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So funktioniert Manipulation! Ständig will uns jemand von irgendetwas überzeugen. Statistisch betrachtet mindestens einige Hundert Mal am Tag, auch wenn wir dies gar nicht mehr wahrnehmen. Oder doch? Manchmal ist es ganz anders. Dann wird von einer Sekunde zur anderen Schwarz zu Weiß. Warum fallen wir auf manche Mittel oder Tricks herein, auch wenn wir es eigentlich besser wissen? Welche »psychologischen Keulen« werden eingesetzt? Wie kommt es, dass wir manipulierbar sind? Diese Fragen beantwortet Kevin Dutton. Er erklärt, dass sich unser Gehirn, der komplexeste Computer der Welt, manchmal in das komplexeste »Furzkissen« (O-Ton Dutton) verwandelt – auch ein Ergebnis der Evolution.
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Seitenzahl: 450
»Meistens haben wir eine Vorstellung davon, wie wir jemanden überzeugen wollen. Wir scheitern ebenso oft, wie wir Erfolg haben. Manche Menschen aber kriegen es immer hin, von einem Augenblick zum anderen, und das mit chirurgischer Präzision. Und nicht nur gemütlich am Kaffeetisch, wenn es um nichts Wesentliches geht, sondern in entscheidenden Situationen, wenn es darauf ankommt, wenn der Einsatz hoch ist und die Emotionen hochgehen. Wer sind diese Menschen, die den schwarzen Gürtel der Beeinflussung tragen, was bewegt, was treibt sie an? Und, möglicherweise noch wichtiger, können wir etwas von ihnen lernen?« Kevin Dutton
Kevin Dutton
GEHIRNFLÜSTERER
Die Fähigkeit,anderezu beeinflussen
Mit zahlreichen Schwarzweißabbildungen
Aus dem Englischen vonKlaus Binder und Bernd Leineweber
Vorbemerkung des Autors
Aus rechtlichen (und manchmal auch persönlichen) Gründen wurden in diesem Buch die Namen und identifizierbarenMerkmale bestimmter Personen verändert. Bei einemFall, bei demBetrüger Keith Barrett, wurden die Merkmale verschiedener real existierender Individuen kombiniert, damit sich nicht zu viele dieser farbigen Charaktere in dem Buch tummeln. Es ist jedoch nichts übertrieben, und alle faktischen Details basieren auf der persönlichen Kenntnis und der empirischen Forschung des Autors.
Die Fußnoten enthalten nur inhaltliche Ergänzungen. Die Veröffentlichungen zu den zitierten Studien und Forschungen sowie weiterführende Literatur sind im Literaturverzeichnis nach Autorenalphabet aufgeführt.
Zudem freut sich der Autor mitteilen zu können, dass er für sämtliche sprachlichen Turbulenzen, denen Sie in diesem Buch begegnen werden, ganz alleine verantwortlich ist.
Einleitung
Am Ende eines Staatsbanketts für Würdenträger des Commonwealth sah Winston Churchill, wie ein Gast einen kostbaren silbernen Salzstreuer in seiner Jackentasche verschwinden ließ und sich verstohlen in Richtung Tür bewegte. Und was tat Churchill? Hin- und hergerissen zwischen der Loyalität gegenüber dem Gastgeber und dem Wunsch, einen peinlichen Zwischenfall zu vermeiden, hatte er eine Eingebung. Er schnappte sich das Pendant, den Pfefferstreuer, und steckte ihn ebenfalls ein. Dann näherte er sich seinem kriminellen Kollegen, zog das entwendete Objekt vorsichtig aus der Tasche und stellte es vor ihn auf den Tisch. »Ich glaube, man hat uns beobachtet«, sagte er. »Besser, wir stellen die Dinger zurück.«
STEWARDESS: Bitte legen Sie vor dem Start die Sicherheitsgurte an.
MUHAMMAD ALI: Ich bin Superman. Superman braucht keinen Sicherheitsgurt!
STEWARDESS: Superman braucht auch kein Flugzeug.
Es ist ein dunkler Dezemberabend in Nordlondon. Zwei Männer, ein großer und ein kleiner, stehen am Tresen einer Bar in Camden Town. Sie trinken ihre Gläser leer, stellen sie auf den Tresen, schauen sich an. Noch mal das Gleiche? Ja, warum nicht? Sie machen es sich noch nicht klar, aber sie werden zu spät zu ihrer Verabredung zum Abendessen kommen. In einem indischen Restaurant am anderen Ende der Stadt sitzt nämlich jemand und wartet auf sie. Der kleine Finger seiner rechten Hand zuckt wie elektrisiert, ein schwaches Signal seiner Parkinson-Erkrankung. Der Wartende trägt eine bunte Krawatte, die er sich eigens für diesen Anlass gekauft hat; eine halbe Stunde hat er gebraucht, bis er sie gebunden hatte. Sie zeigt ein Muster aus Teddybären.
