Gegenwart der Vergangenheit - Georg Pichler - E-Book

Gegenwart der Vergangenheit E-Book

Georg Pichler

4,9

Beschreibung

Der franquistische Terror in Spanien während und nach dem Bürgerkrieg ist erst in den letzten Jahren in seinem ganzen Ausmaß bekannt geworden. Die Gräben, die in der Vergangenheit aufgerissen wurden, entzweien bis heute die Gesellschaft und spiegeln sich in vielen aktuellen politischen Debatten wider.

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Georg Pichler

Gegenwart der Vergangenheit

Georg Pichler

Gegenwart der Vergangenheit

Die Kontroverse um Bürgerkrieg und Diktatur in Spanien

© 2013 Rotpunktverlag, Zürich

www.rotpunktverlag.ch

Umschlagfoto: Luis Giner, ZaragozaFotos Innenteil: Georg PichlerISBN 978-3-85869-547-5

1. Auflage 2013

Inhalt

Vorwort

In Würde begraben

Emilio Silva oder Das Ende der Bedeutungslosigkeit

José María Pedreño oder Das Recht, die Dinge zu erzählen

Francisco Etxeberria oder Die Verantwortung für die Vergangenheit

Memoria – Gedächtnis und Geschichte

Reyes Mate oder Das Gedächtnis ist gefährlich

Das franquistische Gedächtnis

María García Alonso oder die Gräber der Anderen

Identitätsstiftende Symbole des Franquismus

Der Nationalkatholizismus

Gedächtnisorte

Pío Moa oder Die Wahrheit des Bürgerkriegs

Jaime Alonso oder Das Vermächtnis des Francisco Franco

Die Leerstelle der Erinnerung: die Repression des Franquismus

Mirta Núñez Díaz-Balart oder Die Geschichte der Verlierer

Das Gedächtnis des Exils und der in Spanien lebenden Antifranquisten

Verlauf und Geografie des Exils

Der Widerstand in Spanien

Symbole und Gedächtnisorte der Republik, des Exils und des Widerstandes

Die transición – der kurze Weg von der Diktatur zur Demokratie

Santos Juliá oder Das Gedächtnis der transición

Die Jahre des Vergessens

Francisco Espinosa Maestre oder Das Schweigen über die Repression

Das Aufbrechen der Erinnerung – von 2000 bis heute

El movimiento memorialista – die Gedächtnisbewegung

Die Reaktionen auf die Gedächtnisbewegung

Ley de Memoria Histórica – das Gesetz des historischen Gedächtnisses

Die Debatte um die Papeles de Salamanca

Das Gedenkjahr 2006 und der »Krieg der Todesanzeigen«

Die drei Prozesse des Baltasar Garzón

Das Spanische Biografische Lexikon der Königlichen Akademie für Geschichte

Die »geraubten Kinder« des Franquismus

Ein neuer 20-N: die Gedächtnispolitik der PP

Francisco Ferrándiz oder Die Diskursivität des Gedächtnisses

José Antonio Martín Pallín oder Eine Frage der Interpretation

Diego Barcala oder Eine Sache der Menschenrechte

Anhang

Bibliografie

Abkürzungen

Spanisches Glossar

Institutionen, Organisationen und Vereine zur memoria

Anmerkungen

Vorwort

Die Geschichte ist Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die homogene und leere Zeit sondern die von Jetztzeit erfüllte bildet.

Walter Benjamin, »Über den Begriff der Geschichte«

Die Krux mit der Vergangenheit ist, dass sie zwar vergangen ist und doch nicht vergehen will. Auf der einen Seite wirkt sie in die Gegenwart herein, auf der anderen ist sie von dieser Gegenwart durchsetzt, von der aus die vergangenen Geschehnisse immer wieder neu gedeutet und interpretiert werden. Sie ist ein historisches Konstrukt aus der Sicht des Jetzt, wie dies Walter Benjamin im oben erwähnten Zitat so treffend zum Ausdruck gebracht hat.* Um die heutige Sicht auf den Spanischen Bürgerkrieg, um die Debatten und Kontroversen, die sich seit einem guten Jahrzehnt um das nun schon mehr als 75 Jahre zurückliegende Ereignis entsponnen haben, geht es in diesem Buch.

Das Gedächtnis des Bürgerkriegs stellt immer noch – und erneut – ein heftig umkämpftes Thema dar. In der Auseinandersetzung spiegeln sich nicht nur die Tagespolitik und die jeweils aktuellen sozialen und politischen Kräfteverhältnisse wider, ihre Wurzeln reichen viel tiefer. Nach nunmehr drei Generationen und trotz aller »Mischehen« zwischen den Kindern der beiden Kriegsparteien stehen sich viele Nachfahren der zwei Seiten noch immer feindlich gegenüber und fühlen sich bedroht: die einen in ihrem allzu oft unhinterfragten Selbstverständnis als Kinder und Enkel der Bürgerkriegssieger, die unter großen Opfern den Kommunismus in Spanien zu Fall gebracht haben; die anderen als Nachkommen der Kriegsverlierer, von denen während und nach dem Krieg Hunderttausende widerrechtlich hingerichtet, ermordet und »zum Verschwinden gebracht« wurden; diese Nachkommen wollen ihre Eltern oder Großeltern zumindest angemessen bestatten – und damit gleichzeitig auch das bis heute weite Teile der Gesellschaft beherrschende franquistische Geschichtsbild zurechtrücken. Dazwischen befindet sich die Mehrheit der »Unpolitischen«, für die das Thema vergangen und vorüber ist und die nicht verstehen, warum es bis heute derart große Animositäten hervorruft.

Zugleich aber zeigt sich auch, wie sehr der Franquismus bis heute fortwirkt. Es gibt in Spanien kaum ein Thema in der politischen Auseinandersetzung, bei dem nicht irgendwo das Wort vom franquistischen Erbe auftauchen würde. Seien es die Debatten um die Unterrichtsreform, den konservativen Richterstand, das Verhältnis zwischen Staat und Kirche, die Privilegien der Banken und Großbetriebe oder, wie jüngst, die Kontroversen um den Autonomiestatus und die Unabhängigkeitsbestrebungen bestimmter Regionen, allen voran Katalonien und das Baskenland, ein Konflikt, der europaweit Aufmerksamkeit erregte. Die Auseinandersetzung zwischen diesen sogenannten »peripheren Nationalismen« und dem spanischen Zentralismus, der selbst ein den ganzen Staat für sich vereinnahmender Nationalismus ist, geht auf das Erwachen des nationalen Selbstbewusstseins im 19. Jahrhundert zurück, verstärkte sich aber in den dreißiger Jahren während der Republik und dem Bürgerkrieg. Beide Landesteile waren Industriezentren mit einem relativ aufgeklärten Bürgertum und einer starken Arbeiterbewegung und stellten sich dezidiert auf die Seite der Republik. Der Franquismus ließ dies Basken und Katalanen spüren: Die Sprachen wurden verboten, die Repression war bis in die späten Jahre der Diktatur noch stärker als im Rest des Landes.

Die in jener Zeit entstandenen Positionen haben sich bis heute nur graduell geändert. Statt die Debatten über den Autonomiestatus als das zu sehen, was sie sind, nämlich der Versuch einer Neuformulierung der juristischen, sozialen und wirtschaftlichen Form des Zusammenlebens, hat die spanische Rechte, deren wichtigste Organisation die Volkspartei (Partido Popular) ist, den franquistischen »inmovilismo« übernommen, zu dem das Bestreben gehört, Spanien als unteilbare Einheit zu bewahren. Auf der anderen Seite nützen die nationalistischen Parteien das Unbehagen, das dieser Zentralismus auslöst, für ihre eigenen Zwecke, nicht immer aus hehren Gründen. Oft wird aus machtpolitischen oder wahltaktischen Überlegungen das Unabhängigkeitsbestreben eines Teils der Bevölkerung als Mittel zum Zweck verwendet.

An diesen Auseinandersetzungen wird nicht nur das Fortbestehen des franquistischen Gedankenguts deutlich, sondern auch das Scheitern der transición und der ihr folgenden Regierungen, die nicht imstande waren, ein Staatswesen zu gründen, das für alle akzeptabel ist und von dem sich alle repräsentiert fühlen.

Im Folgenden soll analysiert werden, warum der Fortbestand dieses Gedankenguts ebenso wie das Gedächtnis des Bürgerkriegs und des Franquismus einen Teil der spanischen Bevölkerung bis heute entzweien, und wie es dazu kam, dass diese Epoche bis in die Gegenwart nicht »bewältigt« ist.

Was die memoria histórica konkret bedeutet, schildert eingangs ein Bericht über zwei Exhumierungen. Eine kurze Einführung in die verschiedenen Gedächtniskonzepte und ein Vergleich mit der »Gedächtnisarbeit« in anderen Ländern sollen helfen, den Sonderfall Spanien besser zu verstehen. Daran schließt ein Überblick über das franquistische Gedächtnis an, das Spanien bis heute mit seinen Symbolen überzogen hat. Ihm gegenübergestellt wird das Gedächtnis des Exils und des Widerstandes gegen die Diktatur, das in Spanien lange Zeit weitgehend totgeschwiegen werden musste, bis es in den letzten zwölf Jahren die ihm gebührende Aufmerksamkeit erfahren hat. Diese beiden Gedächtnisstränge liefen ein erstes Mal in der transición zusammen, dem Übergang von der Diktatur zur Demokratie. In der transición wurden die Weichen gestellt für die unvollkommene Aufarbeitung einer Vergangenheit, die nach zwei Jahrzehnten des Vergessens zu Beginn des neuen Jahrtausends aufbrach. Diesem Aufbrechen der Erinnerung in seinen vielfältigen Formen und politischen Auseinandersetzungen gilt der nächste Abschnitt, der die bedeutendsten Ereignisse seit dem Jahr 2000 zusammenfasst. Schließlich kommen die spanischen Akteure selbst zu Wort und beleuchten in Interviews die memoria histórica aus verschiedenen Perspektiven. Im Mittelpunkt stehen dabei weniger Zeitzeugen oder Nachfahren der Opfer als vielmehr Aktivisten, Wissenschaftler, Publizisten, die Auskunft über die Gründe und Hintergründe der Gedächtnisbewegung geben sollen.

* Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. In: Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann. Bd 1, 2. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, 701.

In Würde begraben

Joarilla de las Matas

Die nordkastilische Hochebene liegt still in der Vormittagshitze. Auf den lang gestreckten, bereits abgeernteten Getreidefeldern stehen die letzten Stoppelhalme, weiter vorn verdorren Sonnenblumen auf kilometergroßen Anbauflächen. Vereinzelt ragen Steineichen auf, dunkle Flecken in einer bräunlich gelb glänzenden Landschaft unter einem ruhigen blauen Himmel. Das Dorf Joarilla de las Matas kennen nicht einmal ortskundige Kastilier. Abseits der Haupt- und Nebenstraßen liegt es im Südosten der Provinz León, ein Ort, an den man nicht zufällig kommt. Bei der Volkszählung 2009 hatte Joarilla 378 Einwohner, 2011 waren es nur noch 361, Tendenz seit Jahrzehnten sinkend. Heute hat es zwei Bars, die am Vormittag noch geschlossen sind, eine Kirche, einen Park an einem Flüsschen und einen frontón, eine hohe, grün gestrichene Wand, gegen die beim pelota-Spiel die Bälle geschlagen werden.

Beim frontón solle ich ihn anrufen, hatte Marco González, Vizepräsident der Asociación para la Recuperación de la Memoria Histórica (ARMH) und Leiter der Exhumierung, gemeint, er würde mir dann den Weg erklären, von dort sei es nicht mehr weit. Nach vier oder fünf Kilometern erst auf einer staubigen Schotterstraße, später auf einem schmalen Weg mit manchmal tiefen Fahrrinnen, sieht man zwischen Gestrüpp Autos aufblitzen, dann das Blau eines Zeltdachs, das über die Ausgrabung gespannt ist. Mitten in den Feldern hat man fast zwei Meter in die Tiefe gegraben und einen dünnen Wasserlauf durch ein Plastikrohr umgeleitet, die Stelle, an der die Leichen verscharrt wurden, liegt nun leicht erhöht unter der Abdeckung.

Joarilla de las Matas

Stimmengewirr, einzelne Rufe, das Klicken von Fotoapparaten, es herrscht rege, aber gedämpfte Geschäftigkeit. Unter den beiden Zeltdächern arbeitet ein gutes Dutzend Menschen mit Sorgfalt daran, Skelette freizulegen. Auf den ersten Blick sieht es erschreckend und verwirrend aus: Alle möglichen Arten von Knochen liegen über- und durcheinander, die Beinknochen erkennt man schnell, Becken- und Schulterknochen auch, bald nimmt man Unterarme mit Elle, Speiche und den abstehenden Hand- und Fingerknöchelchen wahr, dazwischen leicht gekrümmt eine Wirbelsäule und halb zertrümmerte oder eingedrückte Schädel mit ihren riesigen Augenhöhlen und zahnbesetzten Oberkiefern. Mit der Zeit lernt man die Skelette als Ganzes zu erkennen, kann sie zusammensetzen, sieht die kleinen farbigen Fähnchen, die gelben Schilder mit Nummern von 1 bis 14, die die einzelnen Opfer bezeichnen, identifiziert die seltsam verdrehten, aufklaffenden Objekte als Schuhsohlen, unterscheidet Kleiderreste und beginnt zu verstehen, was die Menschen hier mit kleinen Handschaufeln oder Esslöffeln wegkratzen, mit Malerpinseln wegwischen, warum eine Handvoll Erde in einem Sieb durchgeschüttelt wird, bis ein paar kleine Steine und Knochenreste übrig bleiben, die in hermetisch zu verschließende Säckchen kommen, auf denen »misceláneas« oder die Nummer des Skeletts steht. Knochenreste werden auf Zeitungspapier gelegt, eingewickelt und in Kartons verwahrt, auf denen der Ort und die Nummer des »Individuums« geschrieben ist. Über jeden Fund wird Buch geführt, bevor etwas in die Kartons wandert, werden Fotos von der betreffenden Stelle gemacht. Alles geschieht unaufgeregt, professionell, immer wieder wird gescherzt und gelacht, bei allem Ernst der Arbeit. Während einige Personen mit dem Freilegen der Überreste beschäftigt sind, nehmen andere Daten auf, notieren, helfen aus, sieben und entsorgen, transportieren Geräte, bringen Wasser gegen die Hitze, rücken das Zeltdach und die Absperrungen zurecht, erklären den Besuchern, die sich zögerlich einfinden, die Details der Ausgrabung. In dem regen Treiben wird einem erst nach und nach bewusst, was man hier eigentlich sieht: die Spuren eines kaltblütigen Mordes an vierzehn Personen. Und es fällt einem auf, dass keine Angehörigen anwesend sind. Dies hat, so erklärt Marco González, mit der Geschichte des Ortes zu tun.

Zurück geht alles auf den 5. November 1937, fast sechzehn Monate nach Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs. Die Ortschaften Sabero, Sahelices und Ollero liegen am Fuß des Kantabrischen Gebirges im Norden der Provinz León, rund sechzig Kilometer nördlich von Joarilla. Wie in anderen Orten in diesem langen Gebirgszug war hier der Bergbau von großer Bedeutung. Viele Arbeiter waren politisch engagiert, meist waren sie Sozialisten oder Anarchisten, Kommunisten gab es wenige. Aufgrund der miserablen sozialen Zustände organisierten im Jahr 1934 die Bergbauarbeiter aus Asturien einen Aufstand, der von der konservativen Regierung blutig niedergeschlagen wurde. Dieser Revolution schlossen sich zahlreiche Berufsgenossen aus der Provinz León an, auch in Sabero. Nach dem Ende des Aufstandes kamen viele Arbeiter ins Gefängnis, aus dem sie erst im Frühjahr 1936, nach dem Wahlsieg der Volksfront und einer Generalamnestie, wieder freigelassen wurden. Als am 19. Juli dieses Jahres die Generäle um Franco sich gegen die Zweite Republik erhoben und sich die Region Kastilien und León auf ihre Seite schlug, mussten die politisch aktiven Bergbauarbeiter in das republikanisch gebliebene Asturien fliehen, wo sie gegen Franco und seine Helfershelfer kämpften. Fünfzehn Monate später, Mitte Oktober 1937, eroberte die franquistische Armee Asturien, und so kehrten viele Bergbauarbeiter in ihre Dörfer zurück, wo die meisten von ihnen festgenommen wurden. Im Gefängnis der nahen Ortschaft Cistierna wurden sie gemeinsam mit anderen Verteidigern der Republik eingesperrt und von ihren Anklägern und Richtern, in Umkehrung der historischen Tatsachen, zu Aufständischen erklärt. Nach einem kurzen juicio sumarísimo, einem Schnellgerichtsverfahren, oder auch ganz ohne Verhandlung und Urteil wurden sie meist nachts in Lastwagen verladen, in abgelegene Gegenden gebracht und dort erschossen, einfach am Straßenrand liegen gelassen oder ohne viel Aufheben begraben. Weder still noch heimlich, aber sang- und klanglos.

So auch hier. Am 4. November führte man an die zwanzig Bergarbeiter ab, die in der finca La Cenia erschossen wurden. Am nächsten Tag waren es wieder an die zwanzig, die man dorthin brachte. Stundenlang mussten sie in der Herbstkälte auf der Ladefläche eines Lastwagens sitzen, der über die schlechten Nebenstraßen rumpelte, einem nur allzu gewissen Schicksal entgegen. Doch hatte, wie Marco González erzählt, der Verwalter des Grundstücks von La Cenia genug, denn dort waren bereits an die 200 oder 300 Personen hingerichtet und in Massengräbern verscharrt worden. Immer wieder kamen Mütter, Frauen, Töchter mit Fotos zum Gutsbesitzer, um nach ihren Angehörigen zu fragen. So wies der Verwalter die Männer auf dem camión ab, sie sollten sich ihrer Ladung anderswo entledigen. Die Leichen, die damals in La Cenia begraben worden waren, liegen immer noch dort, da sich die Besitzer – Menschen mit Macht, die der Kirche nahestehen, ist die verhaltene Auskunft – weigern, die Erlaubnis für eine Exhumierung zu erteilen. Dafür kann man heute auf dem 200 Hektar großen Besitz Urlaub machen, heiraten oder Feste feiern: »Die ›Dehesa La Cenia‹ ist ein sorgsam gepflegtes Projekt, das sich der integrativen Organisation von Feiern und Veranstaltungen für Privatpersonen und Firmen widmet«, heißt es gespreizt auf der Website.

Aber weiter in der Geschichte: Ein Zivilgardist meldete sich zu Wort: Er kenne in der Nähe seines Dorfes eine Stelle, wo man sie nicht störe. Also ging es weiter über Nebenstraßen und Feldwege, bis die Gefangenen schließlich ein paar Kilometer außerhalb von Joarilla de las Matas absteigen mussten. Zwei konnten fliehen, einer von ihnen wurde ein paar Tage später niedergeschossen und nicht weit entfernt begraben. Angeblich, in den nächsten Tagen wolle man sich auf die Suche nach seinen Überresten machen. Wie üblich nahmen die Henker den Leichen die wenigen ihnen noch verbliebenen Habseligkeiten ab, übersahen dabei aber ein paar Bleistifte, zwei Kämme und eine Streichholzschachtel aus Plastik, wie sie von Bergarbeitern verwendet wurde. Heute tauchen diese Objekte aus anderen Zeiten zwischen den Skeletten auf, die Streichhölzer sind zu einer festen Masse verschmolzen, die sich in ihrer Plastikhülle wölbt.

