Gegendert wird, was auf den Tisch kommt - Anne Vogd - E-Book

Gegendert wird, was auf den Tisch kommt E-Book

Anne Vogd

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  • Herausgeber: dtv
  • Kategorie: Lebensstil
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Eine Boomer-Mutter packt aus Das Leben ist kompliziert geworden. Das erfährt Anne Vogd am eigenen Leib, als ihre Tochter, die zum Studium in die weite Welt gezogen war, nach Hause zurückkehrt. Denn die mittlerweile 23-Jährige ist nicht mehr das unkomplizierte Mädchen von damals, sondern engagierte Verfechterin von Klima- und Geschlechtergerechtigkeit, Nachhaltigkeit und politischer Korrektheit – und Anne Vogd scheint auf einmal alles falsch zu machen. Die Spiele zwischen einer Boomer-Mutter und einer woken Wutbürgerin beginnen also.  Vogd gelingt, was man sich seit Langem wünscht: Sie wirft einen humorvollen und selbstironischen, aber auch versöhnlichen Blick auf zeitgeistige Debatten. Und bringt einen zum schallenden Lachen. - Schlagfertig, selbstironisch, brüllend komisch - Vom Alltagswahnsinn mit jugendlichem Kind - Für Leserinnen und Leser von ›Älterwerden ist voll sexy, man stöhnt mehr‹, ›Es ist nur eine Phase, Hase‹, ›Ich dachte, älter werden dauert länger‹

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Seitenzahl: 306

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Über das Buch

EINEBOOMER-MUTTERPACKTAUS

 

Das Leben ist kompliziert geworden. Das erfährt Anne Vogd am eigenen Leib, als ihre Tochter, die zum Studium in die weite Welt gezogen war, nach Hause zurückkehrt. Denn die mittlerweile 23-Jährige ist nicht mehr das unkomplizierte Mädchen von damals, sondern engagierte Verfechterin von Klima- und Geschlechtergerechtigkeit, Nachhaltigkeit und politischer Korrektheit – und Anne Vogd scheint auf einmal alles falsch zu machen. Die Spiele zwischen einer Boomer-Mutter und einer woken Wutbürgerin beginnen also.

 

Vogd gelingt, was man sich seit Langem wünscht: Sie wirft einen humorvollen und selbstironischen, aber auch versöhnlichen Blick auf zeitgeistige Debatten. Und bringt einen zum schallenden Lachen.

Anne Vogd

Gegendert wird, was auf den Tisch kommt

Mein Leben als Boomer-Mutter mit woker Tochter

 

Für Fee

Vorwort

Es ist wieder da – das Kind, das keins mehr ist. Was früher nur eine Magen-Darm-Grippe schaffte, macht Corona mit links: alle zu Hause. Auch unsere 20-jährige Biowissenschaftsstudentin, weil die Uni (kurz für alle Student*innen – das ist das Gebäude NEBENder Mensa) öfter dicht ist als die Studis und der Professor seine Vorlesungen zum Thema Rotationsparaboloide immer noch digital abhält. Er hält dieses Thema für unverzichtbar, will man nicht später vor Galeria Kaufhof Gurkenhobel verkaufen.

Mein Mandat als Mutter läuft also wieder – allerdings in einem Modus, auf den mich keiner vorbereitet hat. Denn mit der Studentin zog ein weibliches Patriarchat mit Vorsitz des Dezernats Political Correctness ein, eine ambitionierte Dienstaufsichtsbehörde in Sachen bewusster Konsum und ein ehrgeiziger Untersuchungsausschuss für gesunde Ernährung. Und nicht nur das! Aber dazu später.

Es kam, wie es kommen musste: Die Spiele waren eröffnet, zwischen einem Cis-Mann, einer Boomer-Mutter und einer woken Wutbürgerin, einem Nörgel-Nachwuchs, der mir mit epochalen Empörungs-Eruptionen ständig das Gefühl gab, mein Haushalt sei ein heimtückischer Tatort und ich für die Rettung der Welt DIE ideale Fehlbesetzung.

Da denkst du, du bist ein aufgeweckter Zeitgenosse – und dann dübelt dir doch tagtäglich jemand hinter die Großhirnrinde, dass du buchstäblich alles falsch machst, du absolut nichts kapierst und es dein Weltbild an Komplexität und Klischee-Kisten-Denken locker mit dem von Pippi Langstrumpf aufnehmen könnte. Ab dem Punkt übernimmt dann der größte unserer Hirnlappen: der Jammerlappen. Du fühlst dich wie ein Universaldilettant, verspürst eine sich subtil ranwanzende Entmündigung, versuchst diese nach außen hin grenzdebil nickend wegzulächeln, aber innen drin erscheint dir dein Leben einsturzgefährdet … Halb so wild, sage ich Ihnen, es geht vielen so. Mit so einem Gefühl fällt man mittlerweile auf wie ein Sauerstoffatom im Hochschwarzwald!

Gegendert wird, was auf den Tisch kommt setzt hier an: Es geht um den Kosmos unserer Zeitgeistphänomene, die Suche nach den perfekten Koordinaten im persönlichen Sonnensystem, um das tägliche Topfschlagen in vermintem Gelände, die Frage, ob man dabei Kopf oder Mittelfinger höher halten sollte, und zuallererst natürlich um eine Standortbestimmung: Wie daneben bin ich? Machen Sie den Selbsttest. Begleiten Sie mich in die Charts der beliebtesten Fettnäpfchen und Fritteusen unserer Zeit:

Seit letztem Jahr stehen auch wir unter Strom. Wir cruisten leichten Herzens mit einem E-Auto durchs Asphaltparadies, bis uns der atemberaubende »Funfact« erreichte, dass die Flatrate fürs ökologische Gewissen nicht E-Auto, sondern KEIN Auto lautet. Denn das Kobalt in den Batterien der E-Autos ist Gift für die Umwelt; sein Abbau fordert Menschenleben. Darüber kann auch nicht hinwegtäuschen, dass diese Stromspeicher ansonsten laktose- und glutenfrei sind, divers daherkommen, denn es gibt mehr als eine Variante, und für die Frauenquote unter den galvanischen Zellen stehen, denn es heißt ja immerhin DIE Batterie. Und was ist mit den Metallen, die für die Karosserie dieser Autos gebraucht werden? Fehlen die nicht beim Bau von Solaranlagen und Windrädern? Ja, tun sie, denn die Ressourcen-Triage ist auch hier längst angekommen. Wer das bei einem Neukauf nicht auf dem Schirm hat, ist weltfremd und hält »Nickelback« wahrscheinlich für eine Art Metallrecycling …

 

Sojamilch als Alternative zur Kuhmilch mit ihrer nervigen Methangasproblematik? Echt jetzt? Stichwort Regenwald: Schon mal was von gentechnisch veränderten Monokulturen gehört? Also, wer so versucht, das Klima zu retten, der denkt bei Amazonas auch an weibliche Paketboten!

Saisonal und regional eingekauft und das als gutes Beispiel auf Instagram gepostet? What? Der CO2-Verbrauch deutscher Rechenzentren toppt schon jetzt den des gesamten Flugverkehrs. Nur, im Gegensatz zu Plastikmüll kann man digitalen Müll nicht sehen, aber es gibt ihn. Zuhauf. Mit der Gülle, die an einem einzigen Tag durch Instagram, das Mutterschiff der Selbstdarstellung, fließt, ließen sich inzwischen mehrere Wüsten urbar machen. Nun ist ein solcher Post ja nicht per se Müll, aber unter Umweltaspekten macht er dennoch so viel Sinn wie ein Brennholzverleih … Das gilt im Übrigen auch für den Einkauf aus dem Unverpacktladen. Das CO2 in Kauf zu nehmen, das solche Posts verursachen, ist ebenso wenig konsequent wie die Tatsache, dass die Angestellten im Unverpacktladen nicht nackt sind.

Aber ich will nicht immer nur auf andere zeigen, denn ich selbst bin der größte »Low Performer« überhaupt. Vor allem esskulturell: Nachdem mir meine »woke« Tochter Pizza Hawaii verboten hatte – wegen kultureller Aneignung – musste ich umsteigen: auf Pizza »Drei Jahreszeiten«, das Klimastatement aus dem Holzofen mit dem Holzhammer. Dabei schmeckt die mir gar nicht. Und anderes, was mir schmeckt, darf ich nur noch heimlich meinem Stoffwechsel zuführen. Nicht nur, weil ich sonst Gefahr laufe, später von ihr im Sankt-Elisabethen-Stift nicht besucht zu werden, sondern weil man dafür auch von anderen gemustert wird wie etwas, was die Katze reingeschleppt hat. Und das auch noch völlig zu Recht: Hotdogs zum Beispiel. Auch ich weiß, dass ein Hotdog kein Hund ist, der aus der Sauna kommt, und dass da oft Fleisch drin ist, für das selbst Clemens Tönnies den Tierschutz anrufen würde. Und trotzdem wird der Ausgang bei Ikea für mich jedes Mal zur »Problemzone«. Soll ich oder soll ich nicht? Der Wille ist da, aber der Alltag macht mich (oft) schwach …

Als Hetero auf der Demo solidarisch die Regenbogenfahne geschwenkt? Pfui! Das dürfen nur Mitglieder der queeren Community. Weil: Wie will man sich als binäre Person in das Seelenleben im Regenbogenland einfühlen können? Man darf heute nicht mehr einfach überall mitmischen – nur zu dem, was aus der Filterblase kommt, der man selber angehört, darf man eine Meinung haben. Äußert man sich trotzdem, überschreitet man eine rote Linie. Warum der Papst über Sex spricht, verstehe ich allerdings selber nicht. Mal sehen, wann das ein Nachspiel vor dem Twitter-Tribunal hat …

Die Frage »Wo kommen Sie her?« wird in lauten Teilen der Bevölkerung als ultradiskriminierend empfunden. »Sie sprechen aber gut Deutsch« – diese Feststellung, neulich von mir anerkennend an einen jungen afghanischen Verkaufsberater in einem Möbelhaus gerichtet, ist lupenreiner Rassismus! Im Sommer der simple Satz »Oh, schönes Wetter heute« – und zack bist du als Klimaleugner entlarvt. Im Winter ein Glühwein trotz 16 Grad? Welch unglaubliche Ignoranz. Nach Flug-, Fleisch- und Heizscham jetzt also Glühweinbudenscham. Aber woher soll ich denn wissen, wo Wetter auf- und Klima anfängt?! Die Landwirte, die wüssten das. Und apropos: Darf man überhaupt noch Bauernfrühstück sagen? Oder sollte man nicht lieber von Frühstück mit agrarwissenschaftlichem Hintergrund sprechen?

Tagsüber schreibe ich über Emanzipation und Feminismus und abends stehe ich mit den Hemden meines Mannes am Bügelbrett. Ist das nicht wie ein Katholik, der sich öffentlich zur Institution Ehe bekennt und gleichzeitig eine VIP-Karte für den örtlichen Swingerclub hat? Ja, und zwar auch dann, wenn ER im Gegenzug für mich ein Regal aufhängt. Das kann ICH nämlich nicht. Mein Angebot zu helfen wird regelmäßig mit dem Satz abgebügelt »Nee, nee, lass mal, wenn du festhältst, ist das so, als wenn zwei andere loslassen …« Unsere Tochter ist angewidert von so viel tradiertem Rollenverständnis. »Wirklich krass! Geht’s noch?« Nein, geht gar nicht mehr. Und weil ich das mittlerweile begriffen habe, bin auch ich jetzt handwerklich begabt – und zwar im Herunterschrauben meiner Erwartungen, was die Offenheit und Toleranz radikal feministischen Gedankengutes angeht. Von mir aus werde ich jetzt nur noch als Teilzeit-Feministin durchgewunken – Hauptsache, das Regal hängt!

Mein Leben fühlt sich oft wie eine Mathearbeit an, für die ich nicht vorbereitet bin. Dabei hatte ich immer gelernt. Trotzdem war am Ende meiner Textaufgaben der Enkel immer älter als der Opa. Die wahre Erkenntnis aber, die ich aus dem Matheunterricht mitnahm, war, dass man im Leben eben doch nicht alles schaffen kann, egal wie sehr man sich dafür ins Zeug legt.

Und ich lege mich ins Zeug. Dennoch blasen immer wieder viele um mich herum die Backen auf. So oft, wie ich in meinem Leben schon falsch abgebogen bin, grenzt es an ein Wunder, dass ich mich überhaupt noch auf diesem Planeten befinde. Für alles gibt es Bedienungsanleitungen, Gebrauchsinformationen und Packungsbeilagen. Warum nicht für das Leben? Richtig und falsch zu unterscheiden, ist so schwer geworden. Nicht zuletzt, weil es oft auch eine Frage der Perspektive ist. Man kennt das von Beipackzetteln: Wenn da steht: »Alkohol verstärkt den Effekt des Medikaments«, dann fragt man sich doch auch: Ist das jetzt ein Warnhinweis oder eine Empfehlung?

Was heute richtig ist, kann morgen schon falsch und übermorgen richtig (!) falsch sein, denn der Common Sense ändert sich ständig und mit ihm das Framing. Wer da Schritt halten will, darf nicht im Schritttempo denken. Dieser Anspruch ploppt auf den unterschiedlichsten Ebenen unseres Alltags immer wieder hoch. Er ist sozusagen der Herpes unter unseren Ansprüchen. Um dem gerecht zu werden, muss man seine Synapsen ständig neu verkabeln. Sagen zumindest Leute, die jeder braucht bzw. die den Satz »Du hast mir gerade noch gefehlt« so interpretieren. Aber die beliebteste Stellung der Deutschen ist und bleibt nun mal die Richtigstellung – heute auch notfalls ohne Argument und Pointe, dafür aber immer öfter mit einer robusten Portion Populismus – ungeachtet der Tatsache, dass durch Dogmen, Polemik und Cancel Culture noch kein Problem gelöst wurde, egal wie laut sie rausgeorgelt werden.

Schlafschafe wie mich trifft es besonders hart: Wie oft werde ich Opfer psychologischer Kammerspiele, die dann mit dem K.-o.-Satz enden: »Denk mal drüber nach …« Ich tue das dann, um nicht irgendwann abgehängt zu sein – und scheitere trotzdem. Ich bewege mich mittlerweile so vorsichtig durch den Alltag wie ein Astronaut durch die Schwerelosigkeit, um bloß bei nichts und niemandem anzuecken. Mein besonnenes Verhalten denkt mittlerweile die Interessen, Bedürfnisse und Gefühle meines Umfeldes immer und überall mit. Sogar meinem Kühlschrank nähere ich mich inzwischen nur noch auf Zehenspitzen, weil der O-Saft ja »konzentriert« ist … Ich möchte einfach nirgends als Störfall wahrgenommen werden oder direkt eine Kernschmelze auslösen. Ich beleuchte grundsätzlich alles aus mehreren Perspektiven, hinterfrage alles, stehe mir dabei inzwischen in einer aufsehenerregend dämlichen Art und Weise selber im Weg, kenne Probleme für jede Lösung und falle letztendlich doch immer wieder auf die Nase. Viele fröhlich verzweifelte Versuche, daran etwas zu ändern, liegen hinter mir.

Aber ist Hinfallen nicht auch eine Vorwärtsbewegung? Ja, nämlich dann, wenn man aus seinen Fehlern lernt. Und das tue ich. Und zwar so viel, dass ich mich immer wieder dafür entscheide, noch mehr davon zu machen. Es heißt ja schließlich, wer immer versagt, ist auch zuverlässig. Na dann … Also die Wahrscheinlichkeit, dass ich irgendwann einmal wie Lady Liberty würdevoll und wissend durch unsere wachsame Welt schreite, ist ungefähr so groß, wie dass ein Jorge Gonzales in Amphibien-Sandalen durch RTLs Let’s-Dance-Fernsehstudio schlappt.

Ja, Sie haben es vermutlich längst bemerkt: Ich finde, die Zeiten sind zu ernst, um den Humor zu verlieren. Einen handelsüblichen Tag nach »DIN-Norm 08/15« kriege ich nur so gewuppt. Humor ist in meinen Augen ein probates Mittel, um in irrwitzigen Zeiten wie diesen klarzukommen. Und gleichzeitig ist er auch eine geeignete Methode, um auf alarmierende Zustände in dieser Welt hinzuweisen. Etwas »mit Humor« zu betrachten heißt ja nicht, sich über etwas lustig zu machen. Das wird leider oft verwechselt.

Zahlreichen Debatten würde eine Mütze Humor guttun. Dann kämen sie nicht so verbiestert rüber. Stattdessen wird überall »das Salz in der Suppe« gesucht, vieles durch den Spaßbefreiungsfilter gejagt und jeder, der zu laut lacht, muss zwei Euro in das Übermutsschwein werfen. Hier nicht! Hier soll Ihr Dopaminsystem vorglühen. Das Password fürs Leben heißt Humor. Er ist der perfekte Airbag für die Seele. Aber keine Sorge, ich werde nicht versuchen, Sie wahllos mit welken Witzen aus den Gag-Gräbern bekannter Fun-Friedhöfe zu fluten, denn ich kenne Sie ja gar nicht. Und wenn man heutzutage Leute neu kennenlernt, sollte man sich tunlichst mit seinem Humor immer sehr dosiert an das Empfindlichkeitsniveau herantasten.

Gegendert wird, was auf den Tisch kommt liefert einen launigen Blick auf eine Weltordnung, die sich ständig neu konfiguriert. Ansprüche, Widersprüche und Freisprüche – alle werden sie hier ins Visier genommen. Das Buch macht Lust auf andere Sichtweisen, regt zum Überdenken der eigenen Position an und legt auch mal nahe, diese zu wechseln wie eine Formation von Zugvögeln. Denn es lebt sich einfach besser, wenn zwischen Wunsch und Wirklichkeit nicht das komplette Saarland passt. »Nur noch kurz die Welt retten« werden Sie nach dieser Lektüre trotzdem nicht können. Mit der Luftpumpe die Windrichtung zu ändern, hat auch noch nie funktioniert.

Dieses Buch ist KEINLebensratgeber. Es ist vielmehr eine Allzweckwaffe in unserem überfrachteten Alltag – basierend auf fundiertem Halbwissen. Perfekt für Momente, in denen das Leben mal wieder zu wahr ist, um schön zu sein. Dafür sorgen kuriose Anekdoten, absurder Wortwitz und eine Portion überlebenswichtiger Selbstironie, die vor allem dann zum Tragen kommt, wenn die woke Tochter die Bühne betritt und mit erhobenem Zeigefinger und unter Androhung erzieherischer Maßnahmen, wie dem Aussetzen ihrer eh schon viel zu seltenen Gastspiele, ihre Boomer-Mutter auf Kurs bringen will.

Diversity schreibt man nicht mit ö!

