Gedanken über das Schreiben - Bernhard Schlink - E-Book

Gedanken über das Schreiben E-Book

Bernhard Schlink

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Beschreibung

In seinen Heidelberger Poetikvorlesungen (Mai/Juni 2010) denkt der Autor Bernhard Schlink darüber nach, was ihn beim Schreiben bewegt und welche Maximen für ihn dabei Gültigkeit haben.
"

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Seitenzahl: 74

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Bernhard Schlink

Gedanken über dasSchreiben

HeidelbergerPoetikvorlesungen

Die Erstausgabe erschien 2011

im Diogenes Verlag

Umschlagillustration: August Macke,

›Rote Tulpen in weißer Vase‹, 1912

Foto: Copyright © LWL – LMKuK – Artothek

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2013

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 06783 5 (1.Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60391 0

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Inhalt

Über die Vergangenheit schreiben  [7]

Über die Liebe schreiben  [37]

Über die Heimat schreiben  

[7] Über die Vergangenheit schreiben

1

Alles Schreiben ist Schreiben über die Vergangenheit. Ich kann nur über das schreiben, was ich kenne, und ich kenne nur, was schon geschehen und also vergangen ist. Auch wenn ich über die Zukunft schreiben wollte, könnte ich nur extrapolieren, was bereits geschehen ist. Wenn ich über die Gegenwart schreibe, bleibt die Gegenwart doch nicht Gegenwart. Ich halte, was um mich in Bewegung ist und worin ich in Bewegung bin, an, und schon ist es zur Vergangenheit geworden, während die Gegenwart sich fort- und fortbewegt.

Zwar wird zwischen historischen Romanen, Gegenwartsliteratur und Science-Fiction unterschieden. Aber die unterschiedliche Nähe oder Ferne zur Gegenwart, die damit angesprochen wird, ist vordergründig. Die Gestalten historischer Romane sind heutige Gestalten in gestrigem Gewand, und in den Möglichkeiten der Zukunft, mit denen Science-Fiction spielt, spiegeln sich die Hoffnungen und Ängste der Gegenwart. Die [8] Unterscheidung zwischen den genannten Gattungen dient, wie die zwischen dem Liebes-, dem Gesellschafts- und dem Kriminalroman, der Orientierung der Leser und Leserinnen, die an verschiedenen Stoffen Gefallen finden und wissen wollen, zu welchen Büchern sie greifen sollen.

Es gibt aber nicht nur die vordergründigen Unterschiede der Distanz zur Gegenwart. Es macht einen wesentlichen Unterschied, ob über eine ferne Vergangenheit geschrieben wird oder über die junge und jüngste Vergangenheit, die Vergangenheit des Dritten Reichs und der DDR, deren Schatten auf die Gegenwart fällt, deren Verbrechen nicht vergeben und nicht vergessen sind und deren Opfer unter uns leben. Weil die Opfer damals nicht gehört und gesehen wurden, wollen sie ihre Wahrheit heute anerkannt, ausgesprochen und dargestellt haben. Weil ihnen die Menschenwürde damals abgesprochen wurde, wollen sie ihrer Menschenwürde heute versichert werden. Weil sie in der und durch die Vergangenheit traumatisiert wurden, wollen sie bei der Beschäftigung mit der Vergangenheit ihr Trauma respektiert sehen. Sie haben Erwartungen, wenn über die Vergangenheit geschrieben wird. Können diese Erwartungen vernachlässigt oder muss ihnen genügt werden?

[9] Die Frage, über die ich in dieser Vorlesung sprechen werde, ist, ob es für das Schreiben über diese besondere Vergangenheit besondere Regeln gibt. Gewiss, einen Anspruch auf Achtung ihrer Person machen auch Menschen geltend, die sich in einem Gegenwartsroman bloßgestellt finden. Aber anders als die Achtung der Person, die jedem Menschen geschuldet wird, reicht die Anerkennung der erlittenen Vergangenheit über den Einzelnen hinaus. Das kollektive Schicksal der Vergangenheit ist derart Teil der individuellen Identität der Opfer geworden, dass diese es mit ihrem individuellen Schicksal angemessen dargestellt sehen wollen. Sie empfinden die Verzerrung nicht nur ihrer persönlichen Vergangenheit als verletzend, sondern der Vergangenheit insgesamt.

