Geh nicht ins Moor, wenn's dunkel wird! - Eva Berberich - E-Book

Geh nicht ins Moor, wenn's dunkel wird! E-Book

Eva Berberich

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Beschreibung

Diese Geschichte erzählt von heiteren, verwirrenden und unglaublichen Begebenheiten, sonderbaren Käuzen, geheimnisumwitterten Orten. Die geneigte Leserin, der interessierte Leser erfahren manches, das ihnen die üblichen, meist eher langweiligen und phantasielosen Reiseführer verschweigen. Und sie sehen hinterher hoffentlich diese Ecke des Hochschwarzwalds mit vielem, was darin kreucht und fleucht, vielleicht mit ganz anderen, frisch geputzten Augen -, besonders, wenn sie durch das Astloch eines Rindenstücks blicken -, und sie werden, wie der Schlafwandler auf dem Dach einer Garage im Weiler Oberweschnegg, sicher und furchtlos wandeln zwischen Wirklichkeit und Phantasie ...

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Von Eva Berberich sind als dtv Großdruck im Deutschen

Taschenbuch Verlag erschienen:

Alles für den Kater

Das Glück ist eine Katze

Nicht ohne meinen Kater

Der Kater, der nicht reden wollte

Ein himmlischer Fall für vier Pfoten

In der Blauen Stunde kommen die Katzen

in Vorbereitung: Die Buchkatze und andere Katzen

*

Bei tredition: Die Papstkatze

Rombach-Verlag Freiburg: Der Teufel steckt im Bild

Kore-Verlag Freiburg: Geschichten von Mann und Frau

*

Eva Berberich lebt mit Katze und Ehemann, dem Schriftsteller Armin Ayren, im Hochschwarzwald. Mit ihren heiteren und tiefsinnigen Geschichten hat sie sich in die Herzen zahlloser Katzenfreunde geschrieben

Impressum

© 2016 Eva BerberichUmschlag, Illustration: Valerie Nyre

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

978-3-7345-6807-7 (Paperback)

978-3-7345-6808-4 (Hardcover)

978-3-7345-6809-1 (e-Book)

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Eva Berberich

Geh nicht ins Moor, wenn’s dunkel wird!

oder Die Moorkatz von Tiefenhäusern

mit schauerlich-schönen Bildern von Valerie Nyre

Der Aberglauben ist die Poesie des Lebens. Darum schadet’s dem Dichter nicht, abergläubisch zu sein.

(Goethe)

Zum Andenken an Joachim Storck, den Freund und ehemaligen Besitzer von Haus Tannenbaum

Am ersten Tag

Tiefenhäusern. Drei stumme Nonnen, ein charmanter Hund. O du lieber Augustin! Das wunderliche Bild. Der Tote im Moor. Die Moorkatz. Von seltsamen Käuzen, blauen Schweinen und anderen makabren Vorlieben der Eingeborenen. Silva nigra, der große schwarze Wald. Es katzelt. Die Glocke

Am zweiten Tag

Fröhliche Bachkantate. Mit der Droste im Moor. Wilde Liebe. Eine nymphomane Nymphe. Augustins Katzenfrau. Attilafels und Hunnentrunk. Ein Sittenskandal. Jedem Ort sein Mord. Die weißen Engel von Strittmatt. Der Nöck von Nöggenschwiel. Die Strohkatz. Ein höflicher Rabe. Es blitzt. Die Rache der Bäume. Schrei in der Nacht. Böser Traum

Am dritten Tag

Sensationeller Fund auf der Bühne von Haus Tannenbaum. Finstere Machenschaften des hochwürdigen Fürstabts von St. Blasien. Die Heilige Familie und ihr Esel. Drei Dichter: ein weltberühmter und zwei weniger weltberühmte. Die Quantenkuh. Einstein spinnt. Kloster in Flammen. Mitternächtliche Apfelküchleorgie. Ein Engel spielt falsch. Ida Boy-Ed im Doppelpack

Am vierten Tag

Wandlerinnen und Wandler. Der Teufel - ein Eichhörnchen? Herr Jung, Herr Freud und das Unerklärliche. Über Scheuklappen. Allein im Moor. Erotische Elegien und eine unerotische Kratzhand. Im Suff

Am fünften Tag

Die Katz ist tot, es lebe die Katz. Bärenkantate, aber nicht von Bach. Claras Geheimnis. Der Höllenhirsch. Sein oder Nichtsein. Gruß von Conny. Vom Wandeln über Abgründe

Ich verlange und erwarte nicht, daß man die höchst seltsame und doch einfache Geschichte, die ich hier niederschreiben will, glaubt. Es wäre auch töricht, dies zu tun, denn ich selbst vermag dem Zeugnis meiner Sinne kaum zu trauen ...

