Gärten der Trauer - Boston Teran - E-Book

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Boston Teran

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Beschreibung

1915, Erster Weltkrieg: An Bord eines Frachtschiffs reist der texanische Agent des Bureau of Investigation, John Lourdes, nach Konstantinopel. Er soll dort Informationen über das Schicksal der Armenier im Osmanischen Reich sammeln – und einem armenischen Priester zur Seite stehen, der als Volksheld gilt und von der Regierung und ihren deutschen Verbündeten gejagt wird. Und so führt die abenteuerliche Fahrt einer kleinen Schar mitten hinein in die Konflikte des frühen 20. Jahrhunderts, das sich als eine Epoche der Barbarei erweisen wird. Genau davon handelt ­Boston Terans Roman: Spannend und mit schonungsloser Härte erzählt er vom Grauen einer grauenhaften Zeit. Dabei benennt er auch die politischen Interessen, um die es geht: Ziel der Reise sind die Ölfelder von Baku …

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Ähnliche


Boston Teran

Gärten der Trauer

Roman

Herausgegeben und

mit einem Nachwort

von

Martin Compart

Elsinor

Inhalt

Prolog

Erster Teil: Die Reise

Zweiter Teil: Van

Dritter Teil: Das Land des ewigen Feuers

Epilog

Danksagung

Nachwort von Martin Compart

Gewidmet:

… den Namenlosen

… den Unbekannten

… den Verlorenen

… den Vergessenen

… den Gefangenen

… den Gefolterten

… den Ermordeten

… den Hingeschlachteten

Jeder Mensch trägt die Geschichte der ganzen Welt

in seiner Seele.

Dieser Roman basiert auf historischen Tatsachen.

Prolog

Im Januar 1937 entdeckte man im Kellerarchiv eines alten Verwaltungsgebäudes, das zum Kriegsministerium gehörte, die Akten der Creel-Kommission aus den Jahren 1917 bis 1919. Die Akten galten zwanzig Jahre lang als verschollen, nicht einmal die Library of Congress wusste, was mit ihnen geschehen war.

Diese Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit war die wohl wirkungsvollste Propagandaeinheit, die die Vereinigten Staaten jemals besessen hatten. Unter den wiedergefundenen Akten befand sich auch ein Paket mit Aufzeichnungen und Berichten eines Special Agent des Bureau of Investigation mit dem Namen John Lourdes.

ERSTER TEILDie Reise

eins

«Boston … so reich an Geschichte und so bedeutend. Wenn man über dieses großartige Land schreibt … steht Boston immer auf der ersten Seite.»

Die junge Dame auf dem Podium blickte auf die versammelten Amerikaner herab, welche die Faneuil Hall füllten. Ihr Name war Alev Temple. Es war die Zeit kurz nach Beginn des Ersten Weltkriegs. Die Luft war drückend in jener Nacht, und viele der Besucher, die auf ihren Stühlen saßen, an den Wänden lehnten oder sich vor den Eingängen drängten, nutzten die Flugblätter und die für Spenden bestimmten Umschläge, die man ihnen beim Betreten der berühmten Versammlungsstätte ausgehändigt hatte, um sich Luft zuzufächeln.

Sie fuhr fort: «Auf diesem Podium zu stehen, an diesem Ort, der als Wiege der Freiheit gilt, hier, wo Samuel Adams und die Söhne der Freiheit ihren historischen Widerstand gegen die britische Unterdrückung planten – zu begreifen, dass die ‹Boston Tea Party› genau hier ins Werk gesetzt wurde: Das ist eine Ehre, von der ich wünsche, aus tiefstem Herzen wünsche, dass ich sie verdient hätte. Aber das habe ich nicht.»

Die junge Dame schaute noch einmal ins Manuskript. Ihre Zuhörer blieben ganz still, abgesehen vom gelegentlichen Rascheln der Papiere und einem Husten hier und da, und einige Sekunden lang fürchtete sie, ihre Stimme nicht wiederzufinden.

«Ich bin eine junge Frau von einundzwanzig Jahren», sagte sie, «die nichts vorweisen kann, womit sie den Platz auf diesem Podium oder Ihre Anwesenheit verdient hätte. Und so darf man wahrhaftig fragen: Wie kommt es, dass ich hier stehe?» Sie faltete ihre Hände und blickte mit ihren dunklen, von Leid überschatteten Augen auf die vielen Gesichter. «Ich stehe hier meines Vaters wegen, der Arzt war, und meiner Mutter wegen, einer Krankenschwester. Ihre … Ermordung … verschaffte mir den Zutritt zu diesem Podium. Die Bereitwilligkeit, mit der sie ihr Leben hingaben, weil sie ihre Christenpflicht taten – ich bin der Hüter meines Bruders! –, macht mich zur Stimme eines Volkes, das jeglicher Hilfe so dringend bedarf.

Eines Volkes, das gerade aus seiner Heimat vertrieben wird. Dessen Mütter und Töchter, Ehefrauen und Schwestern geschändet werden und anschließend niedergemetzelt. Dessen Väter und Söhne, Ehemänner und Brüder man wie das Vieh in die Wüste treibt, um sie abzuschlachten.

Kurz vor seinem Tod sagte mein Vater: ‹Die englische Sprache hat keine Worte, das Schicksal dieser Menschen zu schildern. Massaker reicht nicht aus … auch Vernichtung trifft es noch nicht. Doch wenn wir als Volk nicht zu den Überzeugungen stehen, auf denen unsere Welt gegründet ist, und wenn sich dann eines Tages ein Wort findet, das all diese unaussprechlichen Gräuel bezeichnet, dann bezeichnet dieses Wort auch das erbärmliche Scheitern unserer Humanität.›»

zwei

Keine Schlichtheit ist größer als die der Sterne. Sie werfen keinen Schatten, und sie bleiben in Ewigkeit. Und für jeden Menschen auf Erden sind es dieselben.

John Lourdes stand auf dem Deck eines alten Frachters und blickte auf die geheimnisvolle Dunkelheit des Schwarzen Meeres. Er reiste mit diesem Schiff, im Frühling des Jahres 1915, weil er bereit gewesen war, an jener großen Unternehmung mitzuwirken, die man Krieg nennt.

