Inhalt
Gegen jedes GebotMottoPrologKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40Kapitel 41Kapitel 42Kapitel 43Kapitel 44Kapitel 45Kapitel 46Kapitel 47Kapitel 48Kapitel 49Kapitel 50Kapitel 51Kapitel 52Kapitel 53Kapitel 54Kapitel 55Kapitel 56Kapitel 57Kapitel 58Kapitel 59Kapitel 60Kapitel 61Kapitel 62Kapitel 63Kapitel 64Kapitel 65Kapitel 66Kapitel 67Kapitel 68Kapitel 69Kapitel 70Kapitel 71Kapitel 72Kapitel 73Kapitel 74Kapitel 75Kapitel 76Kapitel 77Kapitel 78Kapitel 79Kapitel 80Kapitel 81EpilogLiebe Leserin, lieber Leser,DankeschönHistorische Aufnahmen zum BuchImpressum
Philea Baker
Gegen jedes Gebot
Ein viktorianischer Krimi
Ein viktorianischer Krimi
Motto
Who will dare to attempt to unlock
the luminous portals of future
with the rusty key of the past?
Victoria Woodhull
Prolog
Ein leichtes Prickeln ist auf meiner Haut zurückgeblieben. Mein Kopf fühlt sich leer an, zugleich glaube ich, er könnte jeden Moment explodieren. Die Feder in meiner Hand kratzt über das Papier und das Geräusch echot von den Wänden wider.
In dem Kettenhemd, das ich trage, sammelt sich die Kälte, die im Raum liegt. Schwer liegt es auf meinen Brüsten und meinem Rücken. Es kühlt die Wunden, die mein Gönner mir heute auf diesen hat zuteilwerden lassen.
Er hat mir eine Suppe gebracht, mich gefüttert. Ohne Worte hat er mich dann geheißen, an die Wand zu gehen. Er hat meinen Haarschopf gepackt und meine Stirn an die Wand gestoßen. Die Hiebe, mit einer Peitsche ausgeführt, glichen Blitze und ich hatte das Gefühl, meine Augen würden aus den Höhlen treten. Es waren drei Hiebe. Dann ist er gegangen. Ich hörte, wie die Tür ins Schloss fiel, dann nahm ich die Maske ab und sah mich um.
Es ist nur ein leichtes Prickeln, das auf meiner Haut zurückgeblieben ist. Ich bin eine von Glück begnadete Frau.
Kapitel 1
Freitag, 18. September 1874, 9:09 Uhr
Hell Gate Brewery, Hell’s Kitchen
Die Morgensonne ließ die roten Backsteine der siebenstöckigen Fabrik in der 94th Street, nahe dem Hudson River, feurig aufleuchten. Aus einer Vielzahl von Schornsteinen drang weißer Rauch, der den Uhrenturm, im Zentrum der Fabrik stehend, einhüllte.
Sein Pferd im Trab führend, näherte sich Inspector Cochrane mit wachsamen Augen der Fabrik. Er passierte die lange Frontseite, um sich einen Gesamteindruck zu verschaffen. Die 94th Street war abschüssig. Die Fenster befanden sich in Bodennähe, doch in der Straße, die von dieser abbog, trennte eine braune Backsteinmauer von etwa vier Metern Höhe die Fenster der Fabrik vom Grund. Alles in allem wirkte die Fabrik wie eine Festung.
Inspector Cochrane zog die Zügel an, als eine der Hochbahnen vorbeifuhr, und lenkte sein Pferd retour auf den Haupteingang zu. Dort angekommen, sprang er aus dem Sattel und übergab dem Wachhabenden die Zügel.
»Inspector Cochrane vom New York City Police Department«, stellte er sich knapp vor. »Es kann ein wenig dauern«, schob er nach.
Der Wachhabende nickte. »In Ordnung.«
Er passierte das rechte der drei in Rundbögen eingefassten Portale. Durch eine Drehtür gelangte er ins Innere des Gebäudes, wo er sich sogleich bei der Anmeldung auswies. Ein Bediensteter wurde gerufen, um ihn zum Geschäftsführer zu bringen.
Aufmerksam blickte er sich um, während er neben dem Bediensteten lief. Gaslampen erhellten den marmornen Boden, Gemälde und Tafeln zierten die Wände.
Sie erreichten einen Personenaufzug und der Bedienstete hieß ihn einzutreten. Bereits mehrfach schon war er mit einem solchen gefahren, im Haughwout-Gebäude, einem Kaufhaus am Broadway. Die Erfindung Elisha Graves Otis’ faszinierte ihn über alle Maßen. Im vierten Stockwerk stiegen sie aus. Cochranes Blick fiel auf ein Gemälde, welches einen wohlsituierten, kräftig gebauten Mann zeigte, der dem aus dem Fahrstuhl steigenden Besucher mit einem Bierkrug zuprostete. Er konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.
Nach wenigen Schritten hielt sein Begleiter inne, um an eine Tür zu klopfen. Diese wurde kurz darauf geöffnet und Cochrane blickte in die Augen eines etwa 50-jährigen Mannes, der ihn aufgelöst ansah.
»Inspector Cochrane, New York City Police Department, guten Tag«, stellte er sich vor.
Der Mann musterte ihn eingehend. »William Barrow«, erwiderte dieser und hieß ihn mit einer Geste einzutreten. Cochranes Blick fiel sogleich auf den Mann hinter dem Schreibtisch in der Mitte des Raumes. Anders als auf dem Gemälde im Flur blickte er keineswegs zuversichtlich und erheitert auf sein Gegenüber, sondern äußerst angespannt. Die langen glänzenden schwarzen Haare waren sorgsam nach hinten gekämmt und gaben Geheimratsecken frei. Das kräftige Gesicht war von einer großen, breiten Nase geziert, unter der sich ein dunkler Schnurrbart befand. Als er zu ihm trat, erhob sich dieser und streckte ihm die Hand entgegen.
»George Ehret. Wir haben Sie schon erwartet, Inspector.« Mit einem Nicken zu Barrow ergänzte er: »William Barrow ist der stellvertretende Geschäftsführer. Bitte nehmen Sie Platz. Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Bier steht auch zur Auswahl. Noch.« Er räusperte sich. Cochrane schüttelte verneinend den Kopf, setzte sich und schlug ein Bein über das andere. »Vielen Dank. Ich benötige nichts. Am besten, wir beginnen gleich die Fakten zu sammeln. Ihr Bote sagte, in Ihre Fabrik sei eingebrochen worden.«
Ehret ließ sich auf seinen Sessel sinken, Barrow nahm neben ihm auf einem der Stühle vor dem Schreibtisch Platz. In die Stirn des Geschäftsführers der Hell Gate Brewery gruben sich tiefe Falten. »Ja, allerdings. Der gesamte Bierbestand wurde gestohlen. Die Schrot- wie auch die Hammermühle, mit welchen das Malz zerkleinert wird, wurden zerstört.«
»Von wie vielen Fässern sprechen wir?«
»Von 200 Fässern.«
»Und auf welche Weise wurden die Mühlen zerstört?«
»Die Mechaniken wurden zerschmettert.«
»Sie sind also nicht mehr in der Lage zu brauen?«
»Genauso ist es.«
Barrow schnaubte laut auf. »Der finanzielle Verlust ist noch gar nicht absehbar! 200 Fässer, die gestohlen wurden! Und ab wann wir die Mühlen wieder in Betrieb nehmen können, ist fraglich. Das Brauen, Inspector, ist ein Prozess, der über Wochen geht. Wir werden auf absehbare Zeit kein Bier herstellen können – es ist ein Desaster!«
Ehret verschränkte die Arme vor der Brust und wechselte den Blick von Barrow zu Cochrane.
»Der Schaden ist also erheblich. Wann sind Sie von den Vorkommnissen in Kenntnis gesetzt worden?«, fragte Cochrane ruhig.
