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Der Liebesroman mit Gänsehauteffekt begeistert alle, die ein Herz für Spannung, Spuk und Liebe haben. Mystik der Extraklasse – das ist das Markenzeichen der beliebten Romanreihe Irrlicht: Werwölfe, Geisterladies, Spukschlösser, Hexen und andere unfassbare Gestalten und Erscheinungen erzeugen wohlige Schaudergefühle. Der gläsern blaue Himmel versprach einen herrlichen Sommertag, aber hier, in den Schatten des Gartens, war es zu der frühen Stunde noch kühl. Elizabeth schauderte. Ihre Augen schweiften zu dem prunkvollen Palazzo, dessen Fenster im ersten Morgenlicht starrten wie tote Augen. Plötzlich verspürte sie den Drang, wieder hineinzugehen. Doch ihr Stolz hielt sie davon ab, ihrer seltsamen Angst nachzugeben. Sie würde ihren morgendlichen Gang durch den Garten nicht abbrechen, nur weil sie sich einen Augenblick lang bedrückt und furchtsam fühlte. Außerdem wollte sie Rosen als Schmuck für den Salon schneiden, bevor ihre Gäste sich versammelten. »Ach, Cara, gönn' dir doch die kleine Schwäche. Bestimmt wartet drinnen schon Luisa mit dem Kaffee.« Erschrocken drehte Elizabeth sich um. Es war Bartholomeos Stimme gewesen, mit dem leisen Lachen, das seine Worte begleitet hätte, wenn er bei ihr gewesen wäre. Seit seinem Tod vor acht Jahren hörte sie seine geliebte Stimme immer wieder und war sich nicht sicher, ob ihr Alter langsam seinen Tribut forderte und ihr Geist sich verwirrte, oder ob ein Teil von ihm wirklich noch an ihrer Seite weilte. Dies war einer der wenigen Punkte gewesen, in dem sie nie einer Meinung gewesen waren. Bartholomeo hatte an ein Leben nach dem Tod geglaubt, und sein Trost bei seiner schweren Krankheit war die Gewißheit gewesen, daß sie irgendwann wieder vereint sein würden. Doch Elizabeth war überzeugt, daß nach dem Tod alles vorbei sein würde. Es war deshalb fast ein Schock für sie gewesen, als sie nach Bartholomeos Tod noch immer seine Nähe fühlte. Das war typisch für diesen hartnäckigen Kerl. Noch aus dem Grab heraus versuchte er ihre Überzeugung zu ändern, dachte sie mit einem Lächeln. Dann lachte sie laut auf und schüttelte den albernen Gedanken ab. Ach was, pure Einbildung, kein Wunder nach fünfzig Jahren Ehe, es dauerte nun mal seine Zeit, sich ans Alleinsein zu gewöhnen.
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Seitenzahl: 175
Veröffentlichungsjahr: 2015
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Der gläsern blaue Himmel versprach einen herrlichen Sommertag, aber hier, in den Schatten des Gartens, war es zu der frühen Stunde noch kühl. Elizabeth schauderte. Ihre Augen schweiften zu dem prunkvollen Palazzo, dessen Fenster im ersten Morgenlicht starrten wie tote Augen. Plötzlich verspürte sie den Drang, wieder hineinzugehen. Doch ihr Stolz hielt sie davon ab, ihrer seltsamen Angst nachzugeben. Sie würde ihren morgendlichen Gang durch den Garten nicht abbrechen, nur weil sie sich einen Augenblick lang bedrückt und furchtsam fühlte. Außerdem wollte sie Rosen als Schmuck für den Salon schneiden, bevor ihre Gäste sich versammelten.
»Ach, Cara, gönn’ dir doch die kleine Schwäche. Bestimmt wartet drinnen schon Luisa mit dem Kaffee.« Erschrocken drehte Elizabeth sich um. Es war Bartholomeos Stimme gewesen, mit dem leisen Lachen, das seine Worte begleitet hätte, wenn er bei ihr gewesen wäre. Seit seinem Tod vor acht Jahren hörte sie seine geliebte Stimme immer wieder und war sich nicht sicher, ob ihr Alter langsam seinen Tribut forderte und ihr Geist sich verwirrte, oder ob ein Teil von ihm wirklich noch an ihrer Seite weilte.
