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Wenn Bandinis Katzen kommen, können harte Hunde einpacken Eine von den Menschen verlassene Stadt, eine leere Fabrik und immer wieder die Straße … In Katzenstadt ereignen sich seltsame Dinge. Zunächst ist es nur ein Gerücht, das Kreise zieht: Katzen sollen verschwunden sein. Dann wird der von allen geliebte Kater Matula verschleppt. Als auch noch Bandini und ihre Gang von einem Glatzkopf und seinen Kampfhunden aus der alten Fabrik vertrieben werden, wachsen Angst und Unruhe. Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Jahre zurückliegenden Mord am alten Katzenfutterfabrikanten und den jüngsten Ereignissen? Oder folgt alles einem dunklen Plan?
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Seitenzahl: 274
Michael Bremmer / Veronika Grüning
GANGSofKATZENSTADT
Roman
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Für Bonnie und Bandini
Matula schrie nicht. Er schloss nicht einmal die Augen. Er schnaubte nur ein wenig, als das Beil nach unten sauste. Dann sah er das Blut aus seinem Stumpf schießen. Matula wurde ohnmächtig.
Kurz vor Mittag kam ein junger Kerl zur Fabrik. Schulterlange Haare. Dreitagebart. Ausgetretene Lederschuhe. Eine verschlissene Anzughose, die ihm nicht ganz bis zu den Knöcheln reichte. Ein abgetragenes Leinenhemd, der speckige Kragen war schon lange nicht mehr gereinigt worden. Und um den Hals trug er ein Lederband, an dem eine Katzenpfote hing. Kein Kunststoffimitat, sondern Echtfell. Eine rechte Vorderpfote, graue Ballen, schwarzes Fell, einzig die Spitze der Pfote war weiß. Die Pfote war oberhalb des Mittelfußes abgetrennt.
Der Reverend saß auf seinem Posten am Fenster im ersten Stock der Katzenfutterfabrik. Er hatte Wachdienst. Wegen der Vorfälle in jüngster Zeit. Wegen der Vermisstenfälle. Er beobachtete, was sich vor dem Gebäude abspielte. Er passte auf, ob sich zwielichtige Gestalten ihrem Quartier näherten. Der Reverend bemerkte den Kerl sofort. Wie er sich unbemerkt an die Fabrik heranschleichen wollte. Der Reverend sah auch sofort die Katzenpfote. Er nahm an, dass die Pfote erst vor Kurzem abgetrennt worden war. Es hatte sich eine Blutkruste gebildet. Aber sie war noch nicht vollständig eingetrocknet. Der Reverend kannte die Fellzeichnung. Es war Matulas Pfote. Matula, vom Schlosspark.
Der junge Kerl war ein Laufbursche. Einer für niedrige Arbeiten. Der Reverend sah, wie der Kerl die Straße überquerte und zielstrebig auf die Eingangstür zusteuerte. Es war an der Zeit, die anderen zu warnen. Der Reverend lief nach unten.
Die Katzen waren vorsichtig geworden. Es gab besorgniserregende Geschehnisse in der Stadt. Eine Katze sollte sogar totgebissen worden sein. Und jetzt näherte sich ein Kerl mit einer abgehackten Katzenpfote um den Hals ihrer Fabrik. Aber die Katzen waren vorbereitet. Für den Notfall, falls ein Fremder in ihre Katzenfutterfabrik eindringen wollte. Sie nahmen ihre Positionen ein. Bandini kletterte auf den Vorratsschrank in der Küche und hielt sich dort sprungbereit. Ballhaus versteckte sich in einem alten Abluftrohr. Clash und Spike verkrochen sich hinter dem Vorhang. Und Bonnie setzte sich mitten im Raum auf einen umgedrehten Fleischbottich. Bonnie legte den Kopf schräg.
Bonnie war eine Tricolor. Ihr linkes Auge war in dunklem Fell verborgen, ihr rechtes von orangenem Fell umrahmt, ihre Nase war rosafarben und ihre Schnauze weiß. Bonnie war eine Glückskatze. Und Glück würden sie in den kommenden Tagen brauchen können.
Bonnie war eine Glückskatze. Und Glück würden sie in den kommenden Tagen gebrauchen können.
Der Laufbursche öffnete die Eingangstür und betrat die Katzenfutterfabrik. Er ging ohne zu zögern in den Küchenraum der Fabrik. Er ging auf Bonnie zu. Blieb vor ihr stehen. Nahm die Katzenpfote vom Hals ab. Legte sie auf den Fleischbottich. Direkt vor Bonnies Nase. Der Laufbursche kramte in seiner Hosentasche und holte einen Zettel hervor.
»Haut ab«, las der Kerl vor, »sonst hacken wir euch die Pfoten ab.« Der Kerl lachte verächtlich.
Bonnie reagierte nicht darauf. Sie sah den Kerl nur von der Seite an. Eindringlich. Der Kerl trotzte dem Blick. Für einen kurzen Augenblick war er abgelenkt. Clash und Spike nutzten diesen Moment, um sich hinter seine Beine zu schleichen. Ballhaus klopfte mit seinem buschigen Schwanz gegen das Rohr. Als der Kerl verwundert in die Richtung blickte, aus der das Geräusch kam, sprang Bandini ab. Mit allen vier Pfoten voran. Sie stürzte sich auf den Eindringling. Krallte sich ein. Trat ihm mit den Hinterpfoten in den Bauch. Der Kerl stolperte über Clash und Spike hinter ihm. Er krachte auf den Rücken und lag hilflos am Boden. Der Notfallplan funktionierte. Fürs Erste.
