Gandenthal - Jorge de Myers - E-Book

Gandenthal E-Book

Jorge de Myers

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Beschreibung

In der mythenumrankten Grafschaft Gandenthal, am südlichsten Zipfel des Nordlandes, lebt der ehemalige Schreinermeister Lohmis van Botterbloom mit seinem Sohn William und dessen Onkel Nicholas in einem Haus unterhalb einer alten Burgruine. Als William am Markttag eine geheimnisvolle Schreibmappe von einem Gaukler erhält, beginnen seltsame Ereignisse ihren Lauf zu nehmen. Plötzlich findet sich William in den Wirren einer uralten Saga gefangen, als längst vergessene Weidenreiter mit fauchenden Weidensteinen auftauchen. Eine Ära der Dunkelheit droht über das einst friedliche Land hereinzubrechen. Um das Unheil abzuwenden, begibt sich William gemeinsam mit den Weidenreitern auf gefährliche Pfade durch das Gandenthal. Wird es ihnen gelingen, das Land vor dem drohenden Unheil zu retten? Tauche ein in die Welt von Gandenthal und erlebe ein Abenteuer voller Magie und Geheimnisse.

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Widmung

Für Birgit, Mona & Gunnar

Buchbeschreibung

Gandenthal, mythenumrankte Grafschaft am südlichsten Zipfel des Nordlandes.

Hier lebt der ehemalige Schreinermeister Lohmis van Botterbloom mit seinem Sohn William und dessen Onkel Nicholas in einem Haus unterhalb einer alten Burgruine.

Als William am Markttag eine geheimnisvolle Schreibmappe von einem Gaukler zugespielt bekommt, nehmen seltsame Geschehnisse ihren Lauf. Mit einem Mal sieht sich William im Bann einer uralten Saga gefangen. Längst vergessene Weidenreiter tauchen mit fauchenden Weidensteinen auf. Eine Zeit der Dunkelheit droht sich über das friedliche Land auszubreiten.

Um das Unheil abzuwenden, begibt sich William gemeinsam mit den Weidenreitern auf gefahrvolle Pfade durch das Gandenthal.

Über den Autor

Jorge de Myers verbrachte seine Kindheit und Jugend im Leinebergland, einer Mittelgebirgsregion zwischen Harz und Weser.

Gemeinsam mit seinen Freunden erlebte er in den dortigen Wäldern so manche Abenteuer, die ihn zu dieser Buchreihe inspirierten.

Noch heute bereist der Autor seine Heimatregion in regelmäßigen Abständen.

Er lebt mit seiner Frau und sechs Katzen in der Nähe von Berlin.

Inhaltsangabe

Einführende Worte des Autors (Prolog)

Wenn wir als Wanderer

Flüche und Gedanken

Marmelade zum Frühstück

Die Harringtons

Entwischt

Begegnung mit einem Gaukler

Ulrich von dem Weidenthal

Die geheimnisvolle Schreibmappe

Die drei Bogenschützen

Gegen jede Chance

Der Weidenpfeil

Traurige Gewissheit

Eine seltsame Begegnung in der Nacht

Im Glockenzimmer

Erinnerungen

Verloren im Gandenthal

Ein später Gast

Auf dem Burgfried und eine uralte Saga

Wenn die Nacht hereinbricht

Im Schutz der »Weißen Klippen«

Die geheime Bibliothek

Der Gefangene vom Erlengrund

Kasper, der »Rote Milan«

Am Ende eines ereignisreichen Tages

Die Flucht

Glück im Unglück

Der Elefantenbaum

Der neue Weidenreiter

Im Erlengrund

Spannend geht es weiter

Nicht verwendetes Kapitel in der Geschichte: Auf verschneiten Pfaden

Überblick

Quellennachweis

Zitat

Viele Menschen versuchen sich, im Laufe ihres Lebens von ihren Eltern zu lösen. Sie gehen auf die Wanderschaft, lassen sich an einem weit entfernten Ort nieder und gründen dort vielleicht eine eigene Familie.

Aber eines Tages kehren sie wieder heim, zurück an den Platz, wo ihre Wurzeln sind, zurück zu ihrer Kinder- und Jugendzeit und sei es vielleicht auch nur in Gedanken.