Es ist Sonntag. Der Gast im Restaurant sieht dem Regen zu, der die Scheiben herunterrinnt. Sein Sohn hat heute Geburtstag. Auch die beiden Männer in Camden Town betrachten die Regenschwaden draußen im Licht der Straßenlaternen. Wir müssen uns auf den Weg machen, sagen sie, zur U-Bahn, zu dem Restaurant und dem Mann, der auf uns wartet. Sie brechen auf.
Sie kommen zu spät, fast eine Dreiviertelstunde. Sie haben unterschätzt, und zwar erheblich, wie viel Zeit bei vier Gläsern Bier vergehen kann, und wie lange es dauert, mit der Northern- und Piccadilly-Line ans andere Ende von London zu kommen. Als sie im Restaurant ankommen, läuft es nicht gut.
»Schon wieder zu spät?«, fragt der Mann, der auf sie gewartet hat.
Die Reaktion ist schnell und heftig. Zahllose, uralte Kränkungen kochen hoch. Der Kleinere der beiden dreht sich auf dem Absatz um und verlässt das Lokal. Es ist der Sohn. Er tut das nicht ohne ein paar scharfe Worte. Dann steht er da, der kleine Mann. Gerade in der U-Bahn hatte er sich auf ein entspanntes Geburtstagsessen mit seinem Vater und seinem besten Freund gefreut. Jetzt ist er allein in der regnerischen Dezembernacht und läuft den Gehweg entlang zur U-Bahn-Station. Frierend und zunehmend durchnässt, denn seinen Mantel hat er im Restaurant vergessen. Wie schnell sich die Dinge ändern können.
Der kleine Mann kocht vor Wut. Er steht an der Sperre und sucht nach seiner Fahrkarte. Er geht durch die Sperre. Die Station ist menschenleer. Da hört er ein Geräusch von der Straße, jemand rennt. Plötzlich steht der große Mann auf der anderen Seite der Sperre. Er ist völlig außer Atem, denn auch er ist vom Restaurant zur U-Bahn gerannt. Er lehnt sich keuchend an eine Säule.
»Warte!«, sagt er, als er wieder sprechen kann.
Der kleine Mann will nichts hören.
»Ich denke gar nicht dran«, antwortet er und hebt die flache Hand über den Kopf. »Seine giftigen Bemerkungen stehen mir bis hier.«
»Warte doch«, sagt der große Mann.
Der Kleine wird immer wütender: »Hör zu, du vergeudest deine Zeit. Geh zurück zu ihm, zurück ins Restaurant, geh, wohin du willst. Aber mich lass in Ruhe!«
»O.k., o.k.«, sagt der Große, »aber darf ich noch was sagen, bevor ich gehe?«
Schweigen. Der Regen wird plötzlich rot, die Ampel an der Kreuzung vor der U-Bahn-Station ist umgesprungen.
Damit er ihn loswird, gibt der Kleine nach. »Na gut, was gibt’s?«
Es ist ein Augenblick der Wahrheit. Die beiden sehen sich an, über die Barriere hinweg. Der Kleine sieht, dass am Mantel des Großen ein paar Knöpfe fehlen. Dass seine wollene Mütze ein paar Schritte entfernt in einer Pfütze liegt. War wohl recht anstrengend, der Weg von dem Lokal zur U-Bahn, denkt der kleine Mann. Plötzlich fällt ihm ein, was sein Freund ihm erzählt hat. Die Mütze hatte seine Mutter gestrickt, es war einmal ein Weihnachtsgeschenk gewesen.
Der Große breitet seine Arme aus, aus Hilflosigkeit, vielleicht will er auch seine Offenheit zeigen.
Und dann sagt er:
»Wann hast du mich je so rennen sehen?«
Der Kleine sucht nach einer Antwort, ringt nach Worten. Es fällt ihm nichts ein. Es ist nämlich so, dass der große Mann fast 180 Kilo wiegt. Sie sind seit langem befreundet, aber der kleine Mann hat den großen Mann niemals rennen sehen. Tatsache ist, wie er selbst zugibt, dass ihm schon das Gehen schwerfällt.
Noch immer denkt der Kleine über eine Antwort nach. Je länger das dauert, desto mehr schwindet auch seine Wut. Bis er schließlich sagt: »Na gut, nie.«
Es gibt eine kurze Pause, dann streckt der Große die Hand aus. »Na komm schon, lass uns zurückgehen.«
Und das tun sie denn auch.
