Gaslicht 7 - Jane Weston - E-Book

Gaslicht 7 E-Book

Jane Weston

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Beschreibung

In dieser neuartigen Romanausgabe beweisen die Autoren erfolgreicher Serien ihr großes Talent. Geschichten von wirklicher Buch-Romanlänge lassen die illustren Welten ihrer Serienhelden zum Leben erwachen. Es sind die Stories, die diese erfahrenen Schriftsteller schon immer erzählen wollten, denn in der längeren Form kommen noch mehr Gefühl und Leidenschaft zur Geltung. Spannung garantiert! Satt und zufrieden, umhüllt von Dunkelheit und Zerfall, schlief sie im Gestank der Fäulnis bereits seit mehr als einem Menschenleben. Ohne daß sie vollends erwachte, ernährte sie sich von allem, was so unvorsichtig war, sich ihr zu nähern. Ein kurzer Griff, manchmal Schreie, zappelnde Körper, dann ein Saugen, das sie warm erfüllte, und wieder tiefer Schlaf, durchzogen von purpurnen Träumen wie Adern in festem weißem Fleisch… Jessica Albright seufzte, ließ die Hände auf die Tastatur ihres Notebooks sinken und schaute auf. Sie saß jetzt seit vielen Stunden über dem Manuskript und hatte nicht bemerkt, daß es Nacht geworden war. Schaudernd blickte sie sich in ihrer kleinen Wohnung um. Die Schatten in den Ecken schienen sich auf sie zuzubewegen. Jessica stand auf und schaltete die Deckenbeleuchtung ein. In diesem Moment war sie ausnahmsweise froh, daß sie ein überschaubar kleines Appartement bewohnte, nur ein Wohnschlafzimmer mit einer abgeteilten Küchenzeile. Sie blickte auf die Uhr. Mitternacht war bereits vorüber. Es passierte ihr bei ihrer Arbeit als Übersetzerin selten, daß ein Text sie wirklich so berührte und fesselte, daß sie über ihrer Arbeit die Zeit vergaß. Die meisten ihrer Aufträge, die insgesamt leider viel zu selten waren, bestanden aus trockenen oder manchmal auch blumig-schwülstigen spanischen Texten, die sie routiniert ins Englische übersetzte. Doch dieser Roman eines jungen, noch unbekannten Schriftstellers war seltsam faszinierend und zog sie unwiderstehlich in seine Handlung hinein, obwohl Jessica eigentlich nicht viel für Horrorgeschichten oder -filme übrig hatte. Ihr Nacken schmerzte von der starren Haltung am Computer. Sie dehnte und streckte sich ausgiebig

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Seitenzahl: 173

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Gaslicht – 7 –

Der geheimnisvolle Palazzo

Hier verliert die mutige Jessica Albright fast ihren Verstand

Jane Weston

Satt und zufrieden, umhüllt von Dunkelheit und Zerfall, schlief sie im Gestank der Fäulnis bereits seit mehr als einem Menschenleben. Ohne daß sie vollends erwachte, ernährte sie sich von allem, was so unvorsichtig war, sich ihr zu nähern. Ein kurzer Griff, manchmal Schreie, zappelnde Körper, dann ein Saugen, das sie warm erfüllte, und wieder tiefer Schlaf, durchzogen von purpurnen Träumen wie Adern in festem weißem Fleisch…

Jessica Albright seufzte, ließ die Hände auf die Tastatur ihres Notebooks sinken und schaute auf. Sie saß jetzt seit vielen Stunden über dem Manuskript und hatte nicht bemerkt, daß es Nacht geworden war. Schaudernd blickte sie sich in ihrer kleinen Wohnung um. Die Schatten in den Ecken schienen sich auf sie zuzubewegen. Jessica stand auf und schaltete die Deckenbeleuchtung ein. In diesem Moment war sie ausnahmsweise froh, daß sie ein überschaubar kleines Appartement bewohnte, nur ein Wohnschlafzimmer mit einer abgeteilten Küchenzeile.