Die Exekutierten mussten ihre Gräber nicht selbst ausheben, bevor sie erschossen wurden. Es war der Schafhirt des Dorfes, der vom Bürgermeister den Auftrag bekam, die Leichen zu begraben. Dessen Sohn, Abilio Mata Álvarez, war es denn auch, der den Mitgliedern der ARMH den Platz zeigte. 1937 war er gerade fünf Jahre alt, aber seine Eltern und ältere Dorfbewohner hörte er immer wieder von diesen Männern erzählen. Es war nicht leicht, den Platz zu finden, da sich das Terrain in der Zwischenzeit stark verändert hat. Damals gab es hier zumeist Minifundien, heute sind es weite Felder. Abilio bezeichnete der ARMH einen Platz am Rande eines riesigen Sonnenblumenfeldes, und der Bagger begann zu graben. Man hatte Glück, am zweiten Tag bereits stieß man auf Patronenhülsen, ein untrügliches Zeichen, dass die fosa común, das Massengrab, in der Nähe sein musste. Schließlich legte der Bagger die ersten Überreste frei, und das Team begann mit der Feinarbeit. Abilio kommt jeden Tag zur Ausgrabungsstelle, erzählt den Besuchern und Sympathisanten der ARMH seine Geschichte und ist sichtlich stolz darauf, im Mittelpunkt zu stehen.

Diese Ausgrabung sei eher untypisch, meint Marco González. »Normalerweise arbeiten wir in kleinen Gräbern, mit zwei, drei, maximal fünf Personen, über die wir bereits im Voraus Informationen gesammelt haben. Wir kennen ihre Namen, ihr Alter, ihre Größe, ihren Brustumfang, ihre Statur. All das wissen wir dank der Militärbücher und zeitgenössischer Dokumente, die wir aus Archiven haben. Achtzig Prozent der Fälle finden wir im Archivo General Militar, dem Militärarchiv in Guadalajara. Da in Spanien der Militärdienst obligatorisch war, sind alle Militärbücher in diesem Archiv. Ab 1917 sind sie fast vollständig. Und die meisten Personen, nach denen wir suchen, sind Männer zwischen 20 und 40.« Natürlich gab es auch Frauen und ältere Personen, die ermordet wurden. »Letztes Jahr haben wir eine Familie exhumiert, der Vater war 86, die Mutter 64 und der Sohn um die 40. Keiner wusste, warum sie so alte Menschen umgebracht haben.«

Im Fall der Minenarbeiter, die in Joarilla begraben sind, ist noch viel Forschungsarbeit zu leisten, um ihre Identität eindeutig zu bestimmen. So etwa müssen Soldlisten verglichen werden, Listen von 1934 mit denen von 1937, oder Listen vom Juli 1936 mit solchen ab 1939. Fehlen auf den späteren Listen die Namen von Bergarbeitern, so sind sie entweder ins Exil gegangen oder verschwunden, exekutiert worden oder ins Gefängnis gekommen. Name um Name muss anhand der gesamten Dokumentation überprüft werden. Es wäre einfach, die sterblichen Überreste nach Sabero zurückzubringen und sie im Rathaus abzugeben. Aber das sei nicht der Sinn ihrer Arbeit, meint Marco: »Wir wollen die Identität und die Würde der Personen wiederherstellen, das erwarten die Familien von uns und das fordert unser Verein seit mehr als zehn Jahren.«

Um diese Identität wiederherzustellen, muss an Ort und Stelle alles genauestens dokumentiert werden, wie René Pacheco, der wissenschaftliche Leiter der Exhumierung, betont: jede Evidenz, jedes Einschlussloch, jeder Bruch, in Bildern und Skizzen, aber auch schriftlich. »Ich sage immer, dass wir, die Archäologen, die Einzigen sind, die den Tatort und all das, was an ihm zu finden ist, wirklich sehen. Darum muss alles genau festgehalten werden, damit die Gerichtsmediziner später eruieren können, was geschehen ist.«

Die nächste Station sind die Anthropologen, die vor Ort und später im Labor die Reste untersuchen. In Joarilla sind es Roxana Ferlini und Gillian Fowler, die vom University College London und der Lincoln University gekommen sind. Beide waren in anderen Ländern tätig, in Afghanistan, Guatemala, Ruanda oder im ehemaligen Jugoslawien. Sie sitzen etwas abseits der Fundstelle im Schatten vor einer kleinen Hütte, analysieren die Reste oberflächlich, erstellen ein Inventar und verfassen ein erstes Gutachten, bestimmen das Geschlecht, das ungefähre Alter, suchen Spuren von Verletzungen und Traumata. Bisher hätten sie Einschusslöcher an den Beinknochen und den Schädeln gefunden, aber auch Spuren von Schlägen an den Rippen, meint Gillian. »Wahrscheinlich wurden die Männer vor der Hinrichtung misshandelt und geschlagen, wie es im Bürgerkrieg oft der Fall war.« Ist die Ausgrabung beendet, werden die Reste nach Ponferrada gebracht, wo die ARMH seit 2008 über Räumlichkeiten verfügt, und dort analysiert. Wenn man Glück hat, kann man am Ende die Reste den Angehörigen übergeben. Vor allem für die notwendigen genetischen Bestimmungen wäre es ideal, mit Universitäten zusammenzuarbeiten, aber dort will man zumeist nichts davon wissen.

Dabei ist gerade der Kontakt zu Universitäten, Schulen und anderen Institutionen von großer Bedeutung, denn für René Pacheco ist die Aufklärung über die Vergangenheit ein wichtiger Bestandteil der Ausgrabungen. »Viele Menschen, vor allem junge Leute, wissen nichts von diesen Themen. Wenn sie aus Neugier zu den Exhumierungen kommen, wird ihnen erst bewusst, dass es sich um Personen handelte, die eine Familie hatten. Außerdem kommen viele Angehörige von Verschwundenen, die ihre Familiengeschichte erzählen und uns fragen, wie sie ihre Vorfahren finden können. Sie alle wollen lernen, erfahren, was sie auf eine andere Weise, mit Büchern etwa, nicht tun würden. Es ist eine wichtige pädagogische Aufgabe, man muss ihnen alles auf einfache Weise erklären, ohne jedoch die Brutalität des Ganzen zu verschweigen. Die Leute reagieren normalerweise sehr positiv. Dieser Aspekt ist sehr wichtig für unseren Verein.«

Der Verein heißt in deutscher Übersetzung denn auch Verein zur Wiedererlangung des historischen Gedächtnisses. Marco González ist seit 2005 Mitglied der ARMH, seit ein paar Jahren ist er ihr Vizepräsident. Er sei ein »Kind der Demokratie«, 1981 geboren, sagt er, sein Urgroßvater aber war ein desaparecido, nein, kein Verschwundener, korrigiert er sich, er wurde ermordet und in einem Massengrab verscharrt. Er hatte die traurige Ehre, als erster Mensch in Ponferrada von einem franquistischen Schnellgericht verurteilt und hingerichtet zu werden. Der Prozess, ein Scheinprozess, begann am 21. August 1936, am 7. September wurde er erschossen. Die Überreste sind nicht mehr auffindbar, und so sieht Marco seine Arbeit als Wiedererlangung, als Wiederbringung seines Urgroßvaters an. Bisher hat er an vierzig Ausgrabungen mitgemacht, jetzt leitet er eines der zwei Teams des Vereins. Die Mitglieder seiner Gruppe kommen vor allem aus der Region El Bierzo im Nordosten von Kastilien und León. Das zweite Team ist in Burgos stationiert und arbeitet eng mit der Wissenschaftlichen Gesellschaft Aranzadi zusammen. Marcos Team macht an die zehn Ausgrabungen im Jahr, seit 2007 existiert ein festgelegtes Protokoll, sie sind nun fast das ganze Jahr über im Einsatz.

»Bei jeder Exhumierung wechseln die Personen, hier arbeiten Leute aus Barcelona, Galicien, El Bierzo, Roxana kommt aus Costa Rica, arbeitet aber in England, ebenso wie Gillian, Marco Tulio stammt aus Guatemala, ein anderes Land mit einer langen Tradition in Ausgrabungen, François ist Franzose. Sehr viele Freiwillige schreiben uns, wollen mitarbeiten, hier ihre Ferien verbringen.« 6000 Namen von Freiwilligen haben sie in ihrer Datenbank. Man muss kein Fachmann, keine Fachfrau sein, um mitzumachen, es gibt genug Dinge zu tun, für die man keine spezielle Ausbildung braucht. »Die Freiwilligen arbeiten immer mit Personen zusammen, die große Erfahrung in der Exhumierung von Leichen haben. Man erklärt ihnen, was zu machen ist, und nach einiger Zeit verrichten sie ihre Arbeit technisch einwandfrei. Wenn jemand noch nie etwas mit menschlichen Überresten zu tun gehabt hat, greift er oder sie auch nicht einfach so hin, im Gegenteil, sie sind immer sehr behutsam, wohl aus Vorsicht oder aus Scheu.«