Nicholas Alexandre de Saint Ville

Einführende Worte des Autors(Prolog)

Alle Menschen und alle Tiere, denen wir in unserer Geschichte begegnen werden, haben irgendwann einmal gelebt oder weilen noch unter uns.

Natürlich tragen sie nicht so bedeutende Namen, wie die eines William oder Lohmis van Botterbloom oder eines Andy von Harrington, auch nicht die eines Sir Robert T. Winston, eines Butler Patrick McBuffer oder Nicholas Alexandre de Saint Ville.

Nein, sie haben Namen wie du und ich, die so ähnlich klingen wie Müller, Meyer, Schulze und Schmidt.

Vielleicht werden einige von ihnen dieses Buch gemeinsam mit ihren Töchtern und Söhnen lesen oder den Enkelkindern daraus erzählen und sich dabei zufällig wieder entdecken. Sollte es so sein, dann ist das gut so und entspricht auch den Wünschen des Autors.

Aber eines ist ganz sicher: Alle haben in ihrem Leben Spuren hinterlassen und im Gandenthal trifft man noch heute auf sie, aber nur, wenn wir genau hinschauen und als Wanderer den kleinen Pfad vom »Hohen Bärengrund« kommend zum »Himmelreich« emporsteigen.

Wenn wir als Wanderer ...

... den kleinen Pfad vom »Hohen Bärengrund« kommend zum »Himmelreich« emporsteigen, erblickt unser geübtes Auge eine alte Burgruine aus längst vergangener Zeit, die sich majestätisch über die waldreichen Höhenzüge des Gandenthals erhebt.

Unterhalb des schweren Holztores, am Eingang zum Burghof, steht ein altes zerfallendes Fachwerkhaus. Hinter der bröckelnden, lehmigen Fassade wohnten früher einmal die van Botterblooms. Lohmis van Botterbloom besaß eine gut gehende Schreinerei unten im Dorf, gleich neben der herzoglichen Domäne. Er galt bis weit über die Grenzen der Grafschaft hinweg, als der geschickteste Handwerker seiner Zunft. Doch dann, eines Tages passierte das Unglück: Lohmis war abgelenkt, und die wuchtige Bandsäge schnitt ihm drei Finger seiner linken Hand ab. Die Leute zeigten zunächst Mitgefühl und sprachen ihm Trost zu, bis sie merkten, dass ihre bestellten Möbel nicht mehr jene Genauigkeit und Sorgfalt aufwiesen, wie sie es von Meister Lohmis von je her gewöhnt waren. Nicht wenige fühlten sich von ihm betrogen. Sie wandten sich von ihm ab. Die Aufträge wurden immer seltener und die traditionsreiche Schreinerei van Botterbloom wurde geschlossen.

Nachdem das Geld zur Neige ging und Lohmis Haus und Hof verkaufen musste, um Schulden zu bezahlen, befiel ihm eine tiefe Schwermütigkeit. Er hasste die Leute für ihre Untreue, gab ihnen den Grund für all das Leid, das ihm widerfahren war.

Henricus Böck, der Amtmann der Marktgemeinde Greensen, hatte Mitleid mit seinem ehemaligen Schreinermeister. Er überließ Lohmis das alte Fachwerkhaus mit der Auflage, es im Laufe der Zeit herzurichten. Obendrein erhielt er persönlich von Herzog Franziskus von Harrington, die offizielle Ernennung zum Schließer. Während einer kleinen Feierstunde auf dem Domänenhof, bei der ebenfalls ein Gerichtsgesandter des Herzogs anwesend war, wurden ihm die riesigen Burgschlüssel übergeben, die er seit jenem Tage immer laut klimpernd am Hosengürtel trug und des Nachts unter dem Kopfkissen verbarg.

Überaus dankbar für diese große Geste zog Lohmis gemeinsam mit seinem Sohn William und dessen Onkel Nicholas kurz darauf in das Haus ein.

Die Zimmer waren nicht geräumig, eher bescheiden, aber daran störten die Drei sich nicht.