Die Frage, ob es für das Schreiben über diese besondere Vergangenheit besondere Regeln gibt, lässt sich weiten: Gibt es besondere Regeln für allen künstlerischen Umgang mit dieser besonderen Vergangenheit, in der Literatur, auf der Bühne und im Film, im Bild und in der Skulptur? Vermutlich gilt, was für das Schreiben gilt, ähnlich auch für die anderen künstlerischen Gestaltungen. Ich beschränke mich auf die Literatur, bei gelegentlicher Berücksichtigung des Films. Das ist, was mich betrifft und beschäftigt. Auch wenn ich nicht über [10] die junge und jüngste Vergangenheit geschrieben habe, sondern darüber, wie sie in unsere Gegenwart hineinragt und uns belastet und herausfordert – das Schreiben hierüber ist dem Schreiben über die junge und jüngste Vergangenheit hinlänglich benachbart.

2

Eine einleuchtende Anwartschaft darauf, Regel für das Schreiben zu sein, hat die Forderung, Literatur müsse wahrhaftig sein. Aber was ist Wahrheit in der Literatur? Ist es, dass die Tatsachen, die die Literatur präsentiert, geschehen sind oder hätten geschehen können? Wie steht es, wenn Literatur gar nicht beansprucht, Tatsachen zu präsentieren? Wenn sie ein Märchen, eine Komödie, eine Satire bietet und sich gewissermaßen definitionsgemäß nicht auf das beschränkt, was geschah oder hätte geschehen können? Dürfen Autoren Märchen, Komödien und Satiren über alles schreiben, sogar über den Holocaust? Theodor Adornos berühmter Satz von 1951, es sei barbarisch, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, schließt gewiss Gedichte über Auschwitz und erst recht Auschwitz-Komödien oder -Satiren ein. Gibt es [11] Ereignisse, die so schwer und so ernst sind und den Grund, auf dem und aus dem wir leben, so erschüttern, dass sie nur dokumentiert und allenfalls dann fiktionalisiert werden dürfen, wenn die Fiktionalisierung präsentiert, was geschah oder hätte geschehen können?

Ich habe diese Auffassung öfter gehört und gelesen, aber ich glaube nicht, dass sie wörtlich genommen werden darf. Ein Märchen, eine Komödie, eine Satire kann einem die Augen für die Wahrheit so nachhaltig öffnen, wie ein dokumentarischer Bericht es kann; und Literatur, die zwar ausschließlich präsentiert, was geschah, aber auslässt, was auch noch geschah, kann einen Schein von Wahrheit erzeugen, der tatsächlich die Wahrheit verfälscht. Der Auffassung, dass bestimmte Ereignisse nicht fiktionalisiert oder nur so fiktionalisiert werden dürfen, dass präsentiert wird, was geschah oder hätte geschehen können, kann es eigentlich nicht um das Genre gehen, nicht um Dokumentation im Unterschied zu Fiktion, nicht um diese Art von fiktionaler Literatur im Unterschied zu jener. Es muss ihr um Authentizität in einem tieferen Sinn gehen.

