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Wie leben wir mit der Geschichte? Brauchen wir eine Kultur des Erinnerns? Wie weit geht unsere Verantwortung, und wie weit reicht unsere Solidarität? Wie verändert sich das Recht, und wohin entwickelt sich die Rechtsprechung? Können wir Christen bleiben, wenn uns der Glaube verlorengeht? Ausgehend von vertrauten Begriffen, alltäglichen Erfahrungen und gesellschaftlichen und politischen Konflikten erkundet Bernhard Schlink erzählerisch anschaulich komplexe Themen von bleibender Aktualität.
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Seitenzahl: 285
Bernhard Schlink
Erkundungen
zu Geschichte, Moral,Recht und Glauben
Editorische Nachweise am Ende des eBooks
Covermotiv: Anna Keel, ›Stilleben mit weisser Vase mit Toscanini-Rosen‹, 1996
Copyright ©Anna Keel
Alle Rechte vorbehalten
Copyright ©2022
Diogenes Verlag AG Zürich
www.diogenes.ch
ISBN Buchausgabe 978 3 257 06936 5
ISBN E-Book 978 3 257 60699 7
[7]Vorwort
Der Band handelt von der Pflicht zu erinnern, dem Recht zu vergessen und der Wende unserer Erinnerungskultur zu einer Kultur des Denunziatorischen; von dem Moralischen, das sich von selbst versteht, und von Verrat, dem Opfer des Lebens und der Zukunft der Verantwortung als moralischen Herausforderungen; davon, was es bedeutet, Jurist und Richter zu sein, und wie sich die Verpflichtung auf das Recht verändert; und schließlich von der Geltung, die der Glaube auch im Zweifel noch behält.
Die Texte sind in den letzten Jahren als Vorträge, Essays und Predigten entstanden. Die Themen und Probleme, von denen sie handeln, begleiten mich seit langem. Glaube und Zweifel und die Probleme des Moralischen sind mein Erbteil als Kind aus protestantischem Theologenhaus; die Vergangenheit, ihre Bedeutung für uns und unser Umgang mit ihr sind ein Thema meiner Generation; und das Verhältnis des Juristen zu Recht und Gerechtigkeit hat nie aufgehört, mich als Richter und Lehrer des Rechts zu beschäftigen. Die Fragen, die mit unseren Lebenswegen zu tun haben, mit der Zeit, in der wir stehen, und der Generation, zu der wir gehören, und die im Zentrum unseres Berufs und unserer Arbeit stehen, lassen uns nicht los, und wir kehren immer wieder zu ihnen zurück.
Oft sind es Grenzfragen, Fragen, mit denen wir an die [8]
[9]
[11]Erinnern und Vergessen
Wie viel Freiheit haben wir im Umgang mit der Vergangenheit?
1
Als ich ein Kind war, führte mich mein Weg durch die Stadt oft an der Ecke des Rathauses vorbei, an der in einem Erker eine Gestalt aus braunem Ton stand. Sie erinnerte an die deutschen Soldaten, die noch in Russland gefangen oder vermisst waren. Sie trug keine Uniform, sondern ein weites Gewand, sie trug auch keine Fesseln, kein Werkzeug, keinen Essnapf, sondern zeigte nur die leeren Hände. Sie hätte statt eines Gefangenen oder Vermissten auch einen Einsiedler oder einen Wanderer aus einer fernen Welt und fernen Zeit darstellen können. Aber für mich war klar, was sie darstellte. Die Kriegsgefangenen, die Vermissten, die Gefallenen, die Vertriebenen und das Land östlich der Oder und Neiße, aus dem sie vertrieben und geflohen waren – das war, woran sich in den fünfziger Jahren unsere Eltern erinnerten und wir Kinder uns mit ihnen. Wir sammelten für den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, wir nahmen mit Aufsätzen über Breslau oder Königsberg an Wettbewerben teil, und manchmal erzählten unsere Lehrer über ihre Gefangenschaft in Russland oder Afrika. Nach 1953 wurde der Aufstand des 17.Juni Teil der [12]Erinnerungskultur; wir Kinder gedachten seiner bei Aufzügen und Versammlungen, stellten Kerzen ins Fenster, zogen mit Fackeln in den Schlosshof und hörten Reden über den Totalitarismus Stalins, der nach dem Totalitarismus Hitlers als nächstes Verhängnis den Osten Deutschlands und Europas heimgesucht hatte.
1963, mit den Frankfurter Auschwitz-Prozessen, wurden wir des Holocaust als zu erinnernder Vergangenheit gewahr. Nicht dass er davor verleugnet oder verschwiegen worden wäre. Aber erst mit den Prozessen wurde seine ganze Furchtbarkeit anschaulich. Er wurde zum wichtigen Moment in der Auseinandersetzung der 68er Generation mit der Elterngeneration, und mit der gleichnamigen Fernsehserie, die 1979 von einem größeren Publikum gesehen und in Familien, Schulen und Medien diskutiert wurde als jede Serie davor oder danach, rückte er in das Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit. In den achtziger Jahren wurde der Holocaust die Vergangenheit, die vor allen anderen Vergangenheiten erinnert wurde.
Die anderen Vergangenheiten wurden vom Holocaust nicht einfach verdrängt. Die Erinnerung an den verlorenen Krieg, das verlorene Land, die Vertreibung der Deutschen und den Aufstand des 17.Juni passte auch nicht mehr in das neue politische Klima von Willy Brandts Ostpolitik, die Verlust und Vertreibung und die staatliche Existenz der DDR akzeptierte und statt auf Konfrontation auf Wandel durch Annäherung setzte. Zugleich wurde die Erinnerung an Deutsche als Opfer und Helden, Opfer des Kriegs und der Vertreibung und Helden des Aufstands mehr und mehr Deutschen, die sich von ihrer deutschen [13]Vergangenheit distanzieren und eine neue, europäische oder atlantische Identität finden wollten, peinlich.