Williams Zimmer war das Schönste von allen: Es lag direkt unter dem Dach, hatte lustige schräge Balken und zwei zum Tal hinausgehende Fenster. Wer hier wohnte, musste schon ein wenig schwindelfrei sein, denn unmittelbar dahinter, ging es einige Hundert Fuß in die Tiefe hinab.

Und so, wie viele Geschichten meistens harmlos beginnen, beginnt auch unsere: An einem frühen, sonnigen Sonntag in der Grafschaft Gandenthal, im Jahre einhundertundvier, nach dem Zerfall der »Alten Welt«.

Flüche und Gedanken

Frühlingsanfang im Jahre 104, nach dem Zerfall der Alten Welt ...

Zu diesem Zeitpunkt lagen die zukünftigen Geschehnisse für viele der Bewohner noch in weiter Ferne. Durch gewisse Umstände, die dem Hochmut einzelner Leute geschuldet waren, wurden Meldungen und Aufzeichnungen nicht weitergereicht. Nur wenigen war es gegeben, die unheilvollen Vorgänge im Lande richtig zu deuten.

Für die meisten Menschen des Gandenthals begann der Morgen aber wie immer: Mit dem Melken ihrer Kühe, mit Backen und Kochen und mit vielen anderen kleinen und großen Beschäftigungen, die den Tag ein wenig verschönern sollten.

Einzig für die Kinder der Grafschaft war dieser Sonntag einer der besten Tage des Jahres: Es war der Beginn der Frühlingsferien!

An diesem Morgen wurde William von einem sanften Schnurren geweckt. Kurz darauf sprang ihm ein schwarz-weißes Fellknäuel mitten ins Gesicht.

Prustend wischte er sich ein kitzeliges Gefühl und ein paar feuchte Haare von der Nase. Halb schlaftrunken packte er den übermütigen Kater und legte ihn zu sich auf die Bettdecke. Schlaumeier streckte sich ausgiebig. Gähnend rollte er sich auf den Rücken und kuschelte sich tief in die Kissen hinein.

»Du kleiner Rabatzki!«, flüsterte William liebevoll und strich ihm über das flauschig weiche Fell. »Hast mich ganz schön erschreckt!«

Der kleine Kater schnurrte vor sich hin, wurde leiser und leiser, bis das Schnurren bald darauf ganz verstummte. Schlaui war eingeschlafen.

Ein Weilchen später, nachdem die ersten Sonnenstrahlen die Dachkammer erwärmten, kroch William unter der Bettdecke hervor, schlurfte zum Fenster und stieß es auf. Tief sog er die würzige Frühlingsluft in seine Lungen ein. Die endlose Weite des Gandenthals mit ihren lieblichen, waldreichen Höhenzügen, präsentierte sich in einem farbenfrohen Spiel voller Licht und Wärme. Was für ein herrlicher Tag!

»Wie ist das möglich? Schon zwanzig Minuten über der Zeit? Mist! Das gibt Ärger!« Beim Blick auf seinen Wecker stieß er einen Fluch aus und schickte gleich zwei weitere hinterher.

Ja, fluchen, das konnte er. Er konnte so fürchterlich fluchen, dass sich die alten Geister der Burg vor Scham zähneklappernd in die tiefsten Tiefen ihrer stinkenden Grüfte verzogen. Aber heute brachte das Fluchen ihm keinen Spaß, den er sonst immer dabei verspürte. Nicht weil ihm einfiel, dass Sonntag war, und er es unterlassen sollte, diesen geheiligten Tag mit gemeinen Flüchen zu beginnen. Nein, es war die simple Erkenntnis, dass er wieder einmal zu spät dran war, und das ließ ihn alle guten Vorsätze über das Fluchen vergessen.

William raufte sich die Haare. Er wüsste für sein Leben gern, warum dieser verflixte Wecker nicht funktionierte, gerade dann, wenn er ihn so dringend brauchte.

Etwas war doch mächtig faul an der ganzen Sache: Denn unter der Woche, zur Schulzeit, gab es mit dem blöden Ding nie Scherereien. Er gab dem Wecker einen kräftigen Stoß, sodass er laut klingelnd in der Ecke landete.