Zurück im Restaurant entschuldigen sich der kleine Mann und sein Vater beieinander, und die drei, weiser, wenn auch nicht weise geworden, setzen sich zu Tisch. Zum zweiten Mal. Über Wunder sprechen sie nicht, denken aber ganz sicher daran. Der Große hat einige Mantelknöpfe eingebüßt, und die Wollmütze, die ihm seine Mutter geschenkt hatte, wird auch nie mehr dieselbe sein. Doch irgendwie hatte er dafür etwas anderes, Besseres eingetauscht. Mitten in einer kalten Londoner Dezembernacht hatte er so etwas wie Sonnenschein erzeugt.
Definitiv nichts, so denkt sich der kleine Mann, was irgendjemand sagt, hätte mich in dieser U-Bahn-Station dazu bringen können zurückzugehen. Keine zehn Pferde hätten mich so weit gebracht. Und doch hatte es der Große mit einer simplen Frage zustande gebracht: »Wann hast du mich je so rennen sehen?« Und warum? Weil diese einfache Frage von jenseits der Grenzen des Bewusstseins kam.
Wie oft am Tag haben Sie das Gefühl, jemand will Sie zu etwas überreden? Etwas zu tun, etwas zu lassen, etwas zu kaufen, irgendwohin zu gehen. Meine Frage betrifft den ganzen Tag, vom Aufwachen bis zum Abend, wenn Sie Ihren Kopf aufs Kissen legen. Zwanzig Mal, vielleicht dreißig Mal? Das schätzen die meisten Leute, denen diese Frage gestellt wird. Deshalb grämen Sie sich nicht, wenn Sie hören, dass das falsch ist: Tatsächlich geht man davon aus, dass sich solche Situationen mindestens vierhundert Mal am Tag wiederholen. Klingt erschreckend, oder? Denken wir einen Moment darüber nach. Worum geht es? Welche Einflussmoleküle dringen durch die Schlüssellöcher unseres Gehirns?
Zunächst ist da die Werbeindustrie. Fernsehen, Radio, Plakate, das Web. Wie oft am Tag sehen oder hören wir Werbung? Richtig. Ziemlich oft. Und es sind noch viel mehr Signale, die ständig auf uns einwirken: der Kerl, der an der Ecke Würstchen zum Verkauf anbietet; der Polizist, der den Verkehr regelt; das Sektenmitglied mit der Erlösungsbroschüre; Politiker, die uns weiß Gott was versprechen; Verkäufer, die auf uns einreden. Ständig will uns jemand zu irgendetwas verführen. Ganz zu schweigen von dem kleinen Kerl in unserem Kopf, der auch immer etwas von uns will. Wir sehen ihn nicht, aber wir hören ihn oft genug. Da kommt einiges zusammen. Das alles nehmen wir kaum noch bewusst wahr. Deshalb denken wir ja auch, dass nur zwanzig, dreißig Mal am Tag jemand etwas von uns will, und nicht mehrere hundert Mal. Und oft genug lassen wir uns davon beeinflussen.
Damit kommen wir zu einer grundsätzlichen Frage. Woher kommt die Kraft der Beeinflussung? Wodurch entsteht sie? Über die Entstehung des Denkens ist schon viel nachgedacht worden, doch was wissen wir über die Entstehung des Umdenkens?
Stellen wir uns eine andere Gesellschaft vor – eine Gesellschaft, in der Zwang das hauptsächliche Mittel der Beeinflussung ist und nicht Überzeugung oder Verführung. Wie sähe ein solches Leben aus? Wie würde es uns ergehen, wenn uns der Würstchenverkäufer jedes Mal, wenn wir beschließen, keine Bratwurst zu kaufen, mit einem Baseballschläger hinterherlaufen würde? Wenn uns, sobald wir ein Verkehrsschild missachten oder zu schnell fahren, ein Selbstschussapparat die Windschutzscheibe durchlöchern würde? Wenn wir Konsequenzen dafür zu tragen hätten, dass wir nicht die »richtige« Partei, die »richtige« Religion wählen, nicht die »richtige« Hautfarbe haben?
Manche dieser Szenarien kann man sich ohne weiteres vorstellen, andere weniger leicht. Worauf will ich hinaus? Es ist ganz einfach: Das Leben in einer Gesellschaft ist überhaupt nur möglich, wenn und weil es Überzeugung und Beeinflussung gibt. Es hat im Verlauf der Geschichte verschiedene Versuche gegeben, diese Behauptung in Frage zu stellen. Doch alle diese Versuche sind früher oder später gescheitert. Überzeugung ist etwas, das uns am Leben hält – und das ist oft genug durchaus wörtlich zu verstehen.