So beginnt eine der unheimlichen Erzählungen des amerikanischen Dichters Edgar Allan Poe, in der ein dämonischer Kater einen Bösewicht an den Galgen bringt. Sie erschien im Jahr 1843.

Die Geschichte, die ich hier niederschreibe, spielt nicht im Gestern, sondern im Heute, nicht in Amerika, sondern in der südlichsten Ecke des Hochschwarzwalds. Aber auch sie ist einfach und höchst seltsam. Und auch ich erwarte nicht, dass mir jemand glaubt, traue ich ja selbst kaum dem Zeugnis meiner Sinne. Doch ist es kein Kater, der mich das Gruseln gelehrt hat, sondern eine ebenfalls ziemlich dämonische

Katze

Am ersten Tag

Tiefenhäusern. Drei stumme Nonnen, ein charmanter Hund. O du lieber Augustin! Das wunderliche Bild. Der Tote im Moor. Die Moorkatz. Von seltsamen Käuzen, blauen Schweinen und anderen makabren Vorlieben der Eingeborenen. Silva nigra, der große schwarze Wald. Es katzelt. Die Glocke

Wer zu viel Speck auf den Rippen angesammelt hat, dem Zeitgeist verpflichtet unter Burnout leidet und etwas für sein körperliches und seelisches Wohlergehen tun möchte, der mache sich auf, fahre in eine idyllisch gelegene Klinik am Bodensee und faste heil.

Er darf sich freuen auf Gemüsebrühe, Brennnesseltee, Massagen, Bäder, Wanderungen, Gespräche, einzeln und in Gruppen. Er darf aussich herausgehen, in sich hineingehen, zu sich kommen, den Mund aufmachen, den Mund halten. Weil Reden Silber ist, Schweigen aber Gold. Das kostet. Aber wie die Werbespots verkünden: Das war ich mir wert.

Auf Anraten des gütigen rauschebärtigen Paters und Seelenbegleiters Anselm Grün hatte ich, wie alle Teilnehmer, den mitgebrachten Stress im Bodensee versenkt, ein paar Kilo abgespeckt sowie, um das Gelernte zuhause zu verinnerlichen, zwei seiner eher mageren Büchlein erworben. Darin war zu lesen, dass ich mich nun, nach Absolvierung des ganzen Programms, euphorisch, leicht und frei fühlte, rundherum zufrieden, heil, genesen und ganz.

Auf dem Heimweg hielt ich immer wieder an, um die atemraubende Aussicht zu genießen: ein wallendes Nebelmeer, ein zweiter Bodensee, aus dem die Spitzen der Alpen herauswuchsen. Bald dämmerte es, im November sind die Tage schon kurz. Die Vulkankegel des Hegau lagen hinter mir, ich hatte dem Poppele, dem Burggeist vom Hohenkrähen zugewinkt, einem alten Bekannten aus dem Schmiedledick, einem meiner Lieblingskinderbücher, als mir einfiel, dass in dieser Ecke des Hochschwarzwalds ein alter Schulfreund lebte, von dem ich seit fast zwanzig Jahren nichts mehr gehört hatte. Ich wusste nur, er hatte sich in einem kleinen Ort vergraben, an dessen Namen ich mich nicht erinnern konnte, irgendwo zwischen Waldshut an der Grenze zur Schweiz und St. Blasien. Während ich auf der Bundesstraße dahinzockelte, tauchten Bilder aus der gemeinsamen Schulzeit auf ...