Weit draußen in der Nacht erspähte er die ersten Lichter von Konstantinopel, die entlang des Horizonts zu ankern schienen. Er kannte bislang nur Texas und Mexiko, doch nun hatte er sich hinausgewagt auf die Meere der Welt.

Ganz unvermittelt ergriff ihn ein Gefühl, als habe er die Vergangenheit verloren – und damit auch jede Zukunft, die daran geknüpft schien. Als habe er die Fesseln seiner eigenen Geschichte und seiner Herkunft abgestreift, um irgendwo jenseits der schweigenden Küste des Neuen und Unbekannten einen neuen John Lourdes zu formen.

*

John Lourdes betrachtete das Heraufziehen der Morgendämmerung am osmanischen Himmel, während man sich zum Verlassen des Schiffes anschickte. Eine große Moschee mit Minaretten, die den Lanzen der sagenumwobenen Titanen glichen, schirmte das Licht ab. Überall wimmelte es von Schiffen mit seltsamen Segeln und von Dampfern auf ihrem Weg zum Kaukasus. Im Hafen ankerten Schiffe der türkischen Marine in jenem gelblichen Khaki, das sie, wie er gehört hatte, beim Blick auf die Küste tarnen sollte. Von einem der Minarette erklang ein Gebetsruf. Eine Gestalt in weißer Kleidung wirkte wie ein Streichholzkopf; die Harmonien dieses Gesangs klangen fremd in den Ohren von John Lourdes.

Wie alle anderen Fahrgäste auch verließ er das Schiff, sammelte sein Gepäck und rief nach einem hamal – einem Träger. Unterwegs hatte er ein paar Brocken Türkisch aufgeschnappt. Doch selbst hier, wo sich so viele Wege der Welt kreuzten, zog John Lourdes Blicke auf sich.

Vielleicht lag es am Mallory-Hut, den Coyboystiefeln und der Drillichhose, an Weste und Schulterholster. Der hamal nahm zwei Koffer entgegen; der eine enthielt John Lourdes’ Kleidung, der andere die Gerätschaften seines Gewerbes. Dazu zählten zwei Futterale – in dem einen steckte eine Flinte, im anderen ein Gewehr.

Der hamal fragte auf Türkisch, Französisch und Deutsch, wohin er John Lourdes führen dürfe. Dieser antwortete auf Spanisch: «Zum Pera-Palas-Hotel … bitte.» Der hamal schloss daraus, dass er es mit einer hochgestellten Persönlichkeit zu tun habe, und behandelte John Lourdes dementsprechend. «Si, Efendi, si.»

An Bord des Schiffes hatte John Lourdes erfahren, dass es sich bei seinem Hotel um ein Kunstwerk handelte, von Franzosen für Reisende aus Paris erbaut, die mit dem Orient-Express nach Konstantinopel fuhren. Das «Pera Palas» war das erste Hotel am Ort mit einem elektrischen Fahrstuhl, und Gerüchten zufolge hatte das Haus einst sogar einem wohlhabenden Magnaten die Anmietung einer Suite verweigert, weil er zu «schäbig» gekleidet war. Genau dort aber sollte sich John Lourdes auf Anweisung des U.S. State Department ein Zimmer nehmen.

Obwohl er jetzt nur Spanisch sprach, konnte er sich dem Empfangschef verständlich machen. Seinen Papieren zufolge war er ein Bürger Mexikos. Er fragte, ob Nachrichten für ihn vorlägen, er erwarte etwas. Zusammen mit dem Schlüssel händigte man John Lourdes einen Umschlag aus. Auf dem Weg zum Fahrstuhl musterten einige Hotelgäste seine Gewehrtaschen.

Im Zimmer angekommen, studierte er die Nachricht und steckte sie ins Notizbuch, das er immer bei sich trug. Bis zur Abenddämmerung gab es nichts mehr zu tun als zu warten.

*

Kurz nach der Ermordung des Erzherzogs und dem Beginn des Ersten Weltkriegs hatte Richter Knox, Leiter am Sitz des Bureau of Investigation im texanischen El Paso, einen seiner Agenten zu einem Treffen einbestellt – eben diesen John Lourdes.

Die Besprechung fand nicht in den Räumlichkeiten des Bureau of Investigation statt, sondern in der Wohnung des Staatsanwalts, Wadsworth Burr. Die Angelegenheit sollte damit einen halb privaten Rahmen erhalten. Um das Treffen gebeten hatte ein Vertreter des State Department, des Außenministeriums.

Der Herr war ein Harvard-Absolvent und nicht viel älter als John Lourdes selbst. «Was immer dieses Gespräch an Ergebnissen bringt», schickte er voraus, «allen Beteiligten sollte bewusst sein, dass jedes hier besprochene Detail die nationale Sicherheit tangiert. Und deshalb streng vertraulich bleiben muss.»

Der Gesandte aus Washington wirkte ruhig und nüchtern; mit ernstem Nachdruck sprach er von den brennenden Sorgen, welche die Regierung beim Blick auf die internationale Lage durchaus verspüre. Das Ministerium suche deshalb gerade beim Zoll, beim Bureau of Investigation und in der Truppe geeignete Männer, die nach Europa und ins Osmanische Reich geschickt würden, um dort verdeckt Nachforschungen anzustellen und Kurierdienste zu leisten. Sie wären eine Art Vorhut, eine Aufklärungseinheit sozusagen. Ein Zugang der besonderen Art also, eingesetzt, damit die Regierung der Vereinigten Staaten die Ereignisse vor Ort verstehen und bewerten und besser auf neue Krisen reagieren könne. Und natürlich würden die Kenntnisse auch dazu dienen, die Staaten der Entente im gegenwärtigen Konflikt zu beraten.

Im Übrigen sei damit zu rechnen, dass die Agenten nahezu zwangsläufig in heikle Situationen geraten könnten und dass sie auf unerwartete Gegner, heimtückische Absichten vermeintlicher Gefährten und auf Konflikte gefasst sein müssten, die über die üblichen Gefahren eines Krieges hinausgingen.

