Gebt mir etwas Zeit - Hape Kerkeling - E-Book

Gebt mir etwas Zeit E-Book

Hape Kerkeling

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Beschreibung

Hape Kerkeling in Bestform: In seinem neuen Buch setzt er nicht nur entscheidende Etappen seines Lebens fort, sondern taucht tief in die bewegte Geschichte seiner Vorfahren ein. Berührend und mit unvergleichlichem Sinn für Komik erzählt er von seiner Kindheit in den Siebzigern und den Glanzzeiten der TV-Unterhaltung, von Liebe, Vorsehung und dem Goldenen Zeitalter der Niederlande. Er führt in die Anfänge seiner Fernsehkarriere und bis in die Frühzeit der Kerckrings, ins blühende Amsterdam des 17. Jahrhunderts. Verwebt dabei lustvoll Erinnerungen mit Recherchen, eigenes Erleben mit Historie und Ahnenforschung. Und kommt schließlich auch hinter ein unglaubliches Geheimnis, das seine geliebte Großmutter Bertha zeit ihres Lebens umgab.

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Seitenzahl: 417

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© Piper Verlag GmbH, München 2024

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Coverabbildungen: Foto Hape Kerkeling: Susie Knoll; Volgi archive / Alamy Stock Photo; Jürgen Ovens (gemeinfrei); Christie's Images / Bridgeman Images; privat und Shutterstock.com

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

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((Text bei Büchern mit inhaltsrelevanten Abbildungen ohne Alternativtexte))

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Dank

Motto 1

Motto 2

Vorwort

Die Papageien von Amsterdam

Die Kaiserin von Indien

Die sechs Seeschwalben von Sussex

Die Schwestern von der göttlichen Vorsehung

Die blaue Mühle von Polegate

Weißes Gold aus Böhmen

Das Känguru von Köln

Die drei Kreuze und der schwarze Pfahl

Das schwarze Kamel von Lübeck

Die zwei Löwen

Der Ball des Großherzogs

Die Fürstenkrone

Die drei gekrönten Stockfische

Die Boniburg

Der schwarze Schlüssel von Teneriffa

Die drei goldenen Lilien von Paris

Das Schild von Haarlem

Das grüne Feld von Rotterdam

Der aufgerichtete Löwe von Düsseldorf

Die größte Frau der Welt

Die Hüterin der Lebensflamme

Die schönste Frau der Welt

Die Rote Welle Nr. 16

Der zügellose Löwe von Rothesay

Der Papagei von Amsterdam

Die Schweineprinzessin

Die rote Rose von Lancaster

Der Kolonialwarenladen an der Grenze

Pink Century

Schlusswort

Genealogischer Anhang

Anmerkungen und Abbildungsnachweis

Anmerkungen

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Widmung

((Seite 5: Widmung))

Dieses Buch widme ich meinem geliebten Mann,

Dirk Henning.

Dank

((Seite 6: Dank))

Mein besonderer Dank gilt meinem Cousin Reinhard, meiner Cousine dritten Grades Gisela, einer Geburtsurkunde von 1904, die mein Leben auf den Kopf gestellt hat, und dem Internationalen Zentrum über NS-Opfer, Arolsen Archives.

Alle Geschichten in diesem Buch basieren auf wahren Begebenheiten. Die zu den Personen gesammelten Informationen und Daten stammen größtenteils aus Urkunden, Verträgen, Pressemitteilungen oder Urteilen. Manche Geschehnisse haben sich genauso abgespielt, wie ich es beschreibe, andere sind spekulativ und fiktional.

Einige Namen, Charakterisierungen und Orte sind zum Schutz der jeweiligen Personen geändert.

Motto 1

((Seite 7: Motto)

»Gebt mir etwas Zeit«, lautet der Wahlspruch aus dem Jahr 1667 am Haus Herengracht 327 in Amsterdam.

Hier lebte der Hutmacher Cornelis Kerkeling.

Motto 2

((Seite 10, nach dem zweiseitigen Inhaltsverzeichnis und vor dem Vorwort: zweites Motto))

»Beachte drei Dinge, und du kommst nicht zur Sünde: Wisse, woher du kommst, wohin du gehst und vor wem du dereinst Rechenschaft ablegen wirst!«

Aus dem Talmud, mündliche Lehre der Gesetze und religiösen Überlieferungen des Judentums nach der Babylonischen Gefangenschaft

Vorwort

Liebe Leserinnen und Leser,

woher kommen wir?

Jede und jeder Einzelne von uns. Was wäre, wenn wir das wirklich wüssten!? Ohne zu wissen, woher ich komme, wie will ich da sagen können, wohin meine Lebensreise gehen soll? Adoptivkinder können ein Lamento singen von der schwierigen Suche nach der eigenen Identität.

»Wo komme ich her?«, ist also eine der entscheidenden Lebensfragen.

Wenn wir zurückblicken könnten in die tiefste Vergangenheit unserer Vorfahren, was würden wir da über uns selbst entdecken oder gar lernen?

Woher stammen unsere Ahnen? Wer waren sie? Wie haben sie unseren Charakter, unser Schicksal, unser Aussehen, unsere Vorlieben und unsere Persönlichkeitsentwicklung beeinflusst und geprägt? Welche guten oder schlechten Glaubenssätze haben wir von den Vorfahren übernommen? Was können wir heute verändern, und was ist unabänderlich?

DNA-Tests wollen uns diese Abenteuerreise ja heute erleichtern. Dazu benötigt man lediglich einen überschaubaren Geldbetrag, viel Geduld und ganz wenig Spucke. Den komplizierten Rest erledigt nobelpreiswürdige Forschung.

An dieser Stelle soll es übrigens in erster Linie um die positiven Aspekte dieser hochmodernen Wissenschaft gehen. Damit bestreite ich selbstverständlich nicht, dass jede Medaille zwei Seiten hat und man diesen Tests und deren Auswertung nicht unkritisch begegnen darf.

Wie werden die Ergebnisse verwaltet? Wer könnte die Daten eines Tages gar missbrauchen oder Kapital daraus schlagen? Fragen, die unsere Gesellschaft noch beschäftigen werden. Die Abstammung könnte wieder, wie zu Zeiten der Nazis, übel missbraucht und absichtlich fehlgedeutet werden. Wir müssen jetzt schon die Riegel bauen, die zukünftig vorgeschoben werden können, um totalitären Denkern den Zugang zu diesen Daten zu verweigern.

Im Prinzip funktioniert die Sache mit den Genen wie folgt: Man schickt seine Spucke in einem eigens dafür gedachten Plastikröhrchen nach Texas, und sechs Wochen später gewährt einem die Genanalyse einen tiefen Blick in die eigene entwicklungsgeschichtliche Vergangenheit und die der dazugehörigen Vorfahren.

Was auch immer so ein Test dann an Interessantem und manchmal an Fehlerhaftem zutage fördern mag, er wird uns zunächst die große Gemeinsamkeit aller Menschen auf diesem Planeten bestätigen: Unsere Oma kommt aus Tansania!

Das ist völlig unbestritten, unumstößlich und auch gut so.

Die Geschichte mit der Mutter aller Mütter hat sich wahrscheinlich so zugetragen: Nachdem sie einen Schluck Wasser aus einem trüben Tümpel geschöpft, ein geklautes Straußenei ausgeschleckt und eine Handvoll exotischer Beeren zu sich genommen hatte, ist Oma im frühen Morgengrauen der Menschwerdung splitterfasernackt einfach losgelaufen, vom Kilimandscharo aus immer Richtung Norden. So viel ist heute weitgehend sicher.