Der Kerl konnte sich nicht bewegen. Clash und Spike lagen auf seinen Armen. Bandini saß auf der Brust des Laufburschen. Mit der linken Vorderpfote presste sie den Kopf des schlecht rasierten Kerls auf den Boden. Sie hob die rechte Vorderpfote und spreizte die Zehen auseinander. Eine Kralle nach der anderen schnellte nach außen. Bandini entschied sich für die Kralle in der Mitte und setzte sie an die Gurgel des Eindringlings. Sie ritzte ihn leicht. Ein einzelner Blutstropfen floss an seiner Kehle hinunter.
»Was habt ihr mit Matula gemacht?«, fragte Bandini den Kerl. »Woher hast du die Pfote?«
Der Eindringling antwortete nicht. Er verstand Bandini nicht. Er hörte nur das Fauchen der Katze. Er konnte eine gewisse Dringlichkeit erkennen. Aber er hatte keine Ahnung, was die Katze von ihm wollte. Es wäre für ihn besser gewesen, er hätte es gewusst. Aber für die allermeisten Menschen ist es schlichtweg unmöglich, Katzen zu verstehen. Auf der anderen Seite begreifen Katzen alles, was ein Mensch sagt.
Bandini erhöhte den Druck. Sie setzte sich auf den Hals des Mannes. Presste ihre Pfote auf seine Halsschlagader.
»Woher hast du die Katzenpfote?«
Der Kerl bekam kaum mehr Luft.
»Was habt ihr mit Matula gemacht?«
Bandini kannte die weißen Spitzen der Pfoten, die Matula sich nach jedem nächtlichen Ausflug sauber schleckte. Nach jedem Kampf. Die weißen Spitzen der Pfoten, die sich so schön abhoben von seinem sonst dunklen Fell. Und jetzt hing seine Pfote an einem Lederband. Wie ein Schmuckstück. Bandini war in Angst und Sorge, aber sie ließ es sich nicht anmerken.
Bandini hatte das Zeug zu einer Rassekatze. Europäisch Kurzhaar. Kurzes, dichtes Fell. Schildpatt. Robuster Körper, kräftige Beine, runder Kopf, Pausbacken und große, wache Augen. Nur war sie nicht reinrassig. Auch eine Waldkatze war in ihrem Stammbaum. Weswegen sie noch ein bisschen kräftiger war. Und sehr schnell. Und eine gefährliche Kämpferin. Nur wenige Katzen würden es wagen, sich mit ihr anzulegen. Bandini hatte einen kleinen hellen Fleck am Hals und ein wenig rotes Fell an den Ohren. Das unterstrich aber nur ihre dunkle, tief-schwarze Schnauze. Wenn sie die Ohren nach hinten legte, hatte sie etwas Diabolisches. Ihre gefährlichste Waffe war ihr eindringlicher, stechender Blick. Der Chef der ehemaligen Katzenfutterfabrik etwa, so erzählte man sich in Katzenstadt, hatte des Öfteren nach Feierabend noch einmal die Maschinen angeworfen. Weil Bandini ihn minutenlang angestarrt hatte. Weil ihr Lieblingsfutter ausgegangen war.
Bandini hatte das Zeug zu einer Rassekatze.
»Woher hast du die Katzenpfote?«
Bandini wiederholte ihre Frage. Jetzt nahm sie den Eindringling richtig in die Mangel. Sie zog ihre Krallenspitze über seine Backe. Aber der Kerl antwortete nicht. Er lag auf dem Rücken und schaute die Katzen an, als würde er sie nicht verstehen.
Bonnie sprang von dem Fleischbottich auf den Boden. Das würde er büßen müssen. Niemand durfte Matula etwas antun. Der Kerl durfte nicht ungestraft davonkommen. Bonnie verengte ihre Augen zu schmalen Schlitzen. Sie legte die Ohren straff zurück. Zog ihre Lefze hoch. Sie knurrte tief. Nur kurz. Sie richtete ihren Kopf auf, holte tief Luft und schlug mit ihren Vorderpfoten drohend auf den Boden. Ihre Mähne sträubte sich. Sie stieß ein Fauchen aus. Ein angsteinflößendes Fauchen.
»Wer hat dich geschickt?«, fuhr sie den Eindringling an.
Der Kerl schaute sie blöde an. Bonnie stemmte sich auf die Hinterbeine. Der Kerl hatte seine Chance gehabt. Bonnie bearbeitete mit ihren Krallen den Bauch des Eindringlings. Kurz und intensiv, bis das Hemd voller Blut war und wie eine zerfetzte Tapete herunterhing. Das musste fürs Erste reichen.
Der Kerl schaute überrascht. Er hatte nicht damit gerechnet, dass die Sache für ihn blutig werden würde. Die Aufgabe war ihm so simpel erschienen. Ein Mann mit einer Glatze hatte ihm den Auftrag erteilt und ein paar kleine Scheine für einen einfachen Botengang versprochen. Er solle die Katzen ein bisschen erschrecken, hatte der Glatzkopf ihm gesagt. Er hatte ihm die Botschaft an die Katzen auf einen Zettel geschrieben. Dass sie verschwinden sollten, wenn sie ihre Pfoten behalten wollten. Dann hatte der Glatzkopf dem Laufburschen die Katzenpfote um den Hals gehängt und ihn zur Katzenfutterfabrik geschickt.
