Geheimnisse - Rena Brauné - E-Book

Geheimnisse E-Book

Rena Brauné

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Beschreibung

Im Buch "Geheimnisse" sind >Neun Geschichten< über Lügen, Liebe , Hass und viele Geheimnisse, wie sie in jeder guten Familie vorkommen. Manchmal endet es tragisch wenn ein Geheimniss ans Licht kommt , ab und zu sogar mit dem Tod. Und man fragt sich was ist gefährlicher eine Lüge zu leben oder die Wahrheit zu sagen. Nicht immer ist die Wahrheit das Beste.

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Seitenzahl: 240

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Die Geschichten mit ihren Personen, Namen, Handlungen und Ereignissen sind frei erdacht. Ähnlichkeiten mit der Wirklichkeit sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Über die Autorin

Oft kommt das Funkeln eines Schmuckstücks aus einem kaum bemerkten Detail. Diese Erkenntnis aus ihrem Beruf als Schmuck-Designerin hat Rena Brauné in ihr Schreiben mitgenommen. Winzige Details im Miteinander von Menschen beflügeln ihre Fantasie. Ihre Erzählungen und Romane sind so bunt, freundlich und voller Liebe und so traurig, dramatisch und gemein wie das richtige Leben – das Miteinander besteht ja nicht nur aus Harmonie und Freude, sondern auch aus Problemen und Auseinandersetzungen.

Auch das Leben der Autorin, die mit ihrem Mann seit Jahren in Norderstedt lebt, war alles andere als gleichförmig. Die beiden führten zwei Juweliergeschäfte, bevor sie für 16 Jahre in ein abgeschiedenes Tal in Portugal zogen und dort ein altes Haus mit großem Garten in ihr persönliches Paradies verwandelten. Mit dem Garten begann hier auch Braunés Fantasie und ihre Leidenschaft fürs Schreiben aufzublühen.

Zum Inhalt des Buches:

Neun Erzählungen, in denen es um Geheimnisse und Lügen und um deren Folgen geht.

Inhalt

Auf dem Friedhof

Schwarze Witwe

Hoffnung

Das Buch

Der Hochzeitstag

Der Mann im Park

Paul

Die alte Bank

Chez Henri

Auf dem Friedhof

Erleichtert öffne ich den kleinen Klappstuhl und lasse mich darauf sinken.

Heute bin ich etwas später dran als sonst bei meinen Besuchen auf dem Friedhof. Weil meine liebste Kollegin mit ihrer Arbeit nicht fertig wurde, hatte ich mal wieder einspringen müssen.

„Ach, Annemarie,“ hatte mich mein Chef angesprochen, „auf Sie wartet ja keine Familie. Bitte machen Sie doch die Aufträge von Gisela mit fertig, sie muss ihren Sohn von der Kita abholen und Sie wissen ja, wie wichtig die Aufträge sind.“ Ich hatte vorher gesehen, wie die beiden miteinander tuschelten, und hatte mir das schon gedacht, Na, wenigstens hatte er „bitte“ gesagt. Und immerhin war ich schneller mit Giselas Arbeiten fertig geworden als gedacht und hatte es gerade noch rechtzeitig geschafft, die bestellten Blumen für das Grab meiner Mutter abzuholen.

Tief atme ich ein, der leichte Wind trägt schon den Geruch herbstlichen Laubes. Ich horche auf den Gesang der Vögel und freue mich an den vorbeihuschenden Eichhörnchen, schon jetzt sammeln sie für ihren Wintervorrat. Dieses Jahr sind besonders viele Eicheln und Kastanien gereift und wenn die alte Bauernregel stimmt, wird es einen sehr kalten und schneereichen Winter geben. Ich schließe meine Augen, genieße den Augenblick des Friedens und bin mit mir im Reinen.

Dass ich keinen Menschen mehr auf der Welt habe, der mir nahesteht, belastet mich nicht, auch wenn mir das immer wieder von meinen Kollegen unter die Nase gerieben wird. Als wenn es ein Verbrechen ist, alleine zu leben! „Du musst mehr unter Leute gehen, sonst lernst du doch nie einen Mann kennen! Oder melde dich bei einer Dating-App an, da findest du bestimmt jemanden, der zu dir passt. Du bist doch noch jung! Willst du denn keine Kinder haben? Also für mich wäre das nichts, immer so allein.“

Was wissen die denn schon! Mit Mitte dreißig bin ich natürlich noch nicht zu alt für Kinder, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich überhaupt welche haben möchte, denn die Jahre mit meiner Mutter waren wahrlich kein Zuckerlecken und haben mich ziemlich ausgelaugt. In den zwei Jahren seit ihrem Tod musste ich erst einmal zu mir selbst finden, da hätte ein Partner nur gestört, und ich musste darüber nachdenken, wie ich mein Leben gestalten wollte. Denn es war nicht mein Leben gewesen, das ich früher gelebt hatte, sondern das meiner Mutter.