Vor einigen Jahren nahm ich an einer Konferenz in San Francisco teil. Vor meinem Abflug war ich gewaltig unter Zeitdruck und hatte deshalb – wider jegliche Vernunft – kein Hotelzimmer vorab gebucht. Ich wollte mir eines suchen, wenn ich vor Ort war. Aber es fand nicht nur die eine Konferenz statt, die ich besuchen wollte, sondern es gab noch zahllose andere: Alle einschlägigen Hotels waren ausgebucht. Deshalb landete ich mit meiner Zimmersuche in einer extrem gefährlichen Gegend, in der sich sogar Serienmörder nur paarweise auf die Straße trauten.
Jeden Morgen, wenn ich das Hotel verließ, und jeden Abend, nachdem ich die gefährliche halbe Meile von der U-Bahn-Station hinter mich gebracht hatte, stieß ich auf dieselbe Gruppe von Leuten, die sich am Kiosk vor dem Hotel versammelten: einen heruntergekommenen Vietnamveteranen, eine brasilianische Prostituierte und diverse andere Gestrandete und Heimatlose. Allen hatte das Schicksal reichlich zugesetzt. Sie hockten auf dem Gehweg mit ihren abgenutzten Pappkartons, auf denen stand: »Hungrig und obdachlos«, »Vietnamveteran«, »Noch sechs Wochen zu leben«.
Ich will gar nicht bestreiten, dass sie Geld brauchten. Natürlich brauchten sie Geld. Am Anfang war ich auch spendabel. Aber im Lauf der Woche lernte ich sie näher kennen und beschloss, damit aufzuhören. Denn das Geld wurde schneller »geschluckt« als von einem Bernie-Madoff-Hedgefonds. Eines Nachts jedoch, gegen Ende meines Aufenthalts, bemerkte ich einen Mann, der mir bis dahin noch nicht aufgefallen war. Ich war ja im Lauf der Tage zunehmend immun gegenüber den traurigen Lebensgeschichten geworden und warf nur einen kurzen Blick auf das zerknitterte Papier, das er vor sich hinhielt. Doch kaum hatte ich gelesen, was darauf stand, kramte ich auch schon in meinen Taschen, um etwas Substanzielleres herauszuholen als ein paar Cent. Fünf Worte hatten mich dazu gebracht: »Warum lügen? Ich will Bier.«
Ich hatte das Gefühl, dass ich gewissermaßen legal abgezockt wurde.
In der – vergleichsweisen – Sicherheit meines Hotelzimmers dachte ich darüber nach. Schließlich hätte ich diesen Säufern zu dem Zeitpunkt nicht mal dann Geld gegeben, wenn Jesus Beifall geklatscht hätte. Aber plötzlich habe ich das Geld so schnell aus der Tasche gezogen, als hätte mir der Mann eine Pistole vorgehalten. Was hatte die inneren Sicherheitssysteme, die ich seit meiner Ankunft installiert hatte, so gründlich und offensichtlich ausschalten können?
Ich musste lachen. Denn plötzlich fiel mir mein Erlebnis von vor vielen Jahren
wieder ein, dieser Streit mit meinem Vater in einem Restaurant. Damals war ich hinausgestürmt und hundertprozentig überzeugt, dass ich um nichts in der Welt zurückgehen würde. Keine zehn Pferde … Doch nur wenige Minuten und ein paar Worte meines Freundes später hatte ich mir das anders überlegt.
An solchen Ereignissen, so wurde mir allmählich klar, zeigte sich etwas Zeitloses, ein Mechanismus, der sich von normalen Formen der Verständigung grundsätzlich unterscheidet. Solche Umschwünge haben etwas Umwerfendes, Transzendentales, ja fast etwas Außerirdisches an sich.
Aber was genau?
Damals in meinem Hotelzimmer dachte ich, ich sollte diese Frage beantworten können. Schließlich war (und bin) ich Psychologe. Doch je mehr ich darüber nachdachte, desto vertrackter erschien mir die Angelegenheit. Es ging um Überzeugung, um einen Wandel der Einstellung, um sozialen Einfluss. Eigentlich das normale Geplänkel im Vorraum der Sozialpsychologie. Doch klaffte, wie es schien, gerade an dieser Stelle ein großes schwarzes Loch in der Literatur. Ich fand es verblüffend. Warum konnte mir ein völlig Fremder mit nur fünf Worten Geld aus der Tasche ziehen? Warum hatte es mein bester Freund mit ein paar Worten geschafft, dass ich meine Meinung völlig änderte?