Natürlich kannte der Laufbursche die Gerüchte über Killerkatzen. Vor vier Jahren waren die Zeitungen voll davon gewesen. Aber der Kerl hatte nicht daran geglaubt. Gerede! Bis er Bandini kennenlernte. Und Bonnie. Um den Eindringling herum standen fünf Katzen. Fünf äußerst schlecht gelaunte Katzen. Sie miauten laut. Zornig. Wütend.
Bandini ritzte ihm ihr Initial auf die Stirn. Ein B wie Bandini.
Bonnie blickte in Richtung Eingangstür. Mit einem kurzen Kopfnicken machte sie dem Eindringling klar, dass er sich verziehen sollte. Der Kerl ging rückwärts zum Ausgang. Die Katzen immer im Blick. Sobald er im Freien war, rannte er davon. Der Reverend beobachtete aus dem Vorraum, wie der Laufbursche sich davonmachte. Der Reverend hatte sich im Schuhschrank versteckt. Als der Kerl das Grundstück verlassen hatte, folgte ihm der Reverend heimlich. Würde ihm der Kerl den Weg zu Matula zeigen? War Matula noch am Leben? Sie mussten den Schlosspark-Kater finden. Und sie mussten verhindern, dass noch mehr Katzen ihre Pfoten verloren.
Matula war ein Frauentyp. Lag es an seinem drahtigen schwarzen Fell? Oder waren es seine goldenen Augen, die die Katzen beeindruckten? Oder machte sein freundliches Naturell, sein Charme den Kater attraktiv? Jedenfalls hatte Matula in seinen Jahren in Katzenstadt schon ziemlich viele Nachkommen gezeugt. In Vollmondnächten, in denen er nicht im Schlosspark aufgetaucht war. So häufig war er unterwegs gewesen, dass die anderen Katzen aus dem Schlosspark sein nächtliches Verschwinden anfänglich gar nicht bemerkt hatten.
Seit vielen Jahren lebten die beiden Schwestern Bandini und Bonnie mit Clash nun in der ehemaligen Katzenfutterfabrik. Die Katzen hatten dieses Gebäude nicht mit Gewalt an sich genommen, obwohl noch immer Legenden zu hören waren, dass die Katzen die Fabrikarbeiter in die Flucht geschlagen, dass die Katzen dem Firmenchef die Augen ausgekratzt hätten. Nichts davon war wahr. Der Chef der Katzenfutterfabrik hatte die Katzen selbst aufgenommen. Und als er wenige Monate vor seinem Tod erblindet war und die Fabrik hatte schließen müssen, hatte er den Katzen das Gebäude geschenkt. Es existierte sogar eine Besitzurkunde. Aufbewahrt im Safe der Katzenfutterfabrik.
Die Katzenfutterfabrik war das erste Gebäude der Stadt gewesen, in dem nur Katzen wohnten. Als der Fabrikant gestorben war, hatten Bonnie, Bandini und Clash die drei anderen Katzen bei sich aufgenommen. Nach außen hin sah das Haus noch gepflegt aus. Ein altes Fabrikgebäude mit hohen Fenstern und einem Kamin aus Backstein. Aber im Inneren konnte man sehen, dass die Katzenfutterfabrik schon seit einiger Zeit außer Betrieb war. Einige Fliesen waren zerbrochen, der Fleischwolf eingerostet, an den Wänden lehnten Fleischwannen. Im Förderband, mit dem früher das Futter durch die Fabrik transportiert worden war, fehlten ganze Stücke. Und der Trichter, den man früher zum Füllen der Futterdosen genutzt hatte, hing halb abgerissen an der Wand. Nur der Lagerkeller diente noch seinem Zweck. Und war ausreichend gefüllt mit Trockenfutter. Und mit Palletten voller Konserven: Thunfisch mit Putenfilet, Geflügelhäppchen und Lamm, Truthahn in Gelee. Für besondere Anlässe.
Bandini und Bonnie waren ihm näher gewesen. Aber hatten sie einmal das Haus verlassen, dann nahm der Futterfabrikant Clash auf den Arm. Es war Freundschaft gewesen. Aber auch eine Art geschäftliche Beziehung. Schließlich war Clash auf den Futterdosen abgebildet. Leicht vereinfacht dargestellt. Aber sofort zu erkennen. Schwarzes Fell, weißer Bauch, weiße Schnauze. Sogar an den weißen Klecks am Schwanz hatte der Chef der Katzenfutterfabrik gedacht.
Die meisten Katzen waren geblieben, als ihre Menschen Katzenstadt verlassen und sich eine neue Heimat gesucht hatten. Sie lebten einfach in deren Häusern weiter. Oder sie taten sich zu Gruppen zusammen und zogen in eines der anderen leer stehenden Gebäude. In das ehemalige Postamt. In den einstigen Gemüseladen. Für jeden Menschen, der die Stadt verließ, kamen weitere Katzen. Das gefiel bei Weitem nicht allen Bewohnern.