Vielleicht war es ihr in Afrika einfach zu heiß, oder sie war neugierig? Auf jeden Fall war sie ein fideler Wandervogel. Das habe ich also schon mal definitiv von ihr.

Irgendwo zwischen Kenia und Uganda hat das scheue frühmenschliche und geschlechtsreife Singlewesen dann jedenfalls Opa getroffen. Ob es Liebe auf den ersten Blick war, kann heute niemand mehr mit Bestimmtheit sagen. Anscheinend hat man sich aber einigermaßen verstanden und hoffentlich einvernehmlich die Menschheit gegründet, völlig angstbefreit und ohne Bausparvertrag im Rücken. Irgendein Funke muss jedenfalls bei den beiden afrikanischen Turteltauben übergesprungen sein.

Amerikanische Archäologen haben die Gebeine unserer Urmutter im Jahre 1974 am Äquator ausgebuddelt und ihre Fossilien kurzerhand »Lucy« getauft. Ihre sterblichen Überreste werden auf ein Alter von drei Millionen Jahren geschätzt.[1]

Den Namen Lucy verdankt sie dem Beatles-Lied »Lucy in the Sky with Diamonds«. Während der archäologischen Ausgrabungen dudelte dieser Song angeblich als Untermalung aus einem alten Kassettenrekorder.

Lucy kommt, wie der Zufall es will, aber auch von »Lux«, was lateinisch ist und nichts weniger als »Licht« bedeutet. In Lucys Gestalt erblickten wir alle quasi das Licht der Welt. Insofern hätte man keinen schöneren Namen für diese erste legendäre Urahnin finden können.

Falls Sie mal Blumen auf Omas Grab legen wollen: Der erste Australopithecus afarensis hat seine letzte Ruhestätte im Nationalmuseum von Äthiopien in Addis Abeba gefunden.

Noch mal zum Mitschreiben: Die Urmutter aller Erdbewohner war Afrikanerin. Somit ist jeder Rassist nicht nur ein Unmensch, sondern auch ein übler Omahasser!

Unsere älteste Vorfahrin Lucy überlebte übrigens nur deshalb rund 25 Jahre lang, weil sie ihre Umwelt genau beobachtete. Was verändert sich, wie entwickeln sich potenzielle Gefahren, wie agieren meine Mitmenschen?

Die virtuelle Welt des Internets in unserem Smartphone ist nicht unsere unmittelbare Umgebung und für unser konkretes Überleben kaum von Belang. Wenn ich mich deshalb an einem neuen Ort befinde, lege ich mein Smartphone beiseite, schaue mich um und nehme bewusst wahr. Was tut die Welt? Was geschieht um mich herum? Falls das Hier und Jetzt langweilig sein sollte, bin ich froh, denn dann besteht keinerlei Gefahr.

Wenn wir uns dauernd durch virtuelle Überreizung »triggern« lassen, werden wir uns irgendwann alle gegenseitig an die Gurgel gehen. Mein niederländischer Lieblingsphilosoph Baruch de Spinoza hat das bereits im 17. Jahrhundert sehr schön auf den Punkt gebracht: Man soll die Welt nicht belachen, nicht beweinen, sondern begreifen.

Eva, eine von Lucys zahlreichen und gottgefälligen Nachfahrinnen, trat eine knappe Million Jahre später auf den Schöpfungsplan, irgendwo im Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris, auch unter dem Namen »Eden« bekannt. Womit aber auch klar ist, Eva, unsere berühmte biblische Mama aus dem Paradies, war Araberin.

Lucys Supergene jedenfalls brachten im Laufe der Menschheitsgeschichte so manch originelle Typen hervor, wie zum Beispiel den gemütlichen Dänen, den quirligen Chinesen oder auch den schlecht gelaunten Berliner Taxifahrer. Unsere Oma war ein Tausendsassa!

Ob ich mir die entscheidenden Fragen des Lebens nach dem Woher, Wohin und Wozu freiwillig stelle oder ob diese sich mir genetisch aufdrängen; ich weiß es nicht. Offenbar gibt es da aber eine gewisse Anziehung, um nicht zu sagen: Faszination.

Von jeher war ich begeistert von der Ahnenforschung. Bereits als Jugendlicher widmete ich mich dem Studium der eigenen Familiengeschichte. So weit das ohne Internet und Onlinesammlungen seinerzeit überhaupt möglich war.

Schnell kristallisierte sich bei ersten Nachforschungen in den frühen Achtzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts heraus: Bei meiner Sippe kommt ziemlich viel genetisches Material aus Skandinavien und den Niederlanden zusammen. Ein bisschen Tschechien und Frankreich spielen rein. Aber auch der Schwabe, Pfälzer, Slowake und der Wiener waren nicht gänzlich unbeteiligt an meiner Entstehung. Alles in allem ist meine Ahnenreihe kunterbunt europäisch. Wie übrigens bei allen Deutschen.

Das Deutschsein im Allgemeinen lässt sich ja getrost auf die simple Formel herunterbrechen: Der Deutsche kommt aus dem Ausland! Nämlich aus all seinen Nachbarländern und angrenzenden Regionen. Wir haben alle »rübergemacht« oder »rauf-« oder »runter-«. Je nach Himmelsrichtung.

Wenn Sie so wollen, ist der Deutsche ein polnischer Holländer aus Mailand mit französischen und schwedischen Großeltern aus Bern, einer jüdischen Tante aus Sankt Petersburg und einem serbischen Onkel aus Wien.

Zuwanderungswellen in den deutschen Sprachraum nach Seuchen, Kriegen und anderen Katastrophen taten ein Übriges, um für eine gesunde ethnische Diversität zu sorgen. Nach dem Motto: Jeder, der mitwill, kooperativ ist und kein unnötiges Theater macht, gehört dazu. Das ist ein sehr amerikanisches und modernes Verständnis von Volkszugehörigkeit, finden Sie nicht?

Ganze Völker sind bereits vor der Antike mit Kind und Kegel quer durch Europa und Kleinasien marschiert, auf der Suche nach fruchtbarem Ackerland und so etwas wie Freiheit.

Jeder von uns ist also gewissermaßen die Summe seiner bunten Ahnenreihe. Die ist in der Regel immer eine wild zusammengewürfelte Truppe. Der eine ostpreußische Opa setzt sich da genetisch mitunter stärker durch als der andere Bärbeiß aus Tirol.

Vielleicht findet, so wie bei der Befruchtung einer Eizelle, ein Wettkampf der Gene um die jeweils aktuell sinnvollsten Überlebensstrategien statt. Nicht jeder Vorfahr findet sich in unseren Genen gleich stark wieder. Das genau ist es, was uns, neben unserer seelischen Beschaffenheit, letztendlich zu Individuen macht und dazu führt, dass selbst eineiige Zwillinge genetisch eben nicht völlig identisch sind.

Genetik ist keinesfalls demokratisch. Sie ist aber auch nicht diktatorisch. Sie wirkt so zufällig, dass dem Ganzem schon fast wieder ein vernünftiger Plan zugrunde liegen muss. Das Warum und Wieso bleibt des lieben Gottes Geheimnis, aber das Woher lässt sich inzwischen ganz gut klären!