Augustin war anders als der Rest der Klasse. Er brüllte nicht herum, sein Wortschatz war wesentlich manierlicher, er sagte nie ‚Scheiße’ oder ‚Arschloch’, seine Fingernägel waren immer sauber, statt wie unsereins Gitarre oder Schlagzeug spielte er die edle Viola da gamba und erklärte dem Lehrer, was Idiosynkrasie ist. Und schon damals nervte er den Deutschlehrer, weil er, begabt mit einer poetischen Ader und einem sagenhaften Gedächtnis, sämtliche Gedichte, die wir im Unterricht malträtierten, nicht nur schon kannte, sondern auch auswendig wusste. Sogar Die Glocke. Alle sahen in ihm den zukünftigen Universitätsprofessor.

Ich schaute auf die Karte, aber die eher seltsamen, fast putzigen Namen der kleinen Orte - Häusern, Bannholz, Remetschwiel, Brunnadern, Ay, Geiß, Nögenschwiel, Faulenfürst, Attlisberg, Ober- und Unterweschnegg, Heppenschwand, Amrigschwand, Strittberg, Görwihl -, sie sagten mir nichts. In der Hoffnung, er werde mir noch einfallen, bog ich ab von der Hauptstrecke und nahm die B 500 in Richtung Waldshut. Sie führt am Schluchsee entlang über den kleinen Ort, den der Zugführer, wie ich von früher wusste, zur Freude seiner Fahrgäste aus dem Norden als „Aha“ anzukündigen pflegt.

Am Ortseingang von Höchenschwand, es nennt sich Dorf am Himmel, ist aber auch nicht frömmer als andere Dörfer, verkündete ein Schild selbstbewusst, ich sei am Ziel, was ich ignorierte. Die fetten weißen Leuchtkugeln, mit denen der Ort Besucher undVorbeifahrer grüßt, ließ ich hinter mir, ebenso Oberweschnegg, ein Name, so unpoetisch, dass die Lust, diesen Weiler näher kennenzulernen, sich in Grenzen hält. Zu unrecht, wie ich feststellen sollte, Oberweschnegg hat seine eigene verschlafene Poesie, und das ist wörtlich zu verstehen. Mehr davon später.

Dann sah ich linkerhand im Scheinwerferkegel ein Schild mit zum Teil verblassten Buchstaben, und bereitwillig ergänzte mein Kopf das Fragment zu einem sinnvollen Wort: Tiefenhäusern ein Name, wie er schwarzwälderisch nicht sein kann. Warum stand der nicht auf der Karte? Ich sah nach: Er stand da, aber genau auf dem Knick und daher verwischt und unleserlich.

Also hinein in den Ort, vorbei am Rössle, einem historischen Landgasthaus. Es gibt viele historische Gasthäuser hierzulande, und jedes von ihnen behauptet stolz, das älteste zu sein. Keine Straßenbeleuchtung, aber in den Fenstern bläuliches Fernsehflimmerlicht. Aus dem Dunkel tauchte eine formlose Masse auf, die sich als drei Menschen entpuppte. Sie kamen eng nebeneinander langsam und schwerfällig auf mich zu. Ich hielt an, kurbelte die Scheibe herunter, nannte den Namen meines Freundes und fragte, ob man mir helfen könne.

Die drei Frauen waren in Schwarz, offenbar Nonnen, dazu noch stumm. Sie blickten durch mich hindurch, als hätten sie mich nicht verstanden. Ein Hund rannte vorbei und blieb stehen. Ich wiederholte meine Frage - keine Reaktion. Der Hund kratzte sich mit dem Hinterfuß am Kopf und schien nachzudenken. Als ich mich wieder den Nonnen zuwandte, waren sie verschwunden, auch das Geräusch ihrer Schritte von der Dunkelheit verschluckt. Ein kühler Hauch wehte mich an und ließ mich frösteln. „Die Damen gehören wohl zum Kartäuserorden“, sagte ich zum Hund, „die dürfen nicht reden. Aber so ernst bräuchten sie ihr Schweigegebot nicht zu nehmen. Wie find ich jetzt Augustins Haus?“