Hatte die Boulevardpresse nach dem Tod des Katzenfutterfabrikanten unter den Menschen Misstrauen und Hass gesät, so verbesserte sich ihr Verhältnis zu den Katzen mit der Zeit. Die Menschen sahen die Katzen nicht mehr mit Argwohn an. Und immer mal wieder konnte man beobachten, wie ein Napf Katzenfutter vor eine Terrassentür gestellt wurde. Aber in jüngster Zeit war bei den Katzen ein gewisses Misstrauen zu spüren. Es machten Gerüchte die Runde, dass Katzen verschwunden seien. Eine Katze sei am Rand von Katzenstadt zerfleischt worden, erzählte man. Die Katze sei stark blutend gefunden worden, aber später bei der Tierärztin gestorben. Und nun war ein Laufbursche in die Katzenfutterfabrik eingedrungen, der eine Katzenpfote um den Hals hängen hatte. Er hatte in der Hosentasche auch eine Drohung mitgebracht. Die Katzen sollten verschwinden, sonst würden auch ihnen die Pfoten abgehackt werden.
Der Reverend folgte dem Kerl mit einigem Abstand. Dem Laufburschen hing das Hemd in Fetzen vom Leib. Bonnie hatte ihn ganz schön zugerichtet. Der Reverend kletterte auf Bäume, verbarg sich in den Hecken der Gärten, balancierte auf Zäunen, damit ihn der Kerl nicht bemerkte. Und wenn der Laufbursche um eine Ecke bog, spurtete der Reverend kurz hinterher, um ihn im Blick zu behalten. Der Reverend war ein muskulöser Kater mit kräftiger Statur. Und er war schnell. So einfach ließ er sich nicht abhängen.
Von der Katzenfutterfabrik marschierte der Kerl zunächst durch das verlassene Wohngebiet, überquerte den Spielplatz und machte am Marktplatz eine kurze Pause. Er rauchte eine Zigarette und sprach in sein Handy. Kurz betrachtete er die vergilbten Plakate am leer stehenden Kino, dann zog er weiter. Vorbei am Einkaufscenter, am einstigen Postamt, an der ehemaligen Pension und an der Bowlinghalle. Am Sportzentrum und an der Katzenboule-Anlage bog der Kerl in einen Feldweg ab und ging in Richtung der alten Müllhalde.
Diesen Ort mied der Reverend, wenn es ging. Wie alle anderen Katzen auch. Das lag an den Bewohnern. Der Reverend versteckte sich im hohen Gras, um nicht gesehen zu werden. Jetzt musste der Kater auch noch aufpassen, dass ihn die Müllhalde-Katzen nicht entdeckten.
Der Reverend folgte dem Kerl mit einigem Abstand.
Bevor der Abfall in die Müllverbrennungsanlage des Nachbarortes gefahren wurde, hatten die Menschen ihren Unrat auf die Müllhalde am Rand der Stadt gebracht. Essensreste. Aber auch kaputte Möbel. Sessel, die nicht mehr der Mode entsprachen. Schallplatten, die sich keiner mehr anhörte, weil kein Bewohner mehr einen Schallplattenspieler besaß. Hier lagerten Kostbarkeiten, die für die Menschen keinen Wert mehr hatten. Und hier lebten Katzen, die sich nichts mehr aus dem Leben mit Menschen machten. Sie alle hatten eine Hauskatzenvergangenheit. Aber sie wollten schon lange nicht mehr gekuschelt werden. Oder gekämmt. Sie waren Außenseiter mit Rastalocken. Streuner mit verfilztem Fell.
Etwas weniger als zehn Katzen lebten auf der ehemaligen Müllhalde. So genau ließ sich das nie sagen. Mal kam ein Neuling dazu, dem das Leben in der Stadt nicht mehr gefiel. Mal haute eine Katze ab, mal starb eine. Das kümmerte die anderen Katzen nicht sonderlich. Ihr Anführer war Spinoza. Der Kater hatte viele Jahre in einer Philosophenfamilie verbracht. Dann hatte er keine Lust mehr auf ein Leben im Überfluss gehabt. Spinoza hatte schmutziges weißes Fell und eine Denkerstirn. Einen ziemlich großen Kopf im Vergleich zu den feingliedrigen Pfoten und dem mageren Körper. Und Spinoza hatte abstehende Ohren.
Spinoza hatte schmutziges weißes Fell und eine Denkerstirn.
Spinoza war die erste Katze gewesen, die sich auf der ehemaligen Müllhalde niedergelassen hatte. Schnell waren ihm andere Katzen gefolgt, die wie Spinoza unzufrieden und ruhelos waren. Sie kümmerten sich nicht sonderlich um ihr Äußeres. Ihr Fell war ungepflegt. Sie hatten kahle Stellen am Körper. Und in diese Stellen ritzten sie sich mit ihren Krallen Symbole. Symbole, die sie auf den Umschlägen der Schallplatten auf der ehemaligen Müllhalde fanden. Schallplatten aus den Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts. Punkmusik, die sie sich anhörten, indem eine Katze mit einer Kralle die Rillen auf der Scheibe entlangfuhr, die sich auf einem Plattenteller drehte. Die anderen Katzen stellten sich in einer Reihe auf und miauten in den Wind. Oder sie sprangen sich an, fielen in den Dreck und tanzten dann weiter. Auch deswegen sahen sie ungepflegt aus. Und stanken. Auch deswegen wollten die anderen Katzen von Katzenstadt nichts mit ihnen zu tun haben.
Es gab dafür aber noch einen anderen Grund, einen handfesten Grund: Wenn die Katzen von der Müllhalde auf andere Tiere trafen, endete das immer im Streit. In lauten Diskussionen, weil sie stur waren und nur ihr eigenes Leben als erstrebenswert betrachteten. Weil sie kein Verständnis hatten für das gutbürgerliche Leben der anderen Katzen. Oft spuckten sie andere Katzen an. Oder bewarfen sie mit Abfall. Zu Kämpfen kam es nur selten. Aber man wusste ja nie. Deswegen mieden alle anderen Katzen die Gegend um die Müllhalde.