Bis heute, durch die Wiedervereinigung und durch den Wandel der Bonner zur Berliner Republik hindurch, blieb der Holocaust die Vergangenheit, die vor allen anderen Vergangenheiten erinnert wird: als Kultur- oder Zivilisationsbruch, als Inbegriff des Furchtbaren, das Menschen einander antun können und nie wieder antun dürfen. Er blieb Grund deutscher Schuld und Verantwortung und das Ereignis, in dessen Anerkennung und Aufarbeitung Deutschland eine neue, sich selbst und die Welt überzeugende Identität finden musste. Der Umstand, dass das wiedervereinigte, größere und stärkere Deutschland die Angst seiner Nachbarn vor einem neuen deutschen Nationalismus spürte, trug dazu bei, den Holocaust, diese Vergangenheit der Schuld oder auch der Schande, zu erinnern.
Aber jetzt jährt sich der Ausbruch des Ersten Weltkriegs zum hundertsten Mal, und die öffentliche Aufmerksamkeit wendet sich vom Holocaust, Dritten Reich und Zweiten Weltkrieg ab und dem Ersten Weltkrieg zu als dem Beginn der großen europäischen Tragödie, dem Beginn nicht nur des Ersten, sondern auch des Zweiten Weltkriegs oder, richtiger, eines großen Kriegs, der von 1914 bis 1945 dauerte und der Entwicklung des Westens zum Verhängnis wurde. Es gibt ein neues Interesse an den Fragen, wer für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs verantwortlich war und dafür, dass er nicht früher und besser endete, wie er nicht nur die Landkarte Europas veränderte, sondern auch das Ende des Kolonialismus in Afrika und Asien einleitete und wie die Soldaten den Krieg in den Gräben und bei den Angriffen [14]erlebten, die mehr Opfer forderten, als Schlachten sie jemals gefordert hatten, wie sie davon geprägt und traumatisiert und ruiniert wurden. Es ist ein neues Interesse nicht nur bei Historikern, sondern bei Schriftstellern, Produzenten und Regisseuren und beim Publikum.
Gewiss, der Erste Weltkrieg und seine Ursachen und Folgen interessieren nicht jeden. Aber Geschichte interessiert ohnehin nicht jeden, und sie interessiert weniger und weniger junge Menschen. Das gilt auch für die Geschichte des Holocaust. Meine Generation hatte Eltern, Lehrer, Pfarrer und Professoren, die an den Furchtbarkeiten des Dritten Reichs beteiligt oder in sie verstrickt waren, und stand über sie in lebendiger Verbindung zur Vergangenheit, und auch die nächste Generation erlebte die Verbindung noch, wenn auch schon schwächer, über ihre Großeltern. Für die nachfolgenden Generationen ist der Holocaust lange vergangen, wie alle Geschichte lange vergangen ist. Gelegentlich eine anrührende historische Begebenheit – das ist okay und ist auch genug.
Dürfen die nächsten Generationen den Holocaust vergessen? Dürfen, um die deutsche zur allgemeinen Frage zu weiten, die Japaner die ermordeten Chinesen und missbrauchten Koreanerinnen vergessen, die Türken die vernichteten Armenier, die Russen die Opfer des Stalinismus und die Amerikaner die versklavten Afrikaner und die ihres Lands und Lebens beraubten Indianer? Steht uns moralisch frei, was und wann wir erinnern und was und wann wir vergessen? Gibt es Vergangenheiten, die erinnert werden müssen? Gibt es Vergangenheiten, die vergessen werden dürfen?
[15]2
»Die Vergangenheit ist der Schlüssel zur Zukunft« oder, spiritueller, »Erinnerung ist das Geheimnis der Erlösung« oder, einschüchternder, »was wir nicht erinnern, müssen wir wiederholen« – diese sprichwörtlichen Weisheiten mahnen uns zum Erinnern, weil anders eine doppelte Gefahr drohe: dass wir unsere Wurzeln verlieren und dass wir in Zukunft die gleichen Fehler machen, die wir in der Vergangenheit gemacht haben. Ist das nicht auch die Weisheit der Psychoanalytiker und -therapeuten, die mit ihren Patienten tief in deren bewusste und unbewusste Vergangenheit eindringen?