2020 stieg in ganz Deutschland die Heimschläferrate sprunghaft an. Wegen Corona zog auch unsere Tochter Luise wieder ein. Mit der angenehm anspruchslosen Attitüde, mit der schlichte Gemüter wie ich durch ihr Allerweltsleben mäandern, war es somit schlagartig vorbei. Wie viele andere verwaiste Eltern standen auch wir plötzlich wieder mitten im Leben. Unsere Alltagskultur, die nach ihrem Auszug langsam, aber sicher so spannend wie eine Origami-Bastelanleitung geworden war, kam wieder so richtig auf Touren. Zunächst freute ich mich über etwas weniger substanzielle Leere und genoss die Tatsache, dass es in unserem Haus wieder menschelte. Aber der Brutpflegetrieb war gerade wieder erwacht, da musste ich erkennen, dass die Nestwärme wie wir sie aus Kindheitstagen kannten, jetzt ausschließlich dem physikalischen Gesetz folgte, nach dem Wärme durch Reibung entsteht. Folgende Situation:

Um 13 Uhr steht Luise im Schlafanzug im Türrahmen meines Büros und nuschelt dösig über den Rand ihrer Müslischale: »Hi, Mom, du kennst doch Flo, oder?« Ich, aufgeweckt zurück: »Ja, hübscher Kerl …« Weiter kam ich nicht: Drei Wörter, zwei davon falsch. Schlagartig war ihre »Wokeness« in Wallung. Ich wurde gnadenlos eingetuppert: Hübsch? Krass! Jemanden auf sein Äußeres zu reduzieren … Und wie sexistisch, eine Person wie Flo mit einem pornös geschwängerten Gedankengut wie diesem zu einem Toyboy zu degradieren. Pfui! Jawohl, eine Person! Weil mit »Kerl« hätte ich mal wieder gezeigt, wie ewig gestrig ich sei. Ob mir entfallen sei, dass Florian zu Florence geworden war? Ich erstarrte, stand da mit offenem Mund – wie ein atlantischer Tiefausläufer. Mein zaghafter Versuch, mich zu entschuldigen, wurde mit einem Impulsreferat über TERFs (Trans-Exclusionary Radical Feminism; auf Deutsch: Trans-ausschließender Radikalfeminismus) geahndet.

Ich bin empört, fühle mich missverstanden und falsch »etikettiert«. Ich bin keine »Cis-Frau« und erst recht keine »TERF«. Mein Kommentar fußt nicht auf Homophobie, sondern auf reiner Statistik, weil sich über 99,99 Prozent der Menschen hierzulande eben NICHT einer Geschlechtsumwandlung unterziehen. Und für die restlichen 0,01 Prozent gilt: Es ist mir egal, wann wer wie oft und warum untenrum die Vorwahl wechselt. Wenn die Betroffenen dadurch inneren Frieden finden, bitte schön … Diese Menschen sind schließlich lange genug drangsaliert worden. Sie zu schützen gebietet das Grundgesetz; sie zu unterstützen das Prinzip der Menschenwürde. Nein, wirklich, ich gehöre zu den Leuten, die wissen, dass man Diversity nicht mit ö schreibt. Ich bin weltoffen und tolerant. Und zwar in jeder Hinsicht – schon immer! Was Esskultur anbetrifft, sexuelle Orientierungen oder religiöse Gruppen, einfach grundsätzlich allem und jedem gegenüber:

Ich kann auch überhaupt nicht nachvollziehen, warum es Leute gibt, die gegen den Bau einer Moschee protestieren. Man kann es gar nicht oft genug sagen: Toleranz ist eine geistige Haltung, die identitätsstiftend ist. Sie ist ein großer Wert innerhalb einer Gesellschaft – egal ob es dabei um Glauben oder körperliche Selbstbestimmung geht. Deshalb bin ich auch dafür, dass das Herzensprojekt der Schwulen, der geplante Club »Triebwerk« gegenüber der Moschee, genehmigt wird. Ebenso der Erotikshop für Lesben, »Dildo-Queen«, direkt daneben. Und dem Opening der Schnapsbrennerei »Schädelsprenger«, die um die Ecke einziehen will, sollte auch nichts im Wege stehen. Genauso wenig wie der Eröffnung der Metzgerei »Schwein gehabt!«, die etwas weiter Richtung Synagoge eröffnen will …

Alle sollten wir uns aufgeschlossen und vorurteilsfrei anderen gegenüber geben und dies auch in unserer Wortwahl tunlichst zum Ausdruck bringen. Was sich allerdings zunehmend als schwieriges Unterfangen entpuppt, denn die Goldwaage, auf die jedes Wort heute gelegt werden soll, wird ständig neu justiert.

Ich bemühe mich trotzdem. Ich würde zum Beispiel nie, nie, nie von einem herrenlosen Damenfahrrad sprechen. Das kann man doch auch etwas weniger binär ausdrücken, oder? Ich baue auch keinen Schneemann mehr, sondern ein Schneewesen und selbstverständlich ohne Besen. Ich möchte ja keine Gewaltfantasien beflügeln. Nein, ich feiere die Schöpfung mit ihrer unendlichen Vielfalt und lehne Identitätspolitik, die Menschen auf bestimmte geschlechtliche oder ethnische Merkmale festlegt, um sie dann in einer vermeintlich homogenen Gruppe einzusperren, kategorisch ab. Das tun im Übrigen viele hierzulande. Diversity ist angekommen. Sogar in der Werbung: Von der »Lidl-to-go-Vielfalt« über »die Vielfalt von Merci« bis hin zur »bunten Vielfalt« mit der ein Kondomhersteller wirbt. Diversity, wo man hinschaut. Also, warum nicht auch bei den Geschlechtern. »Ja, wo soll das denn hinführen?«, nölen die Kritiker, »heute Mann, morgen Frau und übermorgen fühlt man sich vielleicht als Busch …?« »Ja und?«, würde ich da gerne erwidern, »Kann Ihnen doch egal sein, Sie müssen ihn ja nicht gießen!«

Um die Geschlechterfrage tobt ein großer Teil unserer Kulturrevolution. Es gibt zwar nur zwei biologische Geschlechter, aber die Grenzen sind fließend. In einem freien Land muss man das Recht haben, diese Grenzen zu überschreiten oder zu ignorieren. Vor diesem Hintergrund habe ich noch nicht einmal etwas dagegen, dass im Anmeldeformular der sauerländischen Stadt Neuenrade Hundehalter in der Kategorie »Hundesteuer« bei der Geschlechtsangabe auch »divers« ankreuzen können. Vielleicht kann man auch »keine Angabe« hinschreiben und abwarten, bis sich der Hund selber für ein Geschlecht entschieden hat … Ich weiß es nicht. Es ist mir auch egal.