Der Hund kratzte sich abermals, bellte eine Antwort und lief, sich immer wieder umsehend, in eine bestimmte Richtung. Ich folgte meinem vierbeinigen Lotsen. Vor dem letzten Haus, einem älteren efeuumwachsenen Gebäude, blieb er, eine Pfote erhoben, stehen. Ich stieg aus, versprach ihm eine Wurst, sollten sich unsere Wege nochmal kreuzen. Er nahm’s schwanzwedelnd zur Kenntnis und verzog sich. Ein schmaler Fußweg geleitete mich zur Tür. Da ich keine Klingel fand, betätigte ich den altmodischen Türklopfer mit Katzen- oder Löwenkopf. Merkte dann, die Tür war nur angelehnt und gab nach. Ich hörte Schritte, eine Stimme: „Heinrich der Seefahrer. Na, da bist du ja.“

„Ich komm nicht mit dem Schiff, sondern mit dem Auto.“

Der Spitzname hing mir seit der Schulzeit an. Damals war ich stolzer Besitzer eines maroden Ruderboots, mit dem ich auf dem Altrhein herumzuschippern pflegte. „Aber du konntest doch nicht wissen, dass ich ...“ sagte ich.

„Nein, aber ich hab gerade an dich gedacht.“

„Aus welchem Anlass?“

„Ich hab in einem alten Fotoalbum geblättert und das Abiturbild gefunden, du stehst in der Reihe unter mir, meine Hände liegen auf deinen Schultern, und wir grinsen beide etwas dümmlich.“ „Ich schon“, sagte ich, „aber du kannst gar nicht dümmlich grinsen. Du lächelst dezent-arrogant.“

„Und als ich den Türklopfer hörte, wusste ich: Er ist es.“

„Das gibt’s doch nicht.“

Augustin lachte. „Das gibt es wohl, und gar nicht mal selten.“

„Zufall“, sagte ich.

„Ja. Du bist mir zugefallen. Ins Haus gefallen.“

„Du hast einen Bart, Augustin.“

„Und du eine Glatze, Heinrich. Komm rein!“

*

Wir hatten eine Kleinigkeit gegessen - Brot, Schinken, Käse, dazu Wein getrunken. Er backe sein Brot selbst, sagte Augustin, dann wisse er, was drin - oder, wichtiger, was nicht drin sei, früher habe man ja gern mit Chinesenhaar die Krustenbildung gefördert. Welche Haare, oder was immer statt ihrer man heute nehme, wolle er gar nicht wissen.

Nun streckten wir die Füße zum Kaminfeuer. Es knisterte, Funken sprühten, Scheite knackten und glühten, und ich erzählte von den drei stummen Nonnen, die offenbar keine Lust gehabt hatten, mir den Weg zu zeigen. „Warum treiben die sich überhaupt hier in der Dunkelheit herum?“

„Haben sie gespuckt?“ fragte Augustin. „Gespuckt mit ck?“

„Nonnen haben zu beten, aber nicht zu spucken“, sagte ich. „Komische Frage.“

„Nicht so komisch, wie du denkst. Die drei gelten als nicht sehr freundlich im Umgang. Wo kommst du eigentlich her?“

Ich erzählte von meiner Heilfasterei am Bodensee.

„Warum tust du dir sowas an, Heinrich?“

„Weil ich das Gefühl hatte, allmählich nicht nur Fett, sondern auch Rost anzusetzen, innerlich zu verstauben, auf dem falschen Dampfer zu sitzen.“

„Und nun bist du entrostet, entstaubt und sitzt auf dem richtigen Dampfer?“

„Wird sich zeigen. Einige Leidensgenossen erklärten sich für neugeboren, andere, sie seien immer noch die alten Affen, nur um ein paar Kilo leichter. Der See war leider schon zu kalt zum Baden, aber das Wetter herbstlich-sonnig, und Pater Anselm Grün strahlte ununterbrochen Menschenliebe aus.“

Inzwischen war es ganz dunkel geworden, Wind kam auf, rannte ums Haus, und Augustin meinte, es sei wohl an der Zeit, ihn zu füttern.