Aber es gibt auch andere Therapeuten, die lehren, dass Selbstfindung und -vergewisserung in Aufarbeitung der Vergangenheit und dessen, was uns angetan wurde und wir anderen angetan haben, im Erinnern und erst recht in Schuld und Reue nicht gelingen könnten, sondern nur, wenn wir entschlossen im Hier und Jetzt lebten. Diese Betonung der Bedeutung des Hier und Jetzt ist buddhistisch beeinflusst, reklamiert aber eine reichere Tradition und zitiert auch die Bibel und Christus: »Wer die Hand an den Pflug legt und sieht zurück, ist nicht geschickt zum Reich Gottes.«
Diese einander widersprechenden Lehren richten sich wie an Einzelne auch an Völker. Völker haben zu ihren Vergangenheiten denn auch manchmal eher das eine, manchmal eher das andere Verhältnis. Dass Erinnerung das Geheimnis der Erlösung ist, eine Einsicht von Baal Shem Tov, leuchtet als Maxime für das Volk der Juden unmittelbar ein; [16]ohne einen ständig erneuten und bewährten Willen zum Erinnern, ohne eine Kultur und Tradition des Erinnerns hätte es in Gefangenschaft und Diaspora seine Identität verloren. Ähnlich haben die Polen ihren Zusammenhalt trotz beinahe zweihundertjähriger Teilung wahren können, weil sie ihre gemeinsame Vergangenheit erinnert haben. Junge Nationen, die verschiedene Stämme, Kulturen und Traditionen zusammenhalten müssen, zeigen oft ein großes Bedürfnis nach einer inspirierenden und verbindenden Vergangenheit. Andererseits wurde Amerika für seine Fähigkeit gerühmt, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, und die Amerikaner für ihre Gleichgültigkeit gegenüber ihrer eigenen Geschichte und der Geschichte anderer, gegenüber historischen Prägungen und Traumata; so habe Amerika es geschafft, wieder und wieder zu neuen Horizonten aufzubrechen, und hätten die Amerikaner ihre Offenheit gegenüber der Zukunft, gegenüber Neuem und Fremdem, und ihre Freiheit von Ressentiments und Vorurteilen gewonnen.
Aber dürfen die Amerikaner darum die versklavten Afrikaner und die ihres Lands und Lebens beraubten Indianer vergessen? Sind die Polen frei in dem, was sie in die kollektive Biographie hineinnehmen und was sie von ihr ausschließen? Sind junge Nationen frei, eine große Vergangenheit zu erfinden, wenn sie keine haben?
Beides, Erinnern und Vergessen, dient offensichtlich wichtigen Bedürfnissen. Erinnern bewahrt und pflegt Identität, Vergessen befreit zu den Aufgaben der Gegenwart und Zukunft. Es lassen sich auch zeitliche Abschnitte ausmachen, in denen entweder Erinnern oder Vergessen [17]ansteht, weil die entsprechenden Bedürfnisse sich geltend machen. Die Unwilligkeit der Westdeutschen, sich nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Nazi-Vergangenheit zu beschäftigen, hatte ihren Grund weniger im Wunsch, diese Vergangenheit zu unterdrücken, als vielmehr darin, dass der Wiederaufbau des zerstörten Landes alle Kraft absorbierte. Ähnlich unwillig waren die Ostdeutschen, sich nach dem Untergang der DDR mit der Stasi-Vergangenheit zu beschäftigen, weil sie alle Kraft brauchten, ihren Weg in die fremde neue Welt des Kapitalismus zu finden. In West- wie in Ostdeutschland kam das Erinnern später, fünfzehn bis zwanzig Jahre nach dem Ende der Nazi- beziehungsweise Stasi-Vergangenheit. Dann diente es dem Bedürfnis, eine neue Identität zu finden, die mit der Nazi- beziehungsweise Stasi-Vergangenheit brach, diese aber doch aufzugreifen und zu integrieren hatte.
Aber Bedürfnisse sind keine moralische Rechtfertigung. Ebenso wenig wird die Freiheit zu erinnern und zu vergessen dadurch gerechtfertigt, dass sowohl Erinnern als auch Vergessen ihre Fürsprecher haben. Die moralische Frage ist weiter offen.
3
Moralische Verpflichtungen bestehen gegenüber einem anderen. Die Frage, wann Erinnern und Vergessen moralisch gerechtfertigt sind, stellt sich nur, wenn es einen gibt, der erinnern und vergessen kann, und einen anderen, der erinnert und vergessen werden kann und entweder erinnert [18]oder vergessen werden will. Es gibt keine moralischen Maßstäbe für das Erinnern oder Vergessen des toten Hunds oder der toten Katze und auch nicht für das des Freunds, dem gleichgültig ist, ob er erinnert oder vergessen wird.
Aber nehmen wir das einfache Beispiel zweier Freunde, von denen einer seine Erinnerungen schreibt und dabei den Freund übergeht, während er andere Freunde erwähnt. Der Freund ist gekränkt – zu Recht?
Ich meine, ja. Freundschaften haben für die Selbstwahrnehmung und -achtung der Freunde Gewicht und sind ein Moment ihrer Identität. Der Freund gehört in die Erinnerungen des Freundes nicht nur, weil er so wichtig ist wie die anderen Freunde, die erwähnt werden. Indem er übergangen wird, wird auch seine Identität brüskiert. Die Verleugnung der Freundschaft ist eine Verletzung der Achtung, die Freunde einander schulden und die sie voneinander erwarten können. Ein Freund hat ein moralisches Recht, vom Freund geachtet und vor der Öffentlichkeit nicht vergessen, sondern erinnert zu werden.
Es gibt weitere Gründe für ein moralisches Recht darauf, in Erinnerungen erwähnt zu werden. Zwar mag, wer in seinen Erinnerungen Leistungen für sich reklamiert, die er nicht vollbracht hat, sich lediglich lächerlich machen. Wer aber die Leistungen seines Teams als seine Leistungen ausgibt, verletzt das Recht der Mitglieder des Teams, mit ihren Leistungen anerkannt zu werden, und brüskiert ihre Identität – unsere Leistungen sind ein Moment unserer Identität. Ebenso brüskiert, wer in seinen Erinnerungen die Opfer verschweigt, die der Preis seiner Errungenschaften waren, die Identität der Opfer. Der Arzt, der eine neue [19]Operationstechnik entwickelt hat und in seinen Erinnerungen nur über die Patienten schreibt, die er mit der neuen Technik geheilt hat, nicht aber über die, die bei deren Entwicklung zu Schaden kamen, rückt sich nicht nur in ein falsches gutes Licht, sondern verletzt ein Recht der zu Schaden gekommenen Patienten. Auch die Rolle als Opfer ist ein Moment unserer Identität, und wer für sie verantwortlich ist, schuldet ihr Anerkennung und Erinnerung.
Wer für sie verantwortlich ist – nicht jedermann hat eines anderen Rolle als Opfer oder eines anderen Leistungen und Errungenschaften zu erinnern. Es gibt kein moralisches Gesetz, unter dem wir jedermanns Identität so, wie sie gewachsen und geworden ist, anzuerkennen hätten. Wir dürfen andere übersehen und übergehen und müssen uns nicht um sie kümmern. Stehen wir zu ihnen allerdings in näherer Verbindung, als Freunde oder als Partner im Team oder als Ärzte, und schreiben über einen Abschnitt unseres Lebens, den wir miteinander teilten, schulden wir ihnen die Anerkennung und Erinnerung dessen, was uns verband und was wir ihnen verdanken oder auch antaten. Es gibt verschiedene solche näheren Verbindungen: vorgefundene zwischen Angehörigen einer Familie, gewachsene zwischen Freunden und Partnern, aufgezwungene zwischen Tätern und Opfern, zufällige zwischen denen, die sich gemeinsam in einer Notlage finden und daraus befreien wollen. Stets entstehen ein moralisches Recht darauf, in der eigenen Identität geachtet zu werden, und die entsprechende moralische Pflicht zu Anerkennung und Erinnerung.
[20]4
Was für individuelle Erinnerungen gilt, gilt auch für kollektive, für Geschichtsschreibung und -tradierung. Aus Nähe durch Nachbarschaft, durch Krieg, Besatzung und Unterdrückung, durch geleistete Hilfe oder durch gemeinsame Vorhaben erwächst eine moralische Verpflichtung, die Identität des anderen Volks zu achten und seine Vergangenheit anzuerkennen und zu erinnern.
Deutschland kann der Schweiz kein guter Nachbar sein, wenn es an ihrem Befreiungskampf im 13. und 14.Jahrhundert und ihrer Selbstbehauptung über die Jahrhunderte keinen Anteil nimmt und nicht versteht, wie stark diese Vergangenheit die Schweiz an ihrer Unabhängigkeit und Neutralität im Zentrum Europas festhalten lässt. Deutschland kann kein gutes Verhältnis zu Holland, Polen und Russland haben, ohne anzuerkennen, dass es diesen Ländern während des Zweiten Weltkriegs tiefe Wunden zugefügt hat. Es gibt keine Beziehung Deutschlands zu Israel ohne Erinnerung an den Holocaust.
Dabei schulden nicht nur das Land, seine Politik und seine Repräsentanten die Erinnerung an den Holocaust. Junge Deutsche, die heute nach Israel reisen, erfahren, dass vom Holocaust noch die dritte und die vierte Generation traumatisiert sein kann, dass der Schatten der Vergangenheit weit reicht und dass die Gegenwart nur gelingt, wenn die Vergangenheit erinnert wird. Nicht dass sie sich den jungen, unter dem Trauma des Holocaust lebenden Israelis gegenüber schuldig fühlen müssten. Die Sünden der Väter reichen nicht weiter als bis zu den Kindern und [21]Enkelkindern. Schuld aus Solidarität, das heißt daraus, dass man die Täter in der Gemeinschaft hält oder ihnen gar mit Achtung, Bewunderung oder Liebe begegnet, endet mit dem Tod der Täter. Wenn sie nicht mehr leben, können sie auch nicht mehr in der Solidarität der Gemeinschaft gehalten und kann nicht mehr versäumt werden, sie zur Rechenschaft zu ziehen, zu der sie gezogen gehörten. Ebenso wenig wie Schuld müssen die jungen Deutschen Scham empfinden. Schuld gilt dem, was wir tun, Scham dem, wie wir sind – die jungen Deutschen haben weder zum einen noch zum anderen Grund. Aber sie müssen erinnern. Wieder und wieder erlebe ich, dass meinen Studenten und Studentinnen beim Studium im Ausland zum ersten Mal klar wird, dass sie nicht einfach Europäer oder freie Menschen der freien Welt sind, sondern Deutsche und dass sie den Menschen im Ausland, denen die gemeinsame Vergangenheit sehr bewusst ist, nur näherkommen können, wenn sie auch ihnen bewusst ist.
Ich erwähnte Nähe durch gemeinsame Vorhaben – das europäische Projekt lebt von der Bereitschaft der Völker, die Vergangenheiten der anderen Völker anzuerkennen und deren Erinnerungen mit den eigenen zu vermitteln. Deutsch-französische Kommissionen haben erarbeitet, wie die deutsche und die französische Geschichte in den Schulbüchern der beiden Länder dargestellt werden, und deutsch-polnische Kommissionen erarbeiten Entsprechendes für die deutschen und polnischen Schulbücher. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg ist bei sensiblen Verfahren, bei denen es zum Beispiel um religiöse Gepflogenheiten und Traditionen geht, sorgsam darauf bedacht, [22]die verschiedenen Vergangenheiten der beteiligten Länder zu erinnern und zu respektieren. Sogar Fußball leistet seinen Beitrag zum europäischen Projekt, indem die Fans alte Siege und alte Niederlagen erinnern und in einen gemeinsamen europäischen Fußballteppich weben.
Die moralische Pflicht zum Erinnern hat umso mehr Evidenz, je deutlicher es um einen anderen geht. Dass Deutsche erinnern, was sie Juden, dass Türken erinnern, was sie Armeniern, und Weiße, was sie Schwarzen angetan haben, versteht sich. Wenn es um Bürgerkrieg, um den Versuch der Vernichtung einer Gruppe durch eine andere Gruppe oder auch nur um Diskriminierung und Unterdrückung innerhalb eines Landes geht, versteht sich das Erinnern weniger. Hier kann die Unterscheidung von Tätern und Opfern schwierig werden, und die Konflikte können Familien, örtliche und religiöse Gemeinschaften spalten und das Funktionieren der wichtigen Institutionen lähmen. Weil die Menschen weiter zusammenleben und ihre Familien, Gemeinschaften und Institutionen zusammenhalten müssen, scheuen sie sich oft, der Erinnerung an das großen Raum zu geben, was sie auseinandergerissen und gegeneinandergestellt hat und was sie einander angetan haben. Es ist kritisiert worden, dass Russen nicht gerne über Stalins Verbrechen reden und Kambodschaner nicht gerne über die Verbrechen Pol Pots und dass die Furchtbarkeiten des Spanischen Bürgerkriegs im spanischen Gedächtnis nicht die Rolle spielen, die die Furchtbarkeiten des Dritten Reichs im deutschen Gedächtnis spielen. Aber Russen, Kambodschanern und Spaniern sind ihre Vergangenheiten nicht etwa gleichgültig, und sie wollen sie weder verleugnen noch [23]die Verbrechen vertuschen. Weil es bei ihren Vergangenheiten schwerer fällt, einen anderen als Täter zu identifizieren, scheuen sie ein Hin und Her von Anklagen und Gegenanklagen, das alle einbezieht und das Zusammenleben beeinträchtigt.
5
Wenn Länder erinnern, was sie einander angetan oder was sie voneinander erlitten haben, können Erinnerungskulturen entstehen. Auch wenn keiner der Polen, die am Warschauer Aufstand teilgenommen haben, mehr leben wird und ebenso keiner der Deutschen, die an der Niederwerfung des Aufstands beteiligt waren, werden die Repräsentanten Deutschlands in Warschau am Denkmal für den Aufstand Kränze niederlegen. Des Holocaust wird an Gedenktagen und auf Gedenkstätten, auf Tagungen und in Ausstellungen gedacht werden, lange nachdem alle, die ihn überlebt haben oder auch nur jemanden kannten, der ihn überlebt hat, tot sind. Erinnerungskulturen gewinnen mit ihren Traditionen und Institutionen ein Eigenleben, eine gewisse Unabhängigkeit von den Erinnerungen der Menschen.
Die moralische Pflicht zum Erinnern wächst aus Achtung vor der Identität des andern, die Achtung wächst aus Nähe zum anderen, und Länder bleiben einander nahe, auch wenn die erinnerten Ereignisse lange vergangen und die Menschen, die einander Schlimmes angetan oder Schlimmes voneinander erlitten haben, lange tot sind. Kollektive [24]Identitäten haben ein langes Gedächtnis. Der Warschauer Aufstand wird ein Moment der polnischen und der Holocaust ein Moment der jüdischen und israelischen Identität bleiben.
Erinnerungskulturen haben Bestand, auch wenn die Menschen nicht mehr oder kaum noch erinnern. Aber sie erinnern die Menschen daran, dass sie erinnern sollten. Sind die Menschen moralisch verpflichtet, der Erinnerung zu folgen?
Es gibt Menschen, die mit der Geschichte ihres Lands leben und die kollektive Identität zum Moment ihrer individuellen machen. Für Hans Müller, der als Deutscher stolz auf die deutschen Denker, Dichter und Komponisten ist, für John Miller, dessen amerikanisches Herz der exzeptionelle amerikanische Weg höher schlagen lässt, für den Franzosen Jean Dupont, dem Frankreich als Vater- oder Mutterland von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit teuer ist – für sie alle, die mit der Geschichte ihres Landes leben und sich von ihr inspirieren lassen, sich an ihr freuen, auf sie stolz sind, gehört es sich, dass sie sich der ganzen Geschichte ihres Lands stellen und nicht die erfreulichen Abschnitte erinnern und die unerfreulichen vergessen. Wer die kollektive Biographie zum Moment seiner individuellen macht, bewahrt seine Integrität nur, wenn er die kollektive Biographie so erinnert, wie sie ist – im Schlechten wie im Guten.
[25]6
Und wenn jemand ohne Geschichte lebt? Wenn jemand ausschließlich auf das Hier und Jetzt setzt?
Viele tun das. Menschen aus der Geld- und Finanzwelt, die zwischen New York, London und Hongkong pendeln, zu keiner anderen Gemeinschaft gehören als zur internationalen Gemeinschaft von gleichermaßen Heimatlosen und sich für niemandes Geschichte interessieren, auch nicht für ihre eigene. Surfenthusiasten, die in Hawaii, Australien und Borneo nach der ultimativen Welle suchen und denen egal ist, was geschah, bevor ihr Leben um Strände, Wellen und Surfboards kreiste. Aber auch Menschen, für die im Leben mehr zählt als Geld und Finanzen, Wellen und Surfboards, die hart arbeiten, ihren Kindern gute Eltern und ihren Kollegen und Nachbarn gute Kollegen und Nachbarn sind und sich sogar für Belange ihrer Gemeinschaft einsetzen und denen zugleich die Vergangenheit völlig gleichgültig ist – vielleicht nicht die Familienvergangenheit, aber vielleicht auch die. Es gibt sie jung wie alt. Manchmal frage ich meine Studenten, für welche historischen Ereignisse sie sich interessieren, durch welche sie sich in ihrer Sicht auf die Welt, ihrem Denken, ihren Zu- und Abneigungen geprägt fühlen, und jedes Mal gibt es den einen und anderen, der etwas zu antworten weiß, und zugleich viele, die mich mit leeren Gesichtern ansehen und nicht verstehen, was ich von ihnen will. Sie wollen ihr Studium abschließen und Karriere machen und sichere oder lukrative oder, besser noch, sichere und lukrative Jobs finden – was hat Geschichte damit zu tun? Und es gibt Menschen, die dem Buddhismus [26]begegnen oder Yoga treiben oder in Büchern oder auf Seminaren the power of now kennenlernen und ihre Energie darauf richten, ausschließlich im Hier und Jetzt zu leben.
Sind sie frei, das zu tun? Die Menschen der Geld-, Finanz- und Surfwelt, die Studenten, denen es um Karriere und Beruf geht, die Kollegen und Nachbarn, die aus praktischen, und die anderen, die aus esoterischen Gründen ausschließlich im Hier und Jetzt leben? Dürfen sie ihre Identität geschichtslos definieren? Dürfen sie ausschließlich im Hier und Jetzt leben?
Ich sehe nicht, warum es unmoralisch sein sollte. Jedenfalls dann nicht, wenn die, mit denen sie umgehen, ebenfalls nicht erinnern und sich weder für eigene noch für fremde Geschichte interessieren. Warum sollten sie Erinnerung schulden? Wem sollten sie Erinnerung schulden?
Treten oder geraten sie allerdings in ein näheres Verhältnis zu anderen, für deren Identität Geschichte konstitutiv ist und die sich an die Vergangenheit, vielleicht sogar an eine schwierige und traumatische Vergangenheit erinnern, dann verpflichtet die Nähe sie dazu, sich aus Achtung für die Identität der anderen auch auf deren Geschichte einzulassen. Aber derartige nähere Verhältnisse lassen sich vermeiden.
7
Was wir nicht erinnern, müssen wir wiederholen – ist das ein Grund fürs Erinnern? Ein moralischer Grund, weil eine Wiederholung von Fehlern, mit denen wir andere verletzt [27]haben, dazu führt, dass wir sie wieder verletzen? Müssen wir die Vergangenheit erinnern, um von ihr zu lernen?
Die Militärgeschichte bietet zahlreiche Beispiele des Lernens aus der Geschichte. Wir lesen von Tannenberg und Cannae und anderen Schlachten, die auf eine Weise gewonnen wurden, auf die schon früher Schlachten gewonnen wurden, und während die Amerikaner in Vietnam nicht davon lernen mochten, wie die Franzosen in Vietnam gekämpft und verloren hatten, lernten sie in Afghanistan und Irak von ihrem eigenen Krieg in Vietnam. Da es im Krieg nicht nur um Sieg und Niederlage, sondern auch um Verhältnismäßigkeit und darum geht, so wenige Leben wie möglich zu opfern und so viele wie möglich zu retten, hat das Lernen aus der Geschichte auch eine gewisse moralische Qualität. Aber vor allem geht es beim Lernen von Strategien und Taktiken aus der Geschichte doch um das Ansammeln und Nutzen von technischem Wissen – wie das Bauen neuer Maschinen, Gebäude oder Brücken die Erfahrungen mit alten Maschinen, Gebäuden und Brücken auswertet, deren Lebensdauer, die Mängel, die sie zeigten, die Unfälle, die sie verursachten. Jedes Ansammeln und Nutzen von wissenschaftlichen, technischen und auch Alltagseinsichten schließt ein Moment des Erinnerns und Lernens von Vergangenem ein.
Dass wir die Vergangenheit erinnern müssen, damit wir sie nicht wiederholen, meint mehr als das Ansammeln und Nutzen von Einsichten. Es zielt auf die Richtung, die wir beim Weg in die Zukunft einschlagen wollen. So hat Deutschland das Grundgesetz so zu gestalten versucht, dass das gesellschaftliche und politische Leben nicht [28]wieder zu dem Debakel werden würde, zu dem es unter der Weimarer Verfassung wurde. Erfolgreich? Wir werden es nie wissen, weil das Leben sich beide Male auch unabhängig von den Verfassungen völlig verschieden entwickelte – wirtschaftlich, kulturell, gesellschaftlich, politisch. Die deutschen Schüler und Schülerinnen sollen über den Holocaust lernen, damit sie verstehen, dass so etwas nie wieder geschehen darf, und sich entsprechend einsetzen. Aber natürlich wird »so etwas« nie wieder geschehen, und wie immun das Lernen über den Holocaust die Schüler und Schülerinnen gegen künftige, ganz andere Versuchungen unmenschlichen Verhaltens macht, ist eine offene Frage. Das europäische Projekt entstand nach dem Zweiten Weltkrieg unter anderem aus dem Wunsch, es dürfe auf europäischem Boden nie wieder Krieg geben. War dieser Wunsch das Ergebnis der Erinnerung an die Vergangenheit oder der schieren Erschöpfung?
Das Erinnern der Vergangenheit kann sogar in die Vergangenheit verstricken. Der meisterinnerte und -erzählte deutsche Mythos ist die Geschichte der Nibelungen, die Geschichte einer heroischen Niederlage, aus der die Deutschen über Jahrhunderte nicht gelernt haben, Niederlagen zu vermeiden, sondern sie zu heroisieren. Die Russen haben über Jahrhunderte gelernt, unter zuerst zaristischer und dann kommunistischer Unterdrückung zu leben, und weil sie es erinnern, fällt es ihnen nicht schwer, sich mit der neuen Unterdrückung durch Putin abzufinden. Die Geschichte Amerikas ist eine Geschichte des Überflusses und der Unverletzlichkeit, des Überflusses an Land, Ressourcen und Macht und der Unverletzlichkeit hinter zwei [29]Ozeanen – man kann zweifeln, ob diese Geschichte zu erinnern und von ihr zu lernen in der heutigen Welt hilft.
Nein, die Vergangenheit zu erinnern, damit wir sie nicht wiederholen, trägt zu der moralischen Frage, die ich zu beantworten versuche, nichts bei. Manchmal mag die Vergangenheit zu erinnern dafür sorgen, sie nicht zu wiederholen. Aber manchmal sorgt es genau dafür.
8
In dem Rahmen und unter den Vorbehalten, die ich bisher bezeichnet habe, sind Menschen frei, die Vergangenheit nicht zu erinnern, nicht von ihr zu lernen und zu vergessen, was sie nicht umhinkönnen, über die Vergangenheit mitzubekommen. Sie sind frei, ausschließlich im Hier und Jetzt zu leben.
Aber was für ein Leben ist das! Eine Weile lang mag es ein gutes, heilendes und befriedigendes Leben sein. Es gibt Zeiten, in denen wir vergessen müssen, was uns widerfuhr – als Einzelner, als Familie, als Volk, weil wir unsere ganze Kraft auf die unmittelbar vor uns liegende Aufgabe richten und unser Leben nach längerer Krankheit wiederaufnehmen oder unsere Familie nach längerer Trennung wieder zusammenfügen oder unser Land nach einem Krieg wiederaufbauen müssen. Ich habe diese Zeiten des Vergessens, die wir alle manchmal brauchen, für mich Ferien vom eigenen Ich genannt.
Ferien vom eigenen Ich – vor einigen Monaten stieß ich im Magazin der New York Times auf einen Artikel mit dem [30]Titel A Brief Vacation from Myself, in dem der Autor Tom Fields-Meyer seine transiente globale Amnesie beschreibt, eine vorübergehende Gedächtnisstörung, für die die medizinische Wissenschaft keine Erklärung hat, die einem nur einmal im Leben passiert, schmerzlos ist und folgenlos bleibt. Für ein paar Stunden spielt das Gehirn wieder und wieder dieselbe Schleife, nimmt nichts auf und vergisst, was gerade geschehen ist. Während die Amnesie passiert, ist sie nicht einmal verwirrend, weil man nicht weiß, was man weiß und dass man vergisst. Aber danach hat sie dem Autor keine Ruhe gelassen. »Unsere Erinnerungen machen uns zu dem, was wir sind – und können einfach verschwinden? Was sind wir dann noch? Die Frage quält mich jeden Morgen wieder, wenn ich mich nicht erinnern kann, wohin ich meine Schlüssel gelegt habe oder warum ich die Treppe hinuntergekommen bin.«
John M. Coetzee zeichnet in seinem neuen Roman The Childhood of Jesus eine dystopische Welt, in der die Menschen keine Vergangenheit und keine Erinnerung haben und sich mit schweren Gliedern durch den Nebel des Lebens zu tasten versuchen, und in der dystopischen Welt von George Orwells Roman 1984 wandelt sich die Vergangenheit ständig, wird neu gefälscht, neu geschrieben und lässt die Erinnerung ohne Halt. Das Leben ohne Erinnerungen wird zum Alptraum.
Ja, es gibt Menschen, die ausschließlich im Hier und Jetzt leben und jedes moralische Recht dazu haben. Für eine Weile mag es ihnen die Ferien vom eigenen Ich bieten, die sie brauchen. Aber als Drehbuch eines vollen und reichen Lebens taugt es nicht. Es lässt uns nicht als die leben, [31]die wir sind. Es lässt uns auch nicht in wirklicher Verbindung, in echter Nähe mit anderen leben. Nicht nur weil Nähe zu einem anderen voraussetzt, dass seine Identität geachtet und seine Vergangenheit, die ein Moment seiner Identität ist, anerkannt wird – es mag sich ein anderer finden, der ebenfalls im Hier und Jetzt lebt und sich ebenfalls für seine Vergangenheit nicht interessiert. Aber Nähe zu einem anderen setzt auch voraus, dass man Geschichten gemeinsam erlebt und erinnert, aus denen eine Geschichte der Beziehung wächst. Ein Paar ist einander verbunden in der Erinnerung daran, wie sie sich trafen und ineinander verliebten, dass sie heirateten, als Willy Brandt Kanzler wurde, ihr erstes Kind bekamen, als Deutschland die Weltmeisterschaft gewann, und sich beinahe trennten, als die Mauer fiel. Manchmal erlaubt ihnen das Verhandeln und Vereinbaren eines gemeinsamen Narrativs für einen schwierigen Abschnitt ihrer Ehe, die Schwierigkeiten hinter sich zu lassen. Gewiss, ohne Liebe hat ihre Ehe keinen Bestand. Aber sie brauchen ebenso eine gemeinsame Geschichte ihrer Liebe, in der sie es zusammen durch dick und dünn schaffen, aneinander wachsen und scheitern und gleichwohl beieinanderbleiben, eine gemeinsame Geschichte, die sie miteinander verbindet und auch mit der Gesellschaft, in der sie leben, und deren Geschichte.
Manchmal wurde ich in Interviews, in denen über Deutschlands schwierige und in den dreißiger und vierziger Jahren verbrecherische Geschichte und den langen Schatten gesprochen wurde, den sie in die Gegenwart wirft, gefragt, ob ich lieber etwas anderes als ein Deutscher wäre. Meine Mutter war Schweizerin, und ich kann mir [32]vorstellen, in der Schweiz aufgewachsen und ein Schweizer zu sein. Ich mag Kanada, eine Gemeinschaft von freundlichen, bescheidenen, hilfsbereiten und einladend offenen Menschen, und wenn meine Eltern mit uns Kindern nach dem Krieg nach Kanada ausgewandert wären, wäre ich ein glücklicher Kanadier geworden. Amerika war immer gut zu mir, und wenn meine Mutter, was zu denken absurd ist, nach dem Krieg mit einem GI nach New York oder San Francisco durchgebrannt wäre, hätte ich ein gutes Leben in Amerika gefunden. Aber nichts dergleichen geschah, und so möchte ich nichts anderes sein als ein Deutscher. Mit der deutschen Geschichte, die ich vom Wiederaufbau bis zur Wiedervereinigung erlebt habe, und mit der, die mir in die Wiege gelegt war. Mit Deutschlands guter und schlechter Vergangenheit – sie wurde meine Vergangenheit und hat mich geprägt. Wenn ich versuche, mich als etwas anderes als einen Deutschen vorzustellen, werde ich ein anderer.
Ich bin mit meinem Vortrag am Ende. Lassen Sie mich mit einem Gedicht von Hugo von Hofmannsthal aus dem Jahr 1896 schließen. Es ist ein Gedicht über Erinnern und Vergessen – über Erinnern und Vergessen als Bestandteil der Conditio humana.
Manche freilich…
Manche freilich müssen drunten sterben,
Wo die schweren Ruder der Schiffe streifen,
Andre wohnen bei dem Steuer droben,
Kennen Vogelflug und die Länder der Sterne.
[33]Manche liegen immer mit schweren Gliedern
Bei den Wurzeln des verworrenen Lebens,
Andern sind die Stühle gerichtet
Bei den Sibyllen, den Königinnen,
Und da sitzen sie wie zu Hause,
Leichten Hauptes und leichter Hände.
Doch ein Schatten fällt von jenen Leben
In die anderen Leben hinüber,
Und die leichten sind an die schweren
Wie an Luft und Erde gebunden:
Ganz vergessener Völker Müdigkeiten
Kann ich nicht abtun von meinen Lidern,
Noch weghalten von der erschrockenen Seele
Stummes Niederfallen ferner Sterne.
Viele Geschicke weben neben dem meinen,
Durcheinander spielt sie alle das Dasein,
Und mein Teil ist mehr als dieses Lebens
[34]Die Kultur des Denunziatorischen
1
Jurastudenten interessieren sich wieder für Geschichte. Sie interessieren sich nicht nur für die Geschichte des Rechts, nicht nur für die Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, sondern auch für die Geschichte der Rechtswissenschaft. Seminare über Wandlungen im Verhältnis zwischen Rechtswissenschaft und Rechtsprechung, über die Entstehung der Wissenschaft vom öffentlichen Recht im 19.Jahrhundert oder über den Methoden- und Richtungsstreit im 20.Jahrhundert hatten früher acht bis zwölf Teilnehmer. Heute sind sie voll.
Das Interesse gilt der Geschichte nicht nur des Rechts, sondern des Rechts im politischen und ökonomischen Kontext, nicht nur der Philosophie, sondern der Philosophie als Antwort auf die Lagen und Konflikte der Zeit, nicht nur der Rechtswissenschaft, sondern deren die Verhältnisse stabilisierender und legitimierender Funktion. Das Interesse ist kritisch. Die Studenten haben ein waches Gespür für die politische und ökonomische Manipulierbarkeit des Rechts, die ideologische Korrumpierbarkeit der Rechtswissenschaft und dafür, wie sich in der scheinbar heilen Rechtskultur des Kaiserreichs und der Weimarer Republik das nationalsozialistische Verderben vorbereitete.
[35]Mein Seminar zur Geschichte der Rechtswissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität führte von Friedrich Carl von Savigny, dem ersten Professor für Zivilrecht, zu Uwe-Jens Heuer, einem der letzten Professoren für das Staatsrecht der DDR. Die Studenten erkannten, dass Savigny zwar vom Volksgeist redete, aber den Geist der Juristen meinte, dass Georg Friedrich Puchta über den Begriffen nicht die Interessen sah, dass Friedrich Julius Stahl das monarchische über das demokratische Prinzip stellte, dass Otto von Gierkes Vorstellung von Genossenschaft und Rudolf von Gneists Vorstellung von Selbstverwaltung nicht wirklich demokratisch waren, dass Rudolf Smends Begriff der Integration für faschistische Konnotationen offen war, dass Carl Schmitt mit dem Begriff der Großraumordnung die nationalsozialistische Kriegs- und Eroberungspolitik rechtfertigte, dass Eduard Kohlrauschs Arbeiten zum Blutschutzgesetz dieses nationalsozialistische Machwerk ernst nahmen, dass Justus W. Hedemann mit dem Volksgesetzbuch der Deutschen ein nationalsozialistisches Projekt verfolgte und dass Heuer in Treue zu Marx und Lenin im Recht nur ein Phänomen des Überbaus sah. Immer war der kritische Blick der Studenten richtig.