Solange meine Mutter lebte, hatte es nicht einen Tag ohne Genörgel, ohne Forderungen und ohne Anklagen von ihr gegeben. „Du hast mir meine Jugend und meine Schönheit gestohlen! Du bist egoistisch und lässt mich hier immer allein! Wer weiß, was du bei anderen Leuten alles über mich erzählst, sicher nur Lügen! Ach, hätte ich dich doch abgetrieben, dann hätte ich mir alle Leiden erspart!“

So ging das Tag für Tag in immer abgewandelter Form und immer ließ sie sich neue Vorwürfe einfallen. Freundlich war sie zu mir nur, wenn wir zusammen ausgingen oder zum Shoppen unterwegs waren. In der Öffentlichkeit musste ich dann allerdings immer so tun, als sei ich ihre jüngere Schwester. „Wehe, du sagst Mama zu mir,“ wurde ich von ihr gewarnt.

Als ich mich mit zwanzig verliebt hatte, wurde es noch schlimmer. Ich hatte meinen Freund mit nach Hause gebracht und ihr gesagt, dass ich nicht mehr so viel Zeit mit ihr verbringen würde, weil ich mit ihm zusammensein wollte. Von da an war meine Mutter dauernd krank und ich musste immer wieder ihretwegen Verabredungen mit meinem Freund absagen. Als der das irgendwann nicht mehr aushielt und sich von mir trennte, hielt sie mir genüsslich vor: „Ich habe dir ja gleich gesagt, dass er nichts taugt, eingebildet und egoistisch, wie er ist. Wenn er vor einer kranken Mutter keinen Respekt hat, soll er doch wegbleiben. Wir können es doch auch so schön zusammen haben, wir brauchen keine Männer!“

Ich aber war tieftraurig und innerlich völlig zerrissen. Denn ich hatte nicht das Gefühl gehabt, dass mein Freund egoistisch und eingebildet war. Was mein Verhältnis zu meiner Mutter anging oder besser gesagt ihres zu mir, hatte er allerdings eine sehr klare Meinung. Ich konzentriere mich zu sehr auf meine Mutter und die würde seiner Ansicht nach auch ohne mich zurechtkommen und mich nur ausnutzen.

Bei einem Treffen, das unser letztes sein würde, erzählte er dann, seine Eltern hätten meine Mutter einen Tag, nachdem ich wieder eine Verabredung mit ihm wegen ihrer Erkrankung abgesagt hatte, im Café gesehen. Vergnügt habe sie mit dem Kellner geflirtet, ohne jedes Anzeichen von Unwohlsein oder Schwäche.

„Sie will dich nur an sich binden und gönnt dir deine Freiheit nicht,“ erklärte er mir, „lass uns doch zusammenziehen.“

Empört hatte ich entgegnet: „Deine Eltern müssen sich geirrt haben, denn an dem Abend habe ich meiner Mutter das Essen an ihr Bett bringen müssen, weil sie zu schwach zum Aufstehen war.“

Ein Wort hatte dann das andere gegeben, bis er meinte, es sei wohl besser, wir würden uns trennen, denn gegen meine verlogene Mutter käme er nicht an.

„Verlogene Mutter“ - keiner durfte so über meine Mutter sprechen! Ich war damals geradezu froh, als er ging und auf Nimmerwiedersehen aus meinem Leben verschwand. Aber ich sollte später noch bereuen, dass ich ihm damals nicht geglaubt hatte.

Meine Mutter und ich blieben also zu zweit. Weil sie immer öfter zusammenbrach und sich nicht mehr allein fortbewegen konnte, pflegte ich sie. Ihr Arzt erklärte mir, man wisse noch zu wenig über die Behandlungsmöglichkeiten dieser Art Erkrankungen, irgendwann würde meine Mutter vielleicht sogar nach einem Rollstuhl verlangen. Und so war es dann auch, selbst im Haus bewegte sich meine Mutter nicht mehr ohne ihn.