»Die Wachhabenden der Frühschicht haben um sieben Uhr den Einbruch festgestellt und uns umgehend informiert«, antwortete Ehret sachlich.
»Ist die Fabrik nachts nicht bewacht?«
»Natürlich ist sie das. Doch die Nachtwachen sind allesamt verschwunden. Genauso wie die Fässer.« Ehret sah den Inspector durchdringend an.
»Ich würde gern die Personalakten der Männer einsehen.«
Ehret schob ihm einen Stapel Papiere über den Schreibtisch zu. »Hier sind sie.«
Inspector Cochrane nahm sie an sich und las. »Haben Sie nähere Kenntnisse über diese Männer?«
»Nein. Derjenige, der sie eingestellt hat, arbeitet nicht mehr bei uns. Wir haben dementsprechend nur, was in der Akte steht. Unser Personal arbeitet schichtweise zusammen in festen Gruppen. Insofern hatten die anderen Wachhabenden keine Kontakte mit diesen dreien, außer bei der Übergabe. Wir haben schon mit ihnen gesprochen, sie wissen aber nichts Wesentliches über die Männer zu sagen.«
»Gut«, erklärte Cochrane und richtete den Blick erneut auf die oberste Akte.
»Was soll daran gut sein?«, stieß Barrow prompt aus.
Cochrane zog die Brauen hoch. »Gut daran ist, dass Sie die Belegschaft bereits auf Besonderheiten der drei Nachtwächter befragt haben. Ich werde die angegebenen Adressen heute noch prüfen. Eine Personenbeschreibung der drei wäre aus meiner Sicht hilfreich. Hierfür würde ich gern mit den Wächtern sprechen, die mit diesen bei der Übergabe Kontakt hatten. Sind sie noch im Haus?«
»Ja, ich bat sie zu bleiben, falls Sie noch Fragen an sie haben, Inspector.«
Cochrane legte die Papiere zurück auf den Schreibtisch. »Sehr gut.« Er machte eine kurze Pause, bevor er weitersprach. »Auf welche Weise wurde eingebrochen?«
Ehret lehnte sich vor. »Wir haben keine Einbruchsspuren feststellen können. Deshalb gehen wir davon aus, dass die Wachhabenden den Einbrechern die Tür geöffnet haben.«
»Mag sein. Vielleicht wurden sie auch überwältigt und man hat ihnen die Schlüssel abgenommen.«
»Es gibt aber keine Toten«, entgegnete Ehret.
»Das wissen wir nicht. Vielleicht wurden sie in Gewahrsam genommen und an einem anderen Ort getötet«, gab Cochrane zurück.
George Ehret beugte sich vor und legte die Unterarme auf den Tisch. »Diese Annahme halte ich für äußerst unwahrscheinlich, Inspector.«
»Es handelt sich hierbei keineswegs um eine Annahme, Mr. Ehret. Ich schließe bloß die Möglichkeit nicht aus, dass es so gewesen sein könnte. Tote hinterlassen Spuren, lässt man sie verschwinden, sind auch die Spuren verschwunden. Zunächst jedenfalls.«
»Das ist wohl wahr«, grummelte Ehret. »Wollen Sie sich die Lagerhallen ansehen, in denen die Fässer standen? Die Brauereimühlen? Vielleicht können Sie etwas feststellen, was uns bislang entgangen ist.«
Cochrane nickte. »Ja, ich möchte mir die Lagerhallen ansehen, wie auch die Mühlen. Doch zuvor habe ich noch weitere Fragen an Sie. Ihre Brauerei ist bekannt. Welchen Stellenwert hat sie unter allen Brauereien New Yorks?«
Ehret wechselte einen Blick mit Barrow. »Unser Firmenvermögen ist nicht unbeträchtlich. Wir sind die umsatzstärkste Brauerei New Yorks.«
»Wer sind Ihre Konkurrenten?«
»Die Hubert Fischer & Leonhard Eppig Brewery«, meldete sich Barrow zu Wort. »Allerdings sind sie mit ziemlich großem Abstand eine Konkurrenz. Wie auch Jacob Ruppert.«
»Gibt es zwischen Ihnen und diesen Geschäftsführern Beziehungen auf Geschäftsebene – oder persönliche?«
»Nein, man kennt sich nur geläufig«, sprach Ehret kurz angebunden. »Jeder braut und trinkt sein Bier allein.«
»Sie werden die nächste Zeit kein Bier brauen, Mr. Ehret, mit Verlaub. Fischer & Eppig wie auch Ruppert schon. Diese werden auch über volle Lagerbestände verfügen, möchte ich annehmen. Das heißt nicht, dass ich die Herren verdächtige. Ich stelle lediglich Tatsachen fest.«
Ehret zog die Brauen zusammen. »Bei Fischer & Eppig ist Leonhard Eppig der Macher. Allerdings gehe ich nicht davon aus, dass er hinter dieser Sache steckt. Für ein solches Unternehmen braucht es Cleverness und Mumm. Würde er über das eine oder das andere verfügen, würde sein Geschäft besser laufen. Das tut es aber nicht. Und Jacob Ruppert sehe ich nicht als wirklichen Konkurrenten an, denn er produziert Knickerbocker und Pale Ale, also eine andere Sorte Bier. Im Übrigen: Wenn einer der beiden uns hätte schaden wollen, hätte dieser die Fässer aufgeschlagen und im Keller einfach auslaufen lassen, um das eigene Bier an den Mann zu bringen, denke ich.« Ehret lehnte sich zurück. »Wir sind hier in Hell’s Kitchen. Eine Menge Halunken treiben sich hier herum. Taschendiebe, Halsabschneider, Betrüger, Mörder, Gangster, die sich in Banden zusammenrotten. Wenn bekannt wird, dass wir auf unbestimmte Zeit unser Bier nicht liefern können, werden diese 200 Fässer gefragt sein – und gutes Geld einbringen. Wenn Sie mich fragen: Ich bin mir sicher, dass der Wind irgendwo aus dieser Richtung kommt!«
Cochrane nickte. »Das kann gut sein.«
»Was gedenken Sie zu unternehmen?«
»Was ist das für ein Bier, das Sie brauen, Mr. Ehret? Welche Sorte oder Sorten stellen Sie hier her?«, fragte Cochrane, ohne auf seine Frage einzugehen.
Sowohl Ehret als auch Barrow sahen verblüfft auf. »Sie kennen unser Bier nicht?«, stieß Barrow fassungslos neben ihm aus.
»Nein. Ich kenne Ihr Bier nicht.«
Stille spannte sich wie ein unsichtbares Netz über die drei Männer in dem Büroraum. Cochrane lachte schließlich leise auf. »Es ist kein entscheidendes Kriterium für die Ermittlung, dass man die Materie von Ermittlungsgegenständen kennt. Oder in diesem Fall trinkt.«
Ehret räusperte sich. »Sicherlich nicht. Es ist allerdings erstaunlich, dass Sie New Yorks beliebtestes Bier nicht kennen. Und zu Ihrer Frage: Wir brauen ein Kellerbier, wie die Münchner in Deutschland es brauen. Ein Dunkelbier.«
»Welche anderen Brauereien stellen ein ebensolches Bier her außer Fischer & Eppig?«
»Es gibt einige kleinere Brauereien, die sich darin versuchen. Aber ihre Umsätze sind äußerst gering.«
Cochrane strich sich mit dem Zeigefinger über die Braue. »Bitte erstellen Sie mir eine Liste dieser Brauereien, egal, wie klein sie sind. Und unabhängig vom Geschäftswesen, Mr. Ehret, möchte ich Sie fragen, ob Sie in einem persönlichen Konflikt mit einer Person stehen. Jemand, der vielleicht nichts mit dem Brauereigeschäft zu tun hat.«
»Wer gutes Bier braut, hat nur Freunde«, versetzte Ehret rasch. »Die New Yorker lieben mich. Das Produkt stimmt und der Preis auch.«
»Nicht alle trinken Bier, Mr. Ehret. Soweit waren wir schon.«
»Inspector Cochrane, ich kann Ihnen besten Gewissens sagen, dass ich keine Feinde habe. Jedenfalls keine, von denen ich weiß.«
»Nun, wenn das so ist, habe ich keine weiteren Fragen im Moment. Lassen Sie uns die Lagerhallen wie auch die zerstörten Mühlen ins Auge fassen. Die Personalakten der Nachtwachen würde ich gern mitnehmen, wenn Sie erlauben.«
»Natürlich können Sie diese mitnehmen«, sagte Ehret und stand auf. »Gehen wir zum Ort des Geschehens, hinab in die Keller der Hell Gate Brewery. Lassen Sie uns den Teufel finden, der hier gewütet hat.«
Kapitel 2
15:46 Uhr
Women’s Medical College of the New York Infirmary, Stuyvesant Square
Durch die kleinen Fenster des Lehrsaales im obersten Geschoss des Women’s Medical Colleges of the New York Infirmary blickte Alessa auf einen wolkenverhangenen Himmel. Sie hatte die Fragen der Prüfungsarbeit im Fach Pathologie beantwortet und spielte mit ihrer Feder. Die anderen Studentinnen saßen noch mit gebeugten Köpfen über ihren Schreibpulten und schrieben. Es war warm im Raum und roch nach frisch gewienertem Holzboden.