Normalerweise funktioniert es ja so: Wenn wir, wie damals mein Freund, jemanden beruhigen, oder, wie damals der Bettler, jemandem Geld aus der Tasche leiern wollen, versuchen wir uns Zeit zu nehmen. Sorgfältig legen wir uns ein Angebot zurecht. Abgesichert mit guten Gründen. Man frage einen versierten Verkäufer: Es ist alles andere als einfach, einen Sinneswandel herbeizuführen. In neun von zehn Fällen sind Überredung und Beeinflussung abhängig von einem komplexen Bündel von Faktoren; nicht nur davon, was wir sagen, sondern auch davon, wie wir es sagen. Und noch mehr davon, wie verstanden wird, was wir sagen. In der großen Mehrzahl der Fälle üben wir Einfluss aus, indem wir sprechen. Wir mixen einen Cocktail aus Kompromissen, Unternehmungsgeist und Verhandlungsgeschick und packen das, was wir wollen, in ein ausgeklügeltes Paket aus Worten. Doch bei meinem Freund und dem Bettler funktionierte das anders. Da gab es keine Verpackung, ganz im Gegenteil. Es war die unmittelbare Direktheit der Beeinflussung, ihre unverhüllte und überwältigende Eleganz, der geschickt platzierte, unerwartete Anflug psychologischer Genialität, die den Ausschlag gaben.
Oder etwa nicht?
Sobald ich San Francisco hinter mir gelassen hatte und zurückgekehrt war in das ähnlich überraschende und ebenfalls kaum berechenbare Milieu des akademischen Lebens in Cambridge, begann mich die Frage immer mehr zu interessieren. Gab es, tief im Urgestein der Überzeugungskraft verborgen, ein Elixier der Beeinflussung? Eine geheime Kunst, Menschen in eine Art »Flipnosis« zu versetzen, sie quasi zu hypnotisieren und ausflippen zu lassen, sie um ihren Verstand zu bringen? Konnte man das lernen, um die Waagschale zum eigenen Vorteil anzutippen? Um ein Geschäft zum Abschluss zu bringen, um andere für sich einzunehmen? Vieles von dem, was wir heute über das Gehirn wissen – über die Beziehung von Funktion und Struktur –, haben wir nicht gelernt, indem wir normales Verhalten untersucht haben, sondern durch das Studium extremen Verhaltens. Könnte das nicht auch im Fall von Überzeugungskraft zutreffen? Denken wir an die Sirenen in der ›Odyssee‹, schöne Mädchen, deren Gesang so großartig war, dass keiner auch bei Androhung der Todesstrafe ihm widerstehen konnte. Oder an Amor und seine Pfeile. Oder an die geheime Saite, die David anschlug, um Gott zu gefallen, wie es Leonard Cohen in seinem Lied ›Halleluja‹ beschreibt. Existierte eine solche Saite auch außerhalb der Mythologie?
Im weiteren Verlauf meiner Forschungen wurde die Antwort allmählich klar. Langsam, aber sicher wuchs die Liste der Beispiele, es gab genug Stoff, um das kühle, digitale Raster der Statistik darüberzulegen. Ich fing an, die Elemente einer ganz neuen Art von Einfluss zuzuordnen, quasi das Genom einer geheimnisvollen, bisher nicht identifizierten Superkraft der Überzeugung aufzuzeichnen. Meistens haben wir eine Vorstellung davon, wie wir jemanden überzeugen wollen. In der Regel nach dem Muster von Versuch und Irrtum. Wir scheitern ebenso oft, wie wir Erfolg haben. Manche Menschen aber kriegen es immer hin, von einem Augenblick zum anderen, und das mit chirurgischer Präzision. Und nicht nur gemütlich am Kaffeetisch, wenn es um nichts wirklich Wesentliches geht, sondern in entscheidenden Situationen, wenn es drauf ankommt, wenn der Einsatz hoch ist und die Emotionen hochgehen. Wer sind diese Menschen, die den schwarzen Gürtel der Beeinflussung tragen, was bewegt, was treibt sie an? Und, möglicherweise noch wichtiger, können wir was von ihnen lernen? Ich war auf einem Flug nach New York, dank der Filmgesellschaft, die mich eingeladen hatte, sogar in der Business Class. Schräg gegenüber saß ein Mann, der offenbar ein Problem mit seinem Essen hatte. Er schob es auf seinem Teller hin und her, dann zitierte er den Steward zu sich.
»Das Essen ist beschissen«, sagte er.
Der Steward nickte und zeigte sich äußerst verständnisvoll. Er ging geradezu auf die Knie. Es täte ihm so leid. Was könne er tun, um das wiedergutzumachen? Er wolle doch auf jeden Fall dazu beitragen, dass der Gast auch weiterhin mit seiner Gesellschaft fliege.