Die Freiwilligen bekommen nichts für ihre Arbeit, einzig für Verpflegung und Unterkunft wird gesorgt. Für jede Ausgrabung müssen Privatpersonen oder Organisationen beim Präsidialministerium um Finanzierung ansuchen, damit werden die Kosten vor Ort beglichen: Material, technische Geräte, der Baggerfahrer, Treibstoff, Unterkunft und Verpflegung. Die ARMH bekommt im Jahr rund 60 000 Euro an Förderungen, davon werden vor allem die kargen Gehälter von drei Personen bezahlt, tausend Euro im Monat, solange das Geld reicht. Geht es zur Neige, sind sie arbeitslos bis zur nächsten Subvention. Meist geschieht dies im Winter, die Zeit wird dann für Labor- und Archivarbeit genutzt, oder um Anträge und Gutachten zu schreiben. »Unser Leben ist sehr bescheiden, wir wohnen in einer Provinzstadt, wir sind noch jung, unsere Eltern helfen uns aus. Wir machen das alles nicht, um Geld zu verdienen, es ist einfach ein einzigartiges Gefühl, wenn eine Exhumierung abgeschlossen ist und du die Überreste den Familien übergeben kannst. Das ist mit Geld nicht zu bezahlen!«

Geld ist auch für Óscar Rodríguez Alonso nicht von Bedeutung, den Mann mit den Kameras. Er wurde 1947 geboren und ist seit Anfang 2010 bei der ARMH. Die meisten Fotos des Vereins stammen von ihm. Er arbeitete in Madrid als Soziologe bei einer Firma, bis er sich mit ihr auf eine Frühpensionsregelung einigen konnte. Keine Woche später trat er mit Emilio Silva, dem Vorsitzenden der ARMH, in Kontakt und stellte dem Verein seine Zeit, seine Kameras und sein fotografisches Können zur Verfügung. In seiner Familie gab es keine Verfolgten, sein Vater war Eisenbahner in Katalonien, seine Mutter kam aus Kastilien. Warum er zur ARMH gestoßen sei? »Die Geschichte, die man uns erzählt hat, an den Universitäten, in der Akademie, ist voll von Manipulationen. Je mehr du über die Geschichte erfährst, desto deutlicher siehst du die Verfälschungen. Und irgendwann reicht es, es wird unerträglich und du musst etwas dagegen tun.« Ihm war aber auch seit Langem klar, dass man die Landschaft säubern, bereinigen müsse, diese herbe Landschaft Kastiliens, in der er die Sommer seiner Kindheit verbracht und die ihn seit damals in den Bann gezogen hatte. »Seit dem Moment, an dem mir bewusst wurde, dass hier, in dieser Idylle, am Wegrand, in einem Sonnenblumenfeld ein Massengrab sein könnte, wurde die Landschaft für mich zwar nicht hassenswert, aber doch sehr beunruhigend. Es ist wie in einem Horrorfilm: Was wird zum Vorschein kommen? Worüber werde ich stolpern? Was ist wohl hier unten? Dieses Gefühl ist so verstörend, dass man damit nicht umgehen kann; so kann man nicht leben, das muss weg. Man muss diese Personen von der Schmach befreien, zu der sie der spanische Faschismus gemeinsam mit der katholischen Kirche verdammt hat, mit Heimtücke und höchster Grausamkeit.«

Palencia

Tags darauf, ein abrupter Szenenwechsel: von den kastilischen Feldern in die Provinzhauptstadt Palencia, knappe achtzig Kilometer südöstlich von Joarilla. Im Norden des Stadtzentrums befindet sich der Parque de la Carcavilla, ein ehemaliger Friedhof, der Ende des 19. Jahrhunderts gegründet und 1955 aufgehoben wurde, da er zu klein geworden war. Er verkam zu einer Wildnis, die Stadt wuchs um ihn herum, bis man schließlich 1980 einen Park anlegte. Auf der von Neubauten umgebenen Grünfläche stehen Mausoleen, Reste der Friedhofsmauern, ein Brunnen plätschert, Vogelgezwitscher, Bäume spenden Schatten, wenige Spaziergänger flanieren sommersonntäglich. Einzig das auf- und abschwellende Geräusch eines Dieselmotors und ein unregelmäßiges metallenes Schaben und Klopfen stören die Ruhe. Eine Ecke des Parks ist von einem hohen Drahtzaun abgesperrt, dahinter schaufelt ein Bagger Erde, gleich neben einer Schaukel, deren Sitze Autoreifen sind: Ein Kinderspielplatz wird brutal aufgerissen, um die Gräber freizulegen, über denen er errichtet ist. Ein großes Areal wurde hier ausgehoben, in dem nun die Umrisse von gemauerten Grabmälern, von Särgen oder auch nur von unregelmäßigen Gruben zu sehen sind. Darin liegen halb verscharrte Knochen und glatte Schädel, eine Wirbelsäule ragt aus der Erde, Schuhsohlen wölben sich, ein perverser Kontrast zu den Geräten des Spielplatzes. Nur wenige Schaulustige stehen an der Absperrung. Auf einer Mauer sitzen zwei Frauen mittleren Alters. Eine erzählt, ihr Großvater sei nach seiner Hinrichtung hier begraben worden, sie komme jeden Tag, um bei den Arbeiten zuzusehen.

Palencia wurde am 19. Juli 1936 von den Aufständischen besetzt und nach mehrstündigem Feuergefecht zwischen Franco-Truppen und den Republikanern, die das Zivilgouvernement verteidigten, eingenommen. Der Zivilgouverneur wurde gleich nach dem Sieg ermordet, der Bürgermeister von einem Kriegsgericht verurteilt und im August füsiliert. Die Stadt und die sie umgebenden Ortschaften wurden »bereinigt«, die Opfer zumeist auf den Feldern oder neben den Straßen erschossen und liegen gelassen. Viele bestattete man auf diesem Friedhof. Hier, direkt unter dem Kinderspielplatz, liegen an die 500 Leichen von represaliados, wie die Opfer der Repressionen genannt werden. Unter ihnen waren zahlreiche Bauern aus den umliegenden Dörfern: Baltanás, Dueñas, Monzón, Venta de Baños oder Villaviudas. Fast alle hier begrabenen Menschen wurden zwischen Juli 1936 und Februar 1938 ums Leben gebracht, nicht im Kampf um die Stadt, sondern infolge des Terrors, der gleich nach der Einnahme Palencias einsetzte. Darum waren viele Ermordete Mitglieder des Gemeinderates, ein paar Bürgermeister, andere waren linke Lokalpolitiker, etwa der Sozialistischen Partei und von Izquierda Republicana, der Republikanischen Linken, oder Gewerkschafter der sozialistischen Unión General de Trabajadores. Auch Beamte befanden sich unter ihnen, die man »säuberte«, wie es damals hieß, egal ob sie bei der Müllabfuhr tätig waren oder im Gartenamt der Stadt.

Parque de la Carcavilla, Palencia

»Man brachte sie vor ein Schnellgericht, natürlich in Anführungszeichen, und verurteilte sie zur pena capital, zur Todesstrafe. Dann wurden sie in Palencia erschossen, ich weiß nicht wo, aber alle landeten hier auf diesem Friedhof.« Das erzählt Jimi Jiménez, Historiker und Archäologe, zuständig für die Ausgrabung im Parque de la Carcavilla. Er wurde 1965 im baskischen Durango geboren und arbeitet seit Jahren für die Wissenschaftliche Gesellschaft Aranzadi in San Sebastián. Jimi und seine Kollegin Almudena García Rubio von der Madrider Universidad Autónoma sind gerade dabei, die Vorbereitungen für diese riesige Exhumierung zu beenden. Am nächsten Tag sollen zahlreiche Freiwillige aus ganz Spanien kommen, um einen Großteil der noch verbliebenen Reste zu bergen.

Im Jahr 2000 gab es erste Versuche einer Ausgrabung, als sich Nachfahren von hier Verscharrten an das Rathaus wandten. Dort überreichte man ihnen als Antwort die Studie eines Architekten, derzufolge der Friedhof bereits »entsorgt« worden sei, zu der Zeit, als der Park angelegt wurde. Doch wussten es die Angehörigen besser. Nach jahrelangem Hin und Her gründeten sie einen Verein und beauftragen Aranzadi mit Sondierungsarbeiten. Im Jahr 2009 begann die Arbeit im Südwestsektor des Friedhofs, dort hatte man, den Unterlagen zufolge, die meisten Ermordeten begraben. Dank dem Gründungsbuch des Friedhofs und einem Register, in das die städtischen Totengräber täglich eingetragen hatten, wer wo bestattet worden war, fand man heraus, dass es im Sektor 4 neun Grabreihen von Bürgerkriegsopfern gab. Mithilfe eines Architekten erstellten sie einen ungefähren Plan der Gräber, der sich als erstaunlich treffsicher erwies – sie entdeckten die Reste der Ermordeten aus Baltanás. »Wir machten drei Stichproben an verschiedenen Punkten des Sektors und stießen auf Gräber, die klar erkennbar von ihren Särgen eingegrenzt waren. Gegen dieses Gutachten, das den Familien recht gab, konnte man im Rathaus nichts mehr sagen. Der nächste Schritt bestand darin, die genaue Lage der Gräber zu bestimmen.« Sie fanden sie und konnten vierzig Leichen exhumieren. Danach wurde alles wieder zugeschüttet.