Wer sich der Ahnenforschung widmet, wird schnell begreifen, dass es sich dabei nicht um einen flüchtigen Zeitvertreib, sondern um eine lebenslange Aufgabe handelt. Mit dem Erstellen seines Stammbaumes wird man nie fertig. Da ist immer noch Luft nach oben. Auch wenn man heute für die Erstellung eines Stammbaums mit 10.000 Individuen vielleicht nicht mehr vierzig Jahre, sondern kaum mehr als vier Monate benötigt. Das ist nicht nur ein enormer Fortschritt, sondern grenzt schon fast an Magie.

Die schreckliche Coronapandemie der Jahre 2020–2022 gab mir die einmalige Gelegenheit, mich intensiv der Ahnenforschung widmen zu können. Ein Lockdown lädt nun einmal zur Flucht aus der schnöden Welt ein. Mit großem Engagement habe ich mich in die Historie meiner Familie gerettet, mit geradezu frappierenden Ergebnissen.

Glauben Sie mir: Die größte Überraschung schlummert in uns selbst.

Je tiefer man in die Vergangenheit der eigenen Familie reist, desto mehr Baustellen und Fragezeichen tun sich allerdings auf. Bereits nach zehn Generationen, oder besser gesagt nach 250 Jahren, landet man bei 1024 direkten Vorfahren, den sogenannten Stammeltern. So weit lässt sich die Herkunft der Ahnen und deren genetische Spur einigermaßen verlässlich im Erbgut zurückverfolgen und auch unter Zuhilfenahme von Geburts-, Heirats-, Erwerbs- oder Sterbeurkunden, Schuldbriefen, Gerichtsurteilen oder Adelsbriefen bestätigen.

Geht man gar 24 Generationen zurück, das entspricht ungefähr 600 Jahren, landet man bei sage und schreibe 16.777.216 Erzahnen-Urgroßeltern. Das entspricht in etwa der Einwohnerzahl Nordrhein-Westfalens, unzählige inzestuöse Eskapaden nicht miteingerechnet.

Denn je weiter man in der Zeit zurückreist, desto weniger Gesamtbevölkerung steht bei dramatisch steigender Ahnendichte ja für die Berechnung zur Verfügung.

Auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands lebten um das Jahr 1470 gerade einmal zehn Millionen Menschen. Es gab innerhalb dieses Territoriums nur sechs Städte, die mehr als 20.000 Einwohner zählten. Das waren die bedeutenden Metropolen des relativ dunklen Mittelalters: Köln, Lübeck, Bremen, Nürnberg, Ulm und Magdeburg. Die Gesamtbevölkerung Europas betrug ungefähr 75 Millionen Einwohner. Die mit Abstand größte Stadt Europas mit 80.000 Einwohnern war Paris. Zu der Zeit hatte Peking schon über eine halbe Million Einwohner.

Nachnamen und auch Vornamen sind, das werden Sie im Laufe der Lektüre ebenfalls feststellen, tatsächlich Schall und Rauch. Damals schrieben die Menschen ihre Namen, wie es ihnen gerade in den Sinn kam. So wurde aus Kerkering im Laufe der Jahrhunderte auch Kerkelingh, Cerckenringh, Kerckerlinkx, Karckring, Kerklaan und Kerman. Je nach Modetrend klang der Name mal holländischer, hanseatischer, französischer oder lateinischer.

Einer der frühesten Belege über einen meiner Vorfahren findet sich in den »Mitteilungen aus dem Stadtarchiv von Köln« aus dem Jahre 1393. Schon dieser Eintrag liest sich wie der Beginn eines spannenden Abenteuerromans à la Indiana Jones:

»Wie groß wegen der schwankenden Verhältnisse die Unsicherheit in der Nähe von Rom war, mussten die Kölner Gesandten an ihrem eigenen Leibe erfahren. Am 17. September (1393) wurden sie 21 Meilen von der ewigen Stadt überfallen; die Räuber nahmen ihnen alles, auch die städtischen Briefe; dazu wurde Peter von Hattrop tödtlich verwundet. Auch der Gesandte der Kölner Universität, Professor Dietrich Kerkering von Münster, welcher am 14. Oktober glücklich Rom erreichte, war durch die vielen Beschwerlichkeiten der Reise lange aufgehalten worden.

Ihren Hauptzweck, die Absolution, konnten die städtischen Gesandten nicht erreichen; es fehlte ihnen vor allem an den erforderlichen Geldmitteln (…). Wahrscheinlich hat dem Stadtschreiber auch die diplomatische Erfahrung gefehlt. Der Kölner Rath, welchem an der Hebung des Interdikts sehr viel gelegen war, sandte nunmehr im Februar 1394 einen sehr befähigten Agenten nach Rom, den Dr. iur. Johann von Neuenstein.«

 

Der gewiefte Dr. von Neuenstein hat dann also richten können, was mein Urahn bedauerlicherweise beim Papst nicht auf die Kette bekommen hatte.

Mein entfernter Verwandter Prof. Kerkering kehrte wahrscheinlich ziemlich geknickt zurück nach Köln. Eine kleine Chronologie des Scheiterns hat das Stadtarchiv da freundlicherweise für meine private Familienchronik aufbewahrt. Mein Vorfahr Dietrich ist danach jedenfalls in der historischen Bedeutungslosigkeit verschwunden. Genau genommen ist es mit den Kerkelings nicht so wahnsinnig gut losgegangen. Da gab es gewisse Startschwierigkeiten.

Der nächste unverfängliche Eintrag, welcher mir persönlich etwas sympathischer ist, findet sich ein halbes Jahrhundert später in den »Münsterischen Chroniken«. Ein dreifach donnerndes Helau vorneweg auf meinen Verwandten, den lustigen Hans!

»Im J. 1440 wählte die Zirkelgesellschaft Hans Kerckringh van Münster zu ihrem ältesten Fastnachtsdichter. Andere Glieder der Familie Kerckringh waren in Lübeck sesshaft.«[2]

 

Na, das ist doch mal ’ne Topmeldung! Ich habe das Komische im Blut. Das ist der Beweis. Die Zirkelgesellschaft ist, nebenbei bemerkt, der geschlossene Verbund der Patrizier.

Damals brauchte man gewiss jede Menge Humor. Wenn ich bedenke, wie gut es uns heute im Vergleich zu den Menschen im Jahr 1440 geht. Kein noch so mächtiger König des Mittelalters lebte auch nur ansatzweise so feudal und luxuriös wie heute beispielsweise eine technische Angestellte mittleren Alters in Bielefeld. Fließend warmes Wasser, Fernwärme, gefüllte Supermarktregale, weiche Betten, Tuche aus exotischen Ländern, Bananen, Fernseher, Gewürze, Kakao, Antibabypille und Eierlikör. All das steht der mitteleuropäischen Konsumentin von heute für relativ kleines Geld nahezu grenzenlos zur Verfügung.

Nichts davon besaßen zum Beispiel die Herrscher in der Renaissance. Ein Plumpsklo oberhalb des toskanischen Burggrabens mit Blick aufs Galgenfeld war damals der letzte Schrei.

Die Mehrheit der Europäer lebt heute jedenfalls im Überfluss. Umso schlimmer, dass es weltweit noch immer so viel himmelschreiende Armut gibt.