An den Wochenenden half ich meiner Mutter in mein Auto und fuhr mit ihr ins Grüne, damit sie Abwechselung hatte. Ich nahm sie mit in Urlaub, natürlich in barrierefreie Hotels. Ein Dankeschön von ihr bekam ich nicht für meinen Einsatz, stattdessen erging sie sich ohne Ende weiter in Beschimpfungen und Hasstiraden gegen mich. Ich ertrug es.

Und dann, vor zwei Jahren, änderte sich alles auf einen Schlag.

Ich hatte mir einen Virus eingefangen und schon gegen Mittag meinen Arbeitsplatz verlassen, um mich zu Hause mit einer Wärmflasche ins Bett zu legen. Schon vor der Haustür hörte ich zu meiner Verblüffung Musik von ABBA aus dem Haus schallen, so laut, dass selbst ein Aufbrechen der Tür ungehört geblieben wäre. Im Wohnzimmer sah ich dann meine Mutter, die geschmeidig und voller Hingabe mit geschlossenen Augen tanzte. Ich konnte kaum glauben, was ich sah. Stumm schaute ich ihr zu.

Meine Mutter bemerkte mich erst, als sie sich nach dem letzten Ton der Musik umdrehte. Mit einem Schreckensschrei erstarrte sie, um sich gleich darauf in Erklärungen zu ergehen: Gerade habe sie eine Phase, in der es ihr gut gehe und sie keine Schmerzen habe, und die wolle sie auskosten, sie wisse ja nie, wie lange sie ohne Schmerzen sein würde. Ihre Bewegungen solle ich nicht falsch interpretieren, sie wolle damit nur erreichen, dass sie nicht völlig bewegungslos enden müsse. „Dann müsstest du deinen Beruf ja aufgeben, um mich auch tagsüber zu pflegen,“ jammerte sie, „und ich weiß doch, wieviel er dir bedeutet. Sicher würdest du alles für mich tun, aber ich habe auch meinen Stolz und deswegen versuche ich mich beweglich zu halten, so gut es geht.“

Angeekelt ließ ich sie stehen. Ihr fortgesetztes Kreischen „Du tust mir Unrecht“ verfolgte mich auch oben in meinem Zimmer noch, aber ich hatte ihr böses Spiel endlich begriffen.

Ich packte eine kleine Tasche und verließ das Haus. In meiner Firma meldete ich mich zum allgemeinen Erstaunen für eine Woche Urlaub ab, dann brach ich Richtung Nordsee auf, um meinen Kopf wieder frei zu bekommen. Mein Handy hatte ich ausgeschaltet, denn wer außer meiner Mutter hätte mich schon anrufen sollen und mit ihr wollte ich auf gar keinen Fall sprechen.

Im Geiste ging ich nicht nur mit ihr, sondern auch mit mir hart zu Gericht. Als ich mir die Jahre, die ich nur für sie gelebt hatte, ins Gedächtnis zurückrief, kam ich zu dem Ergebnis, dass mir schon früher etwas hätte auffallen und dass ich sie vor Jahren schon hätte zur Rede stellen müssen. Gewissermaßen trug ich eine Mitschuld, weil ich einfach die Augen verschlossen hatte. Oder hatte ich vielleicht das Gefühl sogar genossen, mich für sie aufzuopfern und auf mein eigenes Leben zu verzichten? Wenn ja, warum? Darüber würde ich mir noch Gedanken machen müssen, im Augenblick war mir nur klar, dass ich so nicht mehr weitermachen würde.

Aber wie weit wollte ich gehen? Einen klaren Schnitt machen und sie nie wieder sehen? Oder nur ein klärendes Gespräch mit ihr darüber führen, dass sie mich über Jahre belogen und vorgeführt hat, und auf eine Verhaltensänderung bei ihr hoffen? Weiter mit ihr unter einem Dach leben, aber keine Pflege mehr leisten? Ich haderte mit mir. Am letzten Urlaubstag fasste ich einen Entschluss: In Gegenwart ihres Arztes würde ich mit ihr reden und klarstellen, dass ich mir die Lügen und Vorwürfe nicht mehr gefallen lassen würde. Und ich würde eine eigene Wohnung mieten und meine Mutter gelegentlich nur noch besuchen.