Nicht schlecht.
Der Gast ließ sich aber nicht besänftigen (er machte den Eindruck, als ob das überhaupt schwer bei ihm sei).
Er sagte: »Schauen Sie, ich weiß, es ist nicht Ihr Fehler. Aber das reicht mir einfach nicht. Und wissen Sie was, ich habe dieses ewige nette Getue so satt!«
Dann geschah etwas, wodurch sich die Situation völlig veränderte. Es hob uns geradezu aus den Sitzen.
»IST DAS WAHR, SIE ARSCHLOCH? WARUM HALTEN SIE DANN NICHT EINFACH IHRE BLÖDE KLAPPE?«
Plötzlich herrschte Schweigen in der gesamten Kabine. Ironischerweise gingen gleichzeitig die Anschnallzeichen an.
Ein Passagier auf dem Sitz vor dem Nörgler, ein berühmter Musiker, hatte sich zu ihm umgedreht.
»Ist das jetzt besser so?«, fragte er. »Wenn nicht, dann kann ich gerne weitermachen.«
Kein Mensch sagte ein Wort. Alle waren wie zur Salzsäule erstarrt. Aber dann, als ob irgendjemand einen Schalter umgelegt hätte, fing unser Nörgler plötzlich an … zu lächeln. Dann lachte er. Dann bog er sich fast vor Lachen.
Der Steward verzog sich. Das Problem war mit ein paar einfachen Worten gelöst. Es war ein erneuter Beleg für einen Spruch meines alten Englischlehrers: »Man kann so unverschämt sein, wie man will, solange man nur höflich bleibt.« Wie hätten Sie in einer solchen Situation reagiert? Was hätten Sie getan? Wie wäre ich damit umgegangen? Nicht besonders gut, denke ich. Aber je mehr ich darüber nachdachte, desto klarer wurde mir, dass es genau solche Situationen sind, die den Unterschied ausmachen. Dabei geht es nicht nur um den einen oder anderen psychologischen Volltreffer, es geht um die Leute, die sie landen.
Vergessen Sie den Musiker für einen Moment. Nicht immer ist jemand von diesem Kaliber anwesend. Aber Stewards, ganz zu schweigen von Polizisten, Militärs, Unterhändlern, Ärzten, Krankenschwestern und Sozialarbeitern sind tagaus, tagein mit solchen Situationen konfrontiert. Es sind Menschen, die in der Kunst der Überzeugung geübt sind. Die erprobte Methoden nutzen, um die Situation zu klären. Dazu gehört es, eine Beziehung zu der anderen Person aufzubauen. Sie in ein Gespräch zu verwickeln. Und sich gleichzeitig ruhig, geduldig und empathisch zu zeigen. Methoden also, die durch soziale Prozesse begründet sind. Aber offensichtlich gibt es auch Naturtalente. Menschen, die kein solches Training brauchen. Die befähigt sind, andere zum Umdenken zu bewegen. Und zwar nicht durch Verhandlung, Dialog oder die Regeln von Geben und Nehmen. Sondern einfach nur durch ein paar simple Worte.
Das klingt verrückt, ich weiß. Am Anfang dachte ich das auch. Aber bald hatte ich eine überwältigende Menge von Belegen aufgestöbert, zufällige, anekdotische, sinnbildliche, die mir alle darauf hinzuweisen schienen, dass es solche Hexenmeister gibt. Und, was noch wichtiger ist, dass es sich nicht immer nur um die Guten handelt.
In diesem Buch geht es also um Überzeugung. Aber um eine ganz spezielle Art der Überzeugung, mit einer Inkubationszeit von Sekunden und einer Evolutionsgeschichte, die ein bisschen länger ist. Inkongruenz und Überraschung sind offensichtlich Schlüsselkomponenten dafür. Aber das ist nur der Anfang. Dafür, ob wir das Angebot annehmen oder nicht, sind noch vier weitere Faktoren entscheidend: Einfachheit, gefühltes Eigeninteresse, Selbstvertrauen und Einfühlungsvermögen. Diese Faktoren sind integraler Bestandteil der Macht der Überzeugung. Zusammen ergeben sie einen definitiv wirksamen Beeinflussungscocktail. Und das umso mehr, je direkter er eingesetzt wird, je weniger verunreinigt er ist durch Rhetorik oder Kabbeleien. Winston Churchill wusste das offenbar. Und die Stewardess, die es damals mit dem Champion aufgenommen hat, auch. Einen eindeutigeren Knockout hat Muhammad Ali vermutlich nie erlebt.