Ihre Gedanken schweiften ab zu Mark Filton, dem ehemaligen Assistenzarzt des St Thomas’ Hospital in London, in dem sie als Krankenschwester und Lehrerin gearbeitet hatte, und zu John Croft, dem Oberarzt, ihrem Freund und Lehrer. Seit zweieinhalb Monaten war sie in New York und dennoch konnte sie die beiden nicht vergessen. Nichts war im Women’s Medical College of the New York Infirmary, wie es im St Thomas’ Hospital gewesen war. Es waren nicht nur die Räumlichkeiten, ihre veränderte Stellung – es waren vor allen Dingen die Menschen. Immer wieder ertappte sie sich bei dem Wunsch, die Tür möge aufgehen und John würde eintreten. Aber er war in London, weit weg. Es schmerzte sie zutiefst, dass sie die Briefe ihres besten Freundes, der um seinen totgeglaubten Geliebten Mark trauerte, mit Lügen strafte, wenn sie ihm schrieb und ebenfalls Trauer bekundete. Mark lebte. Doch der Preis für sein Überleben war, dass niemand wissen durfte, dass er lebte – dass er England hatte verlassen müssen, für immer. Mark war mit ihr auf der Britannic gewesen. Zusammen hatten sie an der Reling gestanden und auf New York geblickt. Kaum an Land, hatten sich ihre Wege getrennt. Sie hatte ihm gesagt, wo er sie finden könne, doch er hatte sich seitdem nicht mehr bei ihr gemeldet. Wo mochte Mark, dessen neuer Name jetzt James war, sein? Was tat er, wie mochte es ihm ergehen?
Auch Ryon Buchanan, der Halbindianer und Schiffsbauingenieur, den sie in London kennen- und lieben gelernt hatte, war aus ihrer Welt entschwunden, zumindest fast. Er lebte in Kennebunkport, nördlich von Boston, hatte ihr einen Brief geschrieben und sie eingeladen, ihn zu besuchen. Aber das wollte sie nicht, also hatte sie ihm abgesagt. Durch Zufall hatte sie erfahren, dass er Vater werden würde – sie hatte es einem Telegramm seines Bruders entnommen, als sie ihn in seinem Hotel besucht hatte. Liz ist schwanger. Wann kommst du heim? Das, obwohl er sie geküsst, ihr Liebesbekundungen gemacht hatte! Nein, sie würde Ryon Buchanan nicht aufsuchen. Auch wenn sie sich nach ihm sehnte.
Alessas Blick wanderte nach vorn zum Pult, an dem die Professorin saß. Sie versteifte sich augenblicklich, als sie erkannte, dass diese sie äußerst kritisch musterte. Sogleich stieg ihr die Röte ins Gesicht. Es schien ihr, als könne Mary Putnam Jacobi ihre Gedanken lesen. Und für niemanden, wirklich niemanden, waren diese Gedanken bestimmt! Warum nur musste sie immer unangenehm auffallen? Zudem belastete es sie, dass sie ein Kopftuch trug, dass sie sich allein schon äußerlich abhob von den anderen Schülerinnen.
Bei ihrer Ankunft im Women’s Medical hatte die Leiterin, Emily Blackwell, die Schwester der berühmten Ärztin Elizabeth Blackwell, sie von oben bis unten gemustert und sie gefragt, warum sie die Haare gekürzt trug. Sie hatte vorgegeben, die Haare seien in Flammen geraten, als sie zu nah an einer Kerze gestanden habe. Misstrauisch hatte Emily Blackwell sie beäugt. »Eines möchte ich klarstellen: In unserem Haus dulden wir keine Suffragetten. Die kurzen Haare lassen darauf schließen, dass Sie diese gekürzt haben, um Ihre politische Meinung kundzutun. Sie werden ein Kopftuch tragen, bis die Haare lang genug sind, um sie hochstecken zu können.«
Die Worte Emily Blackwells waren jedenfalls alles andere als ein Willkommensgruß für sie gewesen. Dabei war mit dem Studium ihr langjähriger Traum in Erfüllung gegangen. Was für eine Rolle spielten da ihre kurzen Haare? Alles im Women’s Medical war strengen Auflagen unterlegen. Es gab so gut wie keine individuellen Handlungsspielräume und beim Übertreten von Regeln folgte in kürzester Zeit ein Gespräch bei der Leiterin, in welchem eine Maßregelung erfolgte. Die Studentinnen hatten eine einwandfreie moralische Haltung zu zeigen, es wurde Disziplin in jeder Hinsicht verlangt. Für sie, die es gewohnt war, eigene Entscheidungen zu treffen und Schülerinnen in der Krankenpflegeschule anzuleiten, war die Art und Weise, wie mit den Studentinnen umgegangen wurde, vergleichbar mit den unhaltbaren Erziehungsmethoden ihrer Stiefmutter in London. Die meisten der Regeln konnte sie nicht nachvollziehen und empfand sie als schlichte Disziplinierungsmaßnahmen. Das Women’s Medical war das einzige College in New York, das Medizinerinnen ausbildete. Offenbar fürchtete man, dass der geringste Anlass zu Spekulationen und Verruf führen könne – und dies galt es, im Keim zu ersticken. Folglich wurden auch ausschließlich Frauen und Kinder im Women’s College behandelt.
Alessa blickte erneut aus dem Fenster, ungeachtet des skeptischen Blickes ihrer Professorin. Auch wenn alles anders war, als sie es sich vorgestellt hatte, so war sie doch hier. Und hatte gerade eine Prüfung in Anatomie abgelegt. Sie würde Ärztin werden, koste es, was es wolle.
Kapitel 3
19:10 Uhr
Woodhulls Haus, Park Avenue
Schon im Foyer hörte Alessa eine Vielzahl von Stimmen aus dem Salon. Sie war regelmäßig zu Gast bei Victoria Woodhull, der Herausgeberin der Weekly, einer Wochenzeitschrift. Es fühlte sich nach Zuhause an, wenn sie hier war – das hatte es schon beim ersten Mal. Sie hatte Victoria und ihre Tochter Zulu Maud auf der Britannic kennengelernt und rasch festgestellt, dass sie gemeinsame Themen bewegten: Die Frauenbewegung, die Klassenunterschiede und mehr. Victoria umgab eine Aura von Kraft, Freiheit und Klarheit. Sie war um einiges älter als Alessa, 35 Jahre alt, hatte viel erlebt und bewegt: Sie war zwei Jahre zuvor Präsidentschaftskandidatin gewesen, ebenso war sie Brokerin gewesen und Beraterin von Vanderbilt. In der Weekly, welche sie mit ihrer Schwester Tennessee betrieb, hatte sie als erste Amerikanerin Texte von Karl Marx publiziert. Sie war eine Anhängerin der freien Liebe und erinnerte Alessa daher an Madame Meaux, die sie in London in den letzten Monaten kennengelernt hatte, und die in naher Beziehung zu ihrem Onkel stand. Die Gegenwart von Victoria ließ sie die rigiden Strukturen im Women’s Medical College vergessen, hier konnte sie sein, wie sie war und sein wollte.