„Dann war das dein Hund, der mich hergelotst hat?“

„Das ist nicht meiner, der schaut nur manchmal bei mir herein. Mein Hund wär eine Katze. Nein, ich meine den Wind, das himmlische Kind. Wenn der allzu stark oder allzu stürmisch und zu lange über die Flur weht, füttert man ihn mit Mehl und mit Salz. Eine uralte Sitte hier. Dann lässt er nach. Oder auch nicht. Vielleicht mag er weder Salz noch Mehl. Hörst du, was er brüllt? Bäumchen rüttel dich, Bäumchen schüttel dich!“

Der Wind wirbelte Blätter herunter für einen dürren Totentanz. Totentanz - warum fiel mir das Wort ein? Vielleicht, weil November war, ein Monat, in dem man seit alters her der Toten gedenkt, wenigstens die Älteren, die schon mehr Zeit hinter als vor sich haben. Oder weil ich mir fast vorkam wie in einer englischen Gruselgeschichte, die oft damit beginnt, dass zwei am Kaminfeuer sitzen, während draußen etwas umgeht in der Nacht etwas Unbekanntes, Ungenanntes, Unheimliches ...

Und ich dachte an das Märchen Das kalte Herz - „von wem ist das, Augustin?“ - von Wilhelm Hauff, das wir im Deutschunterricht gelesen hatten. „Tiefenhäusern“ sagte ich, „klingt nach Tanne und Fichte, nach Harz und Holz, nach Waldesstille und Einsamkeit. Wo kommt der Name denn her?“

„Da gibt’s mehrere Erklärungen, am besten gefällt mir die: Es gab vorzeiten zwei Häusern, eins oben auf dem Hang -Oberhäusern -, weiter unten Tief- oder Tiefenhäusern. Wobei der Unterschied zwischen oben und unten minimal war. Die Bewohner waren sich, wie das meist ist, spinnefeind. Die oberen wollten ihre Ruh, sie hassten Krach und Getöse, den unteren konnte es nicht laut genug sein. Auch waren die Oberhäuserner ein arrogantes Völkchen, sie hielten sich für die besseren Häuserner, schließlich wohnten sie näher am Himmel und also näher beim lieben Gott. Was die Tiefenhäuserner so fuchste, dass sie eines Tages hinaufzogen, bewaffnet mit allem, was Krach machen kann, Sensen, Schüsseln, Trommeln, Klingeln, Retschen, Hunden, Babies, Brüllaffen, Schellenbambeln, Pauken und Trompeten. Sie machten einen solchen Lärm, dass die Schallmauern, die die Oberhäuserner um ihre Häuser gebaut hatten, es den Mauern von Jericho nachmachten, einstürzten und alle Oberhäuserner mit Mann und Maus und Kind und Kegel unter sich begruben. Nun hatten die ihre Ruh. Seither gibt es nur noch Tiefenhäusern. Das Krachmachen liebt man immer noch, am jährlichen St. Anna-Fest geht es so laut zu, dass die Vögel von den Bäumen fallen.“

Ich fand, das sei wirklich mal eine originelle, ungemein überzeugende Ortsnamenerklärung.

Augustin warf ein paar Kiefernzapfen ins Feuer. „Du siehst, hier ist es gar nicht so harzig, holzig, still und einsam, wie der Name großartig behauptet. Überall wird auf Teufel komm raus gebaut, Häuser, Ferienwohnungen, Fabriken, Gewerbegebiete noch und noch. Bauern, Waldbesitzer, Gemeinde und Forstämter schlagen Bäume in einem wahren Abholzrausch. Holz bringt Geld in den Säckel. Und neben moosüberwachsenen Findlingen modern nicht nur Baumstrünke und Wurzeln, sondern alles, was der heutige Mensch, weil’s nichts kostet, gern im Wald entsorgt: Couchgarnituren, Kloschüsseln, Gießkannen und solches Zeug. Ich bin oft im Wald, der Brombeeren, Himbeeren und Pilze wegen. Aber was in einem Jahr noch da ist, das ist im nächsten verschwunden, meine schönen Pilzgebiete von Traktoren niedergewalzt. Wusstest du, dass es über hundert Jahre braucht, bis der mit schweren Maschinen zusammengedrückte Waldboden sich erholt hat?“

„Nein“, sagte ich, „aber wissen es die Traktoren?“

„Es ist ihnen egal.“

Er solle mir doch bitte nicht alle Illusionen nehmen, bat ich, schließlich lebe er doch in einer immer noch als idyllisch geltenden Gegend, in der andere Urlaub machten. Ich deutete auf ein sehr kleines, schlicht gerahmtes Bid überm Kamin: eine Wiese mit einer Kapelle, auf dem Dachreiterchen drei weiße Vögel, vermutlich Tauben, eine hohe Baumgruppe, in der Ferne weich geschwungene, sanft verblassende Bergkuppen. „Ist das hier in der Nähe?“

Um drei Ecken herum. Der Künstler, den er gut kenne, male einzigartige, aus dem üblichen Rahmen fallende Bilder.

Ich sah aber nichts aus irgendeinem Rahmen Fallendes, Unübliches, Einzigartiges.

Das täusche, sagte Augustin. Der Künstler - er verabscheue übrigens die Bezeichnung ‚Künstler’, er ziehe ‚Bildner’ vor - male ganz zeitvergessen oft wochenlang an einem Bild. Er verwende nur Farbstifte und lege stets viele Schichten übereinander. Die meisten Bilder seien kaum mehr als taschenbuchgroß.

„Was meinst du mit ‚einzigartig’?“

„Das Motiv.“

„Aber ich muss doch nur zu der Stelle gehen, wo man diesen besonderen Blick hat auf Kapelle, Wiese, Bäume, Berge ...“

„Ich war mit dem Bild in der Hand dort, wo er gesessen und gemalt hat. Alles weg, außer den Bergen. Keine Kapelle. Keine Tauben. Keine Bäume. Er hat die Schultern gezuckt, er sei ein durch und durch realistscher Bildner, der nur male, was er vor Augen habe, in diesem Fall eine Kapelle, drei Tauben auf dem Dach, die Baumgruppe, dahinter die Berge. Die Kapelle wurde übrigens vor Jahrhunderten auf einem uralten Gräberfeld erbaut. In Vollmondnächten, heißt es, kamen hier Hexen zusammen, tanzten um die Kapelle herum und zeigten ihr den nackten Hintern.“

Als Motiv fand ich das attraktiver als die Täubchen.

„Und als während der Reformation die Bewohner dieser Gegend lutherisch wurden, saßen immer sonntags drei weiße Tauben auf dem Dach und klagten, und aus den Dachtraufen floss, auch bei strahlender Sonne, Wasser.“

„Die Kapelle hat geheult?“

„Sie hatte allen Grund dazu. Nach einer alten Prophezeihung werde ein furchtbarer Weltkrieg ausbrechen, aber nicht, solange die Kapelle stehe. Sie wurde 1913 abgerissen.“

„Der Maler - pardon, Bildner - kannte natürlich die Sage.“

„Er hatte nie davon gehört. Seine Kapelle gleicht aufs Haar - ein schiefes Bild, denn Kapellen haben keine Haare - der abgerissenen, wie ich auf einem alten Stich gesehen habe. Seine Bilder zeigen Dinge - vergangene oder auch zukünftige -, die er sieht, ein anderer nicht. Er hält sich an Caspar David Friedrich, den er auch nicht kennt, der sagt, ein guter Maler male nicht nur, was er vor sich, sondern auch, was er in sich sehe. Sieht er aber nichts in sich, sollte er auch nicht malen, was er vor sich sieht. Mein Bildner hat auf eine Weise, die weder er sich, noch ich mir oder dir erklären kann, aber auch nicht will, seine innere Kapelle, auf deren Dach innere Tauben sitzen, umgeben von inneren Bäumen, nach außen projiziert und gemalt.“

„Ich hätte Lust, diesem kuriosen Bildner eines seiner zeitlosen inneren Werke abzukaufen.“

„Da wirst du dich vergucken. Er geizt mit ihnen, macht so hohe Preise, dass es die meisten abschreckt. Um leben zu können, repariert er Fahrräder, Rasenmäher und Schneefräsen. Und da ist noch etwas mit diesen Bildern.“

„Und das wäre?“

Weil Augustin nicht antwortete, machte ich mir darüber Gedanken, warum ich keine inneren Kapellen, innere Tauben oder sonst etwas Inneres hatte, das ich sehen konnte, und darüber, warum er offenbar nicht imstand oder willens war, mir zu erklären, was es noch mit den Bildern auf sich habe. Statt dessen schenkte er nach, einen Kaiserstühler Auggener Schäf, trocken, Jahrgang 98, leider gebe es im hohen Schwarzwald, im dunklen Tann, keine Weinberge. Noch keine, sagte er, aber wenn der Klimawandel sich etwas beeile - „Zum Wohl!“ Vor dem Misthaufen seiner Eierfrau, also der Frau, von der er seine Eier bekomme, wenn die Hühner gerade dazu aufgelegt und so glücklich seien, dass sie bereitwillig lieferten, stehe den Sommer über der Kübel mit einem Bananenbaum, und sein Nachbar schwärme von einer Kokospalme.

„Ich wüsste aber doch gern, Augustin, was noch Unerklärbares an diesen Bildern sein soll.“

„Manchmal verändern sie sich.“

Ich sah ihn von der Seite an. Er hatte sich einen merkwürdigen Humor zugelegt. „Wir haben lange nichts voneinander gehört. Ich weiß nur noch, dass du zu aller Verwunderung statt Germanistik oder Philosophie Theologie studiert hast. Aber offenbar ist kein Pfarrer aus dir geworden.“

„Gott sei’s gedankt. Nach vier Semestern hab ich umgesattelt. Die Theologie, vor allem die moderne, war, wie man so sagt, doch nicht mein Ding. Sie will mir zuviel erklären, was ich gar nicht erklärt haben will.“

„Und was machst du heute?“

„Ich bin Sammler.“

„Antiquitäten? Bücher? Moderne Malerei? Afrikanische Masken? Ein teures Hobby vermutlich.“

„Nichts, was du in eine Schublade legen oder an eine Wand hängen könntest. Was ich sammle, das krieg ich umsonst: Geschichten, die hier gewachsen sind. Leute kommen zu mir, hocken, wie du, in diesem urbequemen abgeschabten Sessel, sie erzählen mir was, ich erzähl ihnen was, oder auch nicht, wir schauen in die Flammen und hören zu, was die uns erzählen. Das bringt manchmal mehr als stundenlanges Gelabere. Erst vor ein paar Wochen saß ich mit einem am Kaminfeuer, wir wärmten Füße und Seelen, und er vertraute mir an, wie sehr er darunter leide, dass zwei mal zwei immer vier seien - für ihn so unerträglich phantasielos, dass er sich nachts schlaflos im Bett wälze und eine böse Zahlenallergie entwickelt habe.“

„Da kann ja wohl nur noch der Psychiater helfen“, sagte ich.

„Den braucht’s nicht. Ich hab ihm geraten, wenn ihn das störe wofür ich sehr wohl Verständnis hätte -, könne er sich doch einfach vorstellen, zwei mal zwei seien in Wahrheit hellgrün. Oder orangerot. Sonntags vielleicht dunkelblau. Was ihm einleuchtete. Er ging zufrieden nach Hause, konnte wieder ruhig schlafen, seine Allergie machte sich aus dem Staub und suchte sich einen anderen.“

Das fand ich ziemlich abartig.

Abartig? Man könne sich trefflich streiten, sagte Augustin, was das denn sei, abartig oder, wie man auch sage, aus der Norm fallend. Normen seien nicht in Stein gemeißelt wie die zehn Gebote, sie seien wie Menschen, könnten sich ändern, und sie täten es auch.

Aber streiten wollte ich mich nicht mit ihm, schon gar nicht trefflich. Ich wusste noch, Augustin hatte immer die schlagenderen Argumente. Hier sei es ja ganz schön für ein paar Urlaubstage sagte ich leicht verstimmt, aber um ständig hier zu leben - nichts für mich, ich bräuchte doch etwas mehr Anregung und Abwechslung, mehr Gesellschaft, Jubel, Trubel ...

„Jedem das Seine, Heinrich. Das Meine sind lange Weilen, die ich liebe und genieße.“

„Aber wenn so gar nichts passiert - fällt dir da nicht manchmal die Decke auf den Kopf?“

Ab und zu passiere schon mal etwas. Nichts Spektakuläres, aber alltäglich sei es nun auch wieder nicht. So habe man vor ein paar Tagen ganz in der Nähe einen Fund gemacht. Er legte ein Scheit nach. „Gut abgelagert, das Holz ist mindestens drei Jahre alt.“

„Was war’s denn?“

„Buche. Mein Gärtner liefert es schon in handliche Scheite gespalten. Der ganze Schopf ist voll, der Vorrat reicht für ein paar Jahre und ein paar hundert Kaminfeuer.“

Was man gefunden habe, fragte ich ungeduldig.

„Ach, nichts Besonderes. Nur einen Toten. Ganz schön teuer übrigens, das Holz. Tanne ist billiger.“ „Und wo lag der arme Kerl?“

„Im Moor.“

„Klingt gut. Ich meine, klingt unheimlich.“ Ich war etwas aufgekratzt, die Wiedersehensfreude, das Kaminfeuer, der Wein, die Atmosphäre, und fand nicht den angemessen ernsthaften Ton. Ein Toter, immerhin. Augustin schien das nicht groß zu jucken. Ein teures, gut abgelagertes handliches Buchenscheit fiel vom aufgeschichteten Holzstoß, Funken stoben.

„Weiß man, was der Mann im Moor gesucht hat?"

„Man weiß, was er gefunden hat."

„Nämlich?“

„Den Tod.“

Ein Funke flog auf die Steinplatte vor dem Kamin und verglühte langsam. Er trat ihn aus. „Seine Augen waren aufgerissen, das Gesicht verzerrt vor Entsetzen. Neben der Leiche sah man ...“ „Nun?“

„Spuren.“

„Schuhabdrücke?“

„Der Täter trug keine Schuhe.“

„Bei der Kälte? Und auch noch im Moor?“

„Der geht immer barfuß.“

Ein Zweig schlug ans Fenster. Ich fuhr zusammen, was mich ärgerte, ich bin nicht schreckhaft. „Lass mich raten“, sagte ich munter. „Es waren die Spuren eines riesigen Hundes.“

„Wie bist du auf den Hund gekommen?“

„Ich dachte an den naheliegenden Hund von Baskerville.“

„Der liegt nicht nah, der heult durch Conan Doyles berühmte Sherlock Holmes-Geschichte. Wir sind hier ja nicht im englischen Dartmoor, Heinrich, wir sind in Südbaden, im Hochschwarzwald. Und der Fall ist rätselhafter als der dieses nur grün angestrichenen, im Dunkeln phosphoreszierenden Hundes. Nein. Es waren die Spuren ...“ Ein weiteres Scheit flog ins Feuer. Das hier sei ...

„Buche“, sagte ich, „gut abgehangen - vielmehr, gut gelagert, von deinem Gärtner schon in handliche Scheite gespalten und ziemlich teuer.“

„Nein, Tanne. Letztes Jahr stand sie noch in meinem Garten, ich musste sie umsägen lassen, weil die Bäume hierzuland gern auf die Idee kommen, einem beim nächsten Orkan aufs Dach zu fallen. Tannenholz knackt mehr als Buche. Hörst du’s?“

„Lass dir nicht die Würmer aus der Nase ziehen, Augustin! Es waren die Spuren ...“

„Wenn du’s unbedingt wissen willst: Es waren die Spuren einer riesigen Katze.“

Die Tannenscheite knackten eifrig. Augustin blies in die Flammen, die wieder aufloderten.

„Wie riesig?“

„Die Tanne? An die fünfzehn Meter.“

„Die Katzenspuren, Mensch. Aus der Größe der Spuren kann man doch auf die des Katzenviechs schließen.“

„Ganz recht, Heinrich. Demnach muss das Katzenviech wohl an die zweimeterfünfzig, womöglich auch nur zweifünfundvierzig von der Schwanz- bis zur Schnauzspitze messen.“

„Du hast uns ja schon damals gern auf den Arm genommen, Augustin. Aber wenn’s dir Spaß macht ...“ „Dem Toten hat es vermutlich keinen Spaß gemacht.“

„Und so ein Viech läuft hier frei rum? Aus welchem Zoo oder Zirkus ist das ausgerissen?“