Jetzt sind sie gekommen, um die restlichen Leichen freizulegen und zu bergen. Es gibt Ansuchen für 146 Personen, die exhumiert werden sollen. Das Problem dabei ist, dass es neben den rund 500 Ermordeten noch einmal so viele Reste gibt von Menschen, die eines natürlichen Todes gestorben und hier bestattet sind. Und dies erschwert zusätzlich die Identifizierung der Überreste. Bei den Opfern der Repression findet man manchmal drei oder vier Leichen in einer Grabstätte, die aus Platzgründen einfach neben- und übereinander verscharrt wurden. Oft auch hängt es von der Todesart der Personen ab. Wurden sie nach einem Prozess von Soldaten hingerichtet, so ist es ein »dokumentierter Tod« und die Leiche mehr oder weniger leicht zu identifizieren. Die »illegalen« Hinrichtungen aber, die ohne Gerichtsurteil vollzogen wurden, fanden meist nach den sogenannten paseos oder sacas statt, wenn Mitglieder der rechtsextremen Falange oder auch der Zivilgarde ihre politischen Feinde aus deren Wohnungen holten und erschossen. Darüber gibt es natürlich keine Unterlagen, das einzige Dokument ist eine Eintragung, dass am Friedhof eine oft namenlose Leiche bestattet wurde. Ob denn niemand nach den Namen der Mörder forsche oder denen ihrer Nachkommen? »Manchmal«, meint Jimi, »darüber wird bei den Exhumierungen kaum gesprochen. Es scheint seltsam, aber dieser Teil der Geschichte ist überwunden. Der Vorwurf von Revanchismus oder Rache hat in Wirklichkeit kaum ein Fundament. Die Familien wollen fast immer nur die sterblichen Überreste wiederbekommen, das ist alles.«

Madrid, Universidad Autónoma

Siebeneinhalb Monate später auf dem Campus der Universidad Autónoma im Norden von Madrid. Die Arbeit im Parque de la Carcavilla von Palencia ist beendet, die Reste sind hierher gebracht worden, in einen großen, hohen, weiß verfliesten, unpersönlichen Raum im Gebäude der Biologischen Fakultät. Eine neue Form des Schauderns: An den Wänden stapeln sich an die 200 Plastikbehälter, bis zu zehn übereinander, fast bis zur Decke hinauf. In den durchsichtigen Behältern mit den blauen Griffen und schwarzen Aufschriften kann man Knochen erkennen, Schädel, Plastiksäcke, in die kleinere Knochen verpackt sind, ganz oben sieht man einen mit Erde bedeckten schwarzen Schuh neben einem Oberschenkelknochen. Die Arbeitstische an den Seitenwänden sind voll von allen möglichen Utensilien und Unterlagen. Auch in der Mitte des Raumes stehen zwei große Tische, an einem lehnt Almudena García Rubio, in der »Einsamkeit des Labors«, wie sie sagt, nach der gemeinschaftlichen Arbeit der Ausgrabungen. Die Historikerin und Anthropologin ist wie viele, die an den Ausgrabungen teilnehmen, relativ jung, 33 Jahre, spricht ruhig und mit Fachkenntnis. Zweieinhalb Monate seien sie in Palencia gewesen, vom 16. August bis Ende Oktober, dann wurde der Park zugeschüttet und der Kinderspielplatz wieder aufgebaut. Technisch war es die komplizierteste Ausgrabung, die sie je gemacht hatten. Sie fanden nicht alle, nach denen sie suchten, da viele Gräber aufgelöst worden waren. Wenn die Familien nicht bezahlten, wurden die Leichen nach fünf Jahren exhumiert und das Grab neu vergeben. Aus 44 Gemeinschaftsgräbern hätten sie zwischen 100 und 110 Skelette geborgen und hierher gebracht, die nun, zwischen Kisten von anderen Exhumierungen, darauf warten, analysiert zu werden.

Plastikbehälter mit Überresten der Exhumierung vom Parque de la Carcavilla in der Universidad Autónoma, Madrid.

Die definitive Analyse der Skelette besteht aus drei Teilen. Einerseits aus den Nachforschungen, die vor Ort angestellt wurden, in diesem Fall mithilfe der Friedhofsbücher und anderer Dokumente von Behörden und Nachkommen. So konnten die Überreste ausfindig gemacht und ungefähr zugeordnet werden. In einem zweiten Schritt werden diese Reste nun im Labor gereinigt, erst trocken mit Holzstäbchen und Bürsten von den gröbsten Erdresten und Unreinheiten befreit, dann Stück für Stück gewaschen und zum Trocknen aufgelegt. Tags darauf werden sie einzeln untersucht, geordnet nach »anatomischen Einheiten«. Sehr wichtig sind die besonderen Merkmale. »Das hier etwa ist ein Oberarmknochen und das Schulterblatt eines Mannes. Da, an dieser ausgefransten Stelle, sieht man ein trauma perimortem, ein Trauma zum Zeitpunkt des Todes, das sicherlich von einem Schuss herrührt.« Danach wird versucht, das Skelett mehr oder weniger vollständig zusammenzusetzen. Auf einer Karteikarte halten sie alle wichtigen Daten fest: Geschlecht, Alter, Statur. »Der Mann war zwischen 27 und 40 – bei jüngeren Menschen ist es leichter, das genaue Alter zu bestimmen, bei älteren ist die Bandbreite größer –, Größe 160 Zentimeter plus/minus 3,9. Alles, jedes morphologische Detail wird beschrieben und fotografiert.« Zwei Tage dauert es, bis die Daten erhoben sind, das Skelett in all seinen Einzelheiten erfasst ist. Im Vergleich mit den bereits zuvor ausgeforschten Materialien kann man es nun einer konkreten Person zuordnen.

Der dritte und letzte Schritt ist die DNA-Probe. Seit 2004 arbeiten sie hier, in der Madrider Zweigstelle von Aranzadi, mit einem privaten Labor zusammen, das seine Ausstattung auf den letzten Stand gebracht hat, um die Protokolle für DNA, die von Skeletten stammt, und »alte DNA« ausführen zu können. Nicht jedes Labor sei dazu fähig, und das habe seinen Preis: zwischen 600 und 700 Euro, wenn es auf Anhieb gelingt. Das Labor müsse zwei Proben machen und eine Analyse. Auf der einen Seite werden DNA-Proben der Nachfahren untersucht, auf der anderen die der Skelette, wenn möglich aus den Zähnen, da sich in ihnen die DNA am besten erhält. Schließlich werden die Ergebnisse verglichen und die Wahrscheinlichkeit einer Verwandtschaft festgestellt. Stimmen die Daten überein, können die Reste den Familienangehörigen übergeben werden. Für sie hat die Suche ein Ende. Für alle Beteiligten an den Exhumierungen geht es aber weiter, solange noch Menschen in Straßengräben, Feldern, Friedhöfen, Massengräbern verscharrt sind, solange Nachkommen ihre Vorfahren suchen und solange Mittel dafür zur Verfügung stehen.

Den letzten Forschungen zufolge wurden während und nach dem Bürgerkrieg im Hinterland und in den eroberten Gebieten 130 199 Menschen von den sogenannten Nationalen des Generals Franco ums Leben gebracht. Schätzungen zufolge liegen bis heute rund 113 000 in ihren provisorischen Grabstätten, stören immer noch den Frieden der spanischen Landschaft, reißen immer noch Gräben zwischen den ehemaligen Fronten auf und verhindern, dass die Wunden sich schließen können. Auf franquistischer Seite wurden 49 272 Personen getötet. Die meisten dieser Opfer wurden von den Gewinnern des Kriegs exhumiert, geehrt und in Würden bestattet, ihre Hinterbliebenen für den Verlust entschädigt, sofern dies möglich war. Die Ermordeten auf der anderen, der republikanischen Seite aber liegen immer noch dort, wo sie von den Vertretern einer Diktatur vor nunmehr einem dreiviertel Jahrhundert getötet und verscharrt wurden. Der inzwischen demokratisch gewordene Staat hält es nicht für seine Sache, sie zu exhumieren, er überlässt es stattdessen den Familien, ihre Vorfahren mit der finanziellen Unterstützung eines Ministeriums selbst auszugraben. Seit 2006 wurden von der Regierung insgesamt 25,1 Millionen Euro für »Erinnerungsarbeit« zur Verfügung gestellt, davon 8,1 Millionen für Exhumierungen. Im März 2012 wurde das dafür bestimmte Jahresbudget um sechzig Prozent auf 2,5 Millionen Euro gekürzt, im Budget 2013 taucht dieser Posten gar nicht mehr auf – unter dem Vorwand der Krise wurde er gestrichen. In den letzten zwölf Jahren haben die verschiedenen Organisationen an die 5500 Überreste exhumiert und ihren Familien übergeben. Müßig zu fragen, wie lange es dauern wird, bis alle im Bürgerkrieg und während der Diktatur Ermordeten in Würde begraben sind.

Aus dem Besucherbuch von Espinosa de los Monteros (Burgos), April 2012

Quelle: Agrupación de Familiares de las personas asesinadas en Espinosa de los Monteros; Ministerio de la Presidencia; Sociedad de Ciencias ARANZADI.

Übersetzung

Esperanza González Sañudo

Ich wurde am 5. Januar 38 im Gefängnis von Burgos geboren.

In meiner ganzen Familie wurden wir sehr unterdrückt. Daher haben wir mehr als siebzig Jahre gebraucht, um einen Onkel ausfindig zu machen, den sie umbrachten, von dem wir aber nicht wussten, wo seine Leiche war. Meine Mutter war mehr als zwei Jahre im Gefängnis und mein Vater mehr als sieben Jahre im Gefängnis und bei Arbeitsbataillonen. Sie schickten ihn in viele Gefängnisse: in die Strafanstalt von El Dueso de Santoña, in Castejón de Navarra, in Fuerte de San Cristóbal, in das Modelo-Gefängnis von Barcelona, in Valencia, in die Strafanstalt von Rota bei Cádiz, in Jerez de la Frontera.

Heute bin ich sehr froh, dass die Exhumierung gemacht werden konnte, etwas, was man seinen Familienangehörigen schuldig ist. Es freut mich sehr, dass man sie aus diesem Straßengraben holen kann, eine derart gemeine und schändliche Tat. Ich werde immer allen dankbar sein, die das ermöglicht haben, vom Ersten bis zum Letzten. Ich werde immer meine Mutter in Erinnerung behalten, wie sehr sie weinte, da sie ihren Bruder nicht fand. Deshalb freue ich mich so für die, die heute ihre Lieben finden können.