Wir leben in einer weltoffenen, pluralen Gesellschaft. Als Mehrheit muss man solidarisch sein, Minderheiten zuhören und sich dafür einsetzen, dass auch sie zu ihrem Recht kommen. Punkt. Auch wenn sich das in der Forderung nach eigenen Toilettenkabinen in öffentlichen Gebäuden niederschlägt, deren Anzahl proportional zur Buchstabenmenge im Akronym LGBTQIA+ ansteigen wird. Selbst dann, wenn diese in der Führerscheinstelle von Keppeshausen errichtet werden – einer Gemeinde mit insgesamt 18 Einwohnern – und zwar von Steuergeldern, die dann an anderer Stelle, zum Beispiel für die Sanierung von Schulen, die nur noch von Schmutz und Schimmel zusammengehalten werden, fehlen. Und letztendlich mit großer Wahrscheinlichkeit von den 18 Keppeshausenern nie benutzt werden würden. Ganz anders sieht es natürlich in Berlin aus. Da ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis die Sanitärräume in Restaurants dreimal so groß sind wie der Speisesaal. Wie backwards kommt einem da Frankreich mit seinen Unisex Toiletten vor … Aber gut, die haben ja noch nicht mal mit dem Gendern begonnen. Verrückt.

Dass ein Kind von zwei verheirateten Frauen in der Schule gefragt wird »Zwei Mamas …? Wow! Aber wer macht mit Dir dann Mathe?«, finde ich genauso weird wie den Vorfall letztes Jahr, als mein guter Freund Hannes von einem Nicht-Kölner gefragt wurde, warum er als Hetero bei der Kölner Christopher-Street-Day-Demo mitgeht. Ich bin doch auch keine Fichte und kann mich trotzdem für den Wald engagieren. Diversity ist wichtig! Wir alle sind doch genau genommen nicht eindeutig irgendetwas, weder biologisch noch psychologisch. Jeder ist ein raffinierter Cocktail und die Wahrscheinlichkeit, dass die Zutaten bei zwei Menschen deckungsgleich sind, ist praktisch null.

Selbst M&M setzt seit Neuestem auf dieses Thema und will zukünftig ein paar adipöse Schokolinsen in jede Tüte packen, um auf Dragee-Ebene die tatsächliche Vielfalt von Körperformen abzubilden. Dafür fliegt allerdings die süße weibliche Linse in High Heels raus. Zu groß die Angst vor Sexismus-Vorwürfen. Und der Ernie aus der Sesamstraße, der hat jetzt Ji-Young, eine Asiatin, an seiner Seite, um kulturelle Vielfalt zu zeigen. So geht Identitätspolitik heute. Wobei, mussten diese Mandelaugen und die beige Gesichtsfarbe denn wirklich sein? Solche stereotypen Merkmale sind doch auch wieder irgendwie diskriminierend, oder? Der arme Ernie, erst diese Unkerei, ob er homo oder hetero ist, weil Ernie halt nur bis zur Tischkante existiert, und dann das. Wo bist du, liebe Identitätspolizei, wenn man dich mal wirklich braucht!

Und schon stehen wir vor der Frage, wie wir uns in einer pluralistischen Demokratie aufstellen wollen. Reden wir derzeit wirklich über wichtige Themen, die unser Zusammenleben weiter nach vorne bringen, oder reden wir um des Redens willen? Ich meine, no offense, jeder sollte so viel reden dürfen, wie er will und was er will. Auch Unsinn. Sonst hätte ich beruflich nie Fuß fassen können. Aber mich beschleicht immer öfter das Gefühl, dass sich viele Debatten heute nicht mehr um die Sache an sich drehen, sondern der Selbstprofilierung einiger lauter Wortführer dienen, die es sich zur Lebensaufgabe gemacht haben, in Talkshows publikumswirksam zu dozieren, wie »politisch korrekt« geht und andere, deren Mindset nicht zu ihren Gesellschaftsanalysen passt, aus dem Studio kärchern. Das stört mich. Ich möchte mich nicht einer solch dogmatischen Diktatur unterwerfen. Ich möchte weder, dass in meinem Namen Sprech- und Denkverbote gefordert werden, noch will ich ein schrilles Handwerk supporten, das Menschen mit Shitstorms überzieht, sie als ausländerfeindlich, antisemitisch, sexistisch, homophob oder irgendwie sonst als Menschenfeind von der Platte putzt, nur weil sie sich nicht oder noch schlimmer anders als die woken Räte positionieren.

Denn eine Demokratie lebt von Meinungsfreiheit. Individualität ist da eine Bereicherung – keine Bedrohung. Zugegeben, individuell wollen die Woken zwar auch sein, aber wehe dem, einer ist anders – so kommt es mir zumindest vor. Dann ist kein friedlicher Gedankenaustausch mehr möglich. Und ab dem Punkt sind Freiheitsgrade nicht mehr beglückend, sondern belastend. Denn die Denk-Zensur lauert überall. Wer den moralischen Konsens mit ihr verweigert, wird für vogelfrei erklärt. Die Netzjustiz arbeitet dann schnell und effizient: Hier wird jeder, der was Bedenkliches bedenkt, stigmatisiert, bevor er überhaupt etwas Bedenkliches gesagt hat. Es reicht schon, für sich zu hinterfragen, ob Athletinnen, die als Mann geboren wurden, gegen Frauen antreten dürfen oder ob das nicht irgendwie wettbewerbsverzerrend sein könnte. Was Ihnen dann »tunnelmäßig« von so manchem Sittenwächter vor den Latz geknallt wird, entbehrt oft das, was sie von anderen fordern: Offenheit, Respekt und Toleranz. Der Ruf als TERF wäre Ihnen in jedem Fall sicher. Man muss da so aufpassen. Alles muss ständig mitgedacht werden, weil man immer und überall beobachtet wird. Aus »Leben und leben lassen« ist längst »Schämen und beschämt werden« geworden.

Was war das früher einfach. Wenn es ein Problem gab, suchte man eine Lösung. Heute ist der Weg dahin oft so kompliziert, dass man die Lösung dabei schon mal aus den Augen verliert. Denn er muss politisch korrekt formuliert sein. Keiner darf empört sein, niemand soll sich diskriminiert fühlen. Er muss klimaneutral sein, Gendersternchen aufweisen, die Frauenquote berücksichtigen, Veganern nicht auf den Magen schlagen, für Singles ohne Einzelzimmerzuschlag daherkommen sowie für übergewichtige, pardon, gravitativ benachteiligte Menschen ohne versteckte Fette sein, er sollte keine tierfeindlichen Redewendungen enthalten, der DIN-Norm entsprechen, DSGVO-konform sein und darf nicht gegen das Landesimmissionsschutz-Gesetz verstoßen, muss also vor 22 Uhr beschritten werden. Und trotz alledem barrierefrei den Weg in unsere Köpfe finden. Tut er das nicht, dann …

Ein Betroffenheitskult macht sich breit, Dauerbeleidigtsein ist zum Geschäftsmodell geworden, Provokation zur Berufung und Polemik zum wichtigsten Instrument kleiner radikaler Gruppierungen, um sich Gehör zu verschaffen. Als ob da gerade ein neues, autoritäres System an den Start geht – wenn auch in einem bunten Gewand … Die Folge: Statt offener, kontroverser Diskurse, die eine Demokratie tragen, gibt es immer mehr ängstlichen Konformismus, der seltsame Blüten treibt:

Der Berliner Senat will das Wort »Schwarzfahren« und auch das Verb »anschwärzen« aus seiner Amtssprache streichen, weil die Assoziation People of Colour in ein negatives Licht rückt. Ist das jetzt Schwarzmalerei? Und was wird dann aus dem »Schwarzparken«, dessen ich mich oft schuldig mache? Auch die Schilder »Schwarzfahren kostet 60 Euro« sollen aus Bussen & Bahnen verschwinden. Darf man in zwei Jahren überhaupt noch »schwarz« sagen oder ist es dann »die Farbe, die nicht genannt werden darf«? Mal sehen, wann Arnold Schwarzenegger Probleme bekommt. Zumindest phonetisch schwingen in seinem Namen gleich zwei Unwörter mit: Schwarz und … nun ja … eben das »N-Wort«.

Nicht mein Problem. Anders, als ein halbes Jahr nach Einzug von Luise ein Brief der örtlichen Verkehrsbetriebe inklusive einer Zahlungsaufforderung von 60 Euro ins Haus flatterte. Ich war verärgert, musste es zur Sprache bringen, war aber fest entschlossen, dabei jegliche verbale Provokation zu vermeiden. Schlussendlich habe ich die Sache dann in einer Art und Weise vorgebracht, die vermuten ließ, ich hätte einen Politiker verschluckt: Ich habe von »Beförderungserschleichung im Sinne des Paragrafen 265a des Strafgesetzbuches« gesprochen. Das »Rebellier-O-Meter« schlug trotzdem heftig aus: »Jetzt chill mal, Mudda«, hieß es zum Einstieg; es folgten Attribute wie borniert und kleinkariert, eine Denke wie eine Alman-Annette hätte ich, das wäre ja so was von sus, ob mir mittlerweile jegliche Awareness abhandengekommen sei, zu erkennen, was es auf diesem Planeten wirklich wert sei, diskutiert zu werden? Das kapitalistische Gewinnstreben eines privaten Beförderungsunternehmens sei es jedenfalls nicht … safe. Nun kenne ich meine Tochter ja und weiß, »was in ihr steckt«. Aber diese Impulsivität überraschte mich dennoch, zumal es ja hier, um es mit ihren Worten wiederzugeben, um nichts mehr als banale »fucking first world problems« ging …

Was darf man überhaupt noch sagen? Für was sollte man einstehen? Bei manch einem Politiker ist die Angst vor Diskriminierungsvorwürfen und der Konformitätsdruck so groß, dass sich die Bürger bei der ein oder anderen Debatte fragen, ob sie gerade bei Verstehen Sie Spaß gelandet sind:

Da wird öffentlich darüber diskutiert, ob beim Verkehrsschild »Achtung Wildwechsel in drei Kilometern« nicht auch eine Hirschkuh neben dem Hirsch mit Geweih abgebildet sein sollte. Aus Gleichstellungsgründen. Haltung oder Hirnflatulenz? Fehlt nur noch der Vorwurf der Übergriffigkeit, weil man den Paarhufern vorschreiben will, wo sie die Autobahn zu überqueren haben: nämlich nicht in einem oder zwei, sondern in drei Kilometern. Mein Vater, selber jahrelang in der Kommunalpolitik in Aachen aktiv, meinte dazu einst trocken: »Ein Loch in der Schädeldecke und solche Köpfe könnten wenigstens noch als Nistkästen für Vögel benutzt werden.« So weit würde ich nicht gehen, aber der Gedanke, ob in deren Kindheit vielleicht die Schaukel etwas zu nah an der Hauswand stand, kam mir dann doch … Also, spätestens wenn aus »Quer-Straßen« »Queer-Straßen« werden, werde ich versuchen, diesen Planeten zu verlassen. Ich werde dann eine Fahrgemeinschaft gründen – und es Sie auf Wunsch wissen lassen. Dann könnten wir gemeinsam der brennenden Frage nachgehen, ob wir nicht schon längst im restlichen Sonnensystem für eine Art Satiresender gehalten werden.

Aber ganz so einfach ist es dann doch nicht. Klar schießt man mit einer so fetten Wähler-Anbiederung weit übers Ziel hinaus. Aber wäre die Sorge vor wüsten Diskriminierungsvorwürfen aus der woken Ecke, nicht so omnipräsent und die Angst, von einem aufgebrachten, anonymen Mob über den virtuellen Marktplatz getrieben zu werden, nicht so begründet, wäre eine solch »offensive Eigenvermarktungsstrategie« doch gar nicht erst nötig. Offensichtlich haben wir Hyperindividuen den Zeitpunkt verpasst, mit Augenmaß und Verstand zu beurteilen, was uns wirklich existenziell bedroht.