Also rief ich bei ihrem Arzt an, um ein Treffen zu vereinbaren. „Warum hast du dich nicht früher gemeldet,“ war das erste, was er zu mir sagte, „ich habe es zigmal versucht, aber dein Handy war aus, jetzt ist es zu spät.“

„Zu spät? Wieso zu spät? Ich will mit meiner Mutter darüber sprechen, wie es weitergehen soll, und ich möchte, dass Sie dabei sind, denn mir alleine wird meine Mutter nicht zuhören.“

„Das kann sie sowieso nicht mehr, denn sie ist tot! Sie hat drei Packungen Tabletten genommen, nachdem sie dich zwei Tage lang vergeblich zu erreichen versucht hat. Ich hatte ihr noch gut zugeredet, das wird sich schon wieder einrenken, habe ich ihr gesagt, und ich hatte den Eindruck, sie glaubte mir. Übers Wochenende waren meine Frau und ich dann weggefahren, um unseren Hochzeitstag zu feiern, und ich hatte natürlich mein Handy ausgemacht. Als ich es dann am Sonntagabend wieder anschaltete, fand ich eine Sprachnachricht von deiner Mutter vor, so nuschelig, dass ich kein Wort verstand, als ob sie betrunken gewesen war. Auch meine Frau meinte, dass sie ihren Rausch erstmal ausschlafen sollte. Als ich dann Montag früh nach ihr schaute, war sie tot. Sie hat einen Brief für dich hinterlassen, den ich an mich genommen habe.“

Typisch. Berechnend wie meine Mutter war, hatte sie tatsächlich Tabletten geschluckt und dabei darauf gesetzt, dass ihr Arzt sie rechtzeitig finden würde. Nur dass ihr Plan dieses Mal nicht aufgegangen war. Und was ihren Brief an mich anging: Darin bat mich meine Mutter nicht etwa um Entschuldigung dafür, dass sie mich jahrelang an der Nase herumgeführt hatte. Nein, sie erging sich nur wieder in den üblichen Vorwürfen und hatte sich sogar neue ausgedacht: Ich sei lebensuntüchtig, ohne sie würde ich längst unter die Räder gekommen sein. Undankbar sei ich außerdem, immer hätte ich sie vernachlässigt. Aber sie verzeihe mir, denn ich sei ja ihr Fleisch und Blut. Ich dürfe auch wieder zu ihr zurückkommen und weiter bei ihr wohnen. Unterschrift: „Deine dich liebende Mutter“, das Wort „Mutter“ dick unterstrichen.

Zwei Jahre habe ich trotzdem gebraucht, bevor ich meine Schuldgefühle ihr gegenüber losgeworden bin. So lange habe ich mir mein Leben weiter von meiner Mutter diktieren lassen. Geholfen bei meiner Befreiung hat mir auch ein Gespräch mit ihrem Arzt, der mir erklärte, er habe meiner Mutter oft ins Gewissen geredet, dass sie ihr mieses Spiel beenden solle. Er habe ihr sogar gedroht, dass er mir alles erzählen würde, aber sie habe ihn nur ausgelacht und an die ärztliche Schweigepflicht erinnert.

Nun endlich, nachdem ich nicht mehr die Schuld für den Tod meiner Mutter bei mir suche, kann ich anfangen, mein Leben selbst zu gestalten. Ich habe das Gefühl, es wird Zeit, die Flügel auszubreiten, und überlege seit einiger Zeit ernsthaft, meinen Job zu kündigen, alles hinter mir zu lassen und eine Weltreise zu unternehmen. Finanziell bin ich abgesichert, das Haus gehört mir und auf der Bank liegt genug Geld, um es auszugeben.

Aber jetzt will ich erst einmal die neuen Pflanzen auf dem Grab meiner Mutter verteilen. Wie würde es ihr am besten gefallen, die Erika in die Mitte und die Astern drum herum? Oder umgekehrt? Ach, egal, ich mache es so, wie es mir am besten gefällt, basta.

Plötzlich eilen hinter mir kräftige Schritte von Damenpumps vorbei. Die dazugehörige Frau im eleganten kamelhaarfarbenen Mantel mit kleinem Nerzkragen und mit einem dicken Strauß roter Rosen im Arm macht zwei Grabstellen weiter Halt. Hier liegt seit zehn Jahren ein Mann begraben, hatte ich auf dem Grabstein gelesen. Kerzengerade steht die Frau da und wirft ihren Strauß achtlos auf die Grabstelle. Nun erkenne ich erst, dass es Seidenrosen sind - wie praktisch, denke ich, sollte ich vielleicht auch machen, statt mich mit jahreszeitlicher Grabbepflanzung abzumühen. Leises Gemurmel klingt zu mir herüber - betet die Frau? Oder spricht sie mit ihm? Das fände ich nach zehn Jahren erstaunlich. Aber genauso ist es, merke ich.