Freudig und neugierig schritt sie auf den Salon zu. Warum waren heute so viele Menschen hier? Nicht, dass es sonst wenige wären – Victoria lebte mit 16 Personen in diesem Haus: ihrem Mann, ihrem ehemaligen Mann, ihrem Geliebten und ihrer Familie mit Anhang – aber heute schien tatsächlich eine größere Gesellschaft in Victorias Haus zusammengefunden zu haben.
Im Salon herrschte Hochstimmung: Viele Männer und Frauen standen mit Gläsern in den Händen in angeregten, hitzigen Gesprächen beieinander.
»Alessa!« Zulu Maud trat zu ihr und umarmte sie. »Wie schön, dass du gekommen bist! Wir feiern gerade …«
»Hallo Zulu! Ich wundere mich gerade … Habe ich etwas verpasst?«
»Die Leute von der Gewerkschaft sind da. Wie Victoria uns letzte Woche erzählt hat, fordern sie von der Stadt die Zusage für ein Bauprojekt, wofür dem Sicherheitskomitee 100.000 Dollar für die Arbeiter zugestanden werden sollen. Die Forderung ist heute Bürgermeister Havemeyer zugestellt worden. Und Victoria hat die Forderungen des Sicherheitskomitees in der Weekly veröffentlicht, um die Gewerkschaft zu unterstützen. McGuire, der Vorsitzende des Sicherheitskomitees, sagt, dass sich heute über 700 Arbeiter eingefunden haben, die die Forderungsliste unterschrieben haben und bereit sind zu kämpfen!«
»Das ist ja unglaublich!«, stieß sie aus. »Was für ein Erfolg!«
»Komm mit zu Victoria«, sprach Zulu und zog sie mit sich. Alessa folgte ihr quer durch den Raum.
»Ich denke, dass Havemeyer sehr bald reagieren wird«, hörte sie gerade einen der Männer sprechen, die Victoria umringten, »die Zeit ist reif für Zugeständnisse und er weiß es.«
»Die Frage ist, ob er sich gegen Tammany Hall durchsetzen wird. Tweed wird sicherlich dagegen sein. Aber: Wir werden sehen«, erklärte Victoria Woodhull. Als sie Alessa erblickte, unterbrach sie das Gespräch. »Meine Lieben … ich möchte euch meine Freundin Alessa Arlington vorstellen. Alessa: Das sind Peter McGuire, der Vorsitzende des Sicherheitskomitees, Patrick Dunn, Martha Anderson und Sophie Lyons …«
Alessa erwiderte den Gruß der anderen, die sie aufmerksam betrachteten und deren Blicke allesamt ihr Kopftuch in Augenschein nahmen, mit einem Nicken und den Worten: »Zulu sagte mir, dass es gute Nachrichten gibt …«
»Die Forderung des Sicherheitskomitees, von der ich neulich zu dir sprach, ist heute im Rathaus abgegeben worden und Peter McGuire hatte mich zuvor gebeten, hierüber in der Weekly zu berichten. Die Zahl der Anhänger ist mit dem heutigen Tag auf über 6000 gestiegen. Der Druck auf die Stadtregierung erhöht sich immens. Wir sind guter Dinge, dass der Forderung nachgekommen und sich die Situation in den Vierteln bald verbessern wird. Du weißt, was das bedeutet, auch für dich.«
»Bitte kläre uns auf, Victoria«, forderte einer der Männer.
»Wieso ich, Patrick? Frage sie selbst!«, gab Victoria augenzwinkernd zurück.
Alessa spürte, wie sie unruhig wurde. »Ich studiere im Women’s Medical. Die Zustände in den Slums sind mir wohlbekannt, denn wir versorgen täglich Frauen und Kinder aus diesen. Neben der unzureichenden Nahrungsversorgung und der Verwahrlosung haben wir viele misshandelte Frauen und Kinder, in deren Familien die Situation eskaliert ist, was mich zutiefst betroffen macht. Deshalb hoffe ich sehr, dass sich die Verhältnisse in diesen Vierteln bald verbessern.« Sie hielt inne und schaute in die Runde.
»Vielleicht sollte man hierüber ebenfalls in der Weekly berichten«, hob Patrick Dunn an zu sprechen.
»Das wäre in der Tat eine gute Idee«, fand Alessa. »Allerdings könnte ich selbst hierzu wenig beitragen, denn wir Studentinnen sind angehalten, ausschließlich unseren Pflichten nachzukommen und nicht politisch aktiv zu sein.«
»Umso schöner, dass Sie heute zugegen sind«, erklärte Dunn rasch, »eine Widerspenstige unter Widerspenstigen sozusagen.«
Alessa spürte, wie sie errötete. Sie wusste nicht, was sie erwidern sollte.
»Alessa ist eine Freidenkerin, Patrick, die die Dinge, die sie umgibt, sieht, und zugleich ihr Ziel verfolgen möchte. Das Medizinstudium bedeutet ihr alles. Von daher, glaube ich, gibt es Grenzen der Widerspenstigkeit, nicht im Sehen, aber im Handeln.«
»Wer frei denkt, sollte auch in der Lage sein, frei zu handeln. Das freie Denken entfaltet sich erst zur vollen Blüte im Handeln«, meldete sich Sophie Lyons zu Wort. Ihre Stimme klang kühl und belehrend, doch ihre Worte erreichten Alessa im tiefsten Inneren. Interessiert blickte Alessa auf die etwa 30-jährige Frau mit ernstem Gesichtsausdruck. Irgendwie schien sie sich von der sie umgebenden Fröhlichkeit und Ausgelassenheit nicht gleichermaßen mitreißen lassen zu können oder zu wollen. »Es ist möglich, zwei Ziele gleichzeitig zu verfolgen, Ms. Arlington. Offenbar tun Sie dies bereits, sonst wären Sie nicht hier.«
»Wir alle verfolgen mehrere Ziele, die nach Gehör verlangen – und wenn wir im Chor unser gemeinsames Ziel lautbar werden lassen, dann liegt darin die Kraft, die Bewegung und Veränderung nach sich ziehen wird«, sprach Peter McGuire in feierlichem Ton. Er hielt sein Glas hoch. »Willkommen in New York, Ms. Arlington!«
Kapitel 4
21:45 Uhr
Cochranes Wohnung, Midtown
Die Geräusche von Hufgetrappel und Kutschenrädern, die lautstark auf das Pflaster trafen, drangen durch das offene Fenster in Inspector Cochranes Wohnung. Er hatte seine Füße auf einem Stuhl und seinen Kopf lässig im Sessel liegen, während er auf den allmählich dunkel werdenden Abendhimmel hinausblickte. Auf einem Stuhl neben sich hatte er ein Glas Gin Fizz stehen, von dem er von Zeit zu Zeit nippte. Noch immer meinte er den unangenehmen Malzgeruch der Hell Gate Brewery an sich wahrzunehmen, obwohl er sich gewaschen hatte und eine frische Leinenhose trug.