Ständig fühlt sich jemand auf den Schlips getreten: Männer beim Anblick von Frauenparkplätzen, aber auch Frauen beim Anblick von Frauenparkplätzen … Wobei Letztgenanntes durchaus legitim ist, denn diese Parkplätze sind in der Regel noch größer als ein Behindertenparkplatz. Was will man uns damit unterstellen? Wenn es sein muss, parke ich einen Bus auf einem Rabattmarkenheft ein! Auch, dass Frauen nicht in Shanty-Chören mitsingen dürfen, sorgt in feministischen Kreisen für Unmut. Veganer fühlen sich beim Anblick von Frankfurtern, Wienern und Nürnbergern beleidigt und meine Kollegin, eine lupenreine Feministin, ist empört, wenn ihr Partner ihr die Tür aufhält; in ihren Augen ein subtiler Versuch, die Errungenschaften hart erkämpfter Emanzipation rückgängig zu machen. Mein Mann darf mir alle Türen aufhalten. Vorzugsweise die Kühlschranktür. Vorausgesetzt Weißwein ist drin. Wenn nicht, halte ich IHM gerne die Tür zum Keller auf, um welchen hochzuholen.

Meine Cousine ist beleidigt, weil ihr der Radiologe gesagt hat, dass sie fett ist. Tatsächlich hat er aber nur gesagt, dass er ihre Leber aufgrund ihres »ausgeprägten Weichteilanteils« nicht beschallen kann, weil ab einer »reichhaltigen Ummantelung« von 15 Zentimetern das Echosignal nicht mehr durchkäme. Nicht beleidigt war hingegen meine wunderbare Freundin Jutta, alleinerziehend, vollzeitarbeitend und noch ehrenamtlich in der Nachbarschaftshilfe tätig, als sie im Advent auf Insta ein Bild mit ihren Kindern postete, die sich stolz um ein Backblech mit selbst gemachten Vanillekipferln geschart hatten. Darunter stand: »Für meine Liebsten – Emoji mit Herzchen – kleiner Aufwand mit großer Wirkung: etwas Mehl, Mandeln, eine Vanilleschote und Backpulver …« Prompt stichelte es aus der wokenSustainable-family-Bubble: »Aus dem Supermarkt? Also wir stellen unsere Backtriebmittel in unserer Küche selber her, gluten-, laktose- und emissionsfrei. Gerne ein Beispiel nehmen …« Da hast du doch deinen Endgegner gefunden, oder?!

Immer und überall fühlt sich jemand unverstanden, diskriminiert oder beleidigt. Habe ich mich letztes Jahr im Europapark etwa als Opfer gesehen? Ich hätte wahrlich allen Grund dazu gehabt. Es gab dort Tarife für Schüler und Studenten, Senioren, Kinder und Gruppen. Aber einen für »Leute, die grundsätzlich keine Fahrgeschäfte nutzen, weil ihnen schlecht wird« oder für »Personen, die nur mitgenommen wurden, um auf Jacken und Rucksäcke aufzupassen« – so ein Tarif stand nicht auf der Tafel.

Mit einer Tüte Gummibärchen kann man heute jemandem unterstellen, religiöse Haltungen zu missachten, nämlich dann, wenn sich Mitglieder dieser Gemeinschaft koscher ernähren. Was ist mit einer Flasche Jägermeister, auf deren Etikett sich ein Kreuz im Hirschgeweih befindet? Wie despektierlich mag das auf strenggläubige Christen wirken? Nicht doch, urteilte 2020 das Schweizer Bundesverwaltungsgericht sachlich. Das christliche Symbol würde in keiner verletzenden oder respektlosen Weise dargestellt, hieß es versöhnlich, worauf es sofort aus den konservativen katholischen Kreisen hieß: Dann waren die Kreuzzüge aber auch kein religiös motivierter Völkermord, sondern auch nur außer Rand und Band geratene Kegeltouren des Clubs Ostwestfalen-Lippe. Und wie irritierend mögen Muslime auf unseren Rotbäckchensaft reagieren? Auf der Flasche ist ein Mädchen mit Kopftuch abgebildet. Macht man sich da etwa über den Islam lustig? Oder ist es kulturelle Aneignung? Und was ist schlimmer?

Mit den Dreadlocks von Ronja Maltzahn wurde kulturelle Aneignung 2022 in Deutschland populär. Die Sängerin aus Bad Pyrmont wurde aufgrund ihrer Frisur von einer Klima-Demo ausgeladen. Denn Dreadlocks stehen für die Karibikinsel Jamaika und nicht für den Landkreis Hameln – wie auch der Reggae. Dürfen weiße Musiker überhaupt noch Reggae spielen? Eher nein und mit Dreadlocks schon mal gar nicht. Aber müsste man auf Jamaika dann nicht auch aufs Rechnen verzichten …? Denn die Mathematik ist wiederum eindeutig ein Konstrukt alter weißer Männer.

Ich verstehe die ganze Aufregung nicht so ganz: Wenn ich Anleihen aus einer anderen Kultur benutze, dann tue ich das doch, weil ich sie feiere und sie im positiven Sinn sichtbar machen will. Was ist daran verwerflich? Wo stünden wir denn überhaupt ohne kulturelle Aneignung? Ist sie nicht sogar unverzichtbar für das friedliche Zusammenwachsen der Menschheit? War Kultur nicht schon immer ein Produkt aus Vermischung, Übernehmen und Neupositionierung im eigenen Kontext? Ist das Erlernen einer Fremdsprache nicht auch kulturelle Aneignung? Ein letzter Versuch:

Spaghetti kochen in Deutschland – kulturelle Aneignung? Ich denke NEIN, das wird die Italiener nicht stören. Als deutscher Koch ein Buch übers Spaghettikochen veröffentlichen? Hmm … das vielleicht schon eher. Und richtig problematisch wird es, wenn Sie über Ihre gekochten Spaghetti alla Vongole Parmesan-Käse streuen. Dann klingelt aber auch nicht die Identitätspolizei – sondern direkt die Mafia.

Angel Blue sagte ihr Konzert in Verona ab, weil sich die Netrebko für die Rolle einer äthiopischen Prinzessin in Aida ihr Gesicht dunkel angemalt hatte. Blackfacing, hieß es. Dabei war es für die Rolle notwendig, denn in Äthiopien sind die Menschen nun mal dunkelhäutig. Es diente nicht ansatzweise dazu, People of Colour vorzuführen. Der Sohn meiner Nichte tat im Übrigen dasselbe, als er bei den Sternsingern mitlief. In Wirklichkeit ist er nämlich gar kein »Mohr«, sondern ein Marvin und er kommt auch nicht aus dem Morgenland, sondern aus Mützenich. Sollte man ihm deswegen nicht öffnen? Eine Blackfacing-Debatte vom Zaun brechen und die Rassismus-Keule schwingen? Wo bitte bleibt die Verhältnismäßigkeit? Nichts ist heute so wichtig wie Herkunft und Hautfarbe. Nach jahrzehntelangen Befreiungskämpfen, mit dem Ziel, dass genau diese Kriterien nicht mehr im Vordergrund stehen, tun sie es heute mehr denn je.