Der Reverend musste nicht ganz bis zur ehemaligen Müllhalde laufen. Kurz vor der Müllkippe bog der Laufbursche ab, marschierte wieder zurück in Richtung Stadt und blieb vor dem ehemaligen Bahnhof stehen. Er hatte einen großen Umweg gemacht, um an diesen Ort zu gelangen, der an sich nur wenige Straßen von der Katzenfutterfabrik entfernt lag. Dann lief er durch das Bahnhofsgebäude zu den Gleisen.
Der Reverend versteckte sich auf einem Abstellgleis hinter einem ausrangierten, verrosteten Güterwaggon. Weil er von dort nur schlecht beobachten konnte, was auf dem Bahnsteig vor sich ging, sprang er über das Trittbrett in die offen stehende Tür. Er kletterte hoch zum Fenster. Und stieg von dort auf das schwarze Dach. Bis auf den weißen Kragen war der Kater hier unsichtbar. Vom Dach aus beobachtete der Reverend, wie ein Mann mit Glatze und verspiegelter Sonnenbrille aus dem Gebäude kam.
Der Glatzkopf wunderte sich über das blutige Hemd des Laufburschen. Vermöbelt von ein paar Kätzchen. Der Glatzkopf schüttelte den Kopf. Was für ein Anfänger. Aber immerhin schien er bei den Katzen gewesen zu sein. Der Glatzkopf drückte dem Laufburschen fünf Geldscheine in die Hand. Fünf Geldscheine dafür, dass er sich eine Katzenpfote um den Hals gehängt hatte und in der Katzenfutterfabrik aufgetaucht war. Fünf Geldscheine dafür, dass ihn die Katzen ordentlich aufgemischt hatten. Fünf Geldscheine dafür, dass ihn die Katzenkratzer noch Tage an diese Lektion erinnern würden. Der Laufbursche nahm das Geld und verduftete aus Katzenstadt. Für immer.
Der Glatzkopf ging zurück in das Bahnhofsgebäude. Er ließ die Türen offen stehen. Er trug einen blauen Anzug und weiße Turnschuhe. Am linken Handgelenk blitzte eine Armbanduhr mit goldenem Zifferblatt. An seiner Halskette hingen drei Ringe, in die Namen graviert waren: Hercules, Nero, Murphy.
Der Reverend sprang vom Güterwaggon. Er schlich näher an das Bahnhofsgebäude heran. Er erkannte durch das Fenster, dass der Glatzkopf alleine im Büro saß. In den anderen Räumen war niemand zu sehen. Aus dem Keller kam ein leises schmerzerfülltes Wimmern. Da trat der Glatzkopf ans Fenster und der Reverend musste abhauen.
Der Glatzkopf war schon ganz ungeduldig geworden, weil der Laufbursche so lange nicht zurückgekehrt war. Aber immerhin. Er hatte recht behalten. Er war sich sicher gewesen, dass die Katzen aus der Katzenfutterfabrik den Laufburschen bis zum Bahnhof verfolgen würden. Der Glatzkopf sah den schwarzen Kater um die Ecke verschwinden. Jetzt konnte er nur darauf vertrauen, dass der Kater die anderen Katzen aus der Fabrik hierherführte. Der Glatzkopf hatte alles vorbereitet. Er grinste.
Als der Reverend von seiner Observierung zurück war, berichtete er von seinen Beobachtungen. Der ehemalige Bahnhof sei so gut wie unbewacht. Im Gebäude sei nur dieser Glatzkopf.
»Ein widerlicher Kerl mit Sonnenbrille«, sagte der Reverend. Und aus dem Keller habe er das klägliche Wimmern einer Katze gehört. »Vermutlich ist es Matula!«
Bandini sprang auf das Fließband der Katzenfutterfabrik. Von dort kletterte sie auf einen mannshohen Edelstahltopf. »Wir müssen Matula befreien«, rief sie. »Wir müssen dafür sorgen, dass nicht noch mehr abgehackte Katzenpfoten wie Trophäen durch die Stadt getragen werden.«
Sie stellte sich auf die Hinterbeine und deutete in Richtung Bahnhof. »Wir müssen so bald wie möglich aufbrechen«, rief Bandini.
»Ja, wir müssen uns beeilen«, rief Bonnie.
Clash, der Reverend und Ballhaus miauten zustimmend und liefen zur Tür. Spike stellte sich seinen Freunden zögerlich in den Weg.
»Ist das nicht alles zu einfach«, lispelte der Kater. »Findet ihr es nicht seltsam, dass das Versteck beinahe unbewacht ist?«
Spike sprang auf einen Hocker. »Habt ihr keine Angst, dass das Ganze eine Falle sein könnte?«
Spike war der Vorsichtigste von ihnen. Schon immer. Aber seine Sorgen blieben diesmal ungehört. Natürlich bestand die Möglichkeit, dass sie sich in Gefahr brachten. Aber sie mussten es riskieren. Für Matula. Für Katzenstadt.
Spike hatte eine Schlägerfresse. Das ist – zugegeben – eine ungerechte Beschreibung, weil Spike ein anständiger Kater war. Duldsam. Ausgeglichen. Zurückhaltend. Das wussten alle, die ihn kannten. Alle anderen nahmen sich vor ihm in Acht. Weil ihm vier Schneidezähne fehlten. Und wegen seiner Fellzeichnung. Er hatte am ganzen Körper dunkelgrau getigertes Fell. Auch am Kopf. Vom linken Auge bis zum Maul wuchs ein Streifen weißes Fell nach unten. Wie ein Blitz. Wie eine Flamme.