Dies war einer der wenigen Punkte gewesen, in dem sie nie einer Meinung gewesen waren. Bartholomeo hatte an ein Leben nach dem Tod geglaubt, und sein Trost bei seiner schweren Krankheit war die Gewißheit gewesen, daß sie irgendwann wieder vereint sein würden. Doch Elizabeth war überzeugt, daß nach dem Tod alles vorbei sein würde.
Es war deshalb fast ein Schock für sie gewesen, als sie nach Bartholomeos Tod noch immer seine Nähe fühlte. Das war typisch für diesen hartnäckigen Kerl. Noch aus dem Grab heraus versuchte er ihre Überzeugung zu ändern, dachte sie mit einem Lächeln. Dann lachte sie laut auf und schüttelte den albernen Gedanken ab. Ach was, pure Einbildung, kein Wunder nach fünfzig Jahren Ehe, es dauerte nun mal seine Zeit, sich ans Alleinsein zu gewöhnen. Entschlossen drehte sie den schützenden Mauern den Rücken, ergriff einen flachen Korb und ging tiefer in den Garten hinein.
Der Palazzo befand sich seit fünfhundert Jahren im Besitz der Familie, seit Bartholomeos Vorfahre, der Doge Domenico de Sanctis ihn am Ufer des Canal Grande unweit der Ponte dei Scalzi hatte erbauen lassen
Aber auch wenn Elizabeth den prachtvollen Palazzo vom ersten Augenblick an geliebt hatte, war der Garten bei ihrer Ankunft aus England ein Bild des Jammers gewesen. In Venedig hielten die meisten Menschen schon einen Blumentopf für den Gipfel der Natur, und wie in vielen venezianischen Gärten wucherten auch im Garten des Palazzo de Sanctis nur einige Lorbeersträucher und Koniferen vor sich hin und fleckten das kümmerliche Grün mit ihren Schatten. Also hatte Elizabeth vor nunmehr zweiundfünfzig Jahren das Gelände nach englischem Vorbild gestaltet.
Von hohen Mauern umschlossen lag der Garten an der Rückseite des Palazzos. Eine eiserne Pforte öffnete sich in eine schmale Gasse. Sie wurde viel genutzt, da der Palazzo von der Vorderseite her nur mit einem Boot erreichbar war.
Die grünen Schatten des Gartens hatten Elizabeth getröstet, wenn sie an manch heißem Tag das Heimweh nach dem Land ihrer Kindheit überfallen hatte. Ihr größter Stolz waren stets die Rosensträucher gewesen, die in Venedig inzwischen fast ebenso berühmt waren, wie der Palazzo selbst. Elizabeth liebte den Garten und hatte schon oft seine Geborgenheit gesucht, um getröstet zurückzukehren.
Heute allerdings gab es kaum Trost. Das, was sie tun mußte, wenn sie nicht ihre Ehre und Selbstachtung verlieren wollte, würde sich verheerend auswirken – auf sie selbst, doch vor allem auf andere Menschen und alles, was sie geschaffen hatte. Auch der Aufenthalt zwischen ihren geliebten Blumen würde daran nichts ändern.
Das lange schwarze Kleid der Contessa streifte die Büsche. Sie zupfte hier ein Blatt, schnitt dort eine Blüte, ihr weißes Haar und das schmale, noch immer schöne Gesicht erhoben. Wie eine Liebkosung legte sich die Sonne auf ihre Haut.
Sie haßte es, Menschen zu verletzen, die sie liebte. Aber vielleicht würde alles nicht ganz so entsetzlich werden, wie sie befürchtete. In der Nähe knackte ein Zweig, doch sie achtete nicht darauf. Dann, ganz plötzlich, kehrte die Angst zurück.
»Bartholomeo«, war ihr letzter Gedanke, bevor der Stein ihre Schädeldecke zertrümmerte.
*
Jessica Darrington knallte den Brief ihrer Großmutter so heftig auf den Küchentisch, daß der Kaffee überschwappte. Warum konnte Elizabeth ihr keine Einladung schicken, anstatt – wie immer jeder Zoll eine Contessa de Sanctis – mit knappen Worten zu befehlen?
Ich muß umgehend mit Dir reden. Nimm die nächste Maschine nach Venedig! stand in Elizabeths ausladender Schrift auf dem weißen Blatt.