Wobei sprechen vermutlich das falsche Wort für das ist, was ich höre, denn aus ihrem Gemurmel sind laute Anklagen und Schimpftiraden geworden: „Nie hast du mir Rosen geschenkt. Viel zu teuer und nur ein paar Tage schön, war dein Argument. Ab und zu mal einen Blumentopf, das musste reichen. Auch unseren Hochzeitstag hast du regelmäßig vergessen. Oh, was warst du geizig! Keine größere Reise, das war dir zuwider, nur zu deinen Verwandten nach Bayern. Nicht einen Cent hast du ihnen dafür bezahlt. Mir war das immer sehr peinlich. Bei Familie bezahlt man nicht, das gehört sich nicht, war dein Argument!“

Sie schüttelt ihren Kopf und hebt die Handflächen und pustet darüber, als wenn er sich darauf befände und wegfliegen solle. „Du hast dich nur für die Börse und deinen Computer interessiert. Komplimente für mein Aussehen bekam ich von dir nie. Wenn ich dich fragte: 'Wie gefalle ich dir?', sagtest du, in Gedanken völlig abwesend, 'Ja, ja, ganz nett.'“ Die letzten Sätze hatte sie fast geschrien. Ihr Gesicht ist inzwischen hochrot und ihr Atem geht stoßweise. Ab und zu stampft sie mit ihren schicken Pumps auf den Boden. Hoffentlich bekommt sie keinen Herzinfarkt, geht mir durch den Kopf, und: Vielleicht hat er seiner Frau auch alle Lebensfreude genommen, so wie meine Mutter mir.

„Aber wie du siehst, jetzt habe ich das Vergnügen, dein Geld auszugeben. Und du kannst dich darauf verlassen, ich gebe es aus. Nicht mit vollen Händen, wie du immer meintest. Nein, wohldosiert. Und ich genieße es jeden Augenblick, dass du das nur weißt! Und frische Rosen habe ich immer um mich.“ Leicht, fast spielerisch, fasst sie an ihren kleinen Hut, an dem eine frische rosa Rose angesteckt ist.

Dann wird sie plötzlich ruhig und sagt leise: „Ach, was soll ich nur mit dir machen? Irgendwie fehlst du mir doch.“ Sie nimmt den Rosenstrauß aus Seide auf und ordnet die Blumen sorgfältig in einen grünen Krug. Zart streicht sie über die Blüten. Dann erhebt sie sich, rückt ihr Hütchen zurecht, klopft sich den Sand von ihren Pumps und wendet sich mir zu: „Auch ihr Mann?“ und zeigt, wenig damenhaft, mit ausgestrecktem Zeigefinger auf das Grab, bei dem ich stehe.

„Nein, meine Mutter!“

„Oje, das ist schrecklich. Einmal Tochter, immer Tochter. Ich habe jetzt ein Jahr wieder Ruhe. Bis zum nächsten Hochzeitstag. Heute wäre der fünfzigste. Es erleichtert mich jedes Mal sehr, wenn ich alles rauslassen kann, was ich während meiner Ehe geschluckt habe.“

Während sie „Mit sechsundsechzig Jahren, da fängt das Leben an, mit sechsundsechzig Jahren, da hat man Spaß daran“ trällert, eilt sie davon.

Erstaunt schaue ich ihr hinterher. Wow, was für eine Frau! Inspiriert wende ich mich dem Grab meiner Mutter zu. „So Mama,“ sage ich energisch, „Du hast es gehört! Ab jetzt werde ich nicht mehr alle vierzehn Tage zu dir kommen. Einmal im Jahr wird auch reichen.“

Leise „Mit sechsundsechzig Jahren“ summend pflanze ich die Herbstblumen ein. „Mit meinem nächsten Besuch werde ich allerdings kein Jahr warten, Mama. Zu Weihnachten bringe ich dir ein hübsches Gesteck, Kunstblumen, und dann gehe ich auf Weltreise. Und gleich, wenn ich hier fertig bin, werde ich mich zum Tangotanzen anmelden. Das wollte ich schon immer, tanzen und die Welt vergessen. Bis sechsundsechzig möchte ich nicht damit warten.“

Als ich zurück zum Parkplatz gehe, frage ich mich, wie viele der Menschen, an deren Grabsteinen ich vorüberkomme und die hier in Frieden ruhen, zu Lebzeiten ihren Mitmenschen das Leben zur Hölle gemacht und ihnen Unfrieden bereitet haben. Dass ich mit dieser Erfahrung offensichtlich nicht alleine bin, ist ein befreiendes Gefühl.