Es hat auch etwas mit dem Eigeninteresse des Objekts der Beeinflussung zu tun. Selbstverständlich ist Beeinflussung nicht immer im tatsächlichen Eigeninteresse des Objekts. Aber wenn das Objekt das so wahrnimmt, dann ist der Versuch der Beeinflussung viel effektiver. Es geht um eine Art der Überzeugung, die einem alles verschaffen kann, was man haben will. Reservierungen, Verträge, Gewinne, Babys. Alles. Vorausgesetzt, die Beeinflussung liegt in den richtigen Händen. In den falschen Händen kann das Ergebnis desaströs sein. So brutal und tödlich wie jede nur denkbare Waffe.
Einige von uns sind besser in der Kunst der Überzeugung als andere. Wie bei allen anderen Fähigkeiten gibt es auch hier ein breites Spektrum an Talent, in dem wir alle unseren Platz finden. Am einen Ende die, denen es nie gelingt, die alles am falschen Ende anpacken und manchmal gar nichts zu fassen bekommen. Am anderen Ende haben wir die Gehirnflüsterer. Diejenigen mit einer frappierenden, fast übernatürlichen Tendenz, alles hinzukriegen.
Im Folgenden befassen wir uns mit den Koordinaten dieser mysteriösen Überzeugungskraft. Nach und nach lernen wir das Netz der empirischen Forschung kennen, das sich über die vertrauten Ankerpunkte des sozialen Einflusses hinaus in den Tiefen der frühkindlichen Entwicklung, der Kognitionswissenschaft, Mathematik und Psychopathologie entfaltet. Wir verfolgen Theorien und stellen allmählich einen Zusammenhang fest. Daraus lässt sich eine einzige, definitive Formel destillieren. Auf dem Weg stoßen wir auf eine Fundgrube von Fragen: Was haben Neugeborene und Psychopathen gemein? Ist unsere Überzeugungskraft wie der Verstand selbst ein Ergebnis der Evolution? Welches Geheimnis teilen die Großmeister der Überzeugung mit den Großmeistern der Kampfkunst? Gibt es eine Leitbahn für Überzeugung im Gehirn? Die Antworten werden Sie überraschen. Und Ihnen für die Zukunft nützlich sein.
Der Überzeugungsinstinkt
RICHTER: Sie werden im Sinne der Anklage für schuldig befunden und zu 72 Stunden gemeinnütziger Arbeit sowie zu einer Geldstrafe von £ 150 verurteilt. Sie können wählen. Entweder bezahlen Sie die Strafe innerhalb der festgelegten Frist von drei Wochen oder Sie bezahlen sofort und erhalten dafür einen Strafnachlass von £ 50. Wie sollen wir verfahren?
TASCHENDIEB: Euer Ehren, ich habe gerade bloß £ 56 in der Tasche. Vielleicht könnten Sie mich kurz mit der Jury allein lassen. Dann kann ich gleich bezahlen. Das wäre mir lieber.
Ein Polizeiauto fährt hinter einem Auto her, das mit überhöhter Geschwindigkeit unterwegs ist, und lässt es rechts ranfahren. »Können Sie mir irgendeinen Grund nennen, warum ich Ihnen keinen Strafzettel geben sollte«, fragt der Polizist den Fahrer. »Na ja«, sagt der Fahrer. »Letzte Woche ist meine Frau mit einem von euch abgehauen. Ich dachte schon, Sie wollten sie mir zurückbringen.«
Im Jahr 1938 wird in Selma in Georgia der Arzt Drayton Doherty an das Bett eines Mannes namens Vance Vanders gerufen. Sechs Monate vorher war Vanders mitten in der Nacht auf einem Friedhof auf einen Medizinmann gestoßen, und der Schurke hatte ihn mit einem Fluch belegt. Ungefähr eine Woche später bekam Vanders Bauchschmerzen und beschloss, sich ins Bett zu legen. Sehr zur Verzweiflung seiner Familie war er seitdem nicht mehr aufgestanden.
Doherty untersucht Vanders gründlich und schüttelt düster das Haupt. »Was auch immer es war, zweifellos ist es mysteriös«, sagt er. Am nächsten Tag kommt er wieder. »Ich habe den Medizinmann aufgestöbert«, sagt er, »und ihn zum Friedhof gelockt. Dort habe ich ihn niedergeworfen und ihm geschworen, dass ich ihn umbringe, wenn er mir nicht das Geheimnis des Fluchs verrät.« Vanders reißt die Augen auf. »Was hat er dann gemacht?«, fragte er. »Erst hat er sich gewehrt, dann hat er aufgegeben«, antwortet Doherty. »Und ich muss zugeben, in all meinen Jahren als Arzt habe ich so etwas noch nicht gehört. Er hat ein Eidechsenei in Ihren Magen verpflanzt und dann dafür gesorgt, dass die Eidechse schlüpft. Sie ist schuld an Ihren Schmerzen. Sie frisst Sie von innen.« Vanders fallen fast die Augen aus dem Kopf. »Können Sie irgendwas für mich tun, Doktor?«, fleht er. Doherty lächelt beruhigend. »Zum Glück für Sie ist der Körper erstaunlich widerstandsfähig, und der Schaden, den die Eidechse angerichtet hat, ist größtenteils oberflächlich. Nehmen Sie das Gegengift, das mir der Medizinmann gegeben hat, und dann schauen wir, was passiert.«
Vanders stimmt erleichtert zu. Zehn Minuten später muss er sich heftig übergeben, weil ihm der Arzt ein starkes Brechmittel gegeben hat. Während er das tut, öffnet der Doktor seine Arzttasche. Da drin ist eine Eidechse, die er gerade gekauft hat. »Aha«, ruft er munter und hält die Eidechse hoch. »Da haben wir den Übeltäter!« Vanders sieht hoch und erbricht sich weiter. Doherty packt sein Zeug zusammen. »Machen Sie sich keine Sorgen«, sagt er. »Sie sind über das Schlimmste hinweg und werden sich bald erholt haben.« Dann geht er. Und tatsächlich, zum ersten Mal seit Ewigkeiten schläft Vanders tief und fest in dieser Nacht. Und nimmt am nächsten Morgen ein kräftiges Frühstück mit Eiern und Speck zu sich.
Ein Medizinmann und ein Arzt kämpfen um das Leben eines Menschen. Der Medizinmann benutzt eine Art Totschlagargument. Der Arzt greift es mühelos auf und verwendet es gegen ihn. Was war das nun: Überzeugung oder Betrug? Diesen Beigeschmack, diese zwielichtige Bedeutung hat das Wort auch. Kaum hören wir es, kriechen aus den dunkeln neuronalen Schrankfächern unseres Hirns dubiose Figuren wie Gebrauchtwagenhändler, heuchlerische Politiker und Bauernfänger aller Art. Auf jeden Fall enthält diese Geschichte vom Schamanen und vom Gehirnflüsterer den Kern von Beeinflussung in seiner einfachsten, reinsten Form: als Kampf um die Vorherrschaft im Gehirn. Wie ist das möglich? Wie kann es sein, dass etwas, das im Gehirn des einen Menschen vor sich geht und in Worte gefasst wird, eine so radikale Veränderung im Gehirn eines anderen Menschen auslösen kann?
Bei den alten Griechen gab es bekanntlich Götter für mehr oder weniger alles. Die Göttin der Überredung oder Überzeugung war Peitho (lateinisch Suada oder Suadela). Wir sprechen heute noch von Suada, wenn uns jemand ein Ohr abquatscht, um uns zu überzeugen. Allerdings sehen wir in den Zeiten nach Darwin, der Spieltheorie und einigen Fortschritten in der Hirnforschung die Dinge etwas anders als damals und suchen uns Bestätigung eher in der Wissenschaft als in der Götterwelt. Wenden wir uns also der Evolutionsbiologie zu. Wir werden feststellen, dass die Geschichte der Überzeugung älter ist, als wir uns oder die Götter sich das vorgestellt haben. Machen wir uns auf die Suche nach den frühesten Formen von Überzeugung, vorsprachlichen, vorbewussten, vormenschlichen Formen. Das verblüffende Ergebnis: Überzeugung ist nicht nur endemisch für jegliche irdische Existenz, sondern auch systemisch, als Teil der Ordnung der Natur und der Entstehung des Lebens.
Heutzutage entwerfen Architekten gerne glänzende Glasgebäude für üppig begrünte, baumreiche Örtlichkeiten. An die einheimische Vogelpopulation denken sie dabei nicht. Im Jahr 2005 hatte das Institut für Hirnforschung und Kognitionswissenschaft in Cambridge Probleme mit Kamikaze-Tauben. Der Vorplatz eines brandneuen Gebäudeteils erwies sich als Selbstmordtreffpunkt. Bis zu zehn Vögel täglich stürzten sich in die Fensterfront des todschicken neuen Hörsaals. Der Grund war rasch klar. In der Glasfassade spiegelten sich die Bäume und Büsche der Umgebung. Und die Vögel erkannten den Unterschied zwischen Schein und Sein nicht. Was tun?
Das Problem war schnell erkannt, aber nicht schnell gebannt. Weder Vorhänge noch Plakate, ja nicht einmal eine Vogelscheuche zeigten Wirkung. Schließlich hatte die Kