Gegen das Klima der Gewalt - Hannah - E-Book

Gegen das Klima der Gewalt E-Book

Hannah

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Beschreibung

Warum wir mit dieser Polizei den Klimawandel nicht stoppen können und was sich ändern muss »All Cops Are Bastards«: Auf diesen Post von Klimaaktivistin Hannah antwortet Polizistin Chiara und ahnt nichts von den Folgen. Was ein digitaler Schlagabtausch unter vielen hätte bleiben können, wird zum Beginn einer Freundschaft und eines gemeinsamen Engagements. Während Hannah das Misstrauen der Aktivist*innen entgegenschlägt, trifft es Polizistin Chiara knüppelhart: Ihr Dienstherr eröffnet ein Disziplinarverfahren, und eine Auseinandersetzung um die Grenzen zwischen Meinungsfreiheit und Neutralitätspflicht beginnt. In Anbetracht unzähliger ungelöster Krisen fordern Chiara und Hannah in ihrem Buch Gegen das Klima der Gewalt eine tiefgreifende Reform der Polizei – und zwar bevor es zu spät ist. Ein aufrüttelndes Buch über die ungewöhnliche Freundschaft zwischen einer Klimaaktivistin und einer Polizistin, das zum Nachdenken anregt

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Seitenzahl: 261

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Hannah / Chiara

Gegen das Klima der Gewalt

Unser riskanter Einsatz zwischen Polizei und Aktivismus für eine lebenswerte Zukunft

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Ist eine Polizei denkbar, die zur Lösung der Klimaprobleme beiträgt? Welche Aufgaben wird die Polizei in Zukunft übernehmen? Warum muss es überhaupt eine Polizei geben?

»All Cops Are Bastards«: Auf diesen Post von Klimaaktivistin Hannah antwortet Polizistin Chiara und ahnt nichts von den Folgen. Was ein digitaler Schlagabtausch unter vielen hätte bleiben können, wird zum Beginn einer Freundschaft und eines gemeinsamen Engagements. In ihrem Buch nehmen Hannah und Chiara uns mit in den Polizeialltag an den Grenzen, zu den Kämpfen um Klimagerechtigkeit und analysieren gemeinsam, was die Krisen unserer Zeit antreibt.

Ein mitreißender Blick hinter die Kulissen und ein Plädoyer, in Krisenzeiten Gesellschaft neu zu denken.

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Prolog

Kapitel 1: Wie die Dinge eben laufen

Trennungskind

Waldorfschule

Politik ist Männersache

Freund und Helfer

»Wir schaffen das«

Innere Zerrissenheit

Die Menschenwürde ist antastbar

Den Alltag unterbrechen

Kapitel 2: Kipppunkte

Kritisches Denken

Verlieren und Gewinnen

Die Katastrophe

Schmetterlingsflügelschläge

Die Klimabewegung

Globale Ungerechtigkeiten

Der Hungerstreik

Kapitel 3: Widerstand aus den eigenen Reihen

Vollzeitaktivistin

Optimistin

Ein neues System

Nestbeschmutzerin

Polizeigewalt

Gewalt in der Polizei

Burn-out

Kapitel 4: Ein ungewöhnliches Bündnis

Der Aufbruch

A.C.A.B.

Dialog

Polizistin und Klimaaktivistin

Gegenwind

Gegen das Klima der Gewalt

Kapitel 5: Schädliche Systeme

Gesellschaftliche Ordnung

Die Hüterin der Ordnung

Wie demokratisch ist die Demokratie?

Profitzwang

Zerstörerische Konkurrenz

Kapitel 6: Eine gefährliche Spirale

Ungesunde Anpassung

Konformismus

Falsche Feindbilder

Das Polizei-Paradox

Klima der Gewalt

Kapitel 7: Die Kraft der Natur – eine Einladung

Danksagung

Anhang: Information und Transformation

Prolog

ChiaraDer Himmel ist bleigrau, Wolken hängen tief und drohen mit Regen, als wollten sie die Anspannung der Menge unter ihnen vorwegnehmen. Transparente tanzen über den Köpfen, über Lautsprecher ruft jemand Parolen, und ein Chor aus vielen Tausend Mündern stimmt mit ein. In der Luft liegt ein Mix aus Abgasen und feuchtem Laub. Ich steige gerade in voller Montur aus dem Einsatzwagen und verschaffe mir einen Überblick. Die Straßen Hamburgs scheinen zu pulsieren unter den vielen Füßen, die ungeduldig darauf warten, endlich loslaufen zu können. Die Demonstrierenden sind laut, bunt und demoerfahren, das gehört dazu bei all diesen Demonstrationen, ob gegen Rassismus, Atomkraft oder Krieg. Sie stammen aus allen Gesellschaftsschichten, Alte und Junge, Männer und Frauen, mit Migrationshintergrund und ohne, Wohlhabendere und weniger Begüterte, obwohl sich Erstere auf solchen Veranstaltungen eher rarmachen.

Ihre lauten Rufe für Gerechtigkeit und Gleichheit hallen über den Platz, vermengen sich zu einem wabernden Rhythmus. Die Stimmung ist aufgeregt, meine Kolleg:innen positionieren sich an den Rändern der Menge, die Gesichter verschlossen, die Körper jederzeit bereit, sich in die Menge zu stürzen. Ihr bedrohlicher Anblick, gepanzert, bewaffnet, uniformiert, reizt die Demonstrierenden, immer wieder sind Rufe zu hören, die uns herausfordern. Sie wollen Abgrenzung demonstrieren zwischen sich und »dem System«.

Ein Demonstrant kommt einem Kollegen zu nah, dieser schubst ihn. Sofort ertönt ein wütender Chor: »Wir sind friedlich, was seid ihr?« Und dann fliegt plötzlich eine Flasche und zerschellt hinter unserer Absperrung auf dem Asphalt. Die Stimmung schlägt um, die Uniformierten drängen nach vorne, gehen rüde gegen die Gruppe vor, aus der die Flasche geflogen kam. »Helm auf!«, brüllt mir ein Kollege zu. Ich kann nicht erkennen, wer es war – er sieht aus wie alle anderen.

Trotz meines Trainings und meiner Einsatzroutine spüre ich, wie ein Adrenalinstoß meine Sinne schärft. Meine Augen suchen nach Anzeichen einer weiteren Eskalation, während die Geräuschkulisse um mich herum in meinen Ohren langsam wieder das Pochen meines Herzens übertönt. Die Aufregung flaut ab, die Demo geht los. Wir lassen unsere Helme auf. Als Führungskraft habe ich eine besondere Verantwortung für viele andere Polizist:innen, ich will nicht, dass jemand verletzt wird.

Unter Pfeifen und Trommeln setzt sich die Menge in Bewegung, Rufe werden skandiert, aus Boxen dröhnt Musik. Seifenblasen fliegen über den Köpfen davon, während ich mich neben immer mehr anderen schwarz gekleideten Kräften am Rand positioniere und die Demonstrierenden beobachte. Es gilt das Vermummungsverbot, trotzdem zieht so mancher den Schal weit ins Gesicht. Es sind diese kleinen Gesten, die für mich wie eine Provokation wirken.

In den Straßen dieses eher alternativen Stadtviertels in Hamburg ist es bei früheren Demonstrationen bereits öfter zu Ausschreitungen gekommen, und auch heute ist damit zu rechnen. Es sind Tage wie diese, die mir alles abverlangen, was mir an mentaler und physischer Kraft zur Verfügung steht. Als Polizistin stehe ich dann einer wütenden Menge gegenüber – laut, aufgebracht, ein Sog der Emotionen. Ich hole tief Luft, der Helm ist schwer und meine Sicht eingeschränkt. Ich fühle mich ein wenig wie eine Astronautin bei der Mondlandung. In meinen behandschuhten Händen halte ich den Einsatzplan, der selten lange Gültigkeit besitzt, aber zumindest Orientierung vermittelt. Zu unberechenbar ist die Dynamik solcher Einsätze. Die Ausrüstung an meinem Körper wirkt wie eine zweite, sperrige Haut, die meine Bewegungen einschränkt – Helm, Schutzweste, der Gürtel schwer vom Gewicht der Dienstwaffe; doppelt gesichert, damit sie mir niemand im Getümmel entwenden kann. Mein Funkgerät ist oft die einzige Verbindung zu meinen und anderen Kräften. Die einzige Möglichkeit, klare Anweisungen auszutauschen oder Unterstützung anzufordern, falls wir angegriffen werden. Oft genug werden die Funksprüche vom lautstarken Durcheinander verschluckt und mit ihnen jede Orientierung. In solchen Momenten steigt Angst in mir auf.

Demonstrierende, die als Gefahr für die Sicherheit und Ordnung identifiziert werden, werden üblicherweise von Einsatzkräften umringt und festgesetzt, »eingekesselt« heißt das im Polizeijargon. Dann können Personalien aufgenommen und gegebenenfalls auch Festnahmen vorgenommen werden, wenn der Verdacht besteht, dass ihr Verhalten strafbar war. Ein weiterer Anlass, der aus einem Zug friedlich Demonstrierender einen wütenden Protestmob machen kann. Seit ich Polizistin bin, habe ich dieses Phänomen schon öfter beobachtet. Wir, die Einsatzkräfte, deutlich in der Unterzahl, die vergangenen Nachtschichten und viele Überstunden in den Knochen, dafür mit Schlagstöcken, Pfefferspray und Dienstwaffen ausgestattet und durch die besondere Schutzausrüstung wie gepanzert. Dennoch habe ich Angst vor Verletzungen. Wenn das Chaos erst einmal ausbricht, ist es nahezu unmöglich, den Überblick zu behalten. In solcher Bedrängnis schaltet der Körper wie automatisch in den »Flucht oder Kampf«-Modus, die Wahrnehmung verengt sich zu einem Tunnelblick, instinkt- und impulsgesteuerte Reaktionen wollen übernehmen, weil das Nachdenken zu lange dauert. Es ist nicht leicht und manchmal illusorisch, diesem natürlichen Antrieb eine antrainierte Gelassenheit entgegenzusetzen.

Ich straffe meine Schultern, fühle, wie belastet mein Rücken vom Gewicht meiner Ausrüstung ist. Meinen Körper zu spüren, entlastet meinen Geist. Ich schaffe es, mir zu signalisieren, dass gerade keine akute Gefahr droht. Einsätze wie dieser werden wohl nie zur Routine werden. Ich kann nur hoffen, dass ab jetzt alles friedlich bleibt in dieser sich rasch verändernden, unvorhersehbaren Lage, die nur allzu schnell außer Kontrolle geraten kann.

 

Hannah Als ich an diesem Morgen aufwache, spüre ich bereits die latente Unruhe in meinem Inneren. Bis ich das Haus verlasse, hat sie sich zu einem beklemmenden Gefühl in der Brust gesteigert. Ich ignoriere das Gefühl.

Der Himmel hängt voller schwerer Wolken, ein schmutziges Grau, das die Farben der Straßen und Häuser verzehrt. Ich ziehe meine robusten Schuhe an, die mir im Getümmel mehr Standhaftigkeit verleihen, werfe mir meinen Parka über, der mich vor den Wasserwerfern schützen soll, und wickele meinen Schal um den Hals. Wenn die Luft voll Tränengas ist, kann ich ihn über die Augen ziehen. Es wird nicht viel helfen.

Ich steige auf mein Fahrrad und fahre los in Richtung Demo. Der Wind trägt vereinzelte Regentropfen zu mir, als wollte selbst das Wetter heute seine Gleichgültigkeit über unser Anliegen ausdrücken – den Kampf für das Klima und soziale Gerechtigkeit.

Bald schon nähere ich mich dem Versammlungsort. Die Straßen füllen sich allmählich mit Menschen, jeder Schritt, jedes Gesicht, erzählt mir von der Hoffnung auf eine Veränderung und vom gemeinsamen Ringen um einen Wandel. Ich spüre, wie mein Herz ein wenig leichter wird, als ich meine Freundinnen und Freunde erspähe. Ganz unbelastet werden wir wohl alle nie zu einer Demo fahren. Jedes Mal wird unsere Entschlossenheit von einem Schatten begleitet, der dunkler ist als das aufziehende Unwetter: der Angst vor dem langen Arm des Systems – der Angst vor der Polizei.

Die Gewalt der Polizei gegen Aktivist:innen hat eine lange Geschichte. Im Gewirr der Stimmen um mich herum, der ehrlichen, besorgten, wütenden, finden sich Berichte von meinen Freundinnen und Freunden, die aus früheren Protesten die Narben tiefer Wunden davongetragen haben – nicht von fallenden Ästen oder dem rauen Boden, sondern von der unbarmherzigen Härte des Polizeiknüppels.

Ich sehe ihre Augen, wie sie sich verdunkeln, wenn sie von Zerrungen, Prellungen und Knochenbrüchen sprechen, von Verletzungen, die nur durch rohe Gewalt entstanden sein können. Gewalt, für die niemand zur Verantwortung gezogen wird. Weil sich die Verantwortlichen hinter ihrer Uniformität verstecken.

Polizeigewalt und ihre Folgen sind eine reale Bedrohung für mich, all diese tragischen Geschichten ein stetes Mahnen daran, dass unser Protest fatale Konsequenzen für uns haben könnte, die ausgerechnet durch jene herbeigeführt werden, die so etwas verhindern oder verfolgen sollen. Ich spüre, wie Angst und Wut auf mich übergehen und hake mich unter.

Ich fühle mich mit den anderen verbunden, und zusammen rufen wir aus vollem Hals unsere Parolen. »Hejo, leistet Widerstand! Auf die Barrikaden, auf die Barrikaden!« und »Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr uns die Zukunft klaut!«

Manche widersetzen sich dem Vermummungsverbot, ziehen sich ihren Schal trotzdem übers Kinn. Sie wissen, dass sie Probleme bekommen können, wenn sie auf dieser Demo identifiziert werden – von Rechtsextremen, die immer wieder zu solchen Demos kommen, um zu filmen. Um uns zu drohen. Von Polizisten, die manchmal auch Rechtsextreme sind. Eine Zwickmühle, denn wir werden oft als »die Bösen« dargestellt, als würde unsere Vermummung von gefährlichen und kriminellen Absichten zeugen.

Es macht mich müde und traurig, darüber nachzudenken. Zu oft wurde behauptet, wir seien bewaffnet – ein Vorwand, um ihre übertriebene Härte zu rechtfertigen. Wir haben lediglich unsere Stimmen, unsere Transparente und unsere gemeinsamen Ziele, für die wir uns einsetzen. Wir geben uns gegenseitig Kraft, sprechen uns Mut zu, um uns immer wieder aufs Neue der Gewalt der Ordnungsmacht auszusetzen.

Es macht mich wütend, wenn Polizist:innenvon sich behaupten, für Gerechtigkeit einzustehen. Würdensie ihre Aufgabe von »öffentlicher Sicherheit« ernst nehmen, müssten sie an unserer Seite stehen und auch mit aller Kraft gegen die Klimakatastrophe kämpfen. Denn genau das ist notwendig, damit wir auch in Zukunft alle sicher und gut leben können. Ich bin weit davon entfernt, das wirklich zu erwarten. Aufmerksam beobachte ich die Masse aus schwarzen Uniformen, wie sie stattdessen wie leere Hüllen einer ungerechten und für mich unsichtbaren Obrigkeit folgen. Ich zerbreche mir oft den Kopf darüber, wie wir diesen Menschen klarmachen können, dass unsere Ziele doch auch die ihren sein müssten.

Meine Augen wandern über die schwarzen Helme der Beamtinnen und Beamten, die sich um uns herum aufstellen, ihre Gesichter hinter den Visieren sind kaum zu erkennen. Ihre Uniformen, ihre Ausrüstung machen sie als Individuen unsichtbar und unterstreichen, dass sie Ausführende desGewaltmonopols sind. Sie in ihrem Menschsein zu erreichen, wirkt dadurch fast unmöglich, und während sie Recht und Gesetz auf ihrer Seite haben, sind wir in ihren Augen wohl nichts als Störenfriede und Chaoten. Dabei üben wir unser Recht auf Versammlungsfreiheit aus, ein wichtiger Grundpfeiler von Demokratien. Die Gräben zwischen uns fühlen sich tief an, unüberwindlich. Dafür sorgen allein schon die vielen persönlichen Gewalterlebnisse aus unseren Reihen.

Der Demozug setzt sich im Nieselregen langsam in Bewegung, und wie in Trance setze ich einen Fuß vor den anderen. Ich kann mich nicht dagegen wehren, dass eine weitere Erinnerung von einer früheren Demo in meinen Gedanken Gestalt annimmt: höhnisches Gelächter und hämisches Grinsen von zwei Beamten. Sie fotografieren einen Menschen von uns, als er eingekesselt seineNotdurft verrichten will. Die Gesetzeshüter machen Witze und versuchen, das Genital auf ihren Handyfotos zu vergrößern. Ich finde das abscheulich, was für ein erbarmungsloser Machtmissbrauch – und das, obwohl die Würde des Individuums das Fundament des Grundgesetzes ist. Mit ihrem Verhalten zeigen diese Polizisten, dass unsere Sicherheit in ihren Händen so fragil ist wie ein Spinnennetz im Sturm.

Ich nehme einen tiefen Atemzug, die Stimmen um mich bilden einen Chor aus Entschlossenheit und Mut und fangen mich auf.Über mir reißen die Wolken auf. Die Sonne drängt heraus, scheint hell auf unsere Gesichter. Ich hebe den Kopf, blinzele und höre, wie zuversichtliche Rufe aus der Menge zum Himmel aufsteigen.

Kapitel 1

Wie die Dinge eben laufen

Chiara Ich wurde einen Monat nach der deutschen Wiedervereinigung im November 1990 in Lübeck geboren. Wo einst die innerdeutsche Grenze zwischen Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern verlief, erstreckt sich heute ein einzigartiges Naturschutzgebiet. Durch jahrzehntelange Abriegelung konnte sich die Natur in dieser Region so vielfältig entwickeln wie an nur wenigen anderen Orten in Deutschland. Hier in Lübeck an der Akademie der Bundespolizei, des ehemaligen Bundesgrenzschutzes, wurde ich auch zur Polizistin ausgebildet.

Trennungskind

Bald nachdem meine Schwester geboren worden war, trennten sich meine Eltern, und es begann eine Zeit, die existenzielle Herausforderungen mit sich brachte. Mein Vater zog aus, und meine Mutter war ab diesem Moment der Stigmatisierung als nun Alleinerziehende ausgesetzt. Nur wenige sahen, wie sie für unsere Zukunft kämpfte und versuchte, uns gleichzeitig Mutter, Vater, Versorgerin und Vorbild zu sein.

Sie resignierte nicht, egal wie übel das Leben ihr mitspielte und wie wenig Geld sie auf dem Konto hatte. Für sie standen wir immer an erster Stelle. Sie war sich für nichts zu schade, um dafür zu sorgen, dass es uns gut ging und wir in eine gute Zukunft blicken konnten. Wenn sie am Wochenende bis acht Uhr ausschlafen konnte, gab es Pfannkuchen zum Frühstück. Aus einem kleinen Haus mit schimmeligen Wänden und verwildertem Garten schuf sie für uns ein liebevolles Zuhause, einen Spielplatz voller Fantasie und Abenteuer. Sie lehrte uns den Wert der kleinen Freuden und rannte mit uns zwischen Blitz und Donner durch den Regen über das flache Dach unseres Hauses. Mit einer heißen Tasse Kakao kuschelten wir uns danach gemeinsam auf die Couch.

Sie versuchte, so wenig wie möglich an uns heranzulassen, wie gestresst, tieftraurig oder überfordert sie oft war. Heute, wo ich selbst Mutter bin, erahne ich, welche Opfer sie dafür erbracht hat. Ihr eigenes Leben abseits des Mutterseins kam in dieser Zeit vollkommen zum Stillstand, sie hat sich aufgerieben zwischen Trennung, Haushalt, Kinderbetreuung, Umzug, Arbeit und finanziellen Sorgen. Manchmal mit mehr, oft ganz ohne fremde Hilfe. Es muss eine unglaubliche Anstrengung gewesen sein, sich mit der schieren Kraft des Willens durch diese Zeit zu kämpfen und sich immer wieder gegen soziale Härten zu stemmen. Egal wie schwer die Umstände auch waren, meine Mutter tat alles, um meiner Schwester und mir ein Leben voller Möglichkeiten zu bereiten. Sie ergab sich nicht dem Problem, sie suchte nach der Lösung. Sie ging die Dinge an, und dafür bin ich ihr unheimlich dankbar.

Ohne ihre bedingungslose Liebe und ihre ausdauernde Kraft könnte ich selbst vielleicht nicht die liebende und starke Mutter sein, die ich jetzt bin. Von meinem Vater, mit dem mich heute eine enge Beziehung verbindet, habe ich den unerschütterlichen Glauben an das Gute im Menschen und daran, dass mit der Kraft des Aufeinanderzugehens alles möglich ist.

Die widrigen Umstände nach der Trennung meiner Eltern machten es wohl unumgänglich, dass ich während dieser Zeit ein paar Verletzungen und lähmende Prägungen erfuhr. Ich musste oft funktionieren, fühlte mich zwischen meiner kämpfenden Mutter und meinem abwesenden Vater, den ich sehr vermisste, hin- und hergerissen, und ich fühlte mich in meinen Bedürfnissen nach Nähe und Aufmerksamkeit hinter meiner jüngeren Schwester zurückgesetzt. Ich wollte meiner Mutter keine zusätzliche Last sein und entwickelte eine hohe Sensibilität für ihr Befinden. Unbewusst fing ich an, die familiäre Harmonie als meine Aufgabe zu sehen, sie sollte sich nicht mit mir auseinandersetzen müssen. Wenn ich das nicht schaffte und meine Mutter enttäuscht, wütend oder traurig war, hatte ich ein unheimlich schlechtes Gewissen.

Dieser unsichtbare Job machte mich als Kind und Jugendliche zunehmend reizbar, ich fühlte mich schnell angegriffen und rebellierte in ausufernder Heftigkeit, wenn ich mich ungerecht behandelt fühlte. Das löste einen regelrechten Alarm in mir aus, der oft in jugendlichem Widerstand endete. Einige Bekannte meiner Mutter empfanden mich als das schwarze Schaf, Tanten und Onkel zogen mich nur zu oft mit meiner »zickigen« Art und meinen Extrapfunden auf. Besonders wenn es mir nicht gut ging, nahm ich mir beim Essen einmal mehr nach.

Im Nachhinein betrachtet kommt mir das eigentlich sehr logisch vor: Wenn ein Kind der Mutter zu Hilfe eilt, über die eigenen Grenzen geht, damit Mama es nicht muss, unter dem Druck der Anpassung steht und Probleme schultert, für die eine gesamte Gesellschaft sich verantwortlich zeigen sollte – wird es früher oder später Schaden nehmen.

Waldorfschule

Diese Neigung, mich eher nach anderen zu richten als einen gesunden Selbstwert zu entwickeln, zog sich durch meine Kindheit und Jugend. Im Kontrast dazu bot meine Schule mir einen Raum, in dem ich meine Fähigkeiten und Interessen entdecken und entwickeln konnte. Ich besuchte die Freie Waldorfschule in Lübeck. Eine Schule mit alternativem Schulkonzept zu den staatlichen Regelschulen, deren Existenz von der finanziellen Unterstützung der Eltern abhängig ist – weil der Staat sie nur zu einem bestimmten Prozentsatz finanziert. Andere Familien zahlten solidarische Beiträge, sodass meine Schwester und ich dort zur Schule gehen konnten.

Meine Schule war für mich weit mehr als ein Ort des Lernens; sie war ein Gemeinschaftserlebnis, das mir zeigte, wie Bildung das Leben bereichern kann. Der Ansatz an einer Waldorfschule ist es, die Kinder basierend auf ihrer ganz eigenen Individualität zu fördern und in ihrer persönlichen Entwicklung zu begleiten. Die Erwartung, in Wirtschaft und Gesellschaft zu funktionieren, spielte keine Rolle. Im Fokus standen wir Kinder mit dem, was wir mitbrachten. Wir wurden in einem geschützten Raum dazu ermutigt, unsere Stärken auszubilden, eigenverantwortlich Entscheidungen zu treffen und daraus eine Gemeinschaft wachsen zu lassen. Jeder persönliche Fortschritt wurde geschätzt und anerkannt. Anstelle von Noten wurden zum Schuljahresende ausführliche Textzeugnisse verfasst. Sitzen bleiben konnte man nicht. Es gab auch keine Klassifizierung nach bestimmten Abschnitten, bei denen auf Regelschulen nach Empfehlung unter Gymnasial- und anderen Schüler:innen sortiert wird. Wir blieben zusammen, die meisten von uns durchgängig von der ersten bis zur 13. Klasse.

Es ging nicht darum, einen einheitlichen Standard zu entwickeln, sondern sich innerhalb des Klassenverbandes gegenseitig zu unterstützen und miteinander zu kooperieren, wir konnten uns in unseren Potenzialen ergänzen und sie miteinander verbinden. Der Unterricht wurde an das Lernverhalten der Kinder angepasst, dafür wurde er beispielsweise epochenweise organisiert – in den ersten beiden Unterrichtsstunden wurden jeweils über drei Wochen hinweg komplexe Themen bearbeitet –, in den Nachmittagsstunden fanden handwerkliche Unterrichte statt. Das Konzept der Waldorfschule bot uns viel Freiraum, um die Welt zu entdecken, Freundschaften zu schließen und zu pflegen und ohne Konkurrenzdruck eigenmotiviert zu lernen. Dies unterscheidet die Waldorfschule von öffentlichen Schulen.

Ich kenne viele Menschen, die aus ihrer Schulzeit nachhaltige Verletzungen mit sich herumtragen, durch die vernichtende Erfahrung, abgewertet und aussortiert zu werden, an einem System zu scheitern, in dem sie nicht funktionieren können, pathologisiert und gemobbt werden.

Ich habe den Eindruck, dass viele Gleichaltrige eher deformiert und geschädigt wurden, als dass sie auf ihrem Weg in ihr ganz eigenes Leben begleitet wurden. Es ist für mich ein Skandal, wenn Kinder nicht gerne zur Schule gehen und die Aufgabenstellung lautet, sich auf Basis eines eindimensionalen Notensystems miteinander zu messen. Dabei geht es nicht um persönliche Weiterentwicklung oder darum, über sich hinauszuwachsen. Stattdessen geht es darum, wie gut willkürlich gesetzte Standards eingehalten werden. Es berücksichtigt die wichtigsten Fragen nicht, denen sich junge Menschen von heute gegenübersehen und die weniger mit Karriere und Noten zu tun haben als damit, wie wir die Welt, in der wir leben, wieder lebenswert machen können, und zwar für alle Lebewesen.

Wir können nicht erwarten, dass noch so einfühlsame Lehrkräfte diese Missstände innerhalb unseres Regelschulsystems ausgleichen können, wenn wir sie nicht zum Ausbrennen verurteilen wollen.

Rudolf Steiner, der Entwickler des Waldorfschulkonzeptes, ist, wie ich später herausfand, eine streitbare Person, viele Menschen werfen ihm neben Wissenschaftsfeindlichkeit auch Rassismus vor. Für mich änderte dies jedoch nie etwas daran, dass ich meine Schulzeit gegen keine andere eintauschen würde.

Was aus meinen Erfahrungen in der Waldorfschule in meinen heutigen Blick auf die Gesellschaft eingeflossen ist, war, dass es dort nie darum ging, dominieren zu müssen oder unter einem Leistungsdruck zu stehen. Von Anfang an gab es keine Konkurrenz und keinen Wettkampf unter uns Schülerinnen und Schülern. Meine persönlichen Ziele waren nie unrealistisch hoch gesteckt. Ein Umfeld, das von Anfang an signalisiert, dass man so akzeptiert und unterstützt wird, wie man ist, schafft eine gesunde Grundlage. Durch die langjährige und vertrauensvolle gemeinsame Zeit und die Möglichkeit zur Selbstreflexion und Entwicklung wurde diese Haltung immer wieder gefördert. Unsere Lehrerinnen und Lehrer begleiteten uns und griffen bei Bedarf ein, wenn Unterstützung gebraucht wurde.

Gleichzeitig stand das Miteinander immer im Vordergrund. Wenn andere Menschen auf die Stärken einer Person achten, entsteht weniger Unsicherheit, die wiederum Konflikte zu vermeiden hilft. Man gerät nicht in den Zwang, in eine Rolle zu schlüpfen, die einem nicht entspricht. In meiner Schule galt ein Diskurs, der Stärken und Talente nicht in Rivalität zueinander stellt, sondern sie als Ergänzung und als Potenzial betrachtet. Es werden auch die Begabung und das Können von Kindern anerkannt, deren Stärken nicht nur im intellektuellen Bereich, sondern auch im künstlerischen, handwerklichen oder im sozialen Bereich liegen. Es ist ein Gegenentwurf zum staatlichen Schulsystem, das hauptsächlich auf naturwissenschaftliche Fächer fokussiert ist, während andere Fächer oft vernachlässigt werden.

Auf unserem Schulhof gab es Tiere, Werkstätten und einen kleinen Wald. Ein Praktikum in der Landwirtschaft ist fester Bestandteil der Oberstufe, aber auch in allen anderen Klassenstufen wurde unsere Verbindung zur Natur gepflegt. Ich wusste, woher das Essen auf meinem Teller kam, weil wir es selbst gesät, gepflegt und geerntet hatten. Ich wusste die Spielgeräte auf unserem Schulhof zu schätzen, weil wir sie selbst gebaut hatten. Es gab immer zusätzliche Angebote für solche praktischen Aktivitäten und auch für Schülerinnen und Schüler, die, unabhängig von ihren Zeugnissen, in diese Richtung gehen wollten. In umfangreichen Kunst- oder Orchesterprojekten erlernten und erlebten wir, wie wichtig jede:r Einzelne für das Gelingen des Gesamtwerkes war.

Besonders geprägt ist meine Erinnerung an das Theaterprojekt in der 12. Klasse, bei dem wir sechs Wochen kaum etwas anderes taten, als für eine neu interpretierte Version von »Romeo & Julia« zu proben, Kostüme zu schneidern und Plakate zu entwerfen. Sogar das Bühnenbild bauten wir selbst.

Beteiligung war insgesamt ein Schlüsselthema innerhalb unserer Schulgemeinschaft, wobei das nicht nur für die Kinder, sondern auch für die Eltern und Lehrenden galt. Die Schulküche wurde in Eigenregie regional und saisonal organisiert, Eltern und Schüler:innen kochten mit. Es gab ein Schüler:innenparlament, gemeinsame Veranstaltungen in der Schulaula, bei denen alle Klassenverbände gegenseitig ihre Fortschritte präsentierten und sich dafür feiern ließen, und gemeinsame Kultur- und Bildungsabende, an denen wir beispielsweise Günther Grass bei der Lesung aus seinem Werk Die Blechtrommel lauschten oder uns über die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens informierten.

Mit meiner Schulgemeinschaft machte ich auch meine ersten Demoerfahrungen. Ein paar Jahre nach der Wiedervereinigung gab es unter den Kultusministerien immer wieder Streitigkeiten zu Finanzierungsfragen. Mecklenburg-Vorpommern wollte nicht für den Schulbesuch von Schüler:innen in einem anderen Bundesland bezahlen, Schleswig-Holstein zahlte nicht, weil diese in einem anderen Bundesland ihren Wohnort hatten. Wir bastelten Transparente und lernten Parolen, und dann fuhren Kinder, Eltern und Lehrende in die Landeshauptstädte nach Kiel und Schwerin, um vor den Regierungsgebäuden zu demonstrieren. Nach Schwerin fuhren wir mit dem Fahrrad und sangen zu der Melodie von Hejo, spann den Wagenan den von Lehrenden und Eltern selbst umgedichteten Text: »Hejo, komm’n Sie zu Verstand, freie Schulen braucht unser Land! Wir sind Eure Zukunft, wir sind Eure Zukunft, hejo, leistet Widerstand …«

Ich bin froh darüber, erlebt zu haben, dass es möglich ist, auf Basis eines großen Urvertrauens miteinander zu leben und umzugehen. Wer weiß, ob ich mich so entwickelt hätte, wenn ich das nicht gelernt hätte?

Meine Schulzeit bot mir jedenfalls jenen Blick auf Bildung und Gesellschaft, der mich für Gerechtigkeit und den Wert von Gemeinschaft sensibilisierte. Ich lernte, dass mit Hartnäckigkeit, Engagement und der Unterstützung einer Gemeinschaft selbst die größten Hindernisse überwunden werden können, und ich machte die Erfahrung, dass Menschen ohne Konkurrenz, Rücksichtslosigkeit und Gewalt miteinander leben, lernen und arbeiten können. Diese Werte und Erkenntnisse sind zu einem integralen Bestandteil meines Lebens geworden, und ich halte bis heute an ihnen fest. Ich sollte bald feststellen, dass es auch andere Realitäten und Normalitäten gab.

Politik ist Männersache

Politik spielte in unserer Familie keine Rolle, und so war ich als Jugendliche und später als junge Frau kein politischer Mensch. Liebe, Trauer, Wut, das alles gab es bei uns. Auch haben wir uns darüber ausgetauscht, was moralisch richtig, gerecht oder vertretbar ist – allerdings haben wir das nie in Verbindung mit dem aktuellen politischen Weltgeschehen diskutiert. Später erfuhr ich, dass meine Mutter vor meiner Geburt sogar ein unheimlich politischer Mensch war und das auch gerne geblieben wäre. Sie organisierte Informationsveranstaltungen, um in Deutschland über die Zustände in Chile unter dem autoritären Regime von General Augusto Pinochet zu informieren. Pinochet war 1973 nach einem Militärputsch an die Macht gekommen, ein freier Markt und die Privatisierung staatlicher Unternehmen unter dem Regime führten zu Arbeitslosigkeit und sozialer Ungleichheit, Widerständige wurden auf Befehl des Diktators gefoltert und hingerichtet. Einmal reiste sie sogar nach Kuba, half beim Bau eines Dorfes und bei der Mandarinenernte und bereiste das Land. Die Zeit in Kuba muss sie sehr geprägt haben, sie erzählt immer wieder nostalgisch schwärmend davon.

Während unserer Kindheit hatte meine Mutter für Politik ganz einfach keine Zeit und auch sonst keine Kapazitäten. Ihr ging es wie vielen anderen alleinerziehenden Frauen, die auf das gesellschaftliche Abstellgleis gestellt und abgehängt wurden. Sie wurde weder in ihrer Selbst- noch in ihrer Mitbestimmung unterstützt. Politik war Männersache. Wenn meine Fragen zu viel wurden und meine Mutter entnervt aufgeben musste, war »Weil das eben so ist« eine Antwort, die ich nur zu oft zu hören bekam. Ich respektierte meine Mutter und nahm das hin. Heute ist sie in Rente, aber richtig genießen kann sie das nicht. Sie hat über viele Jahre im wahrsten Sinne des Wortes die Zähne zusammengebissen, hatte keine Zeit für Entspannung oder Sport. Der Stress hat sich überall in ihren Körper eingeschrieben. Seit sie nicht mehr arbeiten muss, ist sie unheimlich erschöpft, hat viele Arzttermine. Über den Sommer möchte sie ein bisschen verschnaufen, bevor sie sich eine neue Arbeit sucht. Ihre Rente reicht sonst nicht.

Mit 19 fehlten mir noch der Weitblick und das Bewusstsein für diese Ungerechtigkeit. Im Grunde kam ich völlig unvorbereitet in das reale gesellschaftliche Leben. Für mich war die Welt in Ordnung, und ich ging davon aus, dass dies für die meisten Menschen zutraf. Vielleicht liegt das auch daran, dass vor allem Frauen – Mütter, Ehefrauen und Töchter – mit aufopferungsvoller Kraft die Symptome sozialer Ungerechtigkeiten auffangen und aushalten, indem sie zum Beispiel kranke und alte Familienangehörige pflegen, sich um die Kinder kümmern und dafür ihre beruflichen und politischen Aktivitäten einschränken. Welche Kraft sie wohl gemeinsam entfalten könnten, wenn sie sich für ein System verbündeten, in dem das Wohl von Mensch und Natur stets Aufgabe und Ziel der gesamten Gesellschaft ist?

Meine Entscheidung, zur Polizei zu gehen, war jedenfalls weniger ein lang gehegter Traum als vielmehr eine logische Schlussfolgerung. Hüter:innen der Gerechtigkeit, Freund und Helfer. Diese Jobbeschreibung entsprach genau meinen Vorstellungen und vor allem meinem ausgeprägten Wunsch nach Gerechtigkeit. Ich wollte meinen Teil dazu beitragen, ganz direkt und aktiv. Ich hatte schon immer gern Verantwortung übernommen, als Klassensprecherin in der Schule, in der Jugendarbeit meines Sportvereins. Ich schlichtete Streit, organisierte und vermittelte. Für mich war klar, dass die Polizei in einem erwachsenen Sinn genauso dafür sorgt, dass alles in Ordnung ist.

Als ich in Erwägung zog, diesen Beruf zu ergreifen, besuchte ich zahlreiche Berufsmessen und Tage der offenen Tür bei verschiedenen Polizeidienststellen. Auf solchen Veranstaltungen wird meist Positives hervorgehoben, anstatt Nachteile oder gar die Schwächen der Polizei zu benennen. Besonders betont werden die Verbeamtung und die gute Besoldung, außerdem, welche Spezialeinheiten den Beruf besonders spannend machen. »Werde Teil der #Bundespolizeifamilie. Du schützt nicht nur Dein Land. Du schützt die Menschen.«1 Mit diesen Worten wirbt die Bundespolizei auf ihrer Webseite um neue Anwärter:innen. Auch mir erschien der Beruf sinnvoll: viel Bewegung, Abwechslung, Menschen unterstützen und schwierige Situationen lösen. Ich mochte klare Strukturen und Sicherheit. Gemeinschaftliche Regeln hatten mir in der Vergangenheit Orientierung gegeben und mich nicht gestört.

Bei meinen Lehrer:innen und Mitschüler:innen traf mein Berufswunsch auf Zuspruch. Ich war für sie die geborene Gerechtigkeitshüterin, die sich gerne für andere einsetzt. Aber es gab auch andere Stimmen. Unser Jugendwart im Sportverein etwa war politisch umfassend gebildet und hatte starke Überzeugungen. Ich weiß noch, wie vehement er versuchte, mich von meiner Bewerbung bei der Polizei abzuhalten. Ich erinnere mich daran, wie unwohl ich mich gefühlt habe, wenn er wieder einmal mit mir darüber sprechen wollte. Er brach regelrecht in Verzweiflung aus, wenn ich keine Antworten auf seine besorgten und kritischen Fragen wusste. Damals hatte ich auch keine, weil ich mir über einen möglichen Konflikt gar keine Gedanken machte. Ich sorgte mich nicht, ich sah die Polizei nicht kritisch, ganz im Gegenteil! Für mich fühlte sich diese Entscheidung richtig an, und in dieser Überzeugung wollte ich nicht gestört werden. Ich erinnere mich noch genau an den Moment, als ich die Zusage zur Einstellung bei der Bundespolizei erhielt und das erste Mal eine Uniform trug. Ich war unheimlich stolz.

Freund und Helfer

Und zunächst gefiel es mir bei der Polizei – der Bundespolizei – sehr gut. Wir hatten tolle Ausbilder:innen, die keinen großen Wert auf militärische Erziehung legten. Meine Klassenzuggemeinschaft war vielfältig gemischt, mit jungen Männern und Frauen, die gerade ihr Abitur abgeschlossen hatten, und polizeiinternen Aufsteigern, die über mehr Lebenserfahrung verfügten. Diese Mischung funktionierte gut, und wir ergänzten uns und bewältigten die Herausforderungen unseres Studiums immer als Team. Wir lehrten die Älteren das Lernen neu, sie trugen uns dafür samt Stiefeln zurück zur Kaserne, wenn wir nach langen Ausdauerläufen nicht mehr konnten.

Zu Beginn der praktischen Ausbildung war es üblich, dass Vertreter:innen von Polizeigewerkschaften und -versicherungen in die Kasernen eingeladen wurden. Werbegeschenke und Rabatte für Fitnessstudios oder Amazon sollten den Anwärterinnen und Anwärtern eine Mitgliedschaft in der Gewerkschaft und den Abschluss von Versicherungen schmackhaft machen. Als ich einige Jahre und einige Weihnachtspräsente später meine Mitgliedschaft bei der Gewerkschaft der Polizei kündigte und ein ehrliches Feedback hinterließ, erhielt ich einen Anruf von einem Mitarbeiter der Gewerkschaft. Es war ein angenehmes Telefonat, in dem er bedauerte, aber auch bekräftigte, dass man so eben Politik mache. Die Menschen seien nicht an Inhalten interessiert, deswegen entschied man sich dafür, überzeugende Konsumartikel gegen politisches Stimmgewicht einzutauschen. Ich war also jahrelang Mitglied einer Polizeigewerkschaft und ließ ihre Gremien für mich Politik machen, ohne überhaupt zu wissen, was für eine Politik das war.

Die Studieninhalte bei der Bundespolizei sind umfassend, vor allem die Inhalte aus dem Unterricht zur Führungslehre sind mir als sehr zukunftsorientiert in Erinnerung. Im Gegensatz zu einigen Dienststellen, die ich später kennenlernen sollte, wurde hier ein kooperativer Führungsstil vorangetrieben und ein modernes Leitbild ziemlich konsequent umgesetzt. Mitarbeiter:innenbeteiligung, Transparenz, Kommunikation, Anerkennung – der kooperative Führungsstil zielt darauf ab, das Potenzial der Mitarbeiter:innen optimal zu nutzen und ein Arbeitsumfeld zu schaffen, in dem sie sich wertgeschätzt und motiviert fühlen. Damit sollte dem gesellschaftlichen Wertewandel auch innerhalb der Polizei Rechnung getragen werden.

Ich habe viele positive Erinnerungen an meine Ausbildungszeit, nie dachte ich: »Ich muss hier weg.«