So froh

wie noch nie

verlasse ich den Friedhof.

Schwarze Witwe

Behutsam hob Erich die beiden Kisten mit Blumen aus seinem Kofferraum. In der unteren Kiste befanden sich Stiefmütterchen, in der oberen Narzissen. Sorgfältig hatte er die Pflanzen in seiner Gärtnerei ausgesucht, die er gleich seiner Gastgeberin übergeben würde, bei der er zum Kaffee eingeladen war. Seit dem Tod seiner Frau vor zwei Jahren führte sein Sohn die Firma, dadurch war Erich zeitlich nicht mehr so stark in der Gärtnerei gefordert und konnte seine Zeit meist frei einteilen. Oft nutzte er sie für seine Liebhaberei, die Zucht von neuen Orchideen. Schon immer war er von der Vielfalt dieser geheimnisvollen Pflanzen fasziniert gewesen und hatte deshalb damals die Studienfächer Botanik und Biologie an der Universität belegt. Mit diesem Studium hing es nun auch zusammen, dass er unterwegs zu Barbara war. Barbara, genannt Babsi, die er damals an der Uni kennengelernt hatte und in die er verliebt gewesen war.

Mehr als zwanzig Jahre hatte er nichts von ihr gehört und war sehr überrascht gewesen, als sie ihn letzte Woche anrief. Ihn, den kleinen Erich, wie sie ihn früher immer genannt hatte. Ja, er hatte kein Gardemaß, das wusste er selber, aber sie wusste auch von seiner Verliebtheit in sie und deswegen kränkte ihn ihr Name für ihn besonders. Andererseits war sie mit anderen Männern noch viel gemeiner umgegangen, hatte ihnen immer Hoffnungen und verliebte Augen gemacht, wenn es ihr Vorteile brachte, aber sowie sie hatte, was sie wollte, ließ sie sie fallen wie eine heiße Kartoffel und lachte sie aus.

Zu ihm, Erich, war sie immer gekommen, wenn sie bei schriftlichen Arbeiten Hilfe brauchte, und das hatte er nur zu gern für sie übernommen. Erst einmal hatte er tatsächlich geglaubt, sie würde ihn mögen, aber dann hatte sie ihm ihr wahres Gesicht gezeigt und ihn bitter enttäuscht.

Irgendwann war Babsi an der Uni nicht mehr aufgetaucht und es machten viele Gerüchte die Runde: Sie sei schwanger. Sie sei im Ausland. Sie habe den Vater eines Studenten verführt und damit dessen Ehe zerstört, beide seien mit seinem Vermögen gemeinsam auf und davon. Es waren wilde Spekulationen im Umlauf, aber keiner wusste etwas genaues. Und jetzt war Babsi also zurück und hatte bei ihrem Anruf so vertraut getan, als wenn sie sich letzte Woche gerade noch an der Uni getroffen hätten.

Sie erzählte ihm, dass sie nach jahrelangem Aufenthalt im Ausland nun endlich wieder in ihre alte Heimat zurückgekommen sei und bleiben wolle. Sie sei in die Eigentumswohnung ihres vor kurzem verstorbenen Mannes gezogen. Ganz fertig eingerichtet sei sie noch nicht, da sie sich von einigen der alten spießigen Möbelstücke getrennt habe, aber es wäre schon ganz wohnlich. Allerdings sei der Balkon noch sehr kahl, nicht eine einzige Blume in den Kästen und das gerade jetzt zur Frühlingszeit, dabei würde er, Erich, sich doch mit Sicherheit erinnern, wie sehr sie Blumen liebe. Sie würde sich wahnsinnig freuen, ihn zu treffen, sagte sie und lud ihn zu sich zum Kaffeetrinken ein, um über alte Zeiten zu plaudern. Den Wink mit dem Zaunpfahl verstand er wohl, Blumen für den Balkon wollte sie haben, gut, das war kein Problem.