All dies erfordere Agenten von rascher Auffassungsgabe, die, falls nötig, schnell und entschlossen handelten. Natürlich treffe man Vorkehrungen, um die Agenten zu schützen, fügte der Gesandte noch hinzu. Jedenfalls im Rahmen des Menschenmöglichen.

«Dabei ist uns Ihre Personalakte aufgefallen, Mr. Lourdes. Ihre Zeit in Mexiko mit dem Attentäter.» Der Herr aus dem State Department zögerte einen Moment. «Vor allem aber fanden wir, dass Ihr Hintergrund für uns ganz besonders nützlich ist.»

«Mein Hintergrund?»

«Der Umstand, Mr. Lourdes, dass Sie kein Weißer sind.»

*

Von seinem Hotelfenster aus konnte John Lourdes hinunter auf den historischen Hafen schauen, einen Meeresarm, der Haliç genannt wurde, während Europäer vom Goldenen Horn sprachen. Dort spazierte er kurz darauf an der Uferpromenade entlang, auf der sich die Menschen drängelten. Er wollte die Zeit vor dem vereinbarten Treffen noch nutzen, bevor er weitere Anweisungen erhielt. Vor allem sollte der Spaziergang ihm wieder einen klaren Kopf verschaffen.

Die Stände der Händler säumten den breiten Meeresarm. Ein schier endloser Pfad, an Schätzen des Alltags entlang, ein lebendiger Traum vom Nahesein der Welt und von den unabänderlichen Grenzen menschlicher Möglichkeiten. Und doch gab es an diesem uralten Ort noch etwas Bemerkenswertes, das dem Reisenden nicht entging. Der Ort war nicht weiß.

Die Griechen waren hier vor Anker gegangen, die Römer, die Byzantiner und die Osmanen. Die Kreuzritter hatten ihre Spuren hinterlassen, aber auch die Juden und die Muslime. Der Haliç hatte Aufstände erlebt und Kriege, und sein Bild war auf unzähligen Kunstwerken festgehalten. «Und denken Sie an Ihre Schulzeit und die griechische Mythologie», hatte Wadsworth Burr John Lourdes mit auf den Weg gegeben. «Jasons Suche nach dem Goldenen Vlies.»

Von der Gangway aus hatte John Lourdes noch zurückgerufen: «Ich werde mich danach umschauen!» Dann aber hielt er kurz inne und blickte Burr an. Jahre standen zwischen ihnen und John Lourdes’ Vater. «Ich weiß, was Sie mir sagen wollen, Wadsworth. Danke!»

Vor dem Krieg hatten vor allem Diplomaten, Konsuln und ausgewählte Bürger der jeweiligen Länder Wissenswertes weitergeleitet. Übermittelt wurden ihre Hinweise in Briefen und verschlüsselten Nachrichten. Doch seit der Krieg im Gange war, öffneten die Behörden Briefe und entschlüsselten Funksprüche. Deshalb benötigte das amerikanische Ministerium Menschen wie John Lourdes, die nicht kleinlich mit ihrer Lebenszeit haushalteten.

Weiter unten am Kai kam plötzlich Unruhe auf. Deutsche Offiziere führten einen Trupp türkischer Polizisten von Stand zu Stand. John Lourdes beobachtete, wie sie eine Spur der Verwüstung zurückließen.

Panik erfasste die Menschen. Man hörte Rufe, einen schrillen Pfiff. Die Polizisten zogen ihre Waffen. Als die Leute sich über die Promenade zerstreuten, eilte ein Mann in einfachem Kaftan durch die Menge. Er lief direkt auf John Lourdes zu und stieß die Passanten mit seinen Unterarmen und Ellbogen zu Seite, um sich einen Fluchtweg zu bahnen.

Ein deutscher Offizier wies in seine Richtung. Schüsse fielen; die Luft knisterte förmlich vom Feuer der Pistolen. Alles erstarrte wie gebannt. Das Gesicht des Mannes war verzerrt – von der Anstrengung des Laufens und vor Angst. Schon schien er den Polizisten entkommen zu sein, doch dann wuchs vorn auf seinem Kaftan ein Fleck wie von schwarzem Staub und markierte den Punkt, an dem die Kugel ausgetreten war.

Noch stürzte sein Körper weiter voran. Eine Sandale hatte sich gelöst. Er stolperte, ging in die Knie. Blut tropfte aus der Wunde aufs Pflaster unter seinem zitternden Schatten. Irgendwo schrie eine Frau wie in gellender Wut. Rings um den Mann blieb freier Raum; die Menschen standen und schauten ihm ungläubig beim Sterben zu. Polizisten drängten mit gezogenen Waffen heran.

Der Mann blickte auf. John Lourdes stand nur eine Körperlänge entfernt.

Die Augen in jenem dunklen Gesicht sahen und begriffen, welches Unheil ihnen widerfahren war. Ein Arm erhob sich noch, streckte sich. War das die hilflose Geste eines schon Gestorbenen, oder etwas anderes …?

Eine schnelle Folge von Pistolenschüssen streckte den Mann endgültig nieder. Nun legte sich eine seltsame und verstörende Stille über den Kai. Türkische Polizisten versuchten, die Umstehenden zu verscheuchen. Damit schien die Geschichte abgetan – aber das war sie nicht.

Ein deutscher Offizier hatte die Frau gepackt, die so laut geschrien hatte – doch John Lourdes’ Aufmerksamkeit galt jetzt einer anderen Frau. Verschleiert und im Mantel glitt sie durch die Menge. Klein, schweigsam, nahezu unsichtbar. Die Arme hielt sie eng an ihren Leib gepresst, und sie trug ein Kind in Windeln.

Mit kleinen, schnellen Schritten näherte sie sich einem anderen deutschen Offizier, nahe beim Leichnam. Die Frau mit dem Kind nahm er nur beiläufig wahr, gleichgültig erhob er eine Hand, um sie am Weitergehen zu hindern. Aber sie achtete nicht darauf.

Manchmal begreift man die Welt in wenigen Sekunden.

Was John Lourdes sah, sah auch der Deutsche, der beim Leichnam stand, und der begriff jetzt, was ihm bestimmt war, aber da war es schon zu spät. In jenen Windeln steckte kein Kind, sondern der hölzerne Stiel und der Blechtopf einer Granate.