Nur zaghaft stahl sich ein Funken Freude durch Jessicas Ärger. Trotz ihrer Streitereien liebte sie ihre Großmutter und die Besuche bei ihr in Venedig. Seit dem Tod des Conte beherbergte Elizabeth in ihrem Palazzo stets eine bunte Schar Gäste, doch über Jessicas Anwesenheit freute sie sich stets ganz besonders.
»So alt, und sie kennt noch immer nicht das Wort bitte. Einen Teufel werde ich tun. Immerhin wurde mittlerweile für dringende Gespräche schon das Telefon erfunden«, murmelte Jessica wütend.
Sie würde ihre Großmutter anrufen und ihr mitteilen, daß sie die Galerie während der nächsten vier Wochen nicht verlassen könnte. Dann würden sie sich auf einen Termin in der Mitte einigen, das wäre dann wohl für beide mit ihrem Stolz vereinbar. Außerdem würde Daniel ihr so kurzfristig keinen Urlaub geben.
Daniel Gifford war der Inhaber der Galerie Daniel & Daniel, in der Jessica arbeitete. Angesichts des Bartholomeo-de-Sanctis-Museums, das Elizabeth als Gedenkstätte für ihren verstorbenen Mann gegründet hatte, und des beachtlichen Vermögens, das die Contessa in Kunst investierte, würde er ihr verdrießlich einen Sonderurlaub gewähren.
Daniel schätzte die Contessa, und auch wenn ihn eine wortlose Feindschaft mit Dr. Paolo Valier, dem Leiter des Bartholomeo-de-Sanctis-Museums verband, hatte Daniel dort im letzten Jahr eine Ausstellung mit modernen italienischen Künstlern organisiert.
Zufrieden mit ihrem Entschluß und von leiser Vorfreude auf den unerwarteten Urlaub erfüllt, griff Jessica nach ihrer Jacke und machte sich auf den Weg in die Galerie.
*
»Galerie Daniel & Daniel, guten Tag.« Jessica war stolz, daß sie mit einem Mund voller Tunfischsandwich so deutlich sprechen konnte.
»Jessica? Hier ist Paolo.« Er räusperte sich und sog hörbar die Luft ein, bevor er fortfuhr. »Elizabeth ist tot.«
Jessica verschluckte sich und hustete, bis ihr die Tränen in die Augen traten. »Was? Das kann nicht sein. Ich habe vorhin einen Brief von ihr bekommen.«
»Sie ist erst heute morgen gestorben. Sie muß gestürzt sein. Luisa hat sie gefunden.«
»Um Himmels willen! Wie ist das passiert?«
»Sie …« Seine Stimme brach ab. »Ich weiß selbst nichts Genaues. Ich habe gerade erst den Anruf von Luisa bekommen. Ich bin zurzeit selbst in London, ich wollte einen Tintoretto ersteigern.«
»Oh, das tut mir so leid, Paolo.« Jessica sprach so sanft wie möglich. Seit Bartholomeos Tod stand Paolo Valier der Contessa näher als jeder andere Mensch. Und sie vermutlich ihm, da er trotz seines umwerfenden Aussehens keine Frau an seiner Seite hatte.
Seit Jessica denken konnte, lebte Paolo in der Ca’ de Sanctis. Nachdem die eigenen Kinder der de Sanctis Italien verlassen hatten, hatte Paolo die Stelle eines Sohnes eingenommen. Elizabeth hatte ihn zu dem gemacht, was er war. Sie hatte seine Ausbildung gezahlt, ihn gefördert und nach Bartholomeos Tod das Museum gegründet, von dem Paolo immer geträumt hatte.
Erst jetzt drang der Inhalt von Paolos Worten mit Wucht in Jessicas Bewußtsein. Plötzlich sah sie die stolze alte Dame mit dem zierlichen Körper vor sich, sah, wie Blut von der Farbe der Rosen in ihrem Korb ihr weißes Haar färbte, sah, wie ihre Knie einknickten und sie zur Seite fiel.