Bei der Auswahl der Pflanzen hatte Erich sich besondere Mühe gegeben, denn er wollte Babsi nicht enttäuschen. Die beiden Blumenkisten stellte er auf dem Gehweg ab, um seine Umhängetasche mit der Flasche Champagner und dem dicken Rosenstrauß aus dem Auto zu angeln. Als er die Kisten gerade wieder aufnehmen wollte, kam Bernd, ein früherer Kommilitone und größter Angeber der Uni, mit einem breiten Grinsen auf ihn zu.

Bernd! Der hier! Was machte der denn hier? Will der etwa auch zu Babsi? Hatte Babsi den etwa auch eingeladen?

Mit Genugtuung sah Erich, dass der elegante Bernd, wie er sich früher selbst gern nannte, in den Jahren Federn gelassen hatte. Seine frühere dicke, dunkle Haarpracht hatte sich deutlich gelichtet und war inzwischen so pechschwarz, dass sie nur gefärbt sein konnte. Auch seine Anzugjacke war nicht mehr nach dem neusten Schnitt und spannte außerdem über dem Bauch. Erich konnte also zufrieden mit sich selbst sein: Seine Haare waren zwar inzwischen schneeweiß, aber immer noch dick und üppig, auch seine Figur war schlank wie früher und ihm würde sogar noch seine Kleidung von vor dreißig Jahren passen. Die hatte er natürlich mittlerweile längst aufgetragen und durch neue in derselben Größe ersetzt. Trotzdem hatte er sich angesichts der Einladung zu Babsi noch ein Oberhemd und einen leichten Pullover gekauft und fühlte sich richtig wohl in der saloppen Kleidung.

Inzwischen war Bernd bei Erich angekommen und klopfte ihm vertraulich auf die Schulter: „Hallo, altes Haus, schön dich zu sehen. Na, gib mir mal die schwere Tasche, dann hast du die Hände für die Blumenkisten frei.“ Mit Schwung nahm er Erich die Tasche ab und hängte sie sich mit einem Lachen um. Das war so schnell gegangen, dass Erich noch nicht einmal ein Wort der Erwiderung vorbringen konnte. Ach, was soll's, dachte Erich, soll er doch die Tasche tragen, mein Geschenk bleibt es ja trotzdem.

Als er sich jedoch zu den Blumenkisten hinunterbeugte, bekam er einen so kräftigen Schubs von hinten, dass er vornüber fiel und mit dem Gesicht auf das Pflaster schlug. Mit einem „Ups“ und „mach dir nichts draus, Alter“, eilte Bernd mit langen Schritten davon.

Mühsam rappelte Erich sich hoch, ihm war schwindelig und er musste sich an seinem Auto abstützen. Er merkte mit Schrecken, dass sein unteres Gebissteil zerbrochen war und er Nasenbluten hatte. Der neue Pullover war blutig, seine Kleidung insgesamt verschmutzt, die Blumen in den Kisten waren zerdrückt und abgebrochen. So würde er nicht zu Babsi gehen können und das war es wohl auch, was Bernd hatte erreichen wollen, denn jetzt würde der mit dem Champagner und den Rosen als der große Gönner und Weltmann dastehen und Erich als Idiot.

Als Erich zu Babsis Balkon hochschaute, sah er sie dort stehen und zu ihm hinunterschauen. Lässig winkte sie ihm zu und als sie ins Zimmer zurücktrat, schien es Erich so, als wenn sie in die Hände klatschte. Sie dürfte also seine Schmach gesehen haben und wissen, was Bernd getan hatte. Wahrscheinlich hatte sie sogar ihre Freude daran gehabt. Das war schon an der Uni immer so gewesen, plötzlich waren bei Erich wieder viele Erinnerungen an damals präsent. B+B, wie die beiden zu Studienzeiten genannt wurden, hatten sich in vielem ergänzt, vor allem, was Gemeinheiten anging.

Im Stillen hatte er sich ja auch gewundert, dass Babsi ausgerechnet ihn angerufen hatte und mit ihm Kaffee trinken wollte, aber er hatte sich auch ein bisschen gebauchpinselt gefühlt. Das müsse doch etwas bedeuten, hatte er gedacht! Ja, jetzt wusste er, was es bedeutete, die beiden waren mit ihrem Verhalten wieder in den Studienjahren angekommen und er musste sich auf weitere Gemeinheiten gefasst machen, denn manche Menschen ändern sich nie. Mit Sicherheit hatte Babsi sogar alles so arrangiert, dass Bernd und er aufeinander treffen mussten, und hatte sich schon vorher ausgemalt, was alles passieren könnte, und sich im Vorfeld schon köstlich amüsiert. Aber sie würde sich täuschen, Erich war nicht mehr der kleine Student, den man vorführen konnte, wie es einem passte, ohne dass es Konsequenzen hätte!

