bedanken, die Schlimmeres verhindert haben.« Kane nickt in Richtung des HoloScreens.

Es ist das erste Mal, dass Irony sich umdreht, als wären die Bilder auch für sie neu. Fünf Portraits von fünf Menschen, die ich alle kenne: Kaldirim, Ada, Blaise, Nick – und mein Ex-Freund Aiden.

Unwillkürlich versteife ich mich.

»Ein erster großer Dank geht an meine Kollegin Nadira Kaldirim«, beginnt Kane, während ihr Portrait vergrößert wird. »Die Abgeordnete des Investigationssektors, die zu jeder Zeit des Angriffs einen kühlen Kopf bewahrt hat. Es war allem voran ihrer spontanen Einsatzleitung zu verdanken, dass alles verhältnismäßig gut ausgegangen ist.«

Seine Lobeshymne rauscht über mich hinweg, während ein Portrait nach dem anderen in den Vordergrund tritt. Bei Nick zucke ich flüchtig zusammen, als Aiden an der Reihe ist, weiß ich nicht, ob ich lachen oder weinen soll.

»Den letzten jungen Mann, dem ich persönlich danken möchte, werden die wenigsten von Ihnen kennen.« Haha. »Aiden Goodale ist einer der engsten Freunde von Nicholas, weshalb er der Vereidigung persönlich beigewohnt hat. Obwohl er ein einfacher Arbeitender aus Ring Vier ist, hat er heute nicht etwa die Flucht ergriffen, sondern in Rücksprache mit Nicholas dafür gesorgt, die Gäste in Sicherheit zu bringen. Angefangen mit meinem eigenen Ehemann, gefolgt von Nicholas’ Familie und zwanzig weiteren Gästen. Aiden Goodale? Sie sind ein wahrer Held. Und vielleicht sollten Sie bei Gelegenheit noch mal über eine Umschulung nachdenken.« Kane schmunzelt vielsagend in die Kamera. Dann werden die Portraits von einer Bilderwand überblendet, auf der kein Gesicht wirklich erkennbar ist, und Kane bedankt sich in Kürze bei allen, die an der Rettung beteiligt waren. »Ich bin wahrlich stolz, eine solch mutige Nation anführen zu dürfen, und bin mir sicher, dass es keine Herausforderung gibt, die wir nicht gemeinsam meistern können.«

Jedes Wort von ihm, jedes Lächeln, jede Geste lässt die Hitze in mir heißer auflodern. Warum sagt er das nicht meinem Dad mit seinen lächerlichen achtunddreißig Prozent Überlebenschance?!

»Nun, um noch mal auf mein letztes Thema zurückzukommen«, meldet sich Irony zu Wort, die trotz ihrer strahlenden Präsenz in den Hintergrund gerückt ist. »Dann können wir davon ausgehen, dass in den kommenden Tagen alle relevanten Informationen zu dem heutigen Zwischenfall online zu finden sein werden?«

»Selbstverständlich. Im Rahmen des Transparenzgesetzes werden wir einen vollständigen Bericht veröffentlichen, sobald die Ermittlungen abgeschlossen sind. Allerdings bitte ich die Bevölkerung um Geduld, da es gründlicher Recherche bedarf und wir jede Art von Fehlinformationen vermeiden möchten.« Und erneut zieht sich Kane geschickt aus der Affäre.

»Gut.« Da ist wieder ein Unterton in Ironys Stimme, als wäre es in Wahrheit nicht gut. »Dann ist nur noch eine große Frage offen: Wer wird Ihre Nachfolge im Partnerschaftssektor antreten?«

»Derzeit gibt es noch keinen Namen, den wir an dieser Stelle verkünden könnten«, erwidert Kane überraschend direkt. »Wir haben zwar erste Gespräche geführt, allerdings möchten wir die Position mit jemandem besetzen, der für seine Themen brennt. Der sie mit Leidenschaft verfolgt und innerhalb des Parlaments entsprechend vertritt. Sobald wir eine finale Entscheidung getroffen haben, werden wir eine offizielle Mitteilung herausgeben, und bis dahin bleibt der Sektor in meiner Obhut.«