Seufzend ließ er sich auf die Bettkante nieder und eine böse Ahnung stieg in ihm auf: Bestimmt steckte sein Vater dahinter! Nur er, kam dafür infrage!

Und je länger er sich darüber das Hirn zermarterte, umso mehr wandelte sich seine anfänglich gute Laune in blanke Empörung. Sein Blick fiel auf seine rauen, schwieligen Hände. Da waren die Beweise! Und es waren handfeste, schmerzende Beweise! Seit dem Unglück in der Schreinerei war sein Vater unausstehlich geworden. Und dann diese unsägliche Hausregel: Sonntags um sieben Uhr Frühstück! Bah! Wie ungemütlich! Eine Verspätung um lächerliche zehn Minuten bedeutete schon ausgiebige Putzarbeit in der Küche. Weitere zehn wurden mit Holzhacken im Hof bestraft. William stellte sich vor, wie sein Vater unten am gedeckten Kaffeetisch saß und neue Ränkespiele austüftelte.

»Na, dann ist das ja heute mein Glückstag«, murmelte William. »Es ist schon kurz vor halb acht. Jetzt wird der Burgrasen wieder mal daran glauben müssen.« Er dachte mit Schaudern an die schwere Sense, die unten im Hof auf ihn wartete.

William ließ sich rücklings aufs Bett fallen und starrte gegen die Balkendecke. Er überlegte, ob es für ihn nicht besser wäre, einfach abzuhauen. Jetzt gleich durchzubrennen und dabei keinen einzigen Moment an eine Rückkehr zu verschwenden.

Durch seine Gedankengänge geisterte ein Name: Andy!

Andy von Harrington war ein älterer Junge aus dem »Thal der Sieben Hügel«, der sich mit einigen Freunden aufgemacht hatte, sein Glück im fernen Südland zu suchen. Bis heute galt er als der brandgefährlichste Anführer der »Wilden Horde«, die William bis auf den Tod fürchtete, aber insgeheim bewunderte. Wie Andy wollte er sein, von allen gefürchtet und doch beneidet.

Aber wahrscheinlich würde sein Verschwinden hier niemanden interessieren. Vor allem seinen kaltherzigen Vater nicht. William musterte den kleinen Kater und fragte sich, ob Schlaumeier ihn vermissen würde? Vermutlich nicht! Er war immer nur auf sein warmes, weiches Bett aus. Kein Problem! Es gehörte ihm ja fast schon. Die weißen Pfoten des Stubentigers zuckten im Schlaf.

Aber da gab es noch Onkel Nicholas, seinen einzigen Freund, seinen Vertrauten. Der Gedanke daran, auch ihn zu verlassen, gefiel ihm gar nicht. Verzwickte Situation! Nachdenklich streifte er die Hose über und knallte mit den Hosenträgern. Nein, es war zu spät, und ohne eine Handvoll Nordlandmünzen wäre sein Vorhaben sowieso zum Scheitern verurteilt. Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben!

Aus einem Krug goss er Wasser in eine Keramikschüssel. Prustend schmiss er sich einige Hände voll kaltem Nass ins Gesicht. Der Einfachheit halber wischte er sich die Tropfen gleich mit dem Hemdsärmel ab.

Schwungvoll stieß er seine Zimmertür auf, sodass sie wie ein zurückschnellendes Pendel gleich hinter ihm wieder ins Schloss krachte. Akrobatisch rutschte er bäuchlings auf dem breiten Treppengeländer zur Küche hinunter, wo sein Vater voll Ungeduld mit dem Frühstück auf ihn wartete.

Marmelade zum Frühstück

Lohmis und Nicholas besaßen nur wenige, dafür aber gute Nordlandmünzen, die sie an einer geheimen Stelle im Haus versteckt hielten. Sie lebten meistens von Tauschgeschäften, die beide bis zur Perfektion beherrschten.

Jeden Sonntag ging Nicholas in aller Frühe in den Wald und sammelte Leseholz, um es später beim Bäcker gegen knusprig gebackene Gandenthaler Krüstchen einzutauschen.