Jessica schüttelte den Kopf um die Bilder zu verscheuchen. Hatte sie sich das eingebildet? Was sonst? Aber die Bilder waren so real gewesen. »Du hattest doch gesagt, daß sie im Rosengarten gestorben ist, oder?«
Ein kurzes Schweigen folgte, bevor Paolo antwortete. »Äh, nein, ich glaube nicht. Wieso? Hat dir schon jemand von dem Unfall erzählt?«
»Nein.«
»Wie also…?« Er unterbrach sich und zögerte, bevor er in schärferem Ton fortfuhr. »Für jemanden, der sich in letzter Zeit kaum um Elizabeth gekümmert hat, war das eine erstaunlich exakte Vermutung.«
»Was soll diese dumme Bemerkung? Du weißt, daß ich nicht aus der Galerie weg konnte. Außerdem – so schwer war das gar nicht, Paolo. Ich denke nicht, daß Elizabeth in der letzten Zeit ihre Gewohnheiten geändert hat. Du hast gesagt, der Unfall wäre am Morgen passiert, und morgens ist … war sie üblicherweise im Garten. Wahrscheinlich hab ich es deshalb automatisch angenommen.«
Jessica spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Ihre Großmutter war einer der starrköpfigsten, aber auch lebenslustigsten Menschen gewesen, die ihr je begegnet waren. »Ich komme, sobald ich mit Daniel geredet und eine Vertretung für die Galerie organisiert habe.«
»Das wäre gut. Schließlich bist du ihre Enkelin. Ich fliege heute zurück, wenn du es schaffst, können wir zusammen fliegen.«
*
Daniel zu erreichen, erforderte Zeit und zahlreiche Anrufe. Im Juli und August mied er das von Besuchern überschwemmte London und reiste mit Begeisterung durch die Welt. Es kümmerte ihn nicht, daß er damit selbst zu der von ihm so gehaßten Gruppe der Touristen gehörte, die sich wie Heuschreckenschwärme über die Länder senkten. Schließlich trieb Jessica Daniel in Barcelona auf.
»Was ist los?« erkundigte er sich, ohne sich mit Liebenswürdigkeiten aufzuhalten.
»Elizabeth ist tot«, erwiderte Jessica ebenso direkt.
»Oh verflucht, Jessica, das tut mir leid.« Seine tiefe, leicht heisere Stimme war plötzlich ungewohnt weich. »Was ist passiert?«
»Paolo hat mich angerufen. Er sagte, sie wäre gestürzt. Er war ziemlich am Ende.«
»Kann ich mir vorstellen, damit ist er wieder Mittelmaß. Die Contessa war das einzig Charismatische an ihm.« Wenn die Rede auf Paolo Valier kam, war Daniel noch ruppiger als sonst.
Jessica war mit sechzehn Jahren leidenschaftlich in Paolo verliebt gewesen. Inzwischen hatte sie ihre Gefühle von damals lange überwunden, aber sie ärgerte sich noch immer, wenn Daniel eine seiner Spitzen auf ihren ehemaligen Schwarm abfeuerte.
Einen wundervollen Sommer lang hatte Paolo sie damals auf Anweisung der Contessa durch Venedig geführt, ihr Museen, Kirchen und Palazzi gezeigt. Auch wenn es für ihn nur ein Job gewesen war, weil Jessica mit einer unbedachten Äußerung der Contessa gegenüber ihr absolutes Unwissen auf diesem Gebiet offenbart hatte, war er ein wunderbarer Lehrer gewesen. Doch er hatte Jessica auch deutlich gezeigt, daß sie ihn als Frau in keiner Weise interessierte. Seine Begeisterung galt der Kunst, nicht dem fünfzehn Jahre jüngeren Mädchen. Ein gemeinsamer Sommer hatte sich nie wiederholt. In den folgenden Jahren war er ihren zaghaften Annäherungen aus dem Weg gegangen.
»Ich fliege heute nachmittag nach Venedig«, sagte Jessica. »Wen soll ich als Vertretung nehmen?«
»Erinnern Sie sich noch? Ich bin Ihr Chef, Jessica. Wie wäre es mit einer Frage, wann Ihre Abreise möglich ist? Sie wissen genau, daß es niemanden gibt, dem Sie die Galerie anvertrauen können, wenn wir beide weg sind. Sie müssen warten, bis ich zurück bin. Ich buche für morgen früh einen Flug nach London.«
Jessica spürte, wie ihr Ärger die Vernunft wegspülte. Irgend etwas zog sie mit seltsamer Dringlichkeit nach Venedig. Sie würde sich nicht von Daniel aufhalten lassen. »Ich kann nicht warten. Ich muß heute noch weg. Ich werde hier abschließen und die Alarmanlage einschalten. Für einen Tag kann die Galerie ja wohl einmal geschlossen bleiben. Ich hänge ein Schild wegen Todesfalls geschlossen an die Tür.«
»Warum haben Sie es so eilig? In der letzten Zeit hatten Sie nicht gerade viel mit der Contessa zu tun, und nachdem sie tot ist, geht es Ihnen plötzlich um ein paar Stunden?«
Dafür, daß Daniel Gifford so schlecht zahlte, war er ein wahrer Tyrann, dachte Jessica wütend. Doch sie war nicht seine Leibeigene. Es stimmte sie auch nicht friedlicher, daß er recht hatte. »Das hört sich so an, als wäre ich meinen Job los, wenn ich trotzdem heute fahre.«
Daniel zögerte. »So ungefähr.«
»Selbst für Ihre Verhältnisse ist es ausgesprochen abscheulich, mich zu feuern, wenn meine Großmutter gerade gestorben ist.« Jessica warf den Hörer auf die Gabel.
Sie packte ihre Sachen zusammen und sah sich etwas wehmütig in der Galerie um. Eine meisterhafte Lichtinszenierung erfüllte die ausgestellten Skulpturen mit einem seltsamen Eigenleben. Obwohl sie sie seit Wochen täglich bewunderte, berührten sie Jessica immer noch.
Sie konnte nicht viel Gutes über Daniel Gifford sagen, aber er hatte ein Gespür für neue Talente. Erst vor kurzem hatte er diesen unglaublichen Bildhauer entdeckt, dessen steinerne Skulpturen in Komposition und Proportionen einzigartig waren. Trotz des starren, kalten Materials schienen sie vor Lebendigkeit fast zu vibrieren, und der Künstler hatte moderne Techniken und die Kunst alter Meister zu perfekter Harmonie verbunden.
»Wer ist das?« hatte sie gefragt, als Daniel vor ein paar Monaten Skulpturen von ihm ausgestellt hatte.
»Er nennt sich Vittorio, wie Sie in den Papieren, die auf Ihrem Schreibtisch liegen, lesen können.«
»Hat er auch einen Nachnamen?«
»Steht auch da: Witherspoon.«
Sie grinste in Daniels schmales Gesicht. »Wie originell! Vittorio Witherspoon. Der Künstlername könnte glatt von Ihnen sein.«
Daniel lächelte, ausnahmsweise einmal nicht zynisch, was ihn flüchtig in einen anderen Mann verwandelte. »Der Name ist echt. Seine Mutter ist Italienerin, der Vater Engländer. Er ist gut, was?«
»Er ist unglaublich, das wissen Sie genau. Wo, um alles auf der Welt, haben Sie ihn aufgetrieben?«
»Ach, das war reiner Zufall«, grinste Daniel.
»Neigen Sie plötzlich zur Bescheidenheit oder fürchten Sie, ich könnte ihn mit irgendwelchen Versprechungen abwerben und eine eigene Galerie eröffnen?«
»Ihnen traue ich alles zu.«
Jessica starrte ihren Chef ein paar Sekunden lang an. Meistens, so fand sie, sah er so konservativ und langweilig aus, wie der Anwalt, der er früher gewesen war. Obwohl, wenn sie ehrlich war, mußte sie zugeben, daß seine grünen Augen und sein schwarzes Haar auf eine sehr unenglische Art ausgesprochen attraktiv waren. Auch der durchtrainierte Körper war unter seinen Maßanzügen deutlich zu erkennen. Dennoch hatte sie ihn bisher nie mit einer Frau gesehen. Vermutlich machte er sich nichts aus ihnen. Oder sein mangelnder Charme trieb alle umgehend in die Flucht.
Er unterbrach ihre mißmutigen Überlegungen. »Ich glaube, Ihre Großmutter könnte für ihr Museum an Vittorio interessiert sein.«
Jessica schüttelte nachdenklich den Kopf. »Paolo entscheidet, was ausgestellt wird.«
»Sicher, sicher. Keine Angst, ich will Ihre Ikone nicht übergehen. Aber für mich ist nun mal Ihre Großmutter die Chefin. Valier war ein mittelmäßiger Teilzeitdozent, bis er mit dem Geld der Contessa das Museum einrichten konnte.«
»Und das ist ihm ganz ausgezeichnet gelungen, oder wollen Sie seine Leistung anzweifeln?«
»Mit dem Geld der de Sanctis im Nacken ist das keine Kunst.«
»Na, na, nur kein Neid, Daniel! Manche Leute sind eben gut genug für ein Museum, andere haben eine Galerie. Wenn Sie sich noch immer zu unbedeutend fühlen, sollten Sie die Galerie vielleicht umbenennen und ihren Namen dreimal wiederholen.«
Daniel Giffords grüne Augen blitzten. »Kein Wunder, daß Sie immer noch Single sind.«
Das war ein Schlag unter die Gürtellinie, und er wußte das. Jessica war dreiunddreißig, und ihr Liebesleben erinnerte an ein verdorrtes, brachliegendes Feld. Auch wenn sie kein Bedürfnis hatte, einen Ehemann vorzeigen zu können, um sich aufzuwerten, hatte sie ihre ein Jahr zurückliegende Trennung noch nicht verschmerzt. Noch immer war es ihr entsetzlich peinlich, daß ihr Bild tagelang die Klatschspalten gefüllt hatte, als der bekannte Fernsehmoderator Stephen Pole sie nach drei gemeinsamen Jahren verlassen hatte, um zu seiner Frau zurückzugehen.
»Sie sind einfach nur gemein, Daniel. Ich wünsche Ihnen, daß Vittorio Witherspoon eine völlige Pleite wird.«
Er grinste. »Aber Sie wissen, daß er ein aufgehender Stern ist.«
Sie wußte es.
In Gedanken an diese letzte Szene vor Daniels Abreise, verschwand der Anflug von Wehmut, als sie noch einmal durch die Räume ging. Sie löschte die Lichter der Galerie, hängte ein Schild an die Tür und schloß sorgfältig hinter sich ab.
*
Trotz aller Hektik schaffte es Jessica erst, früh am nächsten Morgen ein Flugzeug nach Venedig zu nehmen. Sie erreichte das Flugzeug, als die Passagiere sich gerade zum Borden drängten. Am Flughafen Marco Polo in Venedig wartete bereits Paolo Valier auf sie, der schon am Vortag angekommen war. Besorgt musterte Jessica seine eingefallenen Wangen und den leeren Blick seiner schwarzen Augen, den dunkelsten, die sie je gesehen hatte. Als Kind hatte sie sich immer ein wenig vor ihm gefürchtet, weil sie nicht einmal seine Pupillen erkennen konnte. Später war sie rettungslos in die dunklen Tiefen gefallen.
Die meisten der Passagiere warteten am Anlegeplatz auf ein Vaporetto oder eine der langen, schwarz lackierten Motorgondeln, die als Taxi zwischen dem Flughafen und der Hauptinsel über die Lagune fuhren. Einen kurzen Moment lang wünschte Jessica, sie könnte mit ihnen tauschen und einfach einige unbeschwerte Urlaubstage verbringen.
Paolo und Jessica gingen an den Touristen vorbei zu einem weißen Motorboot mit dem blaugoldenen Wappen der de Sanctis. Mühelos hob er Jessicas Tasche über die Reling, stieg ein und reichte ihr die Hand. Obwohl sie es durchaus allein ins Boot geschafft hätte, griff sie zu und genoß das vertraute Prickeln, das seine Berührung noch immer in ihr auslöste. Als erste große und vor allem unerfüllte Liebe würde er immer etwas Besonderes für sie bleiben.
Jessica richtete ihren Blick auf die Lagune. In der Ferne konnte sie bereits die Ufer der Giudecca erkennen. Motorboote, Gondeln, Wasserbusse und schwere Lastkähne kreuzten ihren Weg. Vorbei an kleinen Inseln, steuerte Paolo das Boot über das trügerisch sanfte Wasser. Verwitterte Holzpflöcke ragten aus der Wasseroberfläche und begrenzten die Fahrrinne.
»Wie geht es Luisa?« fragte Jessica durch das Motorengeräusch.
Luisa Bon war mit Elizabeth aus England gekommen. Damals hieß sie noch Louise Baggenham und war Elizabeths Zofe.
Von ihren italienischen Vorfahren hatte sie eine unstillbare Sehnsucht nach Sonne und Wärme geerbt und glücklich mit Elizabeth das Land des Dauerregens verlassen. Im Verlauf der Jahre war aus Louise Luisa geworden, und nachdem sie Francesco Bon geheiratet hatte, trug sie auch einen ehrwürdigen venezianischen Familiennamen. Ihr Mann starb drei Jahre später. Luisa nahm ihren kleinen Sohn Sebastiano und kehrte zu Elizabeth zurück.
»Wie soll es Luisa gehen? Schlecht. Sehr schlecht. Die beiden waren seit über fünfzig Jahren zusammen. Außerdem macht sie sich Vorwürfe, weil sie die Nacht bei ihrem Sohn in Dorsoduro anstatt in der Ca’ de Sanctis verbracht hat.« Paolo schwieg, als ein kleines schnittiges Boot sie mit aufjaulendem Motor überholte.
Als es wieder ruhiger geworden war, fuhr er fort. »Elizabeth hatte wie üblich Gäste, aber zuerst hat sie keiner vermißt. Alle dachten, sie hätte bereits gefrühstückt oder würde noch schlafen. Als Luisa zurück war, machte sie sich ein, zwei Stunden lang noch keine Gedanken. Dann begann sie Elizabeth zu suchen und hat sie schließlich neben den Rosen gefunden.«
»Wie konnte sie denn im Garten so heftig stürzen?« fragte Jessica.
»Ich weiß es nicht. Vielleicht ein Schwächeanfall, vielleicht ist sie einfach gestolpert. Auf jeden Fall ist sie mit dem Kopf auf einen der Pflastersteine geschlagen, die die Beete begrenzen«, sagte Paolo heiser. Seine schwarzen Augen glänzten feucht.
»Oh, Paolo! Es tut mir so leid.« Der Fahrtwind kühlte Jessica trockene Wangen. Fast schämte sie sich, ohne Tränen neben ihm zu stehen, obwohl sie Elizabeths Enkelin war.
Seitdem sie denken konnte, hatte sie ihre Sommer in Venedig bei den Großeltern verbracht, meist ohne ihre Mutter, die das italienische Klima nicht sehr gut vertrug und nach ihrem Studium in England nur noch selten zurückgekehrt war. Als ihre Eltern vor einigen Jahren bei einem Autounfall verunglückten, hatte Jessica ein ganzes Jahr im Palazzo gelebt, bevor sie zurück nach London gegangen war.
Zu ihrer Linken zogen jetzt die bunten Häuser von Burano vorbei. Möwen segelten im sanften Abendwind über dem dunkelgrünen Wasser der Lagune. Kurz darauf kamen der Turm von San Marco und der Campanile in Sicht, und sie fuhren in den Canal Grande ein.
Während Jessica auf die Fassaden mit dem bröckelnden Putz blickte, an deren Mauern die Wellen der Boote leckten, fragte sie sich, warum sie nicht um ihre Großmutter trauern konnte. Sie hatte sie wirklich gern gehabt, aber sie war ihr nie wirklich nah gekommen. Elizabeth neigte nicht zu Zärtlichkeiten. Die einzige Ausnahme war ihr Ehemann Bartholomeo gewesen.
Auch Jessica hatte schon oft die Bezeichnung unnahbar gehört. Trotz ihrer ungewöhnlichen Schönheit war sie nie von Männern umschwärmt gewesen. Zwar zog sie stets die Blicke auf sich, aber den meisten Menschen jagte sie mit ihrer direkten Art eher Angst als Zuneigung ein.
Jessica blickte zu Paolo und spürte bei seinem Anblick das vertraute Flattern im Bauch. Auch wenn ihre Verliebtheit seit langer Zeit vorbei war, war er der attraktivste Mann, den sie je außerhalb der Leinwand gesehen hatte. Mittlerweile mußte er fast fünfzig sein, aber nur vereinzelte Silberfäden durchzogen sein volles Haar, und die wenigen Falten um Augen und Mund ließen sein Gesicht mit den hohen Backenknochen nur noch markanter wirkten. Doch heute wirkte er müde und traurig.
Plötzlich rief er durch das Knattern des Motors: »Wie großzügig, daß Daniel dir so schnell frei gegeben hat.«
»Hat er nicht. Ich habe gekündigt.«
»Wieso das denn? Jobs wie deiner liegen nicht gerade auf der Straße.«
Das war Jessica inzwischen auch schon eingefallen, außerdem liebte sie die Galerie Daniel & Daniel und mochte die Künstler, an denen Daniel interessiert war. Genau genommen zahlte er auch nicht viel weniger als andere Galerien.
»Ich konnte seine herrische Art einfach nicht mehr ertragen. Er hat mir verboten zu fahren. Ich sollte warten, bis er zurück wäre.«
»Bis Ende August?«
»Äh, nein, bis morgen.«