Der Reverend führte die Katzen auf dem Weg zum ehemaligen Bahnhof an. Wie kaum eine andere Katze stellte er sich in den Dienst seiner Freunde. Als er noch bei seinen Menschen gelebt hatte, war er sehr anhänglich gewesen. Und ein guter Aufpasser. Wie oft hatte er an seinem Fensterplatz gesessen oder noch lieber auf einem Baum, um die Umgebung mit seinen gelben Augen zu beobachten. Das hatte sich bis heute nicht geändert. Er hatte am ganzen Körper kurzes glänzendes schwarzes Fell, bis auf den kleinen weißen Fleck am Hals. Wie ein weißer Stehkragen. Deswegen wurde er der Reverend genannt.
Geschmeidig schritt der Reverend voran, nicht ahnend, dass er und seine Freunde gerade dabei waren, einen großen Fehler zu machen. Einen Fehler, mit dem sie riskierten, die Katzenfutterfabrik zu verlieren. Einen Fehler, mit dem sie sich in große Gefahr bringen würden.
Tiga beobachtete die Katzen auf dem Weg zum Bahnhof. Sie war noch klein. Keine Babykatze mehr. Aber noch viel zu jung, um sich alleine in der Stadt herumzutreiben. Tiga hatte den Schlosspark auch gar nicht verlassen wollen. Aber zuerst hatte sie einen kleinen Schmetterling gejagt, dann hatte sie ein vom Wind davongetragenes Ahornblatt verfolgt. Sie hatte einer kleinen Entenfamilie hinterhergeschnüffelt, einem Rotkehlchen nachgestellt, war durch eine Wasserpfütze getrippelt. Und als sie zum ersten Mal wieder aufgesehen hatte, hatte sie feststellen müssen, dass sie an einem Ort war, den sie zuvor noch nie gesehen hatte. Auf der anderen Straßenseite befand sich die ehemalige Katzenfutterfabrik. Geschichten von der Fabrik hatte Tiga schon gehört, auch von den Katzen, die dort lebten. Aber wie sollte sie von diesem Ort aus je wieder nach Hause finden, zu den Katzen vom Schlosspark?
Bevor sie sich Sorgen machen konnte, erblickte Tiga sechs Katzen, die gerade in Eile die Katzenfutterfabrik verließen: Bandini, ihre Schwester Bonnie, Clash, Spike, Ballhaus und, ganz vorne in der Katzenkette, den Reverend. Eines verwunderte Tiga: Warum hatte Bandini eine schwarze Pfote mit einer weißen Spitze im Maul? Und wo hatte sie diese Pfote schon einmal gesehen? Tiga merkte, wie ihr Atem schneller wurde, und presste sich flach auf den Boden, um nicht gesehen zu werden. Irgendetwas ging hier vor sich.
Schon oft hatte Tiga mit den Katzen aus dem Schlosspark Verfolgungen trainieren müssen. Sie hasste diese Übungsstunden. Sie verstand nicht, warum sie keine Geräusche von sich geben durfte. Sie wusste nicht, was sie mit diesen Fähigkeiten später einmal anfangen sollte und warum sie auf Gegenwind achten musste. Tiga spitzte die Ohren. Mit weit geöffneten Augen verfolgte sie jeden Schritt der anderen Katzen. Sie robbte am Boden entlang. Jede Deckungsmöglichkeit nutzte Tiga, um sich heranzupirschen. Sie schob die Hinterbeine nach vorne, um bereit zu sein für den Sprung. Wie man es ihr seit Wochen versucht hatte beizubringen. Aber noch nie hatte sie bei einem Training so viel Spaß gehabt wie jetzt gerade im Ernstfall.
Tiga war die Jüngste der acht Schlosspark-Katzen. Als sie noch ein Kätzchen gewesen war, hatten Menschen sie ausgesetzt. In einem kleinen Korb, der in den Fluss geworfen worden war, der an der Stadt vorbeifloss. Der Korb hatte sich in einem Gestrüpp verfangen. Und ehe sich der Behälter mit Wasser gefüllt hatte und sinken konnte, hatte Banks Tiga gerettet. Banks war der Anführer der Schlosspark-Katzen und sie würde alles für ihn tun. Ihm verdankte sie ihr Leben. Er war wie ein Vater für sie. Die anderen Katzen hießen Dolly, Hingsen, Harmony, Mücke, Kung Fu. Und Matula, aber der war seit drei Tagen nicht aufgetaucht.
Banks saß auf der Tischtennisplatte. Er spielte Hingsen mit seiner rechten Pfote den Tischtennisball zurück. Routiniert, technisch sauber, aber ohne jeden Ehrgeiz. Er war beunruhigt. Seit einigen Tagen, so hatte es sich unter den Tieren herumgesprochen, verschwanden immer wieder alleinstehende Katzen. Banks hatte Nachforschungen betrieben, aber nichts herausgefunden. Und vor drei Tagen hatte er ein Drohschreiben bekommen. Seine Katzen sollten den Schlosspark verlassen. Für immer, sonst würden schlimme Dinge passieren. Dann war Matula verschwunden.