Nachdem der Tisch gedeckt und die Luft erfüllt war vom herrlichen Kaffeeduft, die Krüstchen dampfend vor Ungeduld im Brotkorb auf ihren Verzehr warteten, hielt Lohmis zunächst eine kleine Ansprache über die vielen Unwägbarkeiten des täglichen Lebens, erinnerte an die guten Zeiten seiner Schreinertätigkeit und dankte dem Herrgott in einem Gebet für dessen Großzügigkeit. Kurz darauf stieg er feierlich die Treppe in den Keller hinab, für den ausschließlich er den Schlüssel besaß, kramte polternd in den staubigen Regalen herum, um letzten Endes ein neues Marmeladenglas zutage zu befördern. Das war der Höhepunkt eines jeden Sonntagmorgens im Hause van Botterbloom. Williams Lieblingsmarmelade war eine herrlich duftende Waldbeerenmischung, mit Zimt veredelt. Es lag immer eine gewisse Spannung in der Luft, da sein Vater nie im Voraus verriet, welche neue Sorte er am Sonntag öffnen würde. William hoffte insgeheim auf seine Lieblingssorte, denn die hatte es schon seit einigen Wochen nicht mehr gegeben.

Prompt stieß William in voller Fahrt mit seinem Vater zusammen, der von der Anrichte kam und einen Brotkorb in der Hand hielt. Lohmis packte zu, nutzte den Schwung und beförderte seinen Sohn krachend auf einen Stuhl, sodass er fast nach hinten überkippte.

»Du bist zu spät!«

Tolle Erkenntnis, da erzählte er William nichts Neues.

Drohend baute er sich vor ihm auf. »Es ist immer wieder das Gleiche mit dir! Mit zwölf Jahren solltest du die Uhr eigentlich lesen können«, redete er auf ihn ein und ergänzte scharf. »Und benutz endlich ein Handtuch!«.

Genauso hatte er sich diesen Sonntagmorgen vorgestellt: vor ihm sein aufbrausender Vater, auf dem Tisch die dampfenden Gandenthaler Krüstchen, und davor sitzend, der wie immer ruhig und gelassen wirkende Onkel Nicholas und er mittendrin. Und dann die nie enden wollende Leier wegen seines Alters. Das war wieder mal typisch. »Entschuldigung!«, kam es William kleinlaut über die Lippen.

Sein Vater wirkte angriffslustig. »Das reicht mir nicht! Nein, überhaupt nicht!« William schwieg. Jetzt war Zurückhaltung gefordert. Ihm graute vor der Sense im Hof.

»Ich warte …«, kam es fordernd.

»Was willst du hören? Dass ich elf oder zwölf bin, nein, sogar schon dreizehn, aber daran erinnerst du dich ja nicht«, entgegnete William kühl und von seinen Worten selbst überrascht, rückte er vorsorglich mit dem Stuhl ein wenig nach hinten, weg aus der Reichweite seines Vaters. Einen Atemzug später setzte er mutig hinzu: »... und die Zeit auf einer Uhr, die kann ich sehr wohl ablesen!«

William sah, wie der fein mit Bienenwachs bestrichene Schnurrbart über den zusammengepressten Lippen seines Vaters anfing, zu zittern.

»Nun beruhigt euch mal wieder«, mischte sich Onkel Nicholas ein, klopfte einige Brotkrumen vom Hemd, strich seinen dichten Bart glatt und lächelte beide mit vollem Mund an.

»Also gut«, gab Lohmis nach und setzte sich. »Wir werden ja sehen.«

Angespannte Stille herrschte im Raum. William wartete kurz ab, dann rückte er an den Tisch heran. Rasch nahm er sich ein Krüstchen aus dem Korb, schnitt es auf, und bestrich es mit Butter.

Potz – Blitz! Da stand doch direkt vor ihm, seine Lieblingsmarmelade. Genau die, die mit der Waldbeerenmischung und mit einem Hauch Zimt veredelt. Der Zimt war das Beste daran. William liebte den Geschmack von Zimt über alles und dann erst dieser Duft, mmh ...!