Hinter der Ablehnung der Fiktionalisierung des Holocaust oder seiner Fiktionalisierung in bestimmten literarischen Genres scheint mir die [12] Sorge zu liegen, die volle Wahrheit könne verlorengehen. Es ist die Sorge, dass die Wahrheit sich nicht nur verflüchtigt, wenn Autoren mit guter oder schlechter Absicht ihre Erfindungen an die Stelle des historischen Geschehens setzen, sondern auch wenn sie sich auf wahre, aber einzigartige und außergewöhnliche Aspekte dessen konzentrieren, was geschah. Selbst wenn einmal eine Rettung vor der Verfolgung märchenhaft geglückt sein mag, selbst wenn sich in Auschwitz ein lustiger Vorfall ereignet haben mag, selbst wenn es einen SS-Offizier gegeben haben mag, der zur Gestalt einer Satire taugt – liefe der Leser oder Zuschauer eines entsprechenden Romans oder eines entsprechenden Films nicht Gefahr zu vergessen, dass die Wirklichkeit eigentlich ganz anders war? Ich glaube, dass diese Sorge hinter der Auffassung steht, ein Ereignis wie der Holocaust dürfe nur dokumentiert, aber nicht fiktionalisiert oder nur in bestimmter Weise fiktionalisiert werden. Es ist die Sorge um die volle Wahrheit.

In der Tat, eine gute Dokumentation kann uns die volle Wahrheit verstehen lassen – erinnern wir uns nur an Claude Lanzmanns Shoa. Gute Fiktionalisierung kann dasselbe leisten und einzelne Momente so fassen, dass darin das große Bild sichtbar wird – denken wir nur an die Literatur [13] von Primo Levi und Imre Kertész. Und Fiktionalisierung kann darin scheitern. Ich jedenfalls konnte das große Bild nicht finden in Roberto Benignis Filmkomödie Das Leben ist schön über einen jüdischen Vater und seinen Sohn, die in ein Konzentrationslager gebracht werden, wo der Vater seinen Sohn glauben macht, hier werde ein kompliziertes Spiel mit komplizierten Regeln gespielt, und der Sohn die Regeln meistert und das Spiel gewinnt und den Preis kriegt: einen amerikanischen Panzer. Ich verstehe die Kritik, die gegen den Film vorgebracht wurde: Mit seiner Nahsicht auf Vater und Sohn und mit seiner Komödienverspieltheit habe er den Blick auf die Furchtbarkeit des Holocaust verstellt.

Aber aus der Sorge um die volle Wahrheit zu fordern, lediglich bestimmte Genres seien legitim, ist kleingläubig. Die Forderung, künstlerische Darstellungen des Holocaust müssten stets die volle Wahrheit, das ganze Bild sichtbar werden lassen, zeugt von zu wenig Vertrauen in die Fähigkeit der Leser und Zuschauer, selbst das ganze Bild herzustellen. Heute ist eine solche Fülle von Dokumentationen, wissenschaftlichen Darstellungen und Analysen, Romanen und Erzählungen, Stücken und Filmen zum Holocaust erschienen, dass es kein Problem ist, wenn einzelne Werke [14] nur einzelne Momente und Aspekte dessen darstellen, was damals geschah. Das ganze Bild ist ohnehin präsent. Wenn Roberto Benignis Film Das Leben ist schön oder John Boynes Buch und Film Der Junge im gestreiften Pyjama oder Radu Mihaileanus Film Zug des Lebens das ganze Bild verfehlen, ist das schade. Aber der Sorge um die volle Wahrheit muss es kein Anstoß und Ärgernis sein.

Überdies hätte die Forderung, der Holocaust dürfe nicht zum Märchen, zur Komödie, zur Satire oder sonstwie reduziert werden, wenn sie als soziale Norm akzeptiert und sanktioniert würde, einen kontraproduktiven Effekt. Mehr als alles andere würde sie den Wunsch wecken, zu provozieren und zu skandalisieren. Und sie würde Spott und Häme im Verborgenen erzeugen.

Soziale Normen, die begrenzen, was gesagt, geschrieben, gezeigt werden darf, haben immer ihren Preis. Deutschland hat, wie andere Länder, das Verbot der Leugnung des Holocaust nicht nur als soziale Norm etabliert, sondern zur Rechtsnorm und die Leugnung zur Straftat gemacht. Das Gesetz will zum Ausdruck bringen, dass unsere Gesellschaft sich der Vergangenheit stellt – ihren eigenen Angehörigen und den Angehörigen anderer Gesellschaften gegenüber. Es will auch die Juden [15]