Sie blickte auf die Uhr. Mitternacht war bereits vorüber. Es passierte ihr bei ihrer Arbeit als Übersetzerin selten, daß ein Text sie wirklich so berührte und fesselte, daß sie über ihrer Arbeit die Zeit vergaß. Die meisten ihrer Aufträge, die insgesamt leider viel zu selten waren, bestanden aus trockenen oder manchmal auch blumig-schwülstigen spanischen Texten, die sie routiniert ins Englische übersetzte. Doch dieser Roman eines jungen, noch unbekannten Schriftstellers war seltsam faszinierend und zog sie unwiderstehlich in seine Handlung hinein, obwohl Jessica eigentlich nicht viel für Horrorgeschichten oder -filme übrig hatte.

Ihr Nacken schmerzte von der starren Haltung am Computer. Sie dehnte und streckte sich ausgiebig und musterte ein wenig mißtrauisch die dunklen Schatten im Raum. Bereits seit einem Jahr wohnte sie nun in diesem Appartement und fühlte sich noch immer nicht heimisch. Doch ihr Einkommen reichte nicht für eine schönere Wohnung. Nachdem vor eineinhalb Jahren ihr Vertrag als Englisch- und Spanischlehrerin am Chester-College ausgelaufen und aus Geldmangel nicht verlängert worden war, hatte sie ihre gemütliche Zwei-Zimmer-Wohnung in Notting Hill aufgeben müssen und von einer glücklicheren Freundin dieses billige dunkle Appartement im Souterrain eines Mehrfamilienhauses übernommen. Selbst im Sommer wurde es in der feuchten Wohnung nie richtig hell, und Jessica fürchtete sich schon vor den kommenden Wintermonaten. Sie würde sich auf jeden Fall noch einige Lampen anschaffen und vielleicht sogar einen dieser schrecklichen elektrischen Kamine, die sie eigentlich verabscheute, die aber zumindest für wohlige Wärme sorgten.

Sie zuckte zusammen, als ihr Handy einen kurzen Piepton von sich gab. Eine SMS. Wer schrieb ihr um diese Uhrzeit? Jessica drückte einige Tasten, bis die Nachricht auf dem kleinen Monitor erschien.

Noch wach? Wenn ja, ruf mich sofort auf dem Handy an, sonst morgen! Dringend! Gruß, Helen.

Jessica griff zum Hörer und lächelte. Typisch Helen. Die temperamentvolle Rothaarige war ihre beste Freundin und ein Nachtvogel. Wie Obelix, nur unvergleichlich attraktiver, schien sie als Kind in einen Zaubertrank gefallen zu sein und über unerschöpfliche Energiereserven zu verfügen. Schlaf war eines dieser Dinge, die Normalsterbliche brauchten, auf die Helen aber offenbar verzichten konnte.

Jessica lächelte und tippte die Nummer ihrer Freundin ein. Ein Gespräch mit Helen war genau das, was sie in ihrer trüben Stimmung jetzt brauchen konnte.

Helen nahm sofort ab. »Jessica? Du bist wirklich noch wach? Sag nicht, du warst ausnahmsweise im Kino oder vielleicht sogar in einem Pub?« Sie lachte fröhlich.

»Wo denkst du hin?« Jessica grinste. »So etwas tue ich doch nur, wenn du mich aus dem Haus zerrst. Nein, nein, ich habe noch gearbeitet. Los, erzähl! Was ist denn so wichtig, daß es nicht bis morgen warten kann?« Sie freute sich auf eine unterhaltsame Story aus Helens turbulentem Liebesleben.

»Ich bin gerade bei Jake und habe in einer von seinen Immobilienzeitschriften geblättert, als er unter der Dusche war«, erwiderte Helen. »Du glaubst nicht, was ich dort gefunden habe.«

Jessica nahm das Telefon und kuschelte sich auf ihr Sofa. Wenn Helen einmal ins Plaudern kam, konnte es eine Weile dauern. »Schieß los!«

»Also, paß auf! Ich lese es dir vor: Mutiger Gast für einen Winter in Venedig gesucht. Geboten: Freie Logis in einem unbewohnten Palazzo mit friedlichem Hausgeist. Gesucht: Zuverlässiger Bewohner, der sich in der feuchten Jahreszeit um Haus und Inventar kümmert.« Helen machte eine kleine Pause, bevor sie aufgeregt fortfuhr. »Ist das nicht Wahnsinn? Das ist doch genau das Richtige für dich. Du könntest in aller Ruhe deine Arbeit beenden, dazu noch einen wunderbaren Urlaub in der romantischsten Stadt der Welt verbringen, und du kämest endlich mal raus. Außerdem – wer weiß, was sich sonst noch alles daraus ergeben kann? Und als i-Tüpfelchen sprichst du doch auch Italienisch. Wenn ich hier nicht meinen Job und Jake hätte, würde ich selbst dort anrufen.« Helen war vor Begeisterung ein bißchen außer Atem.