Im Augenblick der Explosion standen die Frau und der Deutsche so eng beieinander, dass sie in einer grausamen Umarmung verschmolzen. Holz- und Metallsplitter hatten die beiden in der Nähe stehenden Polizisten durchsiebt. Sie lagen jetzt auf dem grauen Asphalt, ihre Wunden glichen hellen Tümpeln und scharf geschnittenen Schlitzen. Jemand brüllte ein Wort, das John Lourdes nicht verstand: Fedajin!

drei

Am Abend saß John Lourdes in der Lobby des Hotels und wartete auf seinen Kontaktmann. Wie gewöhnlich hielt er die Ereignisse des Tages in seinem Notizbuch fest.

Weil er ein Wort – Fedajin – nicht verstanden hatte, erkundigte er sich an der Rezeption; er sprach es so aus, wie er es vermochte, und bat den Angestellten, ihm das Wort aufzuschreiben und seine Bedeutung zu erklären. Der Gefragte, ein älterer und recht vornehmer Bursche, tat, wie ihm geheißen; schließlich blickte er John Lourdes entrüstet an und erklärte: «Das bedeutet … gottloser Mörder.»

Obwohl er die Bedeutung dessen, was er am Kai mitangesehen hatte, nicht vollständig erfassen und bewerten konnte, ahnte John Lourdes, dass die brutale Unmenschlichkeit dieser Geschehnisse von einer ganz neuen Schändlichkeit zeugte, wie sie die Welt bislang nicht kannte. Und er spürte, dass man fortan auf dergleichen gefasst sein musste.

Dennoch: Hier in der Hotel-Lobby deutete nichts darauf hin, dass die Ereignisse am Kai tatsächlich stattgefunden hatten. Elegante Damen und Herren warteten aufs Abendessen oder auf ihre Kutschen, um zum Theater zu fahren. Die Damen standen beieinander und plauderten, die Herren redeten übers Geschäft und über sich selbst. Es hatte den Anschein, als sei die Welt all dieser Damen und Herren einfach die Welt schlechthin, dachte John Lourdes.

«Efendi?»

John Lourdes blickte von seinem Notizbuch auf.

Ein hochgewachsener Mann in langem Mantel, dem Anschein nach von arabischer und chinesischer Abstammung, sagte: «Der Manager», und er deutete zur Empfangstheke, «der Manager sagte, Sie seien John Lourdes. Ist das richtig?»

Der Gefragte nickte und erhob sich.

«Ich soll Sie zu Mr. Baptiste begleiten …»

«Mr. Baptiste sollte doch …»

«Heute Nacht ist es in den Straßen unruhig. Es ist nicht sicher.»

Als sie die Lobby durchquerten, eilten gerade mehrere Männer, die an der Bar gewartet hatten, an ihnen vorüber; einer trug eine Kamera mit Stativ. Das Hotel galt als Ort, an dem Nachrichten von überall her zusammenliefen, und es mangelte nie an internationalen Reportern und Journalisten.

Als John Lourdes aus der Tür trat, hatte sich eine Menschentraube auf den Stufen des Hotels versammelt. Eine junge Frau mit dunklem Haar und dunklen, traurigen Augen bahnte sich ihren Weg durch die Kutschen und Automobile. In der einen Hand trug sie eine Fackel, in der anderen ein zusammengerolltes Tuch. Ihr folgte eine Schar Kinder in bäuerlicher Tracht. Jedes hielt eine kleine Kerze in der einen Hand, mit der anderen schützte es die Flamme vor dem Wind, der vom Schwarzen Meer her wehte. Den Kindern folgten einige Frauen; eine von ihnen hatte John Lourdes schon unten am Kai gesehen, er erinnerte sich, wie sehr sie geweint hatte.

Die junge Frau mit der Fackel stellte sich vor den Eingang des Hotels, mit Blick auf die Straße; die Kinder drängten sich eng an sie heran, so dass das Licht aus der Lobby die Gruppe beschien. Reporter warfen ihr Fragen zu, doch trotz ihrer Jugend blieb sie ruhig und gefasst und schweigsam, bis das Stativ aufgebaut und die Kamera bereit war.

«Heute wurde ein Mensch ermordet», sagte sie. «Er wurde in Sichtweite dieses Hotels niedergeschossen.» John Lourdes hörte die Spur eines britischen Akzents heraus. «Ermordet wurde er aus zwei Gründen. Erstens war er ein politischer Schriftsteller. Und zweitens war er Armenier. Diese zwei Tatsachen waren seine Verbrechen gegenüber dem Reich.»

John Lourdes’ Begleiter zupfte ihn am Ärmel: «Efendi, wir müssen uns beeilen.»

«Dies hier sind seine Kinder», sagte die junge Frau. «Und jene Frau dort ist seine Schwester. Man wird sie alle niedermachen.»

John Lourdes folgte seinem Begleiter durch die Menge und fort vom Hotel; als die Menschen aufstöhnten, wandte er sich noch einmal um.

Das aufgerollte Tuch, welches die junge Frau hergebracht hatte, war der Kaftan des Toten. Nun hielt sie ihn mit der freien Hand wie ein Leichentuch, finster und blutig im Licht der Fackel.

*

Sein namenloser Führer geleitete John Lourdes in das Viertel Beyoğlu; er schritt rasch aus, blickte dauernd umher, ängstlich und angespannt, denn überall waren an diesem Abend Polizisten unterwegs, und sie sannen auf Rache.

Sie betraten das europäische Viertel mit seinen Botschaften und Villen und den arabischen Palästen aus grauer Vorzeit. Entlang der Grand Rue de Pera patrouillierten die Vertreter der Staatsmacht in Zweier- und Dreiergruppen mit Fackeln durch die Seitenstraßen, sie kontrollierten Touristen und durchsuchten Kutschen. Der Mann gab John Lourdes durch Zeichen zu verstehen, dass sie die hell erleuchteten Gehsteige zu meiden hätten.

«Wegen der Sache am Kai?», flüsterte John Lourdes.

«Der Türke macht Jagd auf Armenier. Schriftsteller … Lehrer … Geistliche … Der Türke will sie alle töten. Einige halten sich in diesem Viertel versteckt.»