Freudig ergriff er das Glasgefäß und zog es zu sich heran. Mit einer schnellen Bewegung wurde es ihm prompt wieder entrissen.

Irritiert sah William zu seinem Vater hinüber, der das Glas zwischen Daumen und kleinem Finger triumphierend hin und her schwenkte.

»Wie schon gesagt, mein Sohn, du hast heute Morgen die Hausregeln verletzt. Du warst sieben Minuten zu spät!«, erklärte Lohmis gefährlich ruhig, seine Stimme klang wie ein Singsang, während er das Marmeladenglas neben seinen Teller stellte. »Wo kämen wir denn dahin, wenn jeder das tun würde, was ihm beliebte?«

»Aha!« William runzelte nachdenklich die Stirn. Nur sieben Minuten? Dann würde die Strafpredigt ja heute nicht so streng ausfallen. Aber dass ihm seine Lieblingsmarmelade verweigert wurde, erzürnte ihn.

»Teufel und Geister! Ich habe heute Morgen nicht verschlafen. Ich habe an meiner Geschichte gearbeitet«, schwindelte William und vor Wut stieg ihm die Röte ins Gesicht.

»Du sollst am Tisch nicht fluchen!« Lohmis hob drohend den Zeigefinger. »Und papperlapapp, so ein Quatsch ...! Was für eine Geschichte?«, hakte dieser nach.

»Na, an meiner Geschichte eben. Du weißt doch ..., ich habe es dir erzählt, aber du hörst mir ja nie zu!«

»Ach so, deine unsinnigen Flausen mit der Schriftstellerei«, spottete sein Vater. »Die treibe ich dir noch aus!«

»Lohmis, lass den Jong frühstücken«, griff erneut Onkel Nicholas schmatzend ein und entnahm dem Korb zwei Gandenthaler Krüstchen. Lobend stellte er fest: »Außerdem schreibt er spannende Geschichten, ich finde, daraus kann etwas werden.«

»Seit wann bist du des Lesens mächtig? Das ist ja mal ganz was Neues.«

»Oh, nun ja. William hat sie mir vorgelesen.« Nicholas zwinkerte seinem Neffen kameradschaftlich zu. »Außerdem ist Markttag. Wir werden heute Vormittag dort hingehen, um für William eine neue Schreibmappe zu kaufen. Er hat kein Papier mehr.«

»Verrate mir, Nicholas, von welchen Münzen du das bezahlen willst, he?«, stichelte Lohmis.

»Ich habe etwas Erspartes. Eine oder zwei gute Münzen werden dafür schon ausreichen, um dem Jong eine Freude zu machen«, erwiderte Onkel Nicholas.

»Aha, schon wieder jemand, der meinem Sohn eine Freude machen will.« Lohmis fuchtelte jetzt wild in der Luft herum. »Das Gleiche hatte ich heute Morgen mit der Marmelade auch vor, aber der Bub kommt einfach zu spät. Es ist ja schon Tradition in unserem Hause, dass William sonntags immer verschläft.«

William hatte genug. Beim Duft der Gandenthaler Krüstchen zog sich sein Magen knurrend vor Verlangen zusammen.

»Kein Wunder! Wenn du des Nachts durch das Haus schleichst und meinen Wecker verstellst. Du brauchst ja nur wieder jemanden, der die Gartenarbeit für dich erledigt!«

Onkel Nicholas zog überrascht die linke Augenbraue hoch.

»Stimmt das, Lohmis? Unterlass das gefälligst!«, betonte er nachdrücklich und ergänzte: »Es ist ein herrlicher Tag heute und es ist Sonntag, da haben Kinder frei!«

Lohmis hob seine Kaffeetasse. Laut schlürfend verzog er das Gesicht.

»IHR BEIDEN HALTET EUCH WOHL FÜR SEHR GEWITZT, WAS?«, bellte er los und knallte dabei die Tasse auf den Unterteller, dass es nur so schepperte.

»WEISST DU WAS, NICHOLAS!« Die Stimme brüllte jetzt. »MEINEN SOHN ERZIEHE ICH SO, WIE ICH ES FÜR RICHTIG ERACHTE, IST DAS KLAR?«

»Trotzdem brauchst du nicht am Sonntag Arbeiten zu verteilen, die du nicht machen willst«, konterte Onkel Nicholas gelassen.