Und jetzt war auch Tiga weg. Er hätte besser auf sie aufpassen müssen. Banks machte sich Sorgen. Aber noch wollte er seine Befürchtungen nicht mit den anderen Katzen teilen. Immerhin hatte er dafür gesorgt, dass ständig jemand auf der Schlossparkmauer Wache hielt.
Tiga war eine rote Katze. Eigentlich war ihr Fell rötlichgelb. Banks hatte sie Tiga genannt, weil ihr rotes Fell am ganzen Körper mit schwarzen Streifen durchzogen war. Sie beobachtete von ihrem Versteck aus, wie die Katzen aus der Katzenfutterfabrik den ehemaligen Bahnhof durch die offene Tür betraten.
Bandini, Bonnie, Clash, Spike, Ballhaus und der Reverend schlichen sich zunächst vorsichtig heran, Pfote für Pfote. Sie lauschten aufmerksam, aber im Inneren des Bahnhofsgebäudes war nichts zu hören. Kein Laut. War der Glatzkopf schon abgezogen? Konnten sie in aller Ruhe nach Matula suchen und ihn befreien? Die Katzen betraten die Bahnhofshalle. Sahen sich in alle Richtungen um. Sie hörten das schmerzerfüllte Miauen. Von unten. Im Quarzsteinboden war eine Luke aus Metall eingelassen. Dort war das Miauen am deutlichsten zu hören.
Alle sechs Katzen standen auf der Platte. Ermahnten sich zur Stille, um heraushören zu können, ob es sich bei der wimmernden Katze im Keller um Matula handelte. Sie lauschten. Konzentrierten sich. Und wurden vom lauten Scheppern der Falltür überrascht. Ein Abgrund tat sich auf. Sie stürzten hinab in einen dunklen Keller. Von oben schaute der Glatzkopf zu ihnen hinunter. Er lachte. Fies und gemein. Dann schloss er die Luke. Und es wurde schwarz.
Tiga wusste nicht, wie tief das Loch war. Auch konnte sie nicht erkennen, ob die Katzen den Sturz überlebt hatten. Aber sie sah, wie ein Mann mit Glatze und verspiegelter Sonnenbrille an das Loch trat, ins Dunkle blickte und höhnisch lachte. Dann schloss er die Luke, griff zu seinem Mobiltelefon und wählte eine Nummer. »Wir haben sie«, sprach er in den Apparat. »Ihr könnt anfangen!« Er steckte sein Telefon wieder ein und verließ den ehemaligen Bahnhof.
Der Glatzkopf wohnte noch nicht lange in Katzenstadt. Er wollte auch nicht lange bleiben. So war das bei jedem seiner Aufträge. Gab es heikle Aufgaben zu erfüllen, wurde der Glatzkopf gerufen. War das Problem gelöst, verschwand er wieder. So einfach war das. Der Glatzkopf hatte sich einen Namen in der Branche gemacht. Als Problemlöser.
Bandini, Bonnie, Clash, Spike, Ballhaus und der Reverend brauchten eine Weile, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Ihre Mäuler waren trocken. Das lag an dem vielen Staub, der sich hier über Jahrzehnte angesammelt hatte. Sie waren in den Kohlenkeller des Bahnhofs gefallen. Einst wurde hier die Kohle, die aus den Zügen entladen wurde, gesammelt. Heute war der Keller nicht mehr in Betrieb. Kein Mensch heizte mehr mit Kohle. Es war auch keine Dampflock mehr im Einsatz. Eigentlich war in dieser Stadt überhaupt keine Lok mehr unterwegs, der Betrieb des Bahnhofs war vor vier Jahren eingestellt worden.
Bandini, Bonnie, Clash, Spike, Ballhaus und der Reverend waren sich ihrer Sache zu sicher gewesen. Sie hatten sich angeschlichen. Und weil sie geglaubt hatten, dass der Bahnhof nicht bewacht wurde, waren sie einfach in die Halle gelaufen, ohne an mögliche Gefahren zu denken. Jetzt lagen sie im Kohlenkeller des Bahnhofs. Die Falltür an der Decke war für sie nicht zu erreichen, zu hoch war das Kellergewölbe. Und die Luke war auch wieder geschlossen. Zum Glück hatte sich niemand verletzt. Aber was bedeutete der Satz, den der Glatzkopf am Ende des Gesprächs in sein Telefon gesprochen hatte? »Ihr könnt anfangen!« Was hatte er damit gemeint? Mit was sollte angefangen werden? Sollten ihnen nun auch die Pfoten abgehackt werden? Und wo war eigentlich Matula?
Der Kohlenkeller erstreckte sich über fünf Abschnitte. Die Ziegel waren noch immer mit Ruß bedeckt. Die Deckenleuchten waren alle heruntergerissen, die Fenster der Lichtschächte zugemauert. Nur im hintersten Raum fand ein Sonnenstrahl seinen Weg durch einen Riss im Mauerwerk. Dort lag Matula. Seine rechte Vorderpfote fehlte, die Wunde war stümperhaft mit einem schmutzigen Lappen verbunden. Bonnie maunzte. Matula war sehr schwach, kaum mehr am Leben. Aber als er Bonnie, Bandini und die anderen Katzen erblickte, miaute er. Er versuchte, kurz aufzustehen und den Katzen entgegenzugehen, konnte sich aber nicht auf den Pfoten halten und stürzte. Es sah nicht gut aus.