Heftige Wut stieg in Erich hoch, am meisten ärgerte er sich über sich selber, denn er hätte es sich doch denken können, dass Babsi sich nicht geändert hatte. Auch damals hatte sie ihn wie einen Deppen aussehen lassen und er schwor sich, dieses Mal würde er sich rächen. Und auch der gemeine Bernd würde sein Fett wegkriegen, die beiden würden sich noch wundern.

Als er sich erneut nach den Pflanzenkisten bückte, wurde ihm wieder schwindelig und wieder musste er sich am Auto festhalten. Eine junge Frau kam auf ihn zu und fragte: „Kann ich Ihnen helfen? Soll ich einen Krankenwagen rufen?“ – „Nein, es geht schon wieder, danke. Aber vielleicht möchten Sie die Pflanzen haben? Sie sind zwar etwas lädiert, aber ich möchte sie nicht wieder mitnehmen.“ – „Ja, gern, ich wollte eben auf dem Markt Blumen kaufen. Das ist ein schönes Geschenk für mich, ich päppele sie wieder auf. Vielen Dank!“

Bevor er ins Auto stieg, schaute Erich noch einmal zu Babsis Balkon hoch. Da standen die beiden an der Brüstung und prosteten ihm mit seinem Champagner zu. Wartet nur, wer zuletzt lacht, lacht am besten, tröstete er sich und fuhr dann auf dem schnellsten Weg zu Andreas, einem Zahnarzt im Nachbardorf, mit dem er befreundet war. Zu dem konnte er auch außerhalb der Sprechzeiten kommen, das ist der große Vorteil, wenn man auf dem Dorf lebt, man kennt sich. Andreas hatte auch ein Zahnlabor in seiner Praxis und würde seine untere Zahnprothese notdürftig reparieren können, sodass Erich die Zeit, bis die neue fertig sein würde, gut überstehen würde.

Bei Andreas angekommen, sprudelte es nur so aus Erich heraus, denn sein Ärger über B+B war zu groß, als dass er einfach zur Tagesordnung hätte übergehen können: Er erzählte Andreas alles, was ihm gerade passiert war. „ Zu deiner Studienzeit warst du doch auch mit ihr bekannt. Hat sie bei dir auch angerufen?“

„Oh, lass mich bloß zufrieden mit der. Kichernd wie ein junges Mädchen hat sie hier angerufen und wollte mit mir essen gehen. Nach so langer Zeit würde sie mich so gerne treffen. Bla, bla, bla! Als ich sie fragte, wohin sie mich denn einladen wolle, reagierte sie säuerlich und meinte, ich sei ja wohl reich genug, um SIE einzuladen. Zum Glück ist mir schnell eine Lüge eingefallen. Ich habe ihr vorgejammert, dass es mir finanziell gar nicht gut geht, da ich mich an der Börse verzockt hätte und jetzt jeden Cent umdrehen müsse. Was meinst du, wie schnell sie sich verabschiedet hat! Das hätte mir noch gefehlt, Babsi zu treffen, die hat doch damals auf jeder Party mitgemischt und ist nie allein nach Hause gegangen. Früher waren wir wohl nicht interessant genug für sie, nur wenn sie was von uns wollte, kam sie an. Aber auf ihrer Liste zum Ausgehen standen wir nicht. Sie muss sich nach ihrer Rückkehr über uns erkundigt haben und ist wohl der Meinung, wir wären mittlerweile reich und noch genauso doof wie damals und sie könnte uns abzocken. Ich glaube, sie braucht dringend Geld. Im Internet habe ich nur herausgefunden, dass sie schon dreimal verheiratet war und alle ihre Männer gestorben sind. Ich werde mal Torsten, einen früheren Studienfreund, anrufen. Der ist Journalist und war auf der ganzen Welt unterwegs und hat viel über Promis geschrieben. Der weiß bestimmt einiges über unsere liebe Babsi.“

Erich und Andreas versprachen einander beim Abschied, sich gegenseitig zu informieren, wenn sie etwas erfahren würden. „Sie soll ja in den höchsten Geldkreisen verkehrt haben,“ gab ihm Andreas noch mit auf den Weg.