Nun, ich habe jedenfalls solch einen ominösen Gentest gemacht, und er hat in jeder Hinsicht Erstaunliches ans Licht gebracht. Dieses Buch wäre ohne diese moderne Alchemie nicht entstanden. Abgesehen von Gottes Schöpfung ist die aufgeklärte Wissenschaft wohl die größte Zauberei.

Die persönlichen DNA-Ergebnisse werden nach der Analyse mit internationalen Datenbanken abgeglichen. So erfährt man, mit welchen der bereits weltweit getesteten Personen man in welchem Grad verwandt ist.

In meinem Fall sind das knapp 4000 Personen – übrigens eine relativ hohe Zahl. Im Schnitt landet man nämlich bei knapp unter 3000 »Matches«, also Übereinstimmungen. Das kann einerseits bedeuten, dass ich einer fortpflanzungsfreudigen Sippe entstamme. Andererseits mag es auch heißen, dass meine Verwandtschaft es mit der ehelichen Treue über die Jahrhunderte nicht immer so streng genommen hat. Wir sind halt alle kleine Sünderlein!

Mithilfe eines cleveren Algorithmus und unterschiedlicher Onlinewerkzeuge versucht man, nach und nach Ordnung in den Wust von Verwandten zu bringen. Die Details erspare ich Ihnen. Das ist alles in allem eine erstaunliche, aber auch sehr trockene Angelegenheit.

Die meisten meiner Matches, knapp tausend Übereinstimmungen, sind naturgemäß US-Amerikaner. Es ist das weltweit größte Land mit europäischstämmigen Einwohnern und einer Jahrhunderte währenden Einwanderertradition. Dort gilt es darüber hinaus als besonders »trendy«, einen solchen Test machen zu lassen, um seine indigenen, afrikanischen, orientalischen, asiatischen oder europäischen Wurzeln zu entdecken.

Andere genetische Verwandte finden sich bei mir vorrangig in Deutschland, den Niederlanden und quer verteilt über den europäischen Kontinent. Da ist vom Luxemburger über den Spanier bis hin zum Isländer eigentlich alles vertreten – bis hin zu einer entfernten Tante in San Marino. Der einzige europäische Staat, in welchem ich so gar keine Verwandten habe, ist der Vatikan.

Zu meiner Überraschung finde ich heraus, dass ich genetisch zu 68 Prozent Skandinavier, zu 14 Prozent britisch, zu 13 Prozent vom Balkan und aus Osteuropa und zu 4 Prozent Italiener bin. Zwei weitere, etwas detailliertere Tests bestätigen dieses Ergebnis mehr oder weniger.

Genetisch sind Niederländer und Norweger sehr eng verwandt. Genau dieser skandinavische Holländer in mir beansprucht wohl den meisten Platz. Er ist der Forscher, Erfinder, Entdecker, Kaufmann, Spinner, Revoluzzer und Kaffeetrinker in mir.

Ausschweifende Familienfeiern mit Slibowitz, Wodka und Cevapcici sind mir sympathisch. Da hat der Osteuropäer vom Balkan, der in mir steckt, Spaß.

Der vierprozentige Italiener in mir heißt Geronimo Cavassa und stammt aus Saluzzo im Piemont. Der gute Geronimo und seine Gattin Lucretia Gromis aus Genua haben am 23. Februar 1602 ihr Haus in der Oudestraat im niederländischen Kampen an der Nordsee an einen gewissen Thomas Knoppert verkauft.[3]

Holland scheint die zwei Auswanderer nicht restlos begeistert zu haben, denn offenbar hat das Heimweh die zwölften Großeltern meiner Oma Änne wieder ins sonnenverwöhnte Genua zurückgetrieben.

Es ist also wahrscheinlich der vierprozentige Genueser in mir, der gelegentlich zur Eifersucht neigt, heiteres Wetter, Geselligkeit und leckeren Wein mag.

Woher das Britische allerdings kommen soll, ist mir schleierhaft. Vielleicht ein nachhallender Stempel meiner keltischen Vorfahren? Von englischen Vorfahren jedenfalls weiß ich nichts. Welche Uroma hat denn da hinterrücks was Dummes angestellt? Was ist denn bitte an mir britisch? Gar der Humor? Irgendwie hat sich da wohl ein schöner Erbgutgruß aus England eingeschlichen.

Die knapp 4000 lebenden genetischen Verwandten fliegen mir beim ersten Durchforsten jedenfalls förmlich um die Ohren. Es ist eine zufällige Schar von Menschen, gestaffelt nach Verwandtschaftsgrad.

Die Plattform zur Familienforschung »MyHeritage« wurde übrigens von Gilad Japhet, einem israelischen Unternehmer, aus dem Wunsch heraus gegründet, Überlebenden des Holocausts und deren Nachfahren die Suche nach entfernten Verwandten zu ermöglichen. Um dem weltweit wachsenden Bedürfnis nach genetischer Ahnenforschung gerecht zu werden, gibt es inzwischen viele Anbieter mit unterschiedlichen Schwerpunkten.

Die meisten meiner Verwandten auf den Seiten von »MyHeritage« verfügen über einen mehr oder weniger großen Stammbaum. Das geht von hundert Personen bis hin zu 160.000 Personen. Sie haben richtig gelesen: Es gibt Menschen, deren Stammbaum zählt mehr Individuen, als Paderborn Einwohner hat. Zum Verzweifeln. Wer soll sich da noch zurechtfinden?

Es ist wie bei einem 10.000-Teile Puzzle des Tadsch Mahal. Allerdings stehen einem zur Vollendung nur 4000 Teile zur Verfügung, und die wurden vorher wild in die Luft geschleudert. Die meisten Teile dienen lediglich dazu, den Rahmen und den äußeren Rand des Bildes zu gestalten. Langsam formt sich beim Zusammensetzen ein Himmel, eine Art Platz, aber was um Gottes willen steht im Zentrum meines Puzzles? Ist das ein Turm?

Bestimmte Namen treten plötzlich in einigen Stammbäumen gehäuft auf. Van Loon und de Beaufort beispielsweise und natürlich auch endlos viele Schusters, Meiers, Müllers, Webers oder Schneiders.

Zwei meiner frühen auffindbaren direkten Vorfahrinnen sind väterlicherseits, im Jahre 1460, eine gewisse Gretchen Hühnerjäger aus der schönen Hansestadt Lübeck – ich nehme an, sie hatte mit Federvieh zu tun – und, aus dem Jahre 1190, die seefeste Gerborg Silkentopp aus Visby in Schweden, die es aus hochzeitsfeierlichen Gründen nach Köln verschlagen hat.

Mütterlicherseits machte hingegen ein Hufschmied aus s’Hertogenbosch im niederländischen Brabant namens Hendrik Keelbreker aus dem Jahre 1280 das Rennen. Hühnerjäger und Kehlbrecher klingt jetzt nicht gerade nach der feinsten Gesellschaft. Aber Frau Silkentopp war wohl was Besseres, als Tochter des Bürgermeisters von Visby. Immerhin ist sie mit ihrem Luxuskahn Langstrecke von Gotland ins Rheinland geschippert. Die reiselustige alte Schwedin!

Eine illustre Ahnenreihe lässt sich zweifellos leichter erforschen als die der Tagelöhner, Landarbeiter und einfachen Leute. Viele meiner Vorfahren waren bitterarm. Deren kurze, entbehrungsreiche Leben haben wenig Wellen geschlagen und sind insofern kaum zu erforschen. Es gibt nur spärliche Informationen über die zahllosen Bedürftigen aus Europas dunklen Zeiten. So versinkt die große Mehrheit unserer Ahnen im Meer des Vergessens. Aber in unserer DNA sind sie natürlich weiter lebendig!