Der Glatzkopf war in einem Cabrio davongebraust. Tiga sah sich im ehemaligen Bahnhofsgebäude um. Alles war leer. Auch die Halle, in deren Boden eine Falltür eingelassen war. Von ihrem Versteck aus hatte sie gesehen, wie die Katzen hier hinabgestürzt waren. Aber die Luke war verriegelt. Tiga konnte sie nicht öffnen.
Tiga schlich vorsichtig um das ganze Gebäude herum, ging an den zugemauerten Fensterschächten vorbei. Bei einem Kellerfenster hatten die Handwerker einen Riss im Mauerwerk übersehen. Tiga kauerte sich auf den Boden. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte, durch den Spalt zu sehen. Als sie glaubte, im Keller Matula entdeckt zu haben, begann sie, wild entlang des Risses zu kratzen. Putz bröselte die Mauer herunter, Mörtel und kleine Ziegelstücke fielen auf den Boden. Tiga sprang gegen die Mauer, presste ihre Pfote gegen die Ziegel. Als sie mit ihrer rechten Pfote durch die Mauer stieß, bemerkten Bandini und die anderen die kleine Katze.
»Hi«, rief Tiga nach unten. »Kann ich euch helfen?«
Bandini atmete erleichtert auf. Was für ein Glück, die kleine Katze aus dem Schlosspark hier zu sehen. Bei Bandini keimte Hoffnung auf. Jetzt würden sie aus dem Keller entkommen. Der Lichtschacht war zu weit oben, um Tiga bei den Mauerarbeiten zu helfen. Aber Bandini und die anderen feuerten Tiga bei ihren Bemühungen an. Als das Loch groß genug war, nahm Bandini das Lederband, an dem Matulas Pfote befestigt war, in ihr Maul und schleuderte die Pfote nach oben. Beim dritten Versuch konnte Tiga die Pfote greifen und ins Freie ziehen.
»Du musst Hilfe holen!«, bat Bandini Tiga.
Tiga stand hinter dem Bahnhof. Direkt vor ihr war das Gleis. Sie sah sich orientierungslos um. Auch an diesem Ort war sie noch nie zuvor gewesen. Sie war den Katzen von der Katzenfutterfabrik gefolgt und hatte sich dabei nicht den Weg zum Bahnhof eingeprägt. Selbst wenn sie es getan hätte, hätte es ihr nicht weitergeholfen, denn auch zur Fabrik war sie bei ihrem ersten Ausflug aus dem Schlosspark nur zufällig gekommen. Sie hängte sich Matulas Pfote um den Hals. Die Pfote schleifte immer wieder am Boden, aber Tiga lief weiter, um Hilfe zu holen.
Tiga entschied sich zunächst für den Trampelpfad am Gleis entlang. In den Fenstern im Anbau des Bahnhofsgebäudes sah sie eine getigerte Katze mit einer Katzenpfote um den Hals und erschrak. Als sie erkannte, dass es sich um ihr Spiegelbild handelte, lief sie geradeaus weiter. Sie sollte schließlich Hilfe holen. Sie kam an eine Straße. Nach rechts ging es auf eine Brücke, die über das Bahngleis führte. Geradeaus führte der Pfad weiter. Sie witterte Katzen, übel riechende Katzen. Ein schauderhaftes Miauen erklang aus dieser Richtung.
Tiga entschied sich, nach links zu gehen. Nach wenigen Metern bog sie erneut nach links ab. Sie kam wieder zum Bahnhofsplatz, diesmal sah sie die Vorderseite des Gebäudes.
Links und rechts neben dem Bahnhofsgebäude standen im Halbkreis weitere Häuser, eine Privatbank, ein Schnellrestaurant, eine Apotheke, eine Bäckerei, ein Wettbüro, ein Kosmetikstudio, ein Schreibwarenladen, eine Galerie, ein Optiker, ein Fotofachgeschäft, ein Reisebüro und eine Wollstube. Die meisten dieser Geschäfte waren seit vier Jahren geschlossen. Aber nicht alle.
Links von Tiga gab es eine Privatbank, ein Schnellrestaurant und eine Galerie. In der Galerie wurden Katzenbilder ausgestellt, doch dafür hatte Tiga keine Zeit. Sie wandte sich nach rechts und blieb nach ein paar Metern an der Straßenkreuzung stehen. Ein Zebrastreifen war auf die Straße gemalt. Er führte genau zum Eingang des Schlossparks. Und auf der Schlossparkmauer saß Banks, die Vorderbeine durchgestreckt. Er sah nicht glücklich aus.
Banks klopfte langsam mit seinem langen Schwanz auf die Mauer. Immer wieder rupfte er sich Haare aus seiner Pfote. Er war beunruhigt. Seine Augen waren weit geöffnet, seine weit auseinanderliegenden Ohren aufrecht gespitzt. Ein Zeichen heller Aufregung und Besorgnis. Banks hatte am ganzen Körper kurzes kastanienrotes Fell, frei von irgendwelchen Zeichnungen. Nur seine Schnauze war weiß. Und bleich. Bleich vor Schreck, als er die abgehackte Pfote von Matula erkannte. Tiga war zurückgekommen. Endlich. Aber was hatte es zu bedeuten, dass sie Matulas Pfote um den Hals trug?
»Matulaanderekatzenkellerhilfe«, sagte Tiga hastig. Sie war zu aufgeregt, um klar verständlich sprechen zu können. Sie holte kurz Luft, schüttelte sich und versuchte es erneut. »Matulaanderekatzenkellerhilfe!« Tiga zitterte, so angespannt war sie. So besorgt, dass die Hilfe nicht rechtzeitig kam.