Im Hintergrund hörte Jessica eine tiefe Stimme, dann kicherte Helen. »Ich muß jetzt Schluß machen. Hier steht eine Telefonnummer, die gebe ich dir mal.«

»Halt! Warte! Ich brauche noch die Adresse und überhaupt…«, rief Jessica in den Hörer. »Von wann ist denn die Zeitschrift? Es gibt für so ein Wahnsinnsangebot doch bestimmt Tausende von Interessenten.«

»Oh, die Zeitung ist schon zwei Wochen alt, aber…« Jessica hörte ein Rascheln und wieder ein ersticktes Kichern. »Nein bitte!«, lachte Helen. »Noch fünf Minuten, Jake.«

Jessica ertappte sich dabei, daß sie eine Gondel auf den Notizblock kritzelte. »Das sollte doch bestimmt nur ein Scherz sein. Venezianischer Palazzo mit Hausgeist! Da hat irgend jemand zu viele schlechte Filme gesehen.«

»Das glaube ich nicht. Bei den horrenden Anzeigenpreisen in Buildings und Budgets kann das kein Witz sein. Versuch’s doch einfach mal! Ein Anruf schadet ja nichts. Sie können nicht mehr als nein sagen. Und wenn’s klappt… Stell dir mal vor: Ein Winter in Venedig. So, meine Süße, ich muß jetzt wirklich langsam Schluß machen. Hast du etwas zu schreiben?«

Jessica notierte sich die Telefonnummer mit einer italienischen Vorwahl, legte den Hörer auf und klappte ihr Sofa zu einem schmalen Bett aus. Vielleicht sollte sie wirklich morgen einfach anrufen. Helens Ideen waren zwar immer unkonventionell, aber auf den zweiten Blick selten so verrückt, wie sie anfangs wirkten.

Jessica zog ihre Decke bis zum Hals und schlug sie unter den Füßen um. Der Gedanke an Venedig ließ sie nicht mehr los. Selbst ein Hausgeist wäre besser, als noch ein Winter in dieser schäbigen Wohnung.

*

Ein Trommeln, als würden Finger vor die Scheibe klopfen, weckte Jessica, als es noch dunkel war. Mit rasendem Herzschlag setzte sie sich auf. Nach einem Blick aus dem Fenster, vor dem auf Kopfhöhe dicke Tropfen auf den dunkelgrau glänzenden Asphalt prasselten, atmete sie tief ein, bis sie ruhiger geworden war. Das Wetter sah aus, als würde es heute überhaupt nicht mehr hell werden. Donnernd fuhr ein Lastwagen vorbei und schleuderte das Wasser einer Pfütze bis an die Scheiben.

Jessica drehte sich seufzend um und zog die Decke über den Kopf, doch irgendein Gedanke bohrte in ihrem Unterbewußtsein und hielt sie wach, bis er wie eine Luftblase in einem Honigglas an die Oberfläche gestiegen war.

Venedig!

Jessica setzte sich auf, griff nach dem Telefon und dem Zettel auf dem Nachttischchen und wählte die Nummer. Ihr Blick fiel auf ihren Wecker. Sieben Uhr. Vielleicht war es noch zu früh. Nach viermaligem Klingeln legte sie die Hand auf die Gabel, doch bevor sie die Verbindung unterbrechen konnte, hob jemand auf der anderen Seite ab.

»Si?«

Überrascht von der zarten Stimme, die aus dem Hörer klang, kramte Jessica vergeblich nach ihrem verschütteten Italienisch. »Oh, hallo, ich bin Jessica Albright.« Sie hätte mit dem Anruf bis nach der ersten Tasse Kaffee warten sollen.