»Präsidierender und Hauptverantwortlicher für einen ganzen Sektor«, fasst Irony zusammen. »Ich nehme an, Sie haben in den nächsten Monaten keine großen Freizeitpläne?«

Kane lacht auf. »O nein, die Zukunft Sestibys hat für mich höchste Priorität.«

»Gibt es sonst noch etwas, das Sie unseren Zuschauenden an dieser Stelle mitteilen möchten?«

»Seien Sie unbesorgt.« Drei Wörter, die für mich wie blanker Hohn klingen. »Gehen Sie regelmäßig zur Vergabe. Halten Sie Augen und Ohren in Ihrem Umfeld offen. Melden Sie verdächtiges Verhalten. Und scheuen Sie sich nicht, zu einer freiwilligen Überprüfung zu gehen, falls Sie merken, dass Sie diese Situation ungewöhnlich belastet. Unsere Behandelnden freuen sich, Sie entsprechend zu unterstützen.«

Interessant, wie er Extradosis Sedatium ausspricht.

»In diesem Sinne, Irony: Es war mir eine Ehre, hier sein zu dürfen.« Dann formt er aus Zeige- und Mittelfinger das typische V, mit dem er sein Herz berührt. »Für die Wahrheit.«

»Für den Frieden«, gibt Irony die Floskel zum Besten. Sie nickt Richtung Kamera, und das Bild wird überblendet.

Was für eine Shitshow.

Da die Wahrheit ein Grundrecht der Bevölkerung Sestibys darstellt, haben alle Bewohnenden Anspruch auf umfassende Transparenz von staatlichen Institutionen sowie Wirtschaftsunternehmen. Art, Umfang und Regelmäßigkeit der zu veröffentlichenden Transparenzberichte sowie Einschränkungen und Ausnahmen zum Schutze der Bevölkerung sind im nachfolgenden Gesetzestext niedergeschrieben.

 

Auszug aus »Einführung in das Transparenzgesetz« von Professierter Magdalena Engels, erschienen 01.08.2135

Kapitel 3

Vain ist nach dem Kaffee nach Hause gefahren. Laut Paps musste sie zurück zu den Kindern. Das Taxi hätte draußen bereits auf sie gewartet. Entweder hat sie es heimlich bestellt, oder es kam von Keith, der sie irgendwie überredet hat, einzusteigen. Oder gezwungen? Unwillkürlich muss ich an das gemeinsame Frühstück vor der Vereidigung denken. Daran, wie Keith jede Bemerkung von Vain mit seiner Arroganz abgebügelt hat, wie er sie Richtung Beatrice Bachmann dirigiert hat, um irgendeinem Club beizutreten, und wie er sie mit einer Hand im Rücken regelrecht nach vorne geschoben hat.

Bei der Erinnerung meldet sich ein unangenehmes Zwicken in meinem Magen. Andererseits habe ich nur einen winzigen Ausschnitt aus Vains und Keiths Ehe gesehen. Gäbe es wirklich Grund zur Sorge, hätte Vain es sicher längst bei der Gefährdungsanalyse gemeldet, richtig? Nach unserer Begegnung habe ich jedenfalls keinen Zweifel daran, dass die VeriTabs bei ihr wirken.

Trotzdem lässt mich das Gefühl nicht ganz los, als ich allein mit Paps auf dem Gang vor dem OP sitze. Irgendetwas ist da zwischen Vain und Keith. Oder rede ich es mir nur ein, um mich von dem restlichen Chaos abzulenken?

Neben mir beginnt Paps, an seiner Nagelhaut zu knibbeln. Allmählich scheint sich seine Nervosität sogar gegen Sedatium durchzusetzen. Kein Wunder. Als er zurückkam, wollte er wissen, ob ich was von Dad gehört habe, und da AISS zuhört, musste ich diese elenden achtunddreißig Prozent erwähnen. Immerhin konnte ich den Ausflug zu Grayson für mich behalten.