Emilio Silva oder Das Ende der Bedeutungslosigkeit

Ein verschlungenes Vorortviertel im Norden von Madrid, Reihen roter Ziegelbauten, ein Haus aus den Sechzigerjahren, vierter Stock über eine kahle Treppe. Emilio Silva öffnet, Marley, eine kleine weiße Promenadenmischung, empfängt freundlich. Ohne großes Aufheben kommen wir am Couchtisch zur Sache. Emilio Silva hat die erstaunliche Fähigkeit, mindestens drei Dinge auf einmal zu tun: den Bericht über den Rücktritt des Präsidenten der Autonomen Region Valencia, Francisco Camps, im Fernsehen zu verfolgen, am Computer das Internet auf Neuigkeiten hin zu überwachen und perfekt erzählend ein Interview zu geben. Nur das Telefon bringt ihn manchmal etwas aus der Konzentration, zwei Blackberry-Handys liegen auf dem Tisch, immer wieder wird er angerufen oder bekommt SMS.

Emilio Silva Barrera, 1965 in Navarra geboren, ist Journalist. Sein Großvater, Emilio Silva Faba, wurde am 16. Oktober 1936 bei Priaranza del Bierzo ermordet und am Straßenrand verscharrt. Am 21. Oktober 2000 leitete Emilio, der Enkel, die Exhumierung der »13 von Priaranza«, die zum Auftakt der Bewegung zur »Wiedererlangung des historischen Gedächtnisses« wurde. Im Dezember desselben Jahres war er einer der Mitbegründer der Asociación para la Recuperación de la Memoria Histórica, ein Verein, der heute an die vierhundert Mitglieder hat, unzählige Freiwillige, die an den Exhumierungen mitarbeiten, und über das größte Archiv von Verschwundenen verfügt, »Tausende Karteikarten, die nach einem Protokoll der Vereinten Nationen erstellt wurden«. Emilio Silva ist seit der Gründung der ARMH der aktivste Streiter für die Sache in Spanien. Das Interview mit ihm wird beinahe zum Monolog, er spricht rasch, berichtet mit Vehemenz, erzählt sich selbst fort, von einem Thema zum nächsten und beginnt am Anfang.

Bei den ersten Ausgrabungen im Jahr 2000 berichtete nur die deutsche ARD über uns, im Jahr darauf gesellte sich die Berliner taz dazu, das holländische NRC, es waren nur ausländische Medien. Als unser Verein 2002 schlagartig bekannt wurde, schreckten die Sozialistische und die Kommunistische Partei auf, denn dieses Thema betraf sie direkt. Plötzlich waren wir überall präsent, und sie wussten nicht einmal, wer wir waren. Daher gründeten sie zwei Organisationen, von denen eine, die sozialistische Asociación de descendientes del Exilio (Verein der Nachkommen des Exils), gegen die Exhumierungen Position bezog. Für sie war es damit getan, einfach ein Denkmal aufzustellen. Die PCE gründete das Foro por la Memoria (Gedächtnisforum), für das die Exhumierungen rein politische Akte waren. Sie behaupteten, wir würden durch unseren Diskurs der Familien und der Menschenrechte die Opfer verraten. Die beiden Organisationen hatten es auf uns abgesehen, denn das Gedächtnis ist sehr mächtig, und die Parteien wollen es kontrollieren. Es behagte ihnen nicht, dass man von der Vergangenheit sprach, vor allem, weil die beiden Parteien für das Amnestiegesetz des Jahres 1977 gestimmt hatten. Für uns war dies ein Rätsel. Natürlich gab es damals großen Druck der Militärs, aber man kann sich im Parlament seiner Stimme enthalten, statt ein Gesetz der Straflosigkeit mit zu beschließen.

Das Foro kritisierte uns immer heftiger und nannte uns schließlich »Neoliberale des Gedächtnisses«. Nach und nach gewann es an Bedeutung innerhalb der PCE, daher versuchte die Partei, die Führung zu übernehmen. So spaltete sich die Organisation, neben dem Foro wurde die Federación Estatal de Foros por la Memoria, die Staatliche Föderation der Gedächtnisforen, gegründet.

Generell etablierten sich ab dem Jahr 2002 immer mehr Vereine, man kontaktierte uns aus Extremadura oder Valladolid. Dies sind »Vereine zur Wiederherstellung des historischen Gedächtnisses«, die nichts mit uns zu tun haben. Eigentlich sind sie illegal, sie hätten einen anderen Namen wählen sollen, da unser Name geschützt ist. Wir haben ihn im Patent- und Markenamt angemeldet, haben aber nie gerichtliche Schritte unternommen, denn wir müssen mit denen streiten, mit denen wir streiten müssen.

Natürlich hatten wir keine Ahnung, was alles auf uns zukommen würde. Bis dahin war es um das Gedächtnis sehr still gewesen. Man sprach vom Bürgerkrieg und vom Franquismus, als wären sie längst vergangen. Das änderte sich, als wir die ersten Fotos der Gräber zeigten, die Bilder der Gräber machen viele Menschen sehr nervös. Hätten wir ein Denkmal hingestellt, wäre wohl nichts geschehen. Zufälligerweise tauchten gerade in diesem Moment Pío Moa und andere Rechte auf, um ihre neofranquistische Version der Geschichte in die Welt zu setzen. Gleichzeitig gab es ein paar progressive Historiker, die gegen uns schrieben, vor allem, weil wir die transición kritisieren. Dabei kritisieren wir weniger die transición als vielmehr den Diskurs über die transición, demzufolge sie ein Idyll war, um die Spanier miteinander zu versöhnen. Einige Historiker begannen sich deswegen auf uns einzuschießen. Santos Juliá meinte etwa in einem Artikel in El País*, dass man sich nicht auf mündliche Zeugnisse verlassen dürfe. Wenn wir mündlichen Zeugnissen nicht vertrauen dürfen, dann können wir gleich die Gerichte schließen, denn die Verhandlungen stützen sich auf Zeugenaussagen. Insofern ist auch bezeichnend, dass die meisten Untersuchungen über die Repression nicht von Forschern an den Universitäten gemacht wurden, sondern von Mittelschullehrern oder Menschen, die andere Berufe haben und in ihrer Freizeit daran arbeiten. Die spanischen Universitäten kümmerten sich nicht darum, im Gegenteil, als die Exhumierungen begannen, haben sie sich über uns empört, weil wir die Vergangenheit für uns reklamierten. Aber es gibt auch einige Forscher an Universitäten, die uns unterstützen.

Was hat die Ley de Memoria Histórica für die Vereine bedeutet?

Das Gesetz wurde am 23. Juli 2004 vom Ministerrat angekündigt, der in León tagte. Einen Monat zuvor, am 24. Juni, hatten wir in Rivas Vaciamadrid, fünfzehn Kilometer von Madrid entfernt, eine große Hommage für die Verteidiger der Republik organisiert. Für uns war es eine Machtprobe, es traten viele Schriftsteller, Künstler, Musiker auf und es kamen an die zwanzigtausend Personen. Ich glaube, diese Hommage beeinflusste die Regierung. Als dann aber am 28. Juli 2006 der erste Entwurf des Gesetzes vorlag, waren wir sehr überrascht, denn es kam nicht einmal der Ausdruck »franquistische Diktatur« vor. Was in der Zwischenzeit geschehen war, weiß ich nicht. Wir hatten eine Sitzung mit Regierungsvertretern Anfang Dezember 2004, es hieß, das Gesetz würde Mitte März verabschiedet werden. Doch dauerte es bis zum 26. Dezember 2007. Es dürfte ziemliche Probleme gegeben haben, statt drei Monaten benötigten sie drei Jahre. Ich sprach einmal mit Zapatero, noch bevor er Ministerpräsident war, er dachte, er hätte einen gewissen Spielraum, um das Gesetz beschließen zu können. Doch gab es scheinbar Widerstand in der Partei …