»Hallo? Wen möchten Sie sprechen?« Die offenbar junge Frau am anderen Ende der Leitung sprach nun ebenfalls Englisch, fließend, allerdings mit einem weichen Akzent, der Jessica eher spanisch als italienisch vorkam.

»Entschuldigen Sie die frühe Störung. Ich habe Ihr Inserat gelesen.«

»Inserat«, wiederholte die Stimme vage fragend und ließ die letzte Silbe in der Luft hängen, als wüßte sie nicht, wovon Jessica sprach.

»Ja, die Anzeige stand vor zwei Wochen in der in der englischen Ausgabe von Buildings und Budgets. Es wird dort nach einem Bewohner für einen Palazzo in Venedig gesucht, der sich in den Wintermonaten darum kümmert. Äh, ja, und von einem Hausgeist war die Rede.« Jessica lachte unsicher, um das Schweigen im Hörer zu überbrücken.

Nach einer Pause antwortete die junge Stimme. »Ja, natürlich. Es geht um das Haus meines Schwagers. Wir wohnen selbst nicht dort. Unser Palazzo liegt am Canale Grande. Die Anzeige hat mein Mann aufgegeben, aber das ist schon länger her, und inzwischen…« Sie unterbrach sich, und als sie weiter sprach, klang ihre Stimme plötzlich abweisend. »Es tut mir leid, ich kann Ihnen leider nicht weiterhelfen. Rufen Sie bitte später noch einmal an.«

»Wann wäre es denn günstig?« fragte Jessica schnell.

»Ich weiß es nicht. Vielleicht in einer Stunde.«

Bevor Jessica sich verabschieden konnte, knackte es, und die Verbindung war unterbrochen. Verwirrt nahm sie den Hörer vom Ohr und blickte ihn an, als könnte er ihr eine Erklärung für das seltsam unfreundliche Verhalten der Italienerin bieten, dann legte sie ihn langsam zurück auf die Gabel.

Entweder hatte die junge Frau ihr wirklich nichts Näheres sagen können, oder ihr gefiel die Idee nicht, daß eine Fremde im Palazzo wohnen sollte. Oder sie hatte einfach einen schlechten Tag. Nun, sie würde es später noch einmal versuchen, aber vielversprechend war das Gespräch nicht gerade gewesen.

Jessica stand auf und kochte sich einen starken Kaffee. Mit der Tasse in der Hand stöberte sie nach etwas Eßbarem. Das Manuskript hatte sie gestern so gefesselt, daß sie das Einkaufen ganz vergessen hatte. Ein Blick in den Kühlschrank zeigte nur drei Scheiben Toast, eine harte Käseecke und ein Stückchen Butter, bei dem die äußere Schicht bereits glasig geworden war, aber selbst das karge Mahl lockte Jessica mehr, als ein Gang durch den Regen, der noch immer schwallweise gegen die Fenster klatschte.

Von den vorüberhastenden Menschen konnte Jessica nur die Beine bis hinauf zu den Knien sehen. Im Sommer wirkten die bunten Sandalen der Frauen manchmal wie Konfetti auf dem dunklen Pflaster, doch heute war das bevorzugte Schuhwerk eindeutig ein dunkler, fester Winterstiefel.

Jessica spülte das kümmerliche Frühstück mit schwarzem Kaffee herunter und griff nach dem Manuskript von Juan Madras-Galzon, dem Autor der Horrorgeschichte, an deren Übersetzung sie in den nächsten Wochen arbeiten würde.

Zum ersten Mal seit fast hundert Jahren drang ein Geräusch durch ihren Schlaf. Ein dumpfes, rhythmisches Schlagen wie von Kriegstrommeln ließ ihre Glieder zucken, doch noch immer lagen dicke schwarze Wolken über ihrem Bewußtsein. Aber nun würde es nicht mehr lange dauern.

Jessica stellte sich das Grauen vor, wie es durch die dunklen, nebelverhangenen Kanäle Venedigs schlich. Die Serenissima, die ebenso durch ihren märchenhaften Liebreiz bezaubern wie durch eine fast mystische Szenerie fesseln konnte, wäre eine passende Kulisse für die Arbeit an diesem schaurigen Roman.