John Lourdes folgte der schattengleichen Gestalt durch schmale Kopfsteinpflasterstraßen, wobei sie den Lichtern auswichen, die urplötzlich an grauen Hauswänden entlanghuschten – auf der Suche nach Nischen und Gassen, in denen sich Armenier verstecken mochten.

«In solchen Zeiten», flüsterte der Mann, «ist man besser ein Jude.»

*

Sie bogen in eine Gasse ein, die nicht breiter war als ein Handkarren. Pflastersteine liefen an gesichtslosen zweistöckigen Reihenhäusern entlang. Nackt, bis auf wenige erleuchtete Fensterrosetten. Hier die Stimme eines Kindes, dort eine Männerstimme. Und die Gerüche – jeder davon traf John Lourdes’ Sinne wie eine ganz eigene, unbekannte Welt.

Nun standen sie vor einer schweren hölzernen Tür, und der Mann an John Lourdes’ Seite klopfte. Nach einer Weile öffnete sich ein Schieberiegel, ein Augenpaar tauchte ins Licht einer Gasleuchte an der Hauswand. Die Öffnung verschwand wieder, und die Scharniere der Tür setzten sich in Bewegung.

Eine Frau am Eingang, von hinten beleuchtet. Hochgewachsen, arabisch. Ein roter Kaftan fiel bis zu ihren nackten Füßen herab. Der Mann redete mit ihr, und alles, was John Lourdes verstand, war: «Baptiste …»

Als die Frau einen Schritt zurücktrat, bemerkte John Lourdes blaue Tinte in ihrem Gesicht – am Kinn, an den Wangen und an der Stirn. Der Mann folgte John Lourdes nicht ins Haus.

«Weiter gehe ich nicht», sagte er. «Möge Ihr Gott Sie beschützen.»

Seine neue Führerin geleitete ihn durch einen Korridor, an perlenbesäumten Maueröffnungen entlang, hinter denen Frauen den Männern Pfeifen reichten und nackt bei ihnen saßen, im dämmrigen Luxus wolkengleich aufgetürmter Kissen. Frauen aus Afrika, arabische Frauen, hellhäutige und andere von unbestimmter Herkunft – und alle trugen das gleiche blaue Zeichen.

Er folgte der Frau eine Treppe hinauf bis dort, wo die Wände mit Teppichen behängt waren. Die Geschichte von Ali Baba, gewebt in Jahrhunderte von Seide. Mit Krummsäbeln und weißen Rössern und einem Sklavenmädchen beim Tanz mit einem Dolch, und alles funkelnd im Schein der Gaslaterne. Eine Diebesbande auf Pferden, die alles niedertraten, eilte einen ganzen Korridor entlang bis zu einem weiteren perlenbesetzten Eingang, hinter welchem das flackernde Licht eines Projektionsapparates matte Zeichen in ihre Gesichter warf.

Die Frau blieb neben einem Treppenaufgang stehen, der zum Dach führte, und wies nach oben. Dorthinauf also führte John Lourdes’ Weg.

Herr Baptiste saß auf einer Mauer des Daches. Er erhob sich, als John Lourdes nähertrat. «Von den Ruinen des alten Palastes aus habe ich Sie kommen sehen», sagte er.

Baptiste trug einen europäischen Anzug mit Krawatte, sogar mit dem obligatorischen Tuch in der oberen Tasche des Jacketts. Sein Gesicht war langgezogen und breit, so dass es flach und konturlos wirkte; selbst die Augen standen weit auseinander. John Lourdes hatte das Gefühl, dieses Gesicht ließe sich mühelos einschüchtern.

Sie schüttelten die Hände.

«Ich hoffe, es kränkt Sie nicht, dass ich Sie an diesen Ort bringen ließ. Aus Gründen der Sicherheit. Meiner eigenen vor allem. Wissen Sie, ich bin Armenier.»

«Opium riecht überall gleich.»

«Waren Sie je zuvor in diesem Teil der Welt?»

«Nein.»

«Und wie ist Ihr Eindruck? Bis jetzt?»

John Lourdes zögerte, dann lächelte er. «Es ist nicht gerade Texas», sagte er.

Baptiste lächelte ebenfalls. «Bei meiner ersten Reise nach England ging es mir ähnlich. Zum College. Alles so grau. So förmlich. Und die Art und Weise, wie die Menschen mich anstarrten und zu mir redeten. Habe meinem Vater geschrieben. Bat ihn, nach Hause kommen zu dürfen. Sie können sich ja ausmalen, wie ein Vater auf so etwas reagiert.»

«Ich kann mir vorstellen, was meiner gesagt hätte … Wenn du schon einmal dort bist, Mr. Lourdes, gib dir einfach Mühe, die Königin zu beklauen.»

Jetzt hatte John Lourdes Platz genommen. Sein Blick glitt über eine Welt aus Dächern und Minaretten, die sich in der Schwärze des Schwarzen Meeres verlor.

«Das ist recht schön, solange man nicht begreift, was sie bedeuten.»

John Lourdes verstand ihn nicht.

«Die Lichter.» Der andere deutete nach unten.

Baptiste redete nicht von den langen Flüssen der Straßen mit ihren Laternen, sondern von den kleinen Polizeitrupps, die das Viertel durchkämmten.

«Der Mord am Kai.»

«Sie haben davon gehört?»

«Ich war dort.»

Baptiste saß jetzt ganz nah bei John Lourdes.

«Geht es genau darum?», fragte John Lourdes.

«Nein. Das heute war nur ein Vorwand.»

«Wie meinen Sie das?»

«Man sagte mir, Sie seien Mexikaner, aber aus den Vereinigten Staaten.»

«Das stimmt. Mexikaner und Amerikaner.»

«Ist es für Mexikaner in den Vereinigten Staaten ebenso schwer wie für Afrikaner?»

«Wir trugen niemals Ketten. Also – nein.»