Das hat mit unserer Geschichte zu tun. Achtzig Prozent der Regierungsmitglieder seit dem Tod Francos, egal zu welcher Partei sie gehören, stammen aus Familien von hohen Funktionären des Franco-Regimes. Zum Beispiel die drei Vizeministerpräsidenten der letzten Legislaturperiode, alle aus der Sozialistischen Partei: Der Vater von Alfredo Pérez Rubalcaba war Flieger der franquistischen Luftwaffe. Der Vater von Manuel Chávez war Oberst der franquistischen Armee, seine Mutter gründete die Sección Femenina der Falange in Ceuta. Und der Vater der Wirtschafts- und Finanzministerin Elena Salgado war ebenso ein hoher Funktionär des Regimes. Der Vater der ehemaligen Vizeministerpräsidentin, María Teresa Fernández de la Vega, die, nebenbei gesagt, für das Gesetz zuständig war, arbeitete als Delegierter des Ministeriums für Arbeit in Valencia und Zaragoza. Dieses Ministerium hatte enge Verbindungen zur Falange und zum Nationalsyndikalismus. Der Vater des früheren Präsidenten des Abgeordnetenhauses, José Bono, war siebzehn Jahre lang franquistischer Bürgermeister im Blauhemd der Falangisten. Bei der PP ist es genauso. Manchmal sind sie auch verwandt: Trinidad Jiménez [die frühere Außenministerin] ist eine Cousine von Alberto Ruiz Gallardón [dem früheren Bürgermeister von Madrid und jetzigen Justizminister]. Der Schwiegervater von Ruiz Gallardón ist José Utrera Molina, der unter Franco Arbeitsminister war. Wie man sieht, ist es eine Oligarchie, die in zwei Teile zerfallen ist, einige gingen zur PSOE, andere zur PP, aber es gibt viele Dinge, in denen sie einer Meinung sind. Im Bereich der Gedächtnispolitik etwa haben sie keine rote Linie überschritten, es ist eine Politik, die keinen Konflikt ausgelöst, keinen Verlust von Privilegien bedeutet hat. Der Einzige, der diesen Status bedroht, ist Baltasar Garzón. Und man hat ja gesehen, wie die Cosa Nostra mit ihm abgerechnet hat. Viele von denen, die gegen Garzón intrigiert haben, stammen ebenso aus franquistischen Familien. Meiner Meinung nach kam es zum Prozess gegen Garzón, weil er einen Pakt gebrochen hat. In der politischen Soziologie gibt es das »eherne Gesetz der Oligarchie« von Robert Michels, und Garzón hat gegen dieses Gesetz gehandelt. Noch nie wurde der Status von so vielen Franquisten derart infrage gestellt, die dank der Diktatur reich geworden sind, die politische Sklaven ebenso ausgenutzt haben wie die Gewalt der Diktatur. Und plötzlich kommt da dieser Richter und schreckt sie auf. Es ist ein Klassenkampf. Im Grund konnten die Nachkommen der Verlierer des Bürgerkriegs, wie meine Familie, in fünfunddreißig Jahren keine Gruppe bilden, die Druck auf die Politik ausgeübt hätte. Es ist vor allem ein soziologisches Phänomen, denn diejenigen, die in den Fünfziger-, Sechziger- und Siebzigerjahren an den Universitäten studierten, waren meist Kinder des Regimes, Mitglieder der Oberschicht, und ein paar aus den Unterschichten. Im Madrider Colegio del Pilar gingen etwa José María Aznar und Javier Solana zu Schule, der eine konservativ, der andere Mitglied der PSOE. Es ist eine soziale Klasse. Die PCE hätte dieses Gleichgewicht aufbrechen können, doch tat sie es nicht. Bei den Wahlen des Jahres 1977 – dies ist bezeichnend, wird aber nie erwähnt – konnten viele republikanische Parteien nicht antreten. Somit waren es keine freien Wahlen. Und ich spreche nicht von kleinen Parteien, ich spreche von Izquierda Republicana, der Republikanischen Linken, der Partei des republikanischen Präsidenten Manuel Azaña, der mein Vater angehörte. Kommunisten und Sozialisten schafften sich dadurch einen Konkurrenten vom Hals, im Parlament stellte niemand das Amnestiegesetz infrage, niemand diskutierte über Republik oder Monarchie. Beide Parteien verteidigen die transición bis heute und haben nie erklärt, warum sie für das Amnestiegesetz stimmten, zu einem Zeitpunkt, als praktisch alle politischen Gefangenen bereits in Freiheit waren.

Warum wird in der Öffentlichkeit nicht öfter über diese Themen gesprochen?

Weil die spanische Demokratie medial sehr eng ist. Nehmen wir zum Beispiel die Tageszeitung El País. Einer ihrer Gründer war Manuel Fraga, Minister von Franco und Stammvater der PP. Wer ist Juan Luis Cebrián, der erste Herausgeber der Zeitschrift, heute der starke Mann der Mediengruppe PRISA, zu der El País gehört? Er war 1974 Leiter der Nachrichtenabteilung des spätfranquistischen Fernsehens. Es war eine breit angelegte Operation, um zur Demokratie überzuwechseln und gleichzeitig unter dem Anschein von Demokraten die Privilegien behalten zu können. Im Grund geht es nur um Privilegien. Es gibt jede Menge an wechselseitigen Beziehungen, wie im Fall der Ley de Memoria Histórica: Die PSOE beschließt ein sehr weiches Gesetz und die PP schlägt Krawall, damit es so aussieht, als wären sie dagegen. Ich glaube, sie haben ein stillschweigendes Abkommen.

Einer der unglaublichsten Aspekte dieses Gesetzes ist übrigens ein Zertifikat zur persönlichen Wiedergutmachung, das aber keine Wiedergutmachung ist. Sie haben ein Dokument erfunden, das dir nicht etwa ein Minister im Rahmen eines öffentlichen Aktes überreicht. Per Post wird es dir nach Hause geschickt! Darin steht, was für ein guter Mensch dein Großvater war. In der Präambel des Gesetzes heißt es, dass das Gedächtnis »persönlich und zur Familie gehörig« sei. Da du nicht zu meiner Familie gehörst, breche ich gerade das Gesetz, wenn ich mit dir über das Gedächtnis spreche. Dieser Aspekt ist franquistisch, denn er besagt, dass das Gedächtnis weiterhin im Verborgenen zu bleiben hat. Welchem Opfer der Gewalt gegen Frauen, welchem Opfer des ETA-Terrorismus würde ein Politiker so etwas zumuten? Das einzig Positive am Gesetz war die öffentliche Debatte über die Vergangenheit. In dieser Hinsicht ist mir alles recht: Es gibt schlechte Dokumentarfilme über die Vergangenheit, aber sie bewirken etwas. Der Prozess der letzten Jahre hat zum Beispiel bewirkt, dass in so konservativen Zeitungen wie ABC oder La Razón der Ausdruck »Verbrechen des Franquismus« vorkommt, an sich schon ein sozialer Wandel und ein Erfolg für uns.

Wie geht denn die konservative Seite mit dem Thema um?

Im Sommer 2003 wurde José María Aznar nach seiner Urlaubslektüre gefragt. Unter anderem nannte er Die Mythen des Bürgerkriegs von Pío Moa. Der Ministerpräsident einer demokratischen Regierung steht für ein Buch, das eine Diktatur glorifiziert – und nichts geschah! Ebenso finanzierte das Kulturministerium von Aznar drei Jahre lang die Fundación Francisco Franco. Aber das gehört zu seiner Idee des »Großen Spanien«, genauso wie der Nationalismus. Ein anderes Beispiel: 2006 veröffentlichte ich in El País einen Artikel unter dem Titel »Das ist eine vom Teufel inszenierte Kampagne«. Der Satz stammt aus dem Dokumentarfilm Las fosas del silencio, Die Gräber des Schweigens. Darin werden Franquisten interviewt, die jeden ersten Mittwoch im Monat in Madrid eine Messe für die im Krieg und in der División Azul gefallenen Soldaten feiern. Eine Frau wird nach ihrer Meinung über die Exhumierungen gefragt und antwortet: »Das ist eine vom Teufel inszenierte Kampagne. Sie machen alles zunichte. Dabei hatten wir ihnen schon verziehen.« Müssen sie meinem Großvater verzeihen, dass er sich zwei Kugeln in den Kopf schießen ließ? Am bezeichnendsten finde ich aber den Satz »Sie machen alles zunichte«. Denn drehe ich ihn um, sagt mir die Frau, dass alles in Ordnung sei. Und so haben wir, ohne es zu wollen, eine Grenze überschritten, die fünfundzwanzig Jahre lang bestens gehalten hatte.

Warum wurde sie nicht schon früher überschritten?

Es gab zwar Ende der Siebzigerjahre eine Auseinandersetzung mit dem Franquismus, es gab Exhumierungen, aber der Aufstand des Obersts Tejero am 23. Februar 1981, der 23-F, setzte ihnen ein Ende. Diejenigen, die den Franquismus miterlebt hatten, wollten ihn nicht noch einmal zum Leben erwecken. Der Satz, den Tejero brüllte: »¡Quieto todo el mundo! – Alles stillhalten!«, im Fernsehen zu sehen, war ein unerbittlicher Befehl. In einem Land, das vierzig Jahre lang voller Angst gelebt hatte, muss jemand nur mit einer Pistole im Parlament auftauchen, diesen Satz brüllen, das war’s dann auch schon. In dem Sinn hat der Putsch triumphiert. Das Amnestiegesetz von 1977 hatte die juristische und die politische Straflosigkeit zur Folge – dadurch machten die Parteien gemeinsame Sache mit dem Franquismus. Aber es war auch eine soziale Straflosigkeit notwendig. Denn als die Konservativen ins Schlingern gerieten, der Aufstieg der PSOE drohte – was ermöglichte diese soziale Straflosigkeit? Der 23-F. Damit war alles »verschnürt und fest verschnürt«, wie Franco zu sagen pflegte. Darauf folgten zwanzig Jahre ohne den geringsten Muckser. Das entspricht der Theorie des Pawlowschen Reflexes, demzufolge der zweite Reiz länger anhält. Der erste Reiz war die Diktatur, der zweite der Putsch. Die Leute sagten sich, jetzt kann ich über alles sprechen, kann wählen gehen, dazu kam der Wirtschaftsaufschwung, eine Art von Sozialabkommen: Ich akzeptiere das Wirtschaftswachstum, das mit dem Schweigen einhergeht.

Dieses Modell hat Spanien weltbekannt gemacht. Nach der Verabschiedung der Ley de Memoria Histórica kam zweimal eine Wahrheitskommission aus Südkorea. Eines Tages rief mich die südkoreanische Botschaft an, sechs Personen wollten mit mir sprechen. Wir trafen uns, ich erzählte vom Verein, sie reisten ab. Ein Jahr später kamen fünfzehn Personen und der Präsident der Kommission, ein katholischer Priester. Wir trafen uns in einem Hotel und sprachen anderthalb Stunden, vor allem über die Exhumierungen. Als ich nach dem Treffen vor dem Hotel eine Zigarette rauchte, gesellte sich der Übersetzer dazu. Und ich stellte ihm die Frage, die ich aus Scheu der Kommission nicht gestellt hatte: Warum kommen sie nach Spanien? Wenn sie etwas über Gedächtnispolitik lernen wollen, dann sollten sie wohl eher nach Deutschland, Frankreich oder Argentinien reisen. Der Übersetzer klärte mich auf. Die Kommission wurde im Herbst 2005 ins Leben gerufen, doch bald kam sie unter Beschuss der größten, konservativen Zeitung des Landes. Als Beispiel führte die Zeitung Spanien an, das gleich groß war wie Südkorea, wo die Diktatur ähnlich lange gedauert hatte und das damals als Wirtschaftswunder galt. Doch verfasste ein hier lebender koreanischer Hispanist einen Bericht über den damals ausgebrochenen Streit um die Vergangenheit, den auch die Abgeordneten zu lesen bekamen. Deswegen war die Kommission zum zweiten Mal hierher gereist, um zu überprüfen, ob Spanien tatsächlich nachahmenswert sei. Und was ist Spanien? Ein Modell für Straflosigkeit. Und für verdrängte Erinnerung.