Die allermeisten von uns verdanken das Glück des Lebens ohnehin wohl der Tatsache, dass die Vorfahren eben nicht darben mussten, sondern ihr Auskommen hatten. Wir sind also eher die Kinder der Unterdrücker als die der Unterdrückten.

Eine derart große Familie ist eine richtige Fundgrube. Bei meiner weiteren Ahnenrecherche finde ich so auch entfernteste Verwandte, nach denen ich eigentlich gar nicht gesucht hatte.

Wissen Sie, mit wem ich noch verwandt bin? Halten Sie sich fest! Mit Dedo dem Dicken von der Lausitz. »Das hatte ich mir schon gedacht!«, wird der eine oder andere jetzt vermutlich ausrufen. Die Chancen, dass auch Sie, liebe Leser:innen, mit dem dicken Dedo verwandt sind, stehen übrigens gar nicht schlecht.

Die Zeit des Corona-Lockdowns gab mir genügend Gelegenheit, das Puzzle meiner Familienchronik fragmentarisch zusammenzusetzen. Es ist nicht fertig und wird es auch nie sein. Aber man erkennt darin deutlich mehr als nur Umrisse. Herausgekommen ist dabei eine schier unglaubliche Geschichte.

Bisher war ich immer davon ausgegangen, dass meine Vorfahren mehrheitlich arme Bauern aus dem Münsterland waren, die sich über die vergangenen zwei Jahrhunderte mit dem Anbau von Runkelrüben und Viehzucht notdürftig über Wasser gehalten haben.

Tatsächlich aber hat ein rätselhafter Vorfahre aus Holland namens Heijndrik Harmensz Kerkelinck im Jahre 1695 die Auswanderung ins Westfälische gewagt. Er zog ins Land der Weber und weiten Felder. Aber warum?

Holland war damals in jeder Hinsicht viel reicher und bedeutender. Das Münsterland war vergleichsweise Dritte Welt. Kam er als Entwicklungshelfer? Hatte er geerbt? War er geflohen? War er mit Zahlungen im Rückstand? Hatte er den falschen Glauben? Kam er mit dem Karren, auf dem Pferd oder mit dem Boot?

Warum auch immer mein Vorfahre sich in Bewegung gesetzt haben mag, das entscheidende Puzzleteil meiner Genetik stammt von der Amstel. Nichts ist in meinen Genen und vielleicht auch in meiner Seele so stark verankert wie Amsterdam. Mit dieser Stadt bin ich schicksalhaft verbunden.

Das ist auch das entscheidende Ergebnis meiner DNA-Tests. Genetisch bin ich hauptsächlich Holländer. Vielleicht ist es dieses Erbe, das mich auch bei Windstärke 9 nicht so schnell aus den Holzklotschen fliegen lässt?

Die drei Jahre währende Recherche für dieses Buch war spannend, aufwendig und lehrreich. Alle Geschichten basieren auf wahren Begebenheiten, wie sie Urkunden, öffentliche Bekanntmachungen, Kurgastlisten und andere Quellen belegen. Das, was sich zwischen den nüchternen Zeilen unter den verstaubten Aktendeckeln wohl tatsächlich zugetragen haben mag, habe ich interpretiert und mit Leben gefüllt.

Ich muss Sie ausdrücklich warnen! Meine Sippschaft besteht aus Verlierern, Draufgängern, Mitläufern, Widerstandskämpfern, Adeligen, Seefahrern, Neureichen, Alchemisten, Angebern, Glücksrittern, Schiffsbauern, Sadisten, Deppen und wirklich interessanten Menschen. Kaum Helden. So wie das Leben nun einmal ist.

Das Entscheidende sollte ich noch erwähnen: Von einer Liebe in Seenot und der Vorsehung in Zeiten einer Pandemie wird auch die Rede sein.

Voller Demut verneige ich mich vor jeder und jedem Einzelnen, von deren Schicksal ich erzählen darf.

Ihr seid mein Erbe, meine Lektion, mein Leben.

Und jetzt: Gebt mir etwas Zeit!

Die Papageien von Amsterdam

1971

Das Wappen von Amsterdam zeigt einen schwarzen Pfahl auf Rot, der mit drei silbernen Andreaskreuzen belegt ist.

Bunte Boote mit rot-weiß-blauen Fähnchen am Heck gleiten über das anthrazitfarbene Wasser. Gemächlich tuckern sie durch die Kanäle an den roten herrschaftlichen Häusern mit schneeweißen Giebeln vorbei. An Bord sieht man fröhliche Menschen mit klickenden Fotoapparaten. Wo gibt es denn so was? So aufgeregt war ich noch nie, und die Sonne lacht dazu.

Auf der gegenüberliegenden Seite des Wasserlaufs steht voller Stolz eine rosa Straßenorgel, gefasst in einen kitschigen Goldrahmen aus Plastik. Etwas schief presst sie einen Gassenhauer nach dem anderen ächzend aus ihren Pfeifen. Untermalt wird der Klang von einem Orchester aus vorbeifahrenden Fahrradklingeln. Auf dem Dach des heiligen Musikschrankes wippen zwei nackte Barockputten mit silbernen Flügelchen etwas hüftsteif dazu im Takt. Was sind das nur für lustige Sitten hier in Holland.

Mama und ich sitzen in einem Straßencafé und genießen Waffeln mit Stroop, eine niederländische Teigwarenspezialität, die von einem klebrigen Teppich aus bernsteinfarbenem Zuckersirup bedeckt ist. Meine Mutter nippt entspannt an einem »Koffie verkeerd«, einer Art Milchkaffee, nur besser, während ich ein Fläschchen »Chocomel« in mich hineinschütte. So ähnlich wie Kakao, nur fetter und mit mehr Geschmack.

Die Stadt schmeckt wie die Waffeln auf meinem blau-weißen Delfter Teller. Leicht salzig, etwas derb und nach süßem Zauber. Die Sprache der Menschen hier ist freundlich, zupackend und doch so zart.

Das ist zwar nicht das Schlaraffenland, aber so etwas Ähnliches. Das Land ohne Beschwernis.

Der Blumenmarkt in Amsterdam ist ein exotischer und malerischer Ort. Eine pastellfarbene Symphonie der Leichtigkeit schwingt kaum wahrnehmbar als Energie durch die Kanäle. Diese Düfte, dieser Himmel! So weit, so offen.

Irgendwie kriege ich hier besser Luft. Das mag auch am Jodgehalt liegen.

Und doch wirkt diese Unbeschwertheit nicht zufällig, sondern so, als hätten die Menschen nach längerem Nachdenken im stillen Einvernehmen beschlossen, an diesem Ort so frei und unbelastet wie möglich zu leben. Der Kopf sollte augenscheinlich nicht zu schwer werden, die Gedanken fliegen eher umher wie Federgewichte. Hier will man es sich schön, gemütlich und leicht machen.