Der woke Wahnsinn bringt auf diesem Weg die Kunstfreiheit in Gefahr. Das traditionsreiche Berliner Ensemble, 1949 von Bertolt Brecht gegründet, lässt mittlerweile sensible Skripte auf möglichen Sexismus, Klassismus, Rassismus und Antisemitismus gegenlesen. Ist also nur noch die Kunst es wert, gezeigt zu werden, deren Figuren den Ansprüchen unserer woken Wirklichkeit genügen? Und wenn man es schon so genau nimmt, müsste dann nicht auch in deutscher Belletristik geprüft werden, ob die Romanhelden alle kranken- und rentenversichert sind? Und wenn mehr als fünf Romanhelden vorkommen, braucht man da nicht einen Betriebsrat?

Helen Mirren im Film Golda als israelische Premierministerin? »Unvorstellbar«, hieß es, weil wie will sie sich als Nicht-Jüdin in den Stoff einfühlen. Krass! Hören Sie auch das Knirschen im woken Argumentationsgetriebe? Weil wenn das so wäre, dann stünde das nicht jüdische Publikum doch auch da wie Piksieben.

Heute sollen Rolle und Realität deckungsgleich sein, also nach dem Prinzip: »Leute spielen sich selbst«. Vor allem beim Film, dem Big Player im Ideologie-Kosmos. Schade eigentlich, denn ich fand Tom Hanks als schwulen, aidskranken Anwalt in Philadelphia grandios, Charlize Theron als schwergewichtige Serienmörderin in Monster umwerfend und auch damals John Travolta, der sich in Hairspray um seinen Verstand tanzte. Er hatte sich in dem Streifen mit einem Fatsuit in eine dicke Frau verwandelt, die hinreißend tanzen konnte. Wer kann das schon so wie er? Sind diese Filme nicht durch genau diese Besetzungen so gut geworden?

Nein, werte Woken, ich habe nichts dagegen, wenn sich Lars Eidinger ein Polster umschnallt, um den buckligen Richard III. zu spielen. Ich habe auch nichts dagegen, wenn ein Toter von einem Nicht-Toten gespielt wird. Oder reiche Stars arme Teufel mimen – Hauptsache, sie tun das glaubhaft.

Aber nicht, dass man mich jetzt als Inklusionsgegner an den Pranger stellt. Von mir aus spielen Dicke auch Dicke und behinderte Menschen auch Behinderte. Aber, dass nur noch Dicke Dicke spielen dürfen … ist das nicht ein wenig an der Realität vorbei gedacht? Ja, ist es. An dieser Stelle sagen sich Verstand und Verstehen definitiv Gute Nacht. Denn die Rolle sollte dem gehören, der sie am besten beherrscht – egal ob er einen Fatsuit trägt wie Brendan Fraser in The Whale oder für die Rolle extrem zunimmt wie Robert De Niro in Wie ein wilder Stier?

Nein, sagen die Kritiker, denn das ist um keinen Deut besser als Blackfacing. Schade, sage ich, denn wenn es Schauspielern versagt bleibt, mithilfe dessen, was sie gelernt haben sowie einigen Props der oder die zu werden, den oder die sie spielen, ist der Einzige, der bei dieser Betrachtung gewinnt, der, der den gesuchten Eigenschaften von Natur aus entspricht – völlig unabhängig davon, ob er der Rolle gewachsen ist. Was das wohl mit den Zuschauerzahlen macht? »Get woke, go broke« hört man jetzt schon vereinzelt im Filmbusiness. »Man sollte nicht über eine politisch korrekte Rollenvergabe diskutieren, sondern darüber, was eine gute Rollenbesetzung ausmacht. Man will doch das Leben sehen, wie es wirklich ist, nicht wie es idealerweise sein sollte«, sagt Oliver Stone dazu, »das langweilt die Leute«. Und was meinen die Betroffenen?

Schauspielerin Tua-El-Fassal, die erste deutsche Schauspielerin mit Kopftuch und Gewinnerin des Deutschen Schauspielpreises, meinte: »Ich möchte wegen meiner schauspielerischen Leistung besetzt werden und nicht auf mein Kopftuch reduziert werden.« Farbige Schauspieler betonen, dass sie explizit nicht über ihre »Andersartigkeit« wahrgenommen werden möchten. Sie wollen nicht punkten, weil sie durch ihre Hautfarbe dem Film einen Mehrwert bieten. Und dann ist da noch der farbige Restaurantbesitzer Andrew E. Omegbu, der vor seinem Restaurant »Zum Mohrenkopf« posiert und sagt: »Ich brauche keine weißen Menschen, die mir sagen, wann meine Gefühle verletzt sind.«

Hinzu kommt noch, dass in einer Demokratie immer gleiches Recht für alle gelten sollte. Also, wenn nichts dagegen einzuwenden ist, dass Behinderte Nichtbehinderte spielen, dann kann es doch nicht umgekehrt als übergriffiges Cripping up bezeichnet werden, wenn Nichtbehinderte Behinderte spielen. Im neuesten Serien-Epos Herr der Ringe können jetzt bislang weiß besetzte Figuren mit People of Colour besetzt werden. Umgekehrt geht das aber nicht …

Hollywood, das schon immer für seine Vorreiterrolle bekannt war, hat jetzt im Repräsentationsstreit um Ideologien eindeutige Signale gesendet. Auch der Oscar soll diverser werden. Ab 2024 gibt es neue woke Regeln. Um sich für 2025 als »Bester Film« zu qualifizieren, muss jeder Streifen eine Quote an farbigen, homosexuellen, ethnischen Minderheiten sowie einen gewissen Bestandteil an Mitwirkenden mit Einschränkungen aufweisen – egal ob bei Kinohelden oder Kabelträgern. Die Qualität macht Platz für die Identitätspolitik. Vermutlich will bald jeder Schauspielende Teil eines Opfer-Kollektivs sein, weil man sich davon eine Chance auf Sichtbarkeit verspricht.