Wir wuchsen mit der Vorstellung auf, die Vergangenheit sei ein persönliches und familiäres Problem. Mein Vater erzählte mir etwa von meinem Großvater und sagte: »Darüber spricht man außer Haus nicht.« Wir wurden in einer Unordnung groß, denn wir merkten, dass wir eine Geschichte hatten, über die man nicht sprechen konnte. Ich glaube, das jetzige Aufbrechen der Erinnerung hat etwas Therapeutisches an sich, da wir in einer Art Psychose lebten, einer Schizophrenie zwischen dem, was wir draußen waren, und dem, was wir zu Hause waren. Zu Hause lebten wir unsere wahre Identität: eine Familie, die den Krieg verloren hatte, der alles genommen worden war, was sie besaß, die verachtet und gequält wurde. Draußen waren wir etwas anderes, eine Familie, die ganz normal ihrer Arbeit nachging. Was dann geschah, war eine Art Ausgleich, um drinnen und draußen das sein zu können, was wir wirklich sind. Neben dem politischen und humanitären Aspekt gibt es diesen wichtigen therapeutischen Aspekt: die Schizophrenie aufzubrechen, die Unordnung zu ordnen. Ich nenne es das Ende der Bedeutungslosigkeit: Als Familie mussten wir uns bedeutungslos machen, um überleben zu können, wir lebten in der Demokratie auf bedeutungslose Weise und sind dabei, unserer Bedeutungslosigkeit ein Ende zu setzen. Denn wir sehen nicht ein, warum wir nicht in der Gesellschaft vertreten sein sollen. Es gibt einen Tag, der den Opfern des Holocaust gewidmet ist oder einen für die Opfer des Terrorismus. Aber es gibt in Spanien keinen Tag, der den Opfern der Diktatur gewidmet wäre oder denen des erzwungenen Verschwindens, was eines der brutalsten Verbrechen ist, die man gegen eine Person begehen kann: sie zu entführen, zu foltern, zu ermorden und ihre Leiche verschwinden zu lassen.

Warum ist die andere Seite derart aggressiv gegen die Tätigkeit der Vereine?

Sie akzeptieren nicht. Der Satz der Frau ist repräsentativ: »Wir hatten ihnen bereits vergeben.« Was denn? Mein Großvater war Zivilist, der nie jemandem etwas getan hatte. Die in den Massengräbern Verscharrten sind auch Zivilisten. Unser Verein hat kein einziges Grab im Kriegsgebiet exhumiert. Alle waren Zivilisten, wie die Opfer, die von der ETA entführt und erschossen wurden. Die PP wusste das sehr wohl, als sie die Demonstrationen auf der Plaza de Colón gegen die ETA organisierte. Dort sah man Transparente mit der Aufschrift »Zapatero, geh zu deinem Großvater« [der von den Aufständischen erschossen wurde]. Wie ist es möglich, dass jemand an einer Demonstration teilnimmt, auf der man den Tod des Ministerpräsidenten fordert? Wenn ich bei einer Demonstration jemanden sehe, der ein Transparent mit der Aufschrift »Für ein neues Paracuellos!« trägt [siehe Seite 80], so sage ich ihm, er soll verschwinden. Sie aber können perfekt damit leben, das ist der Beweis für die Bedeutung, die die ETA für den spanischen Nationalismus hat, als Element des Zusammenhalts und der Verschleierung. Wie viele von den älteren Herren, die auf der Plaza de Colón in eleganten Mänteln »Mörder!« schrien und dabei nach Norden, in Richtung Baskenland zeigten, waren früher in den Gefängnissen gewesen und hatten ihre Landsleute gefoltert? Sicherlich einige. Und was hat ihnen der Terrorismus ermöglicht? Sich zu verstecken. Die Bösen sitzen dort oben und tragen eine Baskenmütze.

Anfangs wollten wir die beiden Themen nicht zusammenbringen, doch wenn man von Staatspolitik spricht, so kann es nicht angehen, dass die Opfer der ETA Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachungen erhalten haben, Millionen an Entschädigungen, und die Täter in Haft sind. Und die Opfer des Franquismus sind ihrem Schicksal ausgeliefert. Eine Demokratie darf keine doppelte Moral haben. Immer noch sind 113 000 namentlich bekannte Personen in Spanien begraben, auch wenn es wahrscheinlich mehr sind, denn viele Provinzen sind noch nicht erforscht. Niemand weiß, ob all diese Menschen einmal exhumiert werden. Wir exhumieren, wenn man uns danach fragt. Aber viele wissen nicht, an wen sie sich wenden sollen, um ihre Vorfahren auszugraben, und viele haben wohl noch immer Angst.

* Santos Juliá: Trampas de la memoria, in: El País, 14.10.2006.

José María Pedreño oder Das Recht, die Dinge zu erzählen

Wie jeden Donnerstag hat es José María Pedreño eilig. Wir treffen uns um achtzehn Uhr auf der Puerta del Sol, um halb sieben muss er in eine Versammlung (er kam zu spät), um sieben Uhr beginnt der donnerstägliche Umzug der Sympathisanten der Federación Estatal de Foros por la Memoria, der Staatlichen Föderation der Gedächtnisforen, die mit Plakaten, Transparenten und Fahnen der Kommunistischen Partei und der Zweiten Republik um das Reiterstandbild von Karl III. marschieren. Vor dem Gebäude der Comunidad de Madrid machen sie Halt, um an dessen Vergangenheit als Kerker und Folterzentrum der franquistischen Geheimpolizei zu erinnern.

Foros por la Memoria, wie er der Einfachheit halber genannt wird, ist der Dachverband von neunzehn, bald zwanzig Vereinen, »viele oft sehr kleine Organisationen«, deren genaue Mitgliederzahl schwer zu eruieren ist. »Hier in Madrid haben wir ungefähr hundert Mitglieder, aber der aktive Kern ist nicht größer als zwölf, dreizehn Personen. Die anderen arbeiten punktuell mit. In Huelva sind es fünf, doch auch fünf können ganz schön Lärm machen, wenn sie imstande sind, viele Leute zu mobilisieren. Aber die Avantgarde der Organisation sind sehr, sehr wenige.« Die kommunistische Diktion ist nicht zufällig, hat sich die Federación doch von der Kommunistischen Partei abgespalten, weniger aus ideologischen denn aus machtpolitischen Gründen.

Wie viel Lärm relativ wenige Personen schlagen können, zeigte der 1. Kongress der Opfer des Franquismus, der vom 20. bis 22. April 2012 in Rivas Vaciamadrid stattfand und an dem mehr als sechzig Vereine und dreihundert Personen teilnahmen. Hauptorganisator und Motor der Veranstaltung war Pedreño. Die Vorträge, Diskussionen und Zeugnisse sind auf der Website des Vereins zu sehen und sollen als Buch erscheinen.

All dies organisiert José María Pedreño neben seiner Arbeit, beinahe ohne jede Infrastruktur. »Mein Büro ist mein Handy, mein Computer, ein Zimmer zu Hause und die Garage eines Kollegen, der ein kleines Haus hat. Dort haben wir unsere Werkzeuge, unser Material und das Zeltdach für die Exhumierungen.« Ein anderer Kollege aus Barcelona betreut die Website, die in Spanien sicher eine der umfassendsten Informationsquellen zu diesem Thema ist und beachtliche zwei Millionen Mal im Monat angeklickt wird. Wichtig sei auch die Vereinsarbeit, der Vorstand trifft sich alle zwei Wochen, alle sechs Monate findet eine Vollversammlung statt. Für den Verein selbst wird kaum etwas ausgegeben, die Subventionen kommen Veröffentlichungen, Dokumentationen, Ausstellungen oder der Instandhaltung der Webseite zugute. Die Exhumierungen werden von Familienangehörigen der Opfer oder von Organisationen beantragt, die verschiedenen Vereine unterstützen sie bei der Antragstellung und den Amtsgängen. Seine eigene Aufgabe sieht das Foro eher in der politischen Gedächtnisarbeit.

José María Pedreño wurde 1959 geboren, heute lebt er in Leganés im Süden von Madrid. Sein Interesse am Bürgerkrieg und am Franquismus geht kurioserweise auf seinen Militärdienst in den späten Siebzigerjahren zurück. Er war einer Stelle zugeteilt, bei der Opfer des Franquismus Wiedergutmachung beantragen konnten. »Nachmittags ging ich immer ins Militärgericht und suchte Personalakten zusammen, um die an uns gerichteten Ansuchen bearbeiten zu können. Damals waren die Witwen kaum älter als sechzig, ich sprach mit vielen, meist waren es Arbeiterinnen. Dann las ich die Gerichtsakten und war empört darüber, dass man mich mein ganzes Leben lang betrogen hatte. Stets hatte es geheißen, die Roten wären die Bösen gewesen, dabei war es genau umgekehrt. Und die Geschichten, die ich zu lesen bekam, waren schrecklich.« So begann er sich für die Vergangenheit zu interessieren und, Ironie des Schicksals, beendete seinen Militärdienst als überzeugter Linker.