Reflexartig strecke ich die Hand nach Paps’ aus. Erst als ich seine warmen Finger berühre, merke ich, wie frostig meine sind. »Cara ist übrigens direkt eingeschlafen«, starte ich einen Versuch, uns beide abzulenken. »Nick hat mir geschrieben.«

»Ich bin auch todmüde«, erwidert Paps und ringt sich ein Gähnen ab, das ansteckend ist. »Wenn sie deinen Dad nicht bald da rausbringen, werde ich um ein Gespräch mit dem leitenden Personal bitten. Es ist unverantwortlich, uns so lange hier warten zu lassen.« Dann legt er seine Hand über meine und tätschelt sie. »AISS, meine Liebe, kannst du inzwischen absehen, wie lange die OP meines Ehemanns noch dauert?« Paps’ Stimme ist eine Nuance höher als sonst. Irgendwo unter Sedatium muss er rasend vor Angst sein.

»Die Operierenden sind gerade in den letzten Zügen. Bitte haben Sie noch einen Moment Geduld, Oliver.« Das Säuseln kommt aus einem Lautsprecher direkt über unseren Köpfen.

Paps lässt sich tiefer in den Sessel sinken, ohne meine Hand loszulassen. »Das letzte Mal, dass ich so viel Geduld aufbringen musste, war bei der Geburt deiner kleinen Schwester. Die Leihmutter hat sich für eine natürliche Geburt entschieden, und zuerst sah alles gut aus, aber dann gab es Komplikationen mit der Lage, und es hat beinahe achtundvierzig Stunden gedauert, bis wir unser Mädchen zum ersten Mal sehen durften.«

Sonst spricht Paps nie über die Details von Caras Geburt. Da ich damals gerade erst sieben war, kann mich nur noch an die glücklichen Gesichter meiner Eltern sowie den Besuch auf der Station erinnern. Komplikationen sind mir neu.

»Apropos: Hast du schon was von deinen Geschwistern gehört?«, fügt er fragend hinzu. Anscheinend hat er vorhin nur die Hälfte mitbekommen.

»Nick hat mir geschrieben«, wiederhole ich geduldig. »Die beiden sind gut zu Hause angekommen, und Cara war so müde, dass sie sofort eingeschlafen ist.«

»Das sind gute Nachrichten.« Paps muss wieder gähnen. »Ich habe Vain auch gebeten, sich zu melden, wenn sie zu Hause angekommen ist, aber sie wollte nichts versprechen. Ich wüsste ja, wie das mit Kindern wäre.« Ein flüchtiges Schmunzeln huscht über sein Gesicht, wobei ich nicht sagen kann, ob es von einer glücklichen Erinnerung oder Bedauern gezeichnet ist.

Die Tür des OPs gleitet auf, und sofort sind alle anderen Themen vergessen. Hand in Hand springen Paps und ich auf, mein Puls ist höher als bei jedem Parcours, und das einzige Wort, das noch durch meine Gedanken hallt, ist eine Zahl. Achtunddreißig. Ich halte mich an Paps fest. Und er klammert sich an mich.

Dieses Mal ist es kein Helfender, sondern eine Behandelnde. Falls ihr Kittel blutig war, hat sie ihn gewechselt, nur die Haube auf ihrem Kopf beweist, dass sie vorhin noch im Einsatz war. »Arthurs Ehemann Oliver, und Sie müssen die zweitjüngste Tochter sein, Maeander?«, spricht sie uns an.

Ich versuche, auf ihrem hellbraunen Gesicht eine Regung zu erkennen, die mehr verrät. Ein nach unten verzogener Mundwinkel, Bedauern, Erleichterung, aber sie hat das perfekte Pokerface.

»Richtig«, antworten Paps und ich zeitgleich.

»Arthur hat beim Mittagessen manchmal Fotos gezeigt.« Nicht einmal jetzt lässt sie eine Regung durchschimmern. »Christa Melrose«, stellt sie sich stattdessen vor. »Ich habe eine Weile eng mit Arthur zusammengearbeitet, was diese Sache für mich nicht leichter macht.«