Jessica blickte auf die Uhr, es war fast neun. Nach kurzem Zögern drückte sie die Wiederholungstaste des Telefons. Ein plötzliches Frösteln ließ sie die dicke Strickjacke enger um den Körper ziehen. Fast wünschte sie, daß niemand abheben würde, doch bevor sie auflegen konnte, ertönte wieder das melodische »Si?«

»Hier ist noch einmal Jessica Albright. Ich…«

»Einen Moment bitte. Ich sage meinem Mann Bescheid.« Ein Klappern zeigte, daß der Hörer auf eine harte Unterlage gefallen war. Hatte Jessica sich getäuscht oder war die junge Frau wieder deutlich kühler geworden, als sie die Anruferin erkannt hatte?

»Signora Albright?« Eine männliche Stimme schnarrte an Jessicas Ohr. Der Mann hörte sich deutlich älter an als seine Frau. Aber vielleicht handelte es sich ja auch um seine Tochter.

»Signorina Albright«, verbesserte sie automatisch. »Ich rufe wegen Ihrer Anzeige in Buildings und Budgets an. Suchen Sie noch einen Bewohner für den venezianischen Palazzo oder ist die Stelle bereits vergeben?«

Der Mann lachte leise. »Nun, Palazzo hört sich großartiger an, als die Ca’ Florentina wirklich ist. Aber ja, wir suchen noch jemanden. Mein Name ist Stefano di Foscari. Das Haus gehört meinem Bruder Niccolo, der es leider zur Zeit nicht bewohnt. Von wo aus rufen Sie an? Ich habe so ziemlich überall inseriert, aber außer Ihnen hat sich kaum jemand gemeldet.« Stefano di Foscari sprach fließend Englisch, wenn auch mit einem harten Akzent.

»Ich rufe aus London an, Notting Hill. Ist es wirklich richtig, daß Sie kostenfreies Wohnen anbieten und als einzige Gegenleistung erwarten, daß ich mich um das Haus kümmere, oder sind auch noch irgendwelche Arbeiten zu erledigen?«

»O nein, nein, Signorina Albright, keine Arbeiten. Sie haben nichts zu tun, außer zu lüften und ein wenig nach dem Rechten zu schauen. Zum Putzen kommt eine Frau aus der Stadt. Sie würden ganz allein in der Ca’ Florentina wohnen. Aber das Haus ist nicht so idyllisch, wie Sie vielleicht denken. Der Palazzo ist recht klein und nicht sehr gut erhalten. Zwar noch nicht direkt baufällig, aber noch ein oder zwei Winter mehr, in denen er leer stünde, und er wäre es. Außerdem…« Wieder drang sein melodisches Lachen durch den Hörer, aber diesmal klang es ein wenig bemüht. »Es wird behauptet, daß es in dem Haus spukt.«

»Dann war das also kein Scherz in Ihrer Anzeige?« fragte Jessica, unsicher, ob sie gerade auf einen Witzbold hereinfiel, der sich später vor Lachen ausschütten würde.

»Nein, keineswegs. Darum ist auch nicht ganz einfach, einen Bewohner zu finden, gerade für die die dunklen Wintermonate. Ich selbst habe sie zwar noch nicht gesehen, aber die meisten Gäste der Ca’ Florentina sind ihr schon begegnet.«

»Der Geist ist eine Sie?«

Stefano di Foscari räusperte sich, bevor er fortfuhr. »Ach, es gibt da eine alte Geschichte… Aber das kann ich Ihnen erzählen, wenn Sie hier sind. Falls Sie Interesse haben, schlage ich vor, daß Sie mir möglichst bald einige Informationen zu Ihrer Person zusenden. Wenn dann nichts dagegen spricht, würde ich mich sehr freuen, wenn Sie in diesem Winter die Hüterin der Ca’ Florentina werden würden.«

Seine Worte hörten sich an, als hätte sie sich um den Posten einer Priesterin beworben. Das Schweigen im Hörer kam Jessica erwartungsvoll vor, auf eine seltsame Weise fast unheimlich. Merkwürdig, daß sich noch niemand anderes gefunden hatte. »Es wäre wunderbar, wenn es klappen würde. Ich kann jederzeit nach Venedig kommen. Ich bin selbständige Übersetzerin und brauche einen ruhigen Ort, um ungestört zu arbeiten.«

»Je eher, desto besser.«

*

»Hast du alles, Schätzchen? Wenn irgend etwas fehlt, ruf mich an, und ich bringe es dir persönlich nach Venedig. Wenn nicht, komme ich spätestens am ersten Weihnachtstag zu Besuch.« Helen küßte Jessica auf beide Wangen und blieb winkend zurück, als ihre Freundin die Sicherheitskontrolle am Flughafen passierte.