»Mama …«, sage ich, der sechsjährige Knirps, fast ergriffen von der heiligen Atmosphäre, »… das ist die schönste Stadt der Welt!«

Meine Mutter lacht laut ihr unverkennbares Seemannslachen, welches erstaunlich gut in das uns umgebende maritime Flair passt, und kontert: »Na, so viel hast du ja noch nicht vom Erdenrund gesehen. Da kommen im Laufe der Jahre sicher noch ein paar Städte dazu!«

Da bin ich skeptisch. Tatsächlich werden selbst Rom, Berlin und New York mich in meiner fernen Zukunft nicht mehr begeistern als dieses klebrig-leckere kleine Amsterdam.

Die Turmuhr der Westerkerk beginnt zu schlagen. Es ist Viertel nach oder Viertel vor. Ob die Zeit hier vorwärts-, rückwärts- oder überhaupt läuft, lässt sich nicht so genau sagen. Jemand klimpert nach dem letzten Schlag auf dem Carillion-Glockenspiel der Westerkerk eine wunderschöne Melodie. Ich tauche völlig in diese Klangwelle ein, die nun durch die Gracht schwappt.

Heute weiß ich: Es ist ein Stück des größten niederländischen Komponisten Jan Pieterszoon Sweelinck: »Ballo del Granduca«, »Der Ball des Großherzogs«. Die Musik klingt irgendwie vertraut.

Als mein Blick zum Himmel schweift, traue ich meinen Augen kaum. Über mir fliegt, laut krächzend, ein Schwarm von giftgrünen Papageien mit knallroten Schnäbeln in den nahenden Sonnenuntergang. Die Krawallbrüder sind allesamt gut drauf. Selbst die Vögel haben hier bessere Laune als anderswo.

»Papageien, Mama! Da fliegen Papageien!«, stottere ich und deute mit dem sirupverschmierten Finger gen holländischen Himmel.

»Ach, was! Hier gibt es doch keine Papageien! Das ist unmöglich!«, entgegnet meine Mutter leicht verstört, schaut in die Höhe und nimmt nicht wahr, was dort zweifelsfrei zu sehen ist. Sieht man nur, was man sehen will?

Tatsächlich sind es Papageien, und zwar pakistanische Halsbandsittiche. Sie gehören inzwischen zu Amsterdam wie der Königspalast, das Bier und der Gouda. Irgendein Pärchen dieser asiatischen Art hat sich zu Beginn der Sechzigerjahre mal aus einem Vogelkäfig befreit. Seitdem beherrschen die Sittiche die Stadt und freuen sich über die in Mandarinensaft getränkten Erdnüsse in den Netzen, die die Menschen auf ihre Balkone hängen. Laut trötend genießen die Vögel ihre Freiheit.

»Das waren sicher Grünfinken«, beharrt meine Mutter auf ihrem, ornithologisch betrachtet, falschen Standpunkt.

»Du, Mama!? Ich möchte hierbleiben!«, schlüpft es wie selbstverständlich kurz entschlossen aus mir heraus.

Mama lacht nun mal gern. So tut sie dies auch an dieser Stelle und schiebt nach einem kurzen Blick auf ihre silberne Armbanduhr lakonisch hinterher: »Papa holt uns gleich mit dem Wagen hier ab, und dann geht es zurück nach Hause!«

»Nein, Mama! Du hast mich nicht verstanden. Ich will hierbleiben!«, bestehe ich auf meiner Eingebung.

Ungewöhnlich für ein Mama-Kind wie mich, dessen zweiter Vorname eigentlich Heimweh lautet. Es fühlt sich nun mal gerade nach einer unwiderruflichen Lebensentscheidung an. Das ist kein spontaner Anfall von Übermut. Wovon ich leben will? Keine Ahnung. Der Straßenorgelspieler, der Tulpenhändler oder die Waffelbäckerin werden mir schon Unterschlupf gewähren. Unmenschen sehen anders aus als Amsterdamer.

Meine Mutter weiß, dass ich mindestens so halsstarrig sein kann wie sie. Trotz ansteigendem Puls legt sie nun Messer und Gabel gesittet beiseite und schenkt mir einen stummen Blick der zärtlichen Entschlossenheit. Sie redet vorsichtshalber mit mir wie mit einem bockigen Shetlandpony auf der Weide, das nicht zurück in den Stall will: »Hans-Peter, das geht natürlich nicht, und das weißt du auch!«

Schon kullern dicke Tränen meine Wangen hinunter. Was kann ich denn dafür, dass ich mich in Amsterdam verliebe? Da ist Mama doch selbst schuld. Den ganzen Tag höre ich nichts anderes von ihr als: »Schau mal, wie schön, schau mal, wie bunt, schau mal, wie nett.« Ja, das ist es ja auch. Die logische Konsequenz daraus kann doch nur lauten: Wir bleiben. Punkt!

Wieso fährt Mama auch mit mir hierher? Geht’s noch? Man schleppt doch kein unschuldiges Kind in diese verführerische Stadt. Mit Waffeln, Tingeltangel und Klimbim.

Von hier gibt es kein Entkommen mehr. Wer will denn bitte wieder zurück nach Recklinghausen? Nichts gegen meine Heimatstadt. Aber Amsterdam spielt einfach in einer anderen Liga. In meiner Liga! Wieso sollte ich ins gelobte Land reisen, um anschließend freiwillig in die Runkelrübenidylle von Hochlarmark zurückzukehren? Ich habe auch bereits völlig vergessen, wie es dort aussah, und zwar weil es dort nicht aussieht. Es schaut dort nämlich so aus wie überall an der A 43.

Ja, ich weiß, die Menschen im Pott sind erdverbunden, haben Mutterwitz, sind ohne Dünkel, und ich weiß nicht, was die noch alles sind und können. Das habe ich ja auch alles brav mit der Muttermilch aufgesogen. Jetzt bin ich ein sechsjähriger Ruhrpottler, bedanke mich herzlichst und will weg. Das wird man ja wohl noch sagen dürfen. Wo ist das Problem? Ich bleibe!

Mittlerweile schauen die Leute um uns herum schon. Wenn ich eins weiß, dann, wie man sich aufführen muss, damit die Leute gucken. Das beherrsche ich bis heute eigentlich ganz gut. In der Beziehung bin ich wie eine Amsterdamer Straßenorgel. Auch wenn es vielleicht schief und laut klingt, so bleibt es trotzdem interessant und irgendwie lustig anzusehen.

Meine Mutter ist, ähnlich wie ich, eine einigermaßen clevere Person. In Windeseile zahlt sie, packt mich am Arm und schleift mich brüllendes, hochnotpeinliches Balg zurück auf den zum Bersten überfüllten Blumenmarkt.

»Schau mal, Hans-Peter! Wenn du nicht hierbleiben kannst, dann musst du eben Amsterdam mit nach Hause nehmen!«

Inzwischen hat mein Auto fahrender Vater uns im Getümmel entdeckt, zuckelt mit seinem giftgrünen Renault direkt und wild hupend an uns vorbei, während Mama ihm gestikulierend bedeutet, er möge noch mal eine große Runde im zäh fließenden Samstagabendverkehr um Amsterdams Innenstadt machen, um dann einen erneuten Versuch zu starten, uns aufzugabeln.

Praktischerweise kann man den Wagen hier nicht einfach wenden, sondern muss stattdessen quasi noch einmal ganz von vorne ansetzen, wie bei einem Fehlstart. Hier zwischen den Kanälen sind alle Straatjes »Cul de Sac«, auch »Eenrichtingsverkeer« genannt.