«Aber Sie gelten dort nicht als Weißer?» Baptiste zog einen Umschlag aus der Tasche seines Jacketts. «In diesem Land spielt der Armenier die Rolle des Afrikaners. Zwischen den Türken und uns gibt es Unterschiede. Soziale, politische, historische, religiöse. Türken sind überwiegend Muslime, Armenier sind Christen. Deshalb reagieren Türken auch so empfindlich auf Missionare. Missionare sind in ihren Augen Knechte Europas und Amerikas und Verbündete der Armenier. Und die Türken wünschen den Armeniern den Tod.»

Baptiste ließ die Kante des Umschlags zwischen seinen Fingern hindurchgleiten. «Hier sind Ihre … Anweisungen. Bevor ich sie Ihnen aushändige … sagt Ihnen der Name Calouste Gulbenkian etwas?»

«Ich fürchte nein.»

«Er ist ein Unternehmer und Investor. Gebürtiger Armenier, aber auch britischer Staatsbürger. Und ein Patriot. Ihm gelang die Fusion großer Petroleum-Unternehmen … Davon profitierte die britische Marine. Er ist die Stimme und die Seele von Baku. Kennen Sie Baku?»

«Die Ölfelder am Kaspischen Meer.»

«Es heißt, Sie kennen die mexikanischen Ölfelder.»

«Tampico.»

«Gegen Baku ist Tampico winzig. Die Hälfte von dem, was überhaupt an Öl gefördert wird, kommt aus Baku. Baku ist die Zukunft unserer Welt. Und die Deutschen, mit Hilfe der Türken …»

John Lourdes sprang auf. «Dort drüben!»

Während Baptiste redete, hatte John Lourdes die Straßen im Blick behalten. Gerade jetzt tasteten Lichtfäden nach ihrem Häuserblock.

vier

«Wir müssen verschwinden.»

Baptiste lief nicht zum Treppenhaus, sondern eilte über das Dach, geduckt und im Laufschritt. Er balancierte über den Sims, der das Gebäude vom Nachbarhaus trennte, und sprang auf das tiefer liegende Dach nebenan. Lautlos glitt er von Haus zu Haus, und John Lourdes folgte ihm. Kaum hatten sie das Ende der Straße erreicht, stand dort plötzlich ein weiterer Trupp Polizisten am Rande der undurchdringlichen Finsternis. Licht flammte in den engen Gassen auf. Also galt es wohl, sich zu verteidigen; jedenfalls griff John Lourdes schon nach der Pistole in seinem Schulterholster. Baptiste aber hielt ihn mit einer Handbewegung zurück.

«Nein», sagte er. «Kommen Sie.»

Auf allen Vieren robbte Baptiste auf eine Dachluke zu. Mit einiger Mühe stemmte er die schwere hölzerne Klappe in die Höhe. Vor ihnen ein schwarzes Loch.

«Eine Leiter», sagte Baptiste. «Ich zuerst, Sie folgen mir. Seien Sie vorsichtig. Das Holz ist uralt.»

Die Sprossen der Leiter knarrten unter John Lourdes’ Stiefeln. Er musste sich mit einem Fuß nach unten vortasten, um das Ende der Leiter zu spüren. Es war vollkommen dunkel, die Luft roch muffig, nach Schimmel. Aus dem leisen Echo ihrer Bewegungen schloss er, dass das Gebäude leerstand. Baptiste griff seinen Arm und führte ihn zu einem Treppenabsatz und eine schadhafte Treppe hinunter.

Von dort folgten sie einem Korridor, an dessen Ende dünne Bänder aus Licht sie erwarteten. Sie standen vor einer Tür, durch deren locker gefügte und schadhafte Bretter der Schein des Mondes hineinfiel. Mondlicht genug für die beiden Männer, um die Konturen des anderen auszumachen.

Jetzt zog auch Baptiste einen Kleinkaliber-Revolver aus der Jackentasche. «Hinter dieser Tür … Tut mir leid. Ich werde mein Bestes geben. Versprochen.»

Die Polizisten befanden sich schon ganz in der Nähe, in ihren Stimmen glühte das Feuer.

Baptiste hielt den Umschlag in die Höhe. «Indem Sie ihn annehmen … Sie müssen sich darüber im Klaren sein. Wir legen unseren Glauben in Ihre Hände.»

Durch die Schatten hindurch sah John Lourdes nur Teile vom Gesicht des Mannes. Er hatte sich in Mr. Baptiste getäuscht. Dieses Gesicht ließ sich nicht so leicht einschüchtern, ganz im Gegenteil. Dieses Gesicht war ruhig und gefasst in Erwartung dessen, was da kommen sollte.

John Lourdes nahm den Umschlag entgegen. «Ich werde Sie nicht enttäuschen … Efendi.»

Baptiste nickte. «Direkt gegenüber beginnt ein Gässchen. Dorthin werden wir … Sie … gehen. Wenn Sie allein durchkommen …»

Baptiste legte die Hand auf den Türknauf. Er zögerte. «Meine Frau», sagte er, «als ich sie heute Abend verließ … sie versprach, auf mich zu warten.»

Er riss die Tür auf, und die beiden stürmten nach draußen. Kurz darauf fiel ein Schuss, und sein Echo lief die lange und lichtlose Gasse entlang, durch die sie flüchteten. John Lourdes spürte die Mauern zur Rechten und zur Linken, und als er am weit entfernten Boulevard anlangte, war Mr. Baptiste nirgends zu sehen. Atemlos wandte John Lourdes sich um. Ganz fern in jener finsteren engen Gasse hörte man Schüsse.

Morgens am Hafen hatte John Lourdes beobachtet, dass die Polizisten nicht nur Kurzsäbel trugen, um die Menge in Schach zu halten, sondern auch Mauser-Pistolen. Große und klobige Waffen, aber mit beachtlicher Feuerkraft. Irgendwelche Schatten oder blitzendes Mündungsfeuer waren jetzt allerdings nicht zu sehen. Er hörte einfach nur das Staccato der Schüsse – und sie stammten nicht aus einer kleinkalibrigen Waffe.

*

Im Umschlag steckte ein Brief. John Lourdes folgte den Anweisungen und bestieg am folgenden Tag Le Minotaur, einen mit Kohle beladenen Raddampfer, der auf dem Weg nach Trapezunt war, einer Hafenstadt an der fernen Ostküste des Schwarzen Meeres. Dort würde ihn ein Kundschafter erwarten, eine Art Führer, der ihn in die Vilâyets geleiten sollte – bis an die Grenzen des Reiches. Über die Ziele seiner Reise war strengstes Stillschweigen zu bewahren.

Sein Auftrag bestand darin, einen Priester namens Malek zu finden. Auf diesen Priester hatte das türkische Kriegsministerium unter Enver Pascha ein Kopfgeld ausgesetzt. Geriete der Mann in die Hände dieses Ministeriums, werde er zum Gefangenen der Teşkilât-I-Mahsusa, einer Geheimorganisation, denn Malek war mehr als nur ein heiliger Mann. John Lourdes aber sollte für eine sicheres Geleit des Priesters in die Stadt Van sorgen.

Van bildete das Zentrum des armenischen Widerstands; hier lebten viele Anhänger der Befreiungsbewegung. In und um Van kam es immer wieder zu hitzigen Scharmützeln. Die Armenier kontrollierten zwar einen Teil der Stadt, waren darin aber auch gefangen – und wurden dort von der Armee des Osmanischen Reiches, von Bürgerwehren und den deutschen Militärberatern belagert.

Auch das US-Außenministerium war mit eigenen Leuten vor Ort, die sich mit Malek und anderen Vertretern des Widerstands treffen wollten. Ziel der amerikanischen Politik war es, die Entente in ihrem Kampf gegen die Mittelmächte zu unterstützen.

Der Brief von Baptiste mit den Instruktionen endete in einem lapidaren Postscriptum: Lukas 10,25-37.

Was seine Bibelfestigkeit anging, tappte John Lourdes auf unsicherem Gelände, deshalb schrieb er sich die Stelle für einen späteren Zeitpunkt ins Notizbuch. Anschließend folgte er den Anweisungen und zerriss den Brief. Die Fetzen warf er ins schäumende Wasser hinter einem der seitlichen Schaufelräder des Frachters.

Er blickte über das Wasser, und nach einiger Zeit bemerkte er ein kleines graues Schiff, das sich etwa eine halbe Meile entfernt auf Backbord neben dem Dampfer seinen Weg durch unruhige Wellen bahnte. Er hielt sich die Hand über die Augen, um besser sehen zu können.

«Aus Deutschland … ein Patrouillenboot.»

Er wandte sich nach der Stimme um. Sie stand einige Schritte entfernt an der Reling. Es war die Frau, die er am Abend zuvor auf den Stufen des Hotels gesehen hatte, die mit der Fackel und dem blutigen Kaftan.

«Woher wissen Sie das?», fragte John Lourdes.

Sie trat näher, blickte aber immer noch aufs Meer hinaus. «Vor der Küste von Singapur habe ich einmal gesehen, wie ein solches Schiff einen Fischkutter angegriffen hat; sie haben Boot und Besatzung einfach in Brand gesetzt.»

Die Frau erschien jetzt jünger als in der vergangenen Nacht. Wirkte unschuldiger. Ihre Haut war dunkel, die Nase adlergleich. Jetzt wandte sie sich ihm zu.

«Ihr Akzent», sagte sie. «Amerikaner?»

«Texas. Aber ich bin mexikanischer Staatsbürger.»

«Texas ist ein großer Staat, nicht wahr?»

«Größer als groß.»

Sie lächelte zustimmend.

«Von Amerika habe ich leider noch nicht viel gesehen. Neulich war ich in Boston, zum Spendensammeln für die Hilfsorganisation.»

«Sie haben einen ganz leichten britischen Akzent», sagte er.

«Mein Vater war Brite, meine Mutter Türkin. Ich bin in Baku geboren.»

Vom Oberdeck hörte man laute Rufe. Deutsche Offiziere auf dem Weg nach Trapezunt machten sich bemerkbar und winkten zum Patrouillenboot hinüber.

«Sie glauben, Sie hätten den Krieg schon gewonnen», sagte die junge Frau.

Einer der deutschen Offiziere feuerte eine Leuchtrakete ab. Hoch am Himmel zischte es, dann rollten leuchtendrote Bänder herab. Sekunden später antwortete das Patrouillenboot mit Phosophorblitzen.

«Ich habe Sie gestern Abend gesehen», sagte John Lourdes. «Vor dem Hotel.»

«Gehörten Sie zu denen, die sich über meine Darbietung empört haben, oder …?»

«Ich war am Kai, als der Mord geschah.»

«Sie haben es gesehen …?»

«Ja. So nah am Tatort, wie Sie von mir entfernt standen, als Sie mich vorhin angesprochen haben.»

Jetzt riefen Freunde vom Oberdeck nach der jungen Dame. Winkend deutete sie an, sie werde gleich wieder bei ihnen sein.

«Ich arbeite für die Internationale Hilfsorganisation.» Sie reichte ihm die Hand. «Ich heiße Alev Temple.» Alev buchstabierte sie ihm. «Ein türkischer Name.»

Er schüttelte ihre Hand. «John Lourdes.»

«Was führt Sie nach Trapezunt, John Lourdes?»

Er wehrte ab: «Religiöse Angelegenheiten.»

Das nahm sie hin. Doch als sie sich umdrehte, um zu ihren Freunden zurückzukehren, fügte sie noch hinzu: «Ich vermute, das erklärt die Waffen, die sie dabei hatten, als sie an Bord kamen.»

*

An jenem Abend kam es im Salon zu einem heftigen Wortwechsel zwischen der jungen Helferin und einem deutschen Offizier. Es war jener Mann, der seine Waffenbrüder am Morgen mit dem Leuchtfeuer begrüßt hatte. Da John Lourdes zum Rauchen aufs Achterdeck hinausgegangen war, wusste er nicht, wie und wann es zu diesem Streit gekommen war.

Der Salon war an diesem Abend gut gefüllt, andere Passagiere warteten am Eingang oder beobachteten vom Deck aus durch die Fenster, wie Miss Temple und Rittmeister Bodo Franke aufeinander losgingen.

«Erzählen Sie mir nicht, dass ich nicht weiß, worüber Sie geredet haben. Ich spreche Türkisch.»

«Reden können Sie ja gut», sagte Rittmeister Franke.

Miss Temple deutete auf einen Tisch, an dem zwei weitere deutsche Offiziere saßen, gemeinsam mit drei Angehörigen des türkischen Militärs, die der Geheimorganisation angehörten.

«Sie und diese Männer haben über die Ausrottung …»

«… Umsiedlung der armenischen Volksgruppe innerhalb des osmanischen Staatsgebiets.»

«Warum sind die Deutschen eigentlich hier? Zum Beaufsichtigen …?»

«Um die Souveränität der osmanischen Regierung gegen internationale Agitatoren und ausländische Aggressoren zu verteidigen. Beispielsweise gegen die Russen, die Briten, die …»

Miss Temple wurde lauter. «Mein Vater und meine Mutter wurden von solchen Männern aus der Geheimorganisation ermordet. Einmal haben sie meinem Vater ein englisches Wörterbuch weggenommen, und weil darin Begriffe wie ‹Recht› und ‹Freiheit› vorkamen, haben sie es verbrannt. Jedes Stück Papier, jedes Dokument, jeden Brief, jeden Zeitungsartikel, seine Bibel – alles, worin das Wort ‹Armenien› zu lesen war – haben sie verbrannt.» Sie schwieg einen Augenblick. «Eines Nachts kehrten sie dann zurück und verbrannten meinen Vater und meine Mutter.»

«Wie viele Sprachen sprechen Sie, Miss Temple?»

«Pardon?»

«Wie viele Sprachen?»

«Zwei. Türkisch und Englisch.»

Rittmeister Franke hatte die Hände hinter dem Rücken gefaltet. Er verzichtete vollkommen auf jenen aggressiven, prahlerischen Ton, wie man ihn von Offizieren der Kavallerie kannte. Eher redete er wie ein Anwalt, der seine Argumente auf ehrenhafte Weise vorbrachte.

«Sie sprechen zwei Sprachen. Na gut. Jeder Narr kann eine Sprache beherrschen … Alles, was man dafür tun muss, ist, geboren zu werden. Zwei Sprachen … jeder hat zwei Eltern, also gibt es auch dafür reichlich Gelegenheiten. Erst ab drei Sprachen kann man beweisen, wie klug und gebildet man ist. Miss Temple, Ihnen fehlt noch eine Sprache.»

«In Van», begann Miss Temple. «Wenn sich der Gouverneur armenische Christen vorführen lässt, pflegt er sie in kleine, zellenartige Käfige zu sperren, und dann lässt er hungrige Wildkatzen auf sie los. Katzen, die Menschen angreifen, beißen, ihnen die Krallen ins Fleisch schlagen.»

«Aus Lügen geborene Propaganda», kommentierte Rittmeister Franke.

«Lügen, geboren, um die Fakten zu verschleiern», erwiderte Miss Temple.

«Die Mitglieder der Hilfsorganisation sind nichts anderes als das Propaganda-Sprachrohr der britischen Regierung.»

«Die Missionshäuser sind voller Waisenkinder. Das ist keine Propaganda.»

«Wer finanziert eigentlich diese Hilfsorganisation? Britischer Wohlstand, britische Industrielle. Ihr Ziel: Die Ölfelder von Baku und Basra. Sie brauchen das Öl für ihre Marine, denn ohne Öl vergeht ihre Macht.»

«Und was ist mit der Bahn von Berlin bis Bagdad? Oder mit der Pipeline von Batumi nach Baku? Da träumt das Deutsche Heer doch auch von einer Rolle als Großmacht.»

«Die Regierungen des Osmanischen Reiches und des Deutschen Reiches sind Alliierte, und als solche haben sie eben Absprachen getroffen.»

«Sie wollen die Armenier aus dem Weg haben, weil sie Christen sind, weil sie für eine freie und offene …»

«Warum gibt es denn hier wohl mehr britische Soldaten als in Europa? Warum? Es geht ums Öl. Die Fusion von Royal Dutch-Shell – wem gehören diese Unternehmen? Welche Mächte stehen dahinter? Die britische Regierung …»

Da schrie jemand plötzlich: «Oh Gott!»

Er stand nahe am Bug. «Ein Leichnam», rief er denen zu, die sich umgewandt hatten.

Die Menschen drängten aus dem Salon ins Freie. Der Maat stieg vorsichtig vom Vorderdeck herab.

«Er war dort!», sagte er und deutete hinaus aufs Wasser.

Die Leute drängelten sich vor der Reeling, um etwas zu sehen. Alev Temple stand plötzlich neben John Lourdes. Doch es gab nichts als den Rhythmus der Maschinen und das Plätschern des Rades im Wasser. Aus der weißen Gischt hinter dem Rad stieg gedehnte Zeit empor, ganz still – und dann trieb da wieder ein Leichnam, feucht, glänzend und nackt. Die Menschen schrien auf, sie riefen nach dem Maat. Der aufgeschwemmte Torso prallte mit einem dumpfen Schlag gegen den Schiffsrumpf, dann trug ihn das Kielwasser hinaus in die Nacht.

Unruhe verbreitete sich an Deck. Der Maat rief zum Vordeck hinauf, dass er einen zweiten Leichnam gesehen habe. Dieser schwamm etwa zwei Schiffslängen entfernt auf Backbord.

Die Reisenden blickten jetzt alle auf die dunklen Wellen hinab. Einer zeigte auf einen Kasten voll mit nacktem Fleisch, der in der Strömung tanzte. Niemand konnte sich von diesem Anblick lösen, und jemand fragte, ob da draußen in der Nacht womöglich ein Schiff gekentert sei.

John Lourdes bat Alev Temple, den Maat nach Leuchtraketen zu fragen, doch der erwiderte, der zweite Offizier habe vergessen, den Vorrat aufzufüllen. John Lourdes wandte sich an Rittmeister Franke. «Hauptmann», sagte er, «könnten Sie nicht vielleicht …»

«Für Tote verschwende ich keine Leuchtmunition.»

Mehr wurde nicht geredet. John Lourdes wandte sich ab und ging fort. In seiner kleinen Kabine entzündete er die Gaslampe. Dann breitete er die Gerätschaften seines Gewerbes auf dem Bett aus.