Nachdem das Flugzeug abgehoben hatte, zog Jessica einen Reiseführer von Venedig aus der Tasche. Seit vielen Jahren schwärmte sie schon von der Stadt. Sie war bereits oft dort gewesen und hatte jede Menge Lektüre dazu verschlungen, doch es gab noch immer viel Neues zu entdecken. Zuerst schlug Jessica im Register nach, doch wie erwartet, fand sie weder etwas über die Familie di Foscari noch die Ca’ Florentina. Dafür jede Menge über Dogen, Kunstschätze und bedeutende Palazzi. Wenn die Ca’ Florentina ein echter Palazzo war, mußte das Haus schon einige hundert Jahre alt sein. Hoffentlich gab es dort inzwischen Telefon, Licht und Zentralheizung.

Erst jetzt fiel Jessica auf, daß sie Stefano di Foscari zwar mit genauen Informationen zu ihrem Leben versorgt hatte, aber von ihm noch nicht sehr viel erfahren hatte. Doch es gab nun mal Angebote, die so verlockend waren, daß man einfach zuschlagen mußte.

Jessica steckte seufzend den Reiseführer zurück in die Tasche und holte eine italienische Grammatik heraus, um ihre Sprachkenntnisse aufzufrischen.

Plötzlich fühlte Jessica sich ganz verlassen. Sie wunderte sich über ihre gedrückte Stimmung. Vor ihr lag ein Winter in der vielleicht schönsten Stadt der Welt. Während ihres Studiums hatte sie monatelang Südamerika und Australien bereist, ohne sich einsam oder heimatlos zu fühlen. Was sollte nun also dieser Anfall von Angst vor der fremden Stadt? Wenn es ihr in dem Palazzo nicht gefiel, würde sie einfach wieder zurückfliegen. Also, was konnte ihr schon passieren?

*

Als die Alitalia-Maschine auf dem Landeanflug über Venedigs Flughafen Marco Polo kreiste, war Jessica wieder einigermaßen guter Laune. Während die Maschine zur Landung ansetzte, versuchte sie, ihre Frisur und ihre Kleidung einigermaßen in Ordnung zu bringen. Sie wollte gut aussehen, wenn sie den Flughafen verließ. Normalerweise verzichtete sie auf solche Eitelkeiten, und sie hatte das Glück, es tun zu können, ohne daß es ihrem Aussehen abträglich war. Der Wind, der um den Flughafen blies, würde ihre Frisur sowieso in ein Chaos verwandeln, egal, wie gut sie sich jetzt kämmte. Doch Jessica hatte das Gefühl, sich der altehrwürdigen Stadt mit einem annehmbaren Äußeren präsentieren zu müssen.

Zusammen mit den anderen Paßagieren ging sie zur Gepäckausgabe, wuchtete ihre beiden Rollkoffer vom Band und zog sie bis zur Bushaltestelle vor dem Flughafengebäude. Wieso hatte sie so viel Gepäck mitgebracht? fragte sie sich ärgerlich. Sie würde wahrscheinlich wie meist nichts anderes tragen als Jeans, Pullover und Anorak.

Fluchend schob sie die bleischweren Koffer in das Gepäckfach des Busses. Noch wenige Minuten Fahrt und sie wäre endlich an der Anlegestelle der Vaporetti, der öffentlichen Wassertaxis nach Venedig. Eigentlich hätte sie erwartet, daß Stefano di Foscari sie abholen würde, doch er hatte ihr letztes Telefonat mit einem knappen »Sie werden den Palazzo Foscari schon finden, direkt am Canal, ganz in der Nähe der Anlegestelle San Biasio« beendet.

Die meisten der Passagiere scharten sich gegen den scharfen Wind am Anlegeplatz zusammen und warteten auf ein Vaporetto oder eine der Motorgondeln, die ebenfalls als Taxis zwischen dem Flughafen und der Hauptinsel über die Lagune fuhren.