Der berühmte »Hintern vom Sack« befindet sich im Zentrum der niederländischen Hauptstadt. Im Deutschen nennen wir das »Einbahnstraße«. Die Stadt ist quasi schon so angelegt, dass es kein Zurück gibt. Man kommt prima ins Zentrum hinein, aber schlecht bis gar nicht wieder heraus. In Amsterdam ist man zum Bleiben verdonnert, ob man will oder nicht. Wie überaus praktisch. Das spielt mir gerade in die Hände.

Verständnislos und wild gestikulierend tut mein Vater, wie ihm geheißen, wohl schon ahnend, dass der propere Junior wieder einmal extravagante Sonderwünsche entwickelt.

Vor einem kitschigen Andenkenstand kommt meine Mutter mit mir im Schlepptau zum Stehen und deutet mit einer großzügigen Handbewegung auf die Auslagen vor dem Pfeife rauchenden älteren Souvenirverkäufer. Er schiebt seine Schifferkappe zurecht und schmunzelt milde über mein verheultes Gesicht.

»Such dir was aus! Was du willst!«, fordert meine Mutter mich zwar freundlich, aber durchaus gehetzt auf und deutet auf einen Gegenstand mit Holzflügeln aus blauem Porzellan.

»Ich will keine Windmühle! Was soll ich damit? Am Rad drehen?«, nöle ich knatschig.

Da entdeckt mein Spielzeug-Expertenauge zwei wunderschöne Puppen in klassischer Holländertracht, ansprechend drapiert in einer transparenten Plastikverpackung. Eine Frau Antje mit weißer Haube, rotem Halstuch, blau-weißem Gewand und goldgelben Klotschen und der passende Jan dazu mit schwarzem Trachtenanzug, blauem Tuch und ebenfalls in Holzschuhen. Die zwei Zuckerschnuten stehen vor der kitschigen Fotokulisse einer Grachtenbrücke und schauen sich verliebt an. Darunter steht: »Groetjes uit Amsterdam!«

Meine holländischen Gene führen einen innerlichen Freudentanz auf. Ich liebe Kommerz! Meine spontane Kaufbegeisterung vertreibt schlagartig den durchlittenen Abreiseverdruss. Kinder sind so unfassbar flexibel, um nicht zu sagen launisch.

»Darf ich die haben?«, frage ich kleinlaut, weil das Zeug recht kostspielig aussieht, sonst würde ich es ja auch nicht haben wollen. Mama nickt still, lächelt, zückt beruhigt das Portemonnaie und streichelt mir, weniger sanft als üblich, über den Kopf.

»Jetzt nimmst du Amsterdam mit nach Hause!« Mama zwinkert mir zu.

Was habe ich nur für eine kluge und liebe Mutter. Sie ist so schlau, dass sie nie wieder mit mir nach Amsterdam fahren wird. Das Theater will sie nicht noch mal erleben.

Meine beiden Püppchen erinnern mich immer wieder und noch lange bei jedem Anblick an den unvergesslichen Tag mit Mama und Papa in Amsterdam. Sie bleiben fast dreißig Jahre in ihrer kitschigen Grachtenidylle hinter der Plastikverpackung. Bei irgendeinem Umzug, da bin ich schon fast vierzig, gehen die Puppen plötzlich verloren. Ich denke, ihr Heimweh nach Amsterdam war zu groß. Antje und Jan wollten zurück auf den Blumenmarkt an der Singel. Irgendwann muss ich da auch wieder hin und nach ihnen suchen.

Dieses innere Fenster auf die schimmernde Gracht, das sich hier in mir weit aufgetan hat, wird sich nicht wieder schließen. Versprochen! In Zukunft muss ich unbedingt Niederländisch lernen. Diese Stadt ist mein Schicksal.

Das Spinoza-Monument am Zwanenburgwal zeigt übrigens den großen Amsterdamer Philosophen in einem Mantel, der mit Papageien übersät ist. Es bedeutet nichts anderes als: Alle exotischen Vögel gehören nach Amsterdam.

Die Kaiserin von Indien

1994

Das Wappen Indiens zeigt ein Kapitell, bestehend aus vier Rücken an Rücken stehenden Löwen, welche auf einem glockenförmigen Lotussockel stehen. Zwischen Löwen und Lotuselement befinden sich ein großes Radsymbol und vier kleinere Tierdarstellungen: Buckelrind, Pferd, Elefant und Löwe. Die Inschrift in Sanskrit unterhalb des Kapitells ist der Wahlspruch der Nation: »Allein die Wahrheit siegt.«

 

Meine Großmutter Bertha bekommt von meinem älteren Cousin Reinhard und mir in ihren späten Lebensjahren den Spitznamen »die Kaiserin« verpasst. Das liegt an den amüsanten Anekdoten, die sie manchmal zum Besten gibt.

Um ihr neunzigstes Lebensjahr herum verlässt unsere Großmutter die geistige Aufgeräumtheit, die sie ein Leben lang ausgezeichnet hatte. Da wohnt sie bereits im Hause ihrer Tochter, meiner Tante väterlicherseits.

Ich erinnere mich an eines der letzten Male, als sie mich kaum noch erkennen kann und ich ihr, aufgrund ihrer Schwerhörigkeit, laut ins Ohr brülle: »Ich bin’s, der Hans-Peter!«

Meine Oma schenkt mir einen verdatterten Blick und fragt erstaunt: »Handwerker? Welcher Handwerker sind Sie!?«

Ich kann mir ein Lachen nicht verkneifen und schreie noch lauter: »Hans-Peter!«

»Ach, Handfeger!? Ich habe keinen Handfeger.«

Ein letztes Mal brülle ich meinen Namen, und im verwirrten Blick meiner Großmutter entdecke ich mit einem Mal eine Spur des Wiedererkennens.

»Hans-Peter?«, haucht sie gerührt zurück, ergreift meine Hand und erläutert etwas besorgt: »Der Hans-Peter kommt gleich von der Schule. Ich muss das Essen warm machen. Der Junge hat doch bestimmt Hunger. Ist er denn schon zu Hause?« Ihr Blick streift durch den Raum, suchend nach dem kleinen Jungen, für den sie mich noch immer hält und anscheinend immer noch die gefühlte Verantwortung trägt.

»Oma, ich bin der Hans-Peter!«

Mit kindlich erstauntem Blick erwidert sie: »So groß bist du?«

Fasziniert schaut sie mich, den Dreißigjährigen, an und realisiert für den Bruchteil einer Sekunde, dass das Kind von damals erwachsen geworden ist. Eine gewisse Erleichterung macht sich in ihrem Gemüt breit, wie ihre etwas entspannteren Gesichtszüge verraten.

Knapp neunzigjährig hat Oma mit dem Spinnen detailreicher Geschichten angefangen; geradezu sagenhafte Märchen ersinnt ihr flirrender Geist. Das hat manchmal etwas von Tausendundeiner Nacht, was sie da zur Erheiterung der Familie zum Besten gibt.

Bertha wird fortschreitend dement. Der Volksmund nennt das etwas unschön auch »geistige Umnachtung«. Diesen Begriff finde ich allerdings wenig zutreffend. Im Falle meiner Großmutter muss ich, wenigstens rückblickend, feststellen: Ihr Zustand hat mitunter sogar etwas Erhellendes. Gedankliche Schranken werden da mühelos aufgehoben, und ohne Rücksicht auf Verluste wird Erstaunliches ans Licht befördert.

Manchmal erkennt Bertha nur noch, wen sie auch erkennen mag, und irgendwann kann sie heute, morgen und gestern einfach nicht mehr unterscheiden. Alles geschieht für sie gleichzeitig. Die Zeitebenen zerfließen zu einem einzigen kompakten Geschehensplaneten. Manchmal licht und freundlich oder auch verheißungsvoll, zeitweise düster und bedrückend. Ohne Vorwarnung wechseln sich diese Zustände und Erzählmuster ab oder existieren gar parallel. Eigentlich wie im richtigen Leben, nur noch realistischer und plastischer.

Die Erkrankung führt den Dementen an das Licht der nackten Realität. Nichts als die Wahrheit: So könnte man den Zustand auch beschreiben. Allein die Wahrheit siegt ja bekanntlich; selbst beim Eintritt in die, von außen betrachtet, geistige Unordnung.

Vielleicht ist die Demenz in gewisser Weise sogar eine Form der tiefen Heilung und führt in die seelische Ordnung. Nichts kann oder darf mehr verdrängt werden. Alles tritt, seiner wahren psychischen Bedeutung und Beschaffenheit nach, zutage. Und das nicht so gestaffelt und schön der Reihe nach, wie wir es mit unserem alltäglichen Verdrängen, Verschleiern und Vertuschen gerne hätten.

Berthas Tochter, meine Patentante Anna, auch schon eine ältere Dame um die siebzig, betritt mit einer pinkfarbenen Porzellankanne mit frisch gebrühtem Kaffee in den Händen den gemütlichen Raum. An der Sofarückwand hängen, quasi als kleine Gedächtnisstütze, Bilder von Berthas Liebsten. Meine Großmutter neigt freundlich den Kopf und begrüßt ihre Tochter mit den gestelzten Worten: »Guten Tag, gnädige Frau!«

»Jetzt tut sie wieder so, als wüsste sie nicht, wer ich bin. Nicht wahr, Mutter?«, entrüstet sich meine Tante künstlich und schenkt Kaffee ein.

Meine Oma wendet sich verschwörerisch zu mir und wispert: »Das ist die Dame, die sich rührend um mich kümmert. Sie ist wirklich nett und kocht so gut.«

»Oma«, kläre ich das peinliche Missverständnis brüsk auf, »das ist deine Tochter!«

Meine Großmutter verschluckt sich fast an ihrem Kaffee und prustet spöttisch: »Diese alte Frau kann ja wohl kaum meine Tochter sein!? Das musst du zugeben!«

Mit den Worten »Deine Oma wird langsam, aber sicher verrückt!« dreht sich meine Tante mir zu. Dann fordert sie Bertha spitzbübisch und augenzwinkernd auf: »Mutter, erzähl dem Hans-Peter doch bitte mal von der Kaiserin!«

»Ach, ihr glaubt mir ja sowieso nicht!«, empört sich Bertha und wendet sich etwas beleidigt ab.

»Kaiserin? Welche Kaiserin, Oma?«, hake ich vorsichtig nach.

»Welche Kaiserin?«, äfft meine Großmutter mich nach und überrascht mich mit der Erkenntnis: »Na, welche wohl? Die Kaiserin!«

Trotz aller hartnäckigen Nachfragen: So richtig schlau wird man aus Oma nicht mehr. Welche Kaiserin auch immer da gemeint sein mag, die deutsche oder die österreichische – Oma setzt nun mal voraus, dass man die betreffende Herrscherin zu kennen hat. Sei es drum. Vielleicht meint sie gar die Kaiserin von Indien, good old Vicky aus London, Queen Victoria von England?

»Erzähl doch mal …«, bitte ich Bertha skeptisch und in mulmiger Erwartung.

Meine Oma beugt sich beinahe konspirativ zu mir und tuschelt: »Sie kommt inkognito. Das darf ja auch niemand wissen. Meistens kommt sie sonntags – so zwei-, dreimal im Jahr – und besucht uns im Schloss!«

»So, so! Im Schloss?«, frage ich, endgültig neugierig geworden, ziemlich erstaunt und etwas kleinlaut.

»Ja, ich wohne doch auf dem Schloss, und da besucht sie uns!«, stellt Oma nüchtern fest, und so argwöhnisch, wie sie schaut, nimmt sie wohl an, dass nicht sie, sondern ich mich auf dem falschen Dampfer in Richtung Phantasialand befinde. Sie hält mich doch tatsächlich für verrückt. Meine Großmutter tut so, als rede sie hier über nicht verhandelbare Selbstverständlichkeiten, auch wenn ihrer nächsten Umgebung diese ziemlich paradox vorkommen mögen.

»Und wen besucht sie da, deine Kaiserin?«, ermittle ich vorsichtig weiter.

»Na, die Schweineprinzessin und mich.«

Meine Tante lacht laut: »Das mit der Schweineprinzessin ist neu, das kannte ich noch nicht. Das ist gut! Woher hat sie das denn? Aus Grimms Märchen?«

Bertha fährt ungerührt fort: »Die Kaiserin bringt mir immer Kleider mit. Wunderschöne Kleider. Sie sind zwar getragen, aber alle noch wie neu. Und ich darf mir ein paar aussuchen. Dann steigt sie am Nachmittag wieder in ihren Wagen und verlässt uns wieder. Alle sind immer sehr aufgeregt, wenn sie kommt.«

Was für kühne Behauptungen, die meine Großmutter da einigermaßen großspurig aufstellt.

»Wie alt bist du denn da im Schloss, Oma?«, taste ich mich weiter vor.

»Ich bin dreizehn geworden!«, flötet sie mit Unschuldsmiene.

Oma kann wirklich drollig sein. Viel lieber hätte ich natürlich die wahren Geschichten aus Omas Leben gehört. Stattdessen tischt sie mir jetzt ein bescheuertes Märchen von einer Schweineprinzessin und den Secondhandklamotten einer ominösen Kaiserin auf. Schade, dass Oma nie viel aus ihrem Leben erzählt hat und ich so wenig über sie weiß. Jetzt ist es zu spät dafür.

Mit dem Finger deutet Oma aus dem Fenster in den Garten und behauptet tolldreist: »Hinter der Hecke liegt Holland!«

Diese geografische Neuigkeit haut mich jetzt zwar nicht um, macht mich aber dennoch stutzig.

Meine Tante flüstert mir nachdenklich zu: »Das habe ich ihr eingeredet. Dann ist sie beruhigt. Stell dir vor, gestern Nacht höre ich hier oben aus Omas Zimmer lautes Getrampel, hechte im Bademantel zur Treppe, um nach ihr zu sehen, und plötzlich steht sie im Nachthemd mit gepacktem Koffer auf dem Treppenabsatz. Da will sie Hals über Kopf und völlig aufgelöst vor den Nazis nach Holland flüchten. Da habe ich ihr gesagt, dass sie beruhigt weiterschlafen könne, da sie nur bis zur Hecke laufen müsste, denn dahinter liege ja schon Holland. Guck, das hat sie sich aber gemerkt! Altwerden hat seine Tücken, Hans-Peter.« Dann wendet sie sich an ihre Mutter und fordert sie lächelnd heraus: »Oma, du bekommst jetzt manchmal alles durcheinander, stimmt’s?«

»Ach, ihr hört mir doch alle gar nicht zu!« Mit diesen Worten dreht meine Großmutter den Kopf bockig zur Seite.