»Das stimmt! Immer spannst du mich zu irgendwelcher Plackerei ein. Das ist nicht fair!«

»Fair? Das ich nicht lache! Was ist in diesem Leben schon fair?«, konterte Lohmis.

William war aufgebracht. »Mir egal! Marie wäre bestimmt dagegen!«

»DEINE MUTTER IST TOT, WILLIAM! Du weißt überhaupt nicht, was sie dazu sagen würde«, erwiderte sein Vater kalt.

William sprang auf. Das war zu viel für ihn. Er warf sein Krüstchen vor Wut auf den Tisch, dass es zwischen den Tassen und Tellern hin und her hüpfte, und rannte die Treppe hinauf.

Dann drehte er sich um und rief: »Weißt Du, was fair wäre?«

»Nein, mein Sohn, lass es mich wissen!«

»Wenn es dich anstatt meiner Mutter erwischt hätte und sie wäre hier bei mir!«

Geschwind lief er in sein Zimmer zurück und verriegelte die Tür. Schluchzend warf er sich zu Schlaumeier aufs Bett. Der kleine Kater rührte sich nicht. Er schnarchte unbeeindruckt weiter.

Es dauerte eine ganze Weile, bis sich William wieder beruhigt hatte. Er kam sich verlassen vor, von seinem Vater ungerecht behandelt.

Traurig erhob er sich, schlurfte zum Tisch und zog das letzte Blatt Papier aus einer verschlissenen Schreibmappe hervor.

In solchen Momenten träumte William sich weit, weit weg von seinem Vater: Hin zu jenem Ort, wo die Wellen des Meeres den felsigen Sandstrand des Nordlandes sanft umspülten. Hin zu jenem Ort, wo sich das Licht in der Unendlichkeit des Horizonts verlor, und wo das ewige Rauschen des Meeres sein kindliches Gemüt beruhigend erwärmte.

William wusste aus den Erzählungen der Alten von diesem Ort, und dass es dort kleine, beschauliche Dörfer mit bunten Gärten und üppigen Obstplantagen gab. Das ganze Jahr über herrschte stets ein mildes Klima. Eines Tages würde seine Reise ihn dorthin führen, und das Schreiben an diesem Ort sein Leben bestimmen.

Ein Klopfen weckte ihn aus seinen Tagträumen.

»Ich bin’s, William! Mach auf!«

Er stand auf und öffnete seinem Onkel, der fast den ganzen Türrahmen ausfüllte.

Nicholas hatte sich fein heraus geputzt. Er trug ein buntes Hemd aus Patchwork mit einer schwarzen Lederweste darüber. Seine Beine steckten in hohen Stulpenstiefeln und um den Bauch herum, hatte er sich einen breiten Gürtel geschnallt. Auf seinem Haupt trug er einen Hut, den er immer etwas schräg nach vorne ins Gesicht zog, und über seinen Schultern hing ein weiter Mantel.

»Komm! Lass uns los, die Händler warten schon auf uns!«, sagte er und schaute William dabei aufmunternd an.

William liebte diesen stattlichen Mann, von dem eine geheimnisvolle Aura ausging. Ein liebevoller, zuverlässiger Freund. Leider war er auch sein Einziger, denn die Kinder im Dorf gingen ihm aus dem Weg, weil sie mit dem Sohn eines Pleitegeiers nichts zu tun haben wollten.

»Ich darf bestimmt nicht mit, außerdem habe ich Hunger«, sagte er traurig.

»Keine Sorge.« Nicholas kramte in den Manteltaschen herum. »Hier muss es doch irgendwo sein! Moment, ja, ich glaube hier.« Mit einem triumphierenden Lächeln zog er ein Gandenthaler Krüstchen hervor und überreichte es William. »Es ist mit deiner Lieblingsmarmelade bestrichen!«

Die Harringtons

Im tiefen Dickicht des Erlengrunds, in der Nähe eines kleinen Bachlaufes, traf sich an jenem Morgen die »Wilde Horde« unter der Führung von Andy von Harrington.

Die »Wilde Horde«, wie sie von den Bewohnern des Gandenthals furchtsam genannt wurde, scharte sich um ihren Anführer, um erste Befehle für den Tag zu empfangen.

Andy, ein Kerl von neunzehn Jahren, gehörte zum uralten Geschlecht der Wolfen. Jener Familie, die im »Thal der Sieben Hügel« seit vielen Jahrhunderten im Nordland lebte.

Sein Vater, Herzog Franziskus von Harrington, war neben seiner Tätigkeit als Staatsoberhaupt ein bedeutender Eisenbahnkonstrukteur. Die Harringtons galten als großzügig und warmherzig. Es waren wohlhabende Leute, mit zahlreichen Ländereien, die weit über das Land verteilt waren. Dem Herzog wäre nie in den Sinn gekommen, seine Macht, die er zwangsläufig durch seine Position besaß, skrupellos gegenüber den Menschen im Lande auszuspielen.

Die von ihm eingesetzten Grafen schätzten die enorme Klugheit und Weitsicht des Herzogs. Gemeinsam lenkten sie erfolgreich die Geschicke des Landes.

Vor vielen Jahren ließ Franziskus eine Eisenbahnstrecke errichten, die die zwölf Grafschaften untereinander verband.

Zu diesem Zweck wurden über die weiten Täler des Nordlandes Brücken im Stil altrömischer Viadukte errichtet und durch die Berge meilenweite Tunnelanlagen gehauen. Als die Eisenbahn feierlich in Betrieb genommen wurde, herrschte in allen Grafschaften eine ausgelassene Stimmung. Die Menschen waren dankbar über so viel Fortschritt in ihrem Lande. Sie waren glücklich darüber, endlich große Entfernungen, die sie sonst mit Pferd und Kutsche durch die schlecht zu befahrenden Wiesen und Wälder zurücklegen mussten, schneller bewältigen zu können. Man rückte näher zusammen, der Handel kam besser in Schwung und die Dauer der Postbeförderung verkürzte sich.

Die Tradition, Brief per Ross und Reiter zu transportieren, wurde eingestellt. Die Mitglieder der Postexpedition wechselten vom Pferd aufs Eisenross.

Aber über der perfekten Welt der Harringtons schwebte ein dunkler Schatten in Gestalt ihres einzigen männlichen Nachkommens Andy, der die Großzügigkeit seines Vaters gegenüber dem niederen Volk neidete.

Mit dieser Meinung stand er aber nicht allein da. Einige Angehörige des Wolfengeschlechts bekundeten wiederholt ihren Unmut gegenüber den Harringtons, und zwar immer dann, wenn Franziskus wieder einmal plante, die Steuern zu senken oder Schenkungen an bedürftige zu verteilen.

Zweifelsohne erkannte Franziskus die innere Spannung, die im Geschlecht herrschte. Er registrierte sehr wohl die ihm drohende, vielleicht sogar tödliche Gefahr, in der er sich befand.

In einem konnte er sich aber stets gewiss sein, und das war die Stärke seines Volkes, das zu jeder Zeit hinter ihm stehen würde.

So fühlte er sich bei ihnen auch am wohlsten. Regelmäßig durchreiste er die zwölf Grafschaften, kehrte in ihre Gasthäuser ein, feierte mit ihnen gemeinsame Feste und unterstützte Familien, denen Unrecht oder Leid zugefügt worden war. Was galten da schon gelegentliche Unmutsbekundungen von seinen verwöhnten und gelangweilten Verwandten?

Enttäuscht von seinem Vater, der vordergründig nur das Wohl seines Volkes und nicht das seines Sohnes im Blick hatte, verließ Andy eines Tages mit einigen Gleichgesinnten das »Thal der Sieben Hügel« und zog plündernd und brandschatzend durch das angrenzende Südland.

Doch die Häscher des Südens waren ihnen dicht auf den Fersen. Für Andy und seine Mannen gab es nur wenige Unterschlupfmöglichkeiten in der einsamen und mit dürreharten Gräsern durchzogenen