Einen kurzen Moment lang wünschte Jessica, sie könnte mit den anderen Touristen tauschen, einfach einige unbeschwerte Urlaubstage in Venedig verbringen und dann wieder in ein glückliches Leben zurückkehren. Doch seitdem Stewart vor zwei Jahren bei einem Autounfall gestorben war, drei Wochen vor ihrer Hochzeit, hatte Jessica das Gefühl, daß mit ihm jedes Glück aus ihrem Leben verschwunden war.

Auch wenn sie mittlerweile wieder lachen konnte, fand sie keinen Anschluß mehr an ihr fröhliches, unbeschwertes Leben vor Stewarts Tod. Sie hatte sich in den letzten Jahren von allen Freunden zurückgezogen und wie ein krankes Tier verkrochen. Nur Helen hatte es geschafft, die Mauer ihrer Einsamkeit zu durchbrechen.

Jessica schüttelte den Kopf, um die trüben Gedanken zu vertreiben und richtete ihren Blick wieder auf die Lagune. In der Ferne konnte sie im Dunst die Ufer der Giudecca erkennen. Motorboote, Gondeln, Wasserbusse und schwere Lastkähne kreuzten auf dem bleigrauen welligen Wasser. Aus der Wasseroberfläche ragten verwitterte Holzpflöcke und begrenzten die Fahrrinne.

Plötzlich entschied Jessica, einmal etwas Verrücktes zu tun. Auch wenn es sie ein kleines Vermögen kosten würde, würde sie nicht mit dem öffentlichen Wasserbus, sondern in einer der langen, lackierten Motorgondeln in die Lagune rauschen, vorbei an bröckelnden Inselchen, bis die Stadt selbst am Horizont auftauchen würde.

Obwohl die Fahrt Jessicas Magen etwas in Aufruhr versetzte, war sie wie immer ein wunderbares Erlebnis, vor allem, als die Sonne durch die Wolkendecke brach. Der Fahrer, angemessen in Kappe, rotes Halstuch und eine schwarze, wattierte Jacke gekleidet, manövrierte das Boot geschickt und geschwind die Fahrrinne entlang, die von uralten, aus der Wasseroberfläche ragenden Holzpflöcken markiert war. Abgesehen von dem obligatorischen Zuzwinkern und dem zähneblitzenden Lächeln, als er ihr beim Einsteigen half und ihre Koffer verstaute, schenkte er Jessica kaum Beachtung. Sein Mitfahrer war eher dazu aufgelegt, sich die Zeit mit einer Plauderei zu vertreiben.

Sein Gesicht war verwittert wie ein altes Stück Treibholz und sein Alter unbestimmbar, aber sicher über siebzig. Er war klein und sein Haar so grau, daß Jessica sich eine andere Farbe nicht mehr vorstellen konnte. Sein Gebiß saß so schlecht, daß es bei jedem Wort gefährlich klapperte. Und doch wirkte er, als könnte er noch immer einen Ochsen stemmen.

Er setzte sich neben Jessica und lächelte sie klappernd an. »Machen Sie Urlaub in Venedig?«

Als er begeistert feststellte, daß Jessica Italienisch sprach, war kein Halten mehr. Ob sie lange bleibe, ob sie schon einmal in Venedig gewesen sei, ob sie hier – an dieser Stelle zwinkerte er ihr vielsagend zu – jemanden treffe.

Jessica antwortete geduldig auf alle Fragen. Er wirkte so ehrlich interessiert, daß sie nichts gegen seine Neugier einzuwenden hatte. Er sei, erzählte er stolz, der Besitzer der Gondel und habe sein gesamtes Leben als Gondoliere in Venedig verbracht. Er selbst sei jetzt zu alt zum Arbeiten, aber er begleite seinen Sohn, der sein Geschäft übernommen habe, ab und zu gern bei der Arbeit.

Jessica sah über das funkelnde, schimmernde Wasser hinüber zu der Insel Burano zu ihrer Linken. Sie sah Seemöwen, die sich im Wind tummelten, und entdeckte in der Ferne einen Öltanker, der friedlich aufs offene Meer hinaustuckerte. Das Boot zog auf seinem Weg zur Stadt eine seidige Spur durch das dunkelgrüne Wasser der Lagune.