Die Besichtigung in der Brauerei hatte keinen Hinweis auf die Täter oder das Geschehen gegeben. Das große Tor im Mauerwerk auf der hinteren Seite der Fabrik war unversehrt, genau wie Ehret ihm in seinem Büro zuvor mitgeteilt hatte. Von diesem Tor aus wurden die Fässer üblicherweise auf Kutschen geladen und zu den Verkaufsstellen gebracht, hatte Ehret ihn wissen lassen. Spuren waren auf den Pflastersteinen vor dem Tor nicht zu finden gewesen. Ein zweiter gepflasterter Weg führte durch eine weitläufige Wiese, die trostloses Brachland darstellte, zum Hudson River. Ehret hatte seine Vermutung bestätigt, dass auf diesem Weg Schiffe mit der Ware der Fabrik beladen wurden. Er hatte das Bild, das sich ihm geboten hatte, diese Weite, intensiv auf sich wirken lassen und noch immer sah er es vor seinem inneren Auge. Es lag etwas Schönes darin, denn es barg Ruhe und war somit ein angenehmer Kontrast zum Trubel, der in der Stadt herrschte.
Auch das Tor, welches ins Innere der Fabrik führte, hatte keinen Hinweis auf das Geschehen in der Nacht gegeben, denn es wies keine Schäden auf. Im Flur und Kellergewölbe wie auch in den Kühlhallen, in denen das Bier gelagert wurde, war ebenfalls alles unauffällig gewesen. Niemals hatte er einen Tatort gesehen, der nichts, rein gar nichts preisgab, außer: dass er nichts preisgab. Diese Tatsache enthielt eine Botschaft, er wusste es. Und deshalb war er auch nicht erstaunt über die weiteren Ergebnisse, die folgten.
Nach der Besichtigung hatte er mit den drei Wächtern der Frühschicht gesprochen. Diese hatten ihm die Wächter der Nachtschicht beschreiben können, wussten aber weiter nichts über sie zu berichten. Dann war er zu den Wohnungen der drei Nachtwächter gefahren, um dort zu erfahren, dass keiner der Vermieter die Männer kannte. Er hatte im Anschluss das Schifffahrtsmeldeamt im Süden New Yorks aufgesucht, um sich zu erkundigen, ob, und wenn ja, welche Schiffe den Hudson River in der Nacht passiert hatten. Keines, hatte man ihm mitgeteilt.
Das bedeutete, dass das Diebesgut sehr wahrscheinlich durch die Stadt weggeschafft worden war. Zurück im New York City Police Department, kurz NYPD genannt, hatte er vier Sergeanten losgeschickt, die in der unmittelbaren Nachbarschaft der Hell Gate Brewery nach besonderem Verkehrsaufkommen oder Ungewöhnlichem in der Nacht fragen sollten. Aber auch diese Ermittlungen waren ergebnislos geblieben. Wie nur war es den Dieben gelungen, unbemerkt 200 Fässer abzutransportieren? Die Frage beschäftigte ihn jetzt in seinem Zuhause noch immer.
Angus Farrell, sein Vorgesetzter und Chef des NYPD, mit dem er die Sachlage besprochen hatte, hatte seine Vermutung, dass hinter dem Einbruch ein kreativer Kopf stecken müsse, geteilt – und ihm eine Idee mitgegeben. »Dass dem so ist, dass es keine Spuren gibt, bedeutet: Dies ist die Spur«, hatte er nach seinem Bericht gesagt. »Um Ware dieser Größenordnung unbemerkt verschwinden zu lassen, bedarf es Cleverness, Vorbereitung und einer guten Organisation. Wir können davon ausgehen, dass die Nachtwächter Teil des Plans waren, da die angegebenen Adressen nicht stimmen. Wenn Sie die Frage, wie die Fässer weggeschafft wurden, im Moment nicht lösen können, stellen Sie sich die Frage, wo sie jetzt sind. Und ob es jemanden gibt, der ein persönliches Motiv haben könnte, Ehret zu schaden. Wenn die Ermittlungen in diese Richtung nichts ergeben, müssen wir davon ausgehen, dass dahinter eine Gang steckt. Dann wird dahingehend weiterermittelt.«
Nach dem Gespräch mit Farrell hatte er eine Pressemitteilung aufgesetzt und abgeschickt, danach hatte er das Büro verlassen und den Heimweg angetreten.
Er griff nach seinem Glas und nahm einen Schluck Gin Fizz. Inzwischen war es dunkel. Die Wohnung im obersten Stock erlaubte ihm den Blick auf den mit Sternen übersäten Nachthimmel. Der Fall war nach seinem Geschmack, auch wenn es dabei um Bier ging. Bisher hatte er Morde geklärt, noch nie hatte er einen Diebstahlsfall gehabt. Bei ersterem waren zumeist persönliche Motive die Auslöser der Tat gewesen – bei diesem Fall ging es vermutlich um Geld. Denn Ehrets Bier war das beliebteste New Yorks.
Die Frage, wie das Bier unbemerkt hatte abtransportiert werden können und wo es zum jetzigen Zeitpunkt sein könnte, ließ ihn nicht los. Irgendwo musste dieses Bier schließlich gelagert, verkauft und zu Geld werden. Es gab Tausende von Bars und Pubs in New York … und kein Besitzer, der auf unlauterem Wege Hell-Gate-Brewery-Bier erstand, würde etwas hierüber verraten. Das hieß, er musste eine Menge Männer aufbringen, Bars und Pubs beschatten lassen, Glück haben.
Er nahm sich vor, Fischer & Eppig und auch Jacob Ruppert am nächsten Tag aufzusuchen. Ehret vermutete eine Gang … Nun, es gab unzählige Gangs: Die Hook Gang, die Whyos und viele mehr. Aber sollte eine dieser Gangs wirklich so clever sein, ein derartiges Unternehmen planen und umsetzen zu können? Er würde Thomas Byrnes aufsuchen, einen jungen Polizisten, der begonnen hatte, Fotografien von Kriminellen zu sammeln und eine Schurkengalerie zu erstellen. Vielleicht war das eine Möglichkeit, die Fährte aufzunehmen. Ferner gab es noch eine weitere Sache, die er im Auge behalten musste: Das Bier musste gekühlt werden, sonst verdarb es – das hatte Ehret ihn zuletzt wissen lassen. Demzufolge musste er nicht nur nach Lagermöglichkeiten suchen, sondern auch nach solchen, die Kühlung boten oder Kühlgeräte aufwiesen …
Kapitel 5
Samstag, 19. September 1874, 9:00 Uhr
New York City Police Department, Detective Bureau, Schurkengalerie
Thomas Byrnes’ Schurkengalerie hatte seit seinem letztem Besuch Gestalt angenommen: Eine meterlange hölzerne Tafel mit aufwendigen Schnitzereien und einem Adler obenauf und unzähligen Carte de visite’s in einem Raster in Klapptafeln darunter präsentierte sich Inspector Cochranes Auge. Beeindruckt blieb er stehen und ließ den Anblick auf sich wirken, nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte. Vor wenigen Wochen noch waren die Fotografien in Kisten sortiert gewesen. Nun konnte man sie auf einen Blick studieren.
»Guten Morgen, Henry«, begrüßte Thomas Byrnes ihn gut gelaunt von seinem Schreibtisch aus.
»Guten Morgen, Thomas.« Er schritt auf die Tafel zu. »Mein Gott. Damit revolutionierst du die Polizeiarbeit.«
Thomas stand auf, schritt zu ihm und platzierte sich neben ihm. »4000 Fotografien sind es inzwischen. Henderson hat die Tafel nach meinen Vorgaben gebaut und kaum, dass sie aufgestellt war, hat sie sich gefüllt. Ich habe bereits eine zweite in Auftrag gegeben.«
»Wenn das so weitergeht, brauchst du bald einen zweiten Raum für deine Schurkengalerie«, kommentierte Cochrane.
Byrnes lachte laut auf. »Natürlich.« Er deutete auf mehrere Kisten, die neben seinem Schreibtisch standen. »Ich werde wohl eine extra Abteilung für die Italiener machen müssen. Diese hier«, er deutete mit dem Finger auf die Tafeln, »sind fast ausschließlich irische und deutsche Schurken. Die drüben in den Kisten sind über die Hälfte Italiener. Da kommt was auf uns zu, Henry.«
»Die Flut an italienischen Einwanderern trägt also Früchte.«
»Ja. Und sie sind anders aufgestellt als die Iren und Deutschen. Bei denen zählt ein Mord so viel wie ein abgekautes Ohr bei einem Iren.«
»Sieht nicht gut aus. Farrell hat mich schon darüber informiert. Er hat vor, Italienisch mit ins Ausbildungsprogramm zu nehmen.«
»Ach«, brummte Byrnes, »so weit sind wir schon, dass wir uns auf ihre Ebene begeben. Irgendwann ist es so weit, dass wir uns in ihre Zellen einsperren lassen, um ihre Gefühlslagen zu studieren. Was für ein Nonsens! Die Jungs sprechen die Sprache der Gewalt, das ist die Sprache, die sie verstehen, also sollte man ihnen in dieser auch antworten.«
Henry Cochrane zwirbelte an seinem Schnurrbart. »Du weißt, dass Polizeiarbeit anders aussieht, Thomas.« Er konnte Byrnes grobe Ansichten nicht teilen. Die Italiener verließen ihre Heimat nicht aus Spaß, sondern aus Not. Armut und Übervölkerung trieben sie in die Ferne, nach New York. Und hier mussten sie ums Überleben kämpfen, die Stadt empfing sie nicht mit offenen Armen.
»Ich habe jedenfalls gleich eine zweite Tafel in Auftrag gegeben«, wiederholte Byrnes mit ironischem Unterton. Für einen Moment war es still. »Warum bist du hier, Henry?«
»200 Fässer sind aus einer Bierbrauerei gestohlen worden. Ich suche nach Verdächtigen.«
»Du hast den Hell-Gate-Brewery-Fall übernommen?«
»Ja.«
Byrnes lachte erneut. »Ausgerechnet du! Freiwillig hast du den Fall mit Sicherheit nicht übernommen. Den hat dir Farrell aufgedrückt, nicht wahr?«
»Ach, das ist ein Fall wie jeder andere. Jedenfalls behandele ich ihn so.«
Byrnes beugte sich zu ihm. »Ich rieche Malz an dir …«
Cochrane grinste. »Wenn du einen so überaus ausgeprägten Geruchssinn hast, sollte ich dich bei meinen Ermittlungen vielleicht als Spürhund einsetzen.«
»Das könnte dir so passen«, blaffte Byrnes. Er stemmte die Fäuste auf seine Hüften und ließ seinen Blick über die Tafel gleiten. »Kläre mich mal über den Ermittlungsstand auf, damit ich mir ein Bild davon machen kann, wer von denen hier infrage kommen könnte.«
»Die Malzmaschinen sind zerstört, der gesamte Bierbestand ist gestohlen worden. Die Nachtwächter sind verschwunden und ihre in den Personalakten vermerkten Adressen stimmen nicht. Keiner kennt sie näher. Es gab kein Verkehrsaufkommen und keinerlei Auffälligkeiten rund um die Fabrik. Die von der Schifffahrtsmeldebehörde sagen, dass keine Schiffe in der Nacht den Hudson River passiert haben. Das wäre nämlich eine Möglichkeit gewesen, das Diebesgut abzutransportieren, denn die Brauerei liegt am Hudson River. Ich stehe also vor einem Rätsel. Und das heißt, das Ganze ist sowohl gut geplant als auch durchgeführt worden. Dahinter steckt mindestens ein schlauer Kopf. Und viele Helfershelfer. Ich gehe von einem Netzwerk aus. Verdächtig könnten Konkurrenten sein – oder eine Gang.«
»Nichts da, sonst keine weiteren Spuren?«
Cochrane schüttelte verneinend den Kopf.
»Ist ja herzlich wenig.« Byrnes rümpfte die Nase. »Schlaue Köpfe gibt es hier nur wenige. Schurken, die zusammenarbeiten, einige. Willst du die lokalisiert haben, auf den Stadtteil?«
»Nein. Die müssen keineswegs aus Hell’s Kitchen sein.«
Byrnes überlegte nicht lange. Er führte Cochrane weiter rechts an die Tafel. »Slipsey Ward. Ist einer von der Hook Gang. Hat einen Schoner entführt und sitzt ein.« Er ging weiter und deutete auf eine andere Fotografie. »Das ist Eddie Wallace. Er gehört auch zur Hook Gang. Hat ein Ruderboot entführen wollen. Auf dem waren aber ein paar unserer Kollegen in Zivil drauf. Der sitzt auch ein. Wie du siehst, betreibt die Hook Gang Piraterie. Könnte gut sein, dass sie dahinterstecken. Nicht inhaftiert sind …«, er lief weiter, »James Coffee, der Anführer, Terry Le Strange und Tommy Shay, die sind wegen früherer kleinerer Delikte in unserer Kartei. Wir wissen, dass sie zur Hook Gang gehören, aber sie sind bislang noch nicht gefasst worden.«
Cochrane sah sich die Aufnahmen genau an.
»Dann gibt’s noch die Gegner der Hook Gang, die auch in Sachen Piraterie unterwegs sind«, Byrnes schritt weiter. »Die Patsy Conroy Gang. Da haben wir nur eine Aufnahme von Larry Griffin. Der hat mal wegen eines Diebstahls eingesessen. Wir wissen, dass er für Patsy Conroy arbeitet. Die Gang könnte auch infrage kommen.«
Cochrane betrachtete ihn eingehend. »Ich will die Akten von allen haben.«
»Natürlich.« Byrnes schritt weiter. »Der Nächste: Danny Lyons. Er war früher bei der Five Points Gang. Dort war er einer von denen, die gelenkt haben. Vor fünf Jahren wurde er mit einem Überfall auf eine Bank in Chicago in Verbindung gebracht. Gefunden haben sie ihn aber nicht. Es heißt, er sei wieder in der Stadt. Kann aber auch ein Gerücht sein. Was er treibt, sofern er hier ist, weiß man nicht.« Als Nächstes deutete er mit dem Finger auf einen Mann, der grobschlächtig in die Kamera blickte. »Michael Lloyd, auch ein ehemaliges Mitglied der Five Points Gang, Taschendieb und Betrug sind sein Gebiet. Gehört vielleicht zur Whyos Gang, die allerdings nichts mit Piraterie am Hut haben. Die machen in Sachen Glücksspiel, Prostitution, Straßenraub.«
Cochrane schmunzelte. »Am besten, du suchst mir die Akten von allen raus, die infrage kommen, und lässt sie in mein Büro bringen. Hierzu …«, er deutete mit dem Finger auf die Fotografie einer Frau, »habe ich eine Frage. Sophie Lyons … sie war doch vor über zehn Jahren wegen eines Einbruchs verurteilt, wenn ich mich recht entsinne. Warum ist sie hier noch aufgeführt? Soweit ich weiß, hat sie doch ein Buch herausgebracht und sich mit diesem deutlich vom Verbrechermilieu distanziert?«
»Warum Verbrechen sich nicht lohnt ist der Titel des Buches. Ja, sie hat sich nichts mehr zuschulden kommen lassen. Sie bekehrt jetzt Straftäter. Trotzdem: Wer einmal eine Straftat begangen hat, bleibt vermerkt.«
»Na, dann hoffe ich mal, dass sie mit ihrem Buch Erfolg hat. Das macht uns weniger Arbeit im Nachhinein.« Neugierig blieb sein Blick an der Fotografie einer weiteren Frau hängen.
»Battle Annie oder The Sweetheart of the Gopher Gang«, klärte Byrnes ihn auf. »Ihr richtiger Name ist Annie Walsh. Sie führt die Lady Gophers an, also einen Abzweig der Gopher Gang. Man nennt sie auch The Queen of Hell’s Kitchen. Das ist eine Schlaue. Wegen Diebstahls war sie vor Jahren mal im Gefängnis. Kaum frei, hat sie Karriere gemacht. Lässt sich sogar von Unternehmen und Gewerkschaften anheuern, um dann mit mehreren hundert Frauen aufzuräumen. Und Hell’s Kitchen – das könnte passen. «
»Eine zweite Hell-Cat Maggie …«
»Schlauer. Und ohne angespitzte Zähne und Messingnägel«, kommentierte Byrnes. »Soll ich die Akte von ihr auch für dich raussuchen?«
»Ja. Kannst du mir die Akten heute noch zukommen lassen?«
Byrnes nickte. »Ich werde mich darum kümmern.«
»Ich danke dir, Thomas. Ich werde mich jetzt auf den Weg machen.« Cochrane deutete mit dem Kopf auf die Kisten, die am Schreibtisch standen. »Die Italiener sollten wir bei diesem Fall nicht außer Acht lassen. Wenn du glaubst, unter ihnen Verdächtige zu finden, hätte ich auch von diesen gerne die Akten.«
»Ja«, gab Byrnes langgezogen zurück. »Sie sind nämlich nicht nur doppelt so brutal, sondern auch doppelt so schnell und clever wie die Iren und Deutschen. Allerdings haben sie sich noch nicht zusammengerottet und Gangs gebildet. Jedenfalls soweit ich weiß.«
»Wir behalten sie im Blick.«
Kapitel 6
11:40 Uhr
New York City Police Department, Street
Kitty McGowans Herz schlug kraftvoll in ihrer Brust, als sie die Straße vorbei am NYPD entlangschritt. Sie war in Hochstimmung, weil die Dinge, die sie in der letzten Zeit in die Hand genommen hatte, gediehen. Sie, die ihre wohlangesehene, betuchte Familie in Ohio verlassen hatte, beschritt erfolgreich eigene Wege. Nachdem sie alle möglichen Höhen und Tiefen durchlaufen hatte, brachte sie nun Unglaubliches zustande. Das hätten ihr ihre Mutter und ihr Vater sicherlich niemals zugetraut! Das traute ihr vermutlich auch sonst niemand zu. Außer Danny natürlich. Danny Lyons, ihr Partner und Geliebter. Und die Jungs. Sie hatte eine große Familie, eine viel bessere als die, in die sie hineingeboren wurde. Danny war das Beste, was ihr in ihrem Leben bisher passiert war, denn er liebte sie und ließ ihr Freiraum. Es machte ihm nichts aus, wenn sie eigene Wege ging – sie kam immer wieder zu ihm zurück. Er war ihr Zuhause. Der gestrige Abend kam ihr wieder in den Sinn. Patrick Dunn. Wie hatte sie nur Jahre mit ihm verbringen können? Ständig hatte er sie kontrolliert, sie gemaßregelt und sie mit seinen absurden philosophischen Gedanken zur Weltverbesserung drangsaliert. Seine Ausnahmezustände, die Selbstüberschätzung, die Verachtung, die Selbstkasteiung hatten ihr keinen Raum mehr gegeben, sie bis an die Grenzen des Aushaltbaren belastet. Statt zu arbeiten, hatte er die ganze Zeit nur Bücher gelesen und sie arbeiten gehen lassen! Und wenn ihm etwas nicht gepasst hatte, war er ausfällig geworden. Dass er sich jetzt der Arbeiterbewegung angeschlossen hatte, war der reinste Witz. Er, der gar nicht gewillt war, arbeiten zu gehen! Wie gut, dass sie ihn verlassen hatte …
Gerade passierte sie zwei Policemen, als ihr unvermittelt ein bekannter Geruch in die Nase stieg. Schon während sie zur Seite auf die Männer sah, wusste sie, woher sie den Geruch kannte. Der Ältere der beiden mit mittelblonden Haaren, einem speziellen Haaransatz und leuchtend blauen Augen beendete gerade den Dialog mit dem neben ihm laufenden Policeman. Mit dem Wahrnehmen seiner Stimme wurde ihre Gewissheit zusätzlich untermauert: Er war es, kein Zweifel!
Sein Gesichtsausdruck war kühl, als er ihrem Blick begegnete. Als der andere ihn wieder ansprach, richtete er den Blick sogleich auf diesen. Sie registrierte die Abzeichen auf seiner Uniform, wandte sich dann wieder um und schritt energisch weiter.
Ihr Herz klopfte wild. War er es wirklich? Das war seine Stimme! Und diesen Haaransatz, den kannte sie auch … Warum hatte sie dann kein Aufblitzen in seinen Augen wahrgenommen, kein Zeichen, dass er sie erkannt hatte …?
Kapitel 7
12:00 Uhr
Hubert Fischer & Leonhard Eppig Brewery, Brooklyn
Xanthos schnaubte laut auf und trat augenblicklich zurück. Cochrane hielt sein Pferd fest am Zügel. Es war nicht das erste Mal, dass er mit ihm den East River überquerte, um nach Brooklyn zu gelangen, deshalb wusste er um die Angst seines Hengstes. Entschlossen führte er Xanthos vom festen Grund auf die leicht schwankende Fähre. Die Ohren hoch aufgestellt, widerwillig, folgte Xanthos seinem Herrn. Cochrane schritt mit ihm an das andere Ende der Fähre und suchte einen Platz an der Reling. Die Luft war lau, ein leichter Wind ging, die Sonne schien. Die Oberfläche des East Rivers kräuselte sich und warf kleine Schaumkronen auf. Cochrane atmete tief durch. Er mochte es, auf dem Wasser zu sein. An freien Tagen überquerte er oft mit der Fähre den East River, denn hinter Brooklyn war das Land weitläufig, und er genoss es, mit Xanthos über die Wiesen und Felder zu galoppieren und bei Brighton Beach zu picknicken, mit Blick auf das Meer. Allerdings war er nun nicht zum Vergnügen unterwegs. Er beabsichtigte, die Brauerei Fischer & Eppig aufzusuchen.
Während sein Blick an einem Segeldampfer hängen blieb, der gerade New Yorks Hafen ansteuerte, dachte er über seinen Besuch bei Thomas Byrnes in der Schurkengalerie nach. Am Nachmittag würde er sich die Akten, die Thomas ihm heraussuchen wollte, durchsehen.
Nach wenigen Minuten war die Fähre beladen und legte ab. Er sah auf die im Bau befindliche Brooklyn Bridge. Jeweils zwei große Türme ragten in den Himmel hinein. Nachdem John Augustus Roebling durch einen Unfall ums Leben gekommen war, hatte sein Sohn Washington die Leitung des Baus übernommen. Aber nachdem dieser in einem der Senkkästen gewesen war, war er – wie andere Arbeiter auch – erkrankt. Jetzt lag die Leitung des Baus in den Händen von Washington Roeblings Ehefrau Emily. In den Gazetten stand, dass sie sich in kürzester Zeit mit der Wissenschaft der Architektur befasst hatte und der Bau der Brücke unter ihren Händen erstaunlich gut voranschritt. Was niemand erwartet hatte, außer Victoria Woodhull natürlich: In ihrer Weekly hatte sie hierüber berichtet, als sei es selbstverständlich, dass eine Frau, die nie zuvor etwas mit Architektur zu tun gehabt hatte, eine Bauleitung übernehmen könne.
Xanthos’ Mähne wehte leicht im Wind, während sie den East River passierten. Kurz bevor sie anlegten, stieg er auf sein Pferd. Er konnte die Erleichterung Xanthos’ förmlich zwischen seinen Beinen spüren, als sie an Land gingen.
Die Brauerei Fischer & Eppig lag im Norden von Brooklyn, einer Gegend, die er nicht gut kannte. Mehrfach musste er anhalten und die Karte zu Hilfe nehmen. Schließlich erreichte er die Central Avenue, die an die kleinere Melrose Street angrenzte. Wie die Hell Gate Brewery war auch diese Fabrik aus roten Backsteinen erbaut. Allerdings war sie in allem kleiner: Sie hatte weder ihren Umfang, noch war sie so hoch gebaut. In einem unterschied sie sich jedoch nicht: Ein deftiger Malzgeruch lag in der Luft, je näher er dieser kam. Angewidert verzog er das Gesicht.
Leonhard Eppig mochte Mitte 40 sein. Er war mittelgroß, hatte einen mächtigen Bauch, einen Schnurr- und Kinnbart. Der Blick des Fabrikbesitzers lag konzentriert auf ihm, als er eintrat. Er hatte Fischer & Eppig per Telegramm über seinen Besuch informiert, Eppig mochte dementsprechend vorbereitet sein für das Gespräch.
»Inspector Cochrane, einen schönen guten Tag. Mein Kollege Hubert Fischer ist auf Reisen, von daher sind wir zu zweit«, begrüßte Eppig ihn.
»Einen guten Tag, Mr. Eppig«, erwiderte er und schüttelte dessen kräftige Hand.
»Haben Sie sich schon ein bisschen umgesehen? Unsere Fabrik geht hinten hinaus noch ein ganzes Stück weiter.«
»Bislang noch nicht. Ich bin direkt zu Ihnen gekommen.«
»Wenn Sie möchten, zeige ich Ihnen das Gelände später.«
»Sehr gerne.«
»Setzen wir uns. Was möchten Sie trinken? Wie wäre es mit einem Bier?«
»Für mich bitte nur ein Wasser. Ich bin im Dienst.«
Eppig lachte. »Ja. Ich vergaß.«
Er füllte zwei Gläser mit Wasser und sie nahmen in zwei Fauteuils Platz, zwischen denen ein kleiner runder Tisch stand.
»Wie Sie sicherlich bereits wissen, ist bei Ihrem Konkurrenten George Ehret eingebrochen worden.«
»Ja. Darüber habe ich gelesen. Ein schwerer Schlag für Ehret, zumal die Schrot- und Hammermühlen zerstört wurden. Wenn sie nicht reparabel sind, wird er neue in Deutschland bestellen müssen und es dürfte eine Weile dauern, bis sie hier sind.«
»Ehrets Brauerei ist die umsatzstärkste New Yorks, gefolgt von Ihrer. Im Rahmen meiner Ermittlungen ist es deshalb zwingend, dass ich Sie konsultiere …«
»… um zu klären, ob ich vielleicht dahinterstecke, weil ich von dem Verbrechen profitieren werde«, beendete Eppig den Satz.
Cochrane lächelte leichthin. »Natürlich, hierdurch zählen Sie zum Kreis derjenigen, die als Täter in Betracht kommen.«
»Ach!«, Eppig machte eine wegwerfende Bewegung, »so etwas würde mir im Traum nicht einfallen. Die Geschäfte laufen gut. Besser geht immer, aber das wäre niemals mein Weg. Ich bin ein Mensch, für den die Berufsehre oberste Prämisse ist.« Er machte eine kurze Pause. »Hat Ehret einen Verdacht gegen mich ausgesprochen?«
»Nein.«
»Dazu hätte er auch nicht den Mumm.«
Cochrane verengte die Augen zu Schlitzen. Genau dasselbe hatte Ehret über Eppig verlauten lassen. »Was veranlasst Sie zu dieser Annahme?«
»Ich kenne ihn, das veranlasst mich zu dieser Annahme. Wir sind zusammen in die Schule gegangen, in München. Natürlich liegt das viele Jahre zurück. Aber ein Charakter ändert sich normalerweise nie.«
»Was für ein Zufall, dass Sie zusammen in München in der Schule waren.«
»Hat er Ihnen das nicht erzählt?«
»Nein. Wie war Ihr Verhältnis zueinander damals?«
Eppig zuckte mit den Schultern. »Wir hatten unterschiedliche Freunde in der Klasse. Eigentlich haben wir nicht viel miteinander zu tun gehabt. Er war ein Bücherwurm, ein Streber, ich war immer unterwegs mit meinen Freunden.«
»Haben oder hatten Sie hier in New York Kontakt mit ihm?«
»Wir trafen uns letztes Jahr auf einer Abendgala. Tauschten ein paar Worte miteinander aus. Ansonsten haben wir keinen Kontakt. Jeder braut sein Bier allein. Ein Konkurrent muss kein Freund sein.«
Cochrane nickte nachdenklich. »Ehret kann den Bedarf seiner Kunden nicht mehr abdecken. Wie sieht es aus, haben Sie bereits Bestellungen dieser erhalten?«
»Die ersten Bestellungen sind eingetroffen. Es werden sicherlich noch mehr folgen. Deshalb werde ich heute mit der Planung von Sonderschichten beginnen. Wir haben einiges Bier auf Lager, aber für einen größeren Kundenstamm werden wir mehr brauen müssen und zwar zügig. Der Brauprozess dauert.«
»Somit haben Sie alle Hände voll zu tun.«
»Ja.«
»Kommen Sie, zeigen Sie mir Ihre Fabrik. Ich würde mich gern umsehen. Lange möchte ich Sie nicht aufhalten. Meine Fragen sind soweit beantwortet.«
Eppig stand auf. »Dann gehen wir mal.«
Kapitel 8
14:00 Uhr
Farrells Wohnung, Midtown
Er zitterte leicht, als er auf sein Zuhause zuschritt.
Entgegen seinem Vorhaben, nochmal ins NYPD zurückzukehren, hatte er sich entschlossen, dass es genug für diesen Tag war. Neben der Vielzahl an Aufgaben und der einen speziellen Sache an diesem Morgen, war es vor allen Dingen der Besuch des Bürgermeisters gewesen, der heftige Kopfschmerzen bei ihm ausgelöst hatte. Havemeyer hatte ihm mitgeteilt, dass er das vom Sicherheitskomitee geforderte Bauvorhaben, dotiert mit 100.000 Dollar, ablehnen würde. Im Zusammenschluss mit Tammany Hall, William Tweed und den Stadträten sei die Entscheidung gefallen. Peter McGuire vom Sicherheitskomitee würde die Nachricht Anfang der Woche erhalten. Weil er befürchtete, dass diese Entscheidung heftige Reaktionen auslösen würde, hatte Havemeyer von ihm Unterstützung verlangt. Er solle die einschlägigen Viertel im Auge behalten und nach größeren Zusammenkünften Ausschau halten. Eine Eskalation sei nicht ausgeschlossen. Er hatte Havemeyer wissen lassen, dass sie bereits die Entwicklung im Komitee verfolgten, einen ihrer Männer eingeschleust hätten. Weil es keine zweiten Draft Riots in New York brauche. Dass er wisse, dass die Arbeiterbewegung unter den Händen Peter McGuires wüchse und der militante Flügel unter der Führung von Patrick Dunn ein weiteres Pulverfass sei. »Es ist nicht die erste politische Entscheidung mit Gefahrenpotenzial. Wir bereiten uns vor. Ich werde Sie auf dem Laufenden halten.« Die Worte hatten Havemeyer beruhigt. Für den Bürgermeister war die Sache damit vom Tisch. Aber für ihn war sie es keineswegs. Möglicherweise stand ein Aufstand bevor, der größte, den New York je gesehen hatte.
Sein Kopf fühlte sich an, als würde er zerspringen. Er ließ den Schlüssel in das Schloss seiner Haustür gleiten und öffnete die Tür.
Angus Farrell vernahm die Stimme seiner Mutter, als er eintrat. Er schritt in den Salon. Seine Schwester Agnes, die mit ihm das Haus bewohnte, und seine Mutter saßen am Esstisch beim Kaffee.
»Du bist schon da?«, ließ seine Mutter verlauten. »Wir hatten dich gar nicht erwartet.«
»Ja. Ich bin schon da.« Er schritt auf den Tisch zu. Agnes sah ihn durchdringend an.
»Wie war dein Tag?«, fragte sie.
»Wie üblich.« Er griff nach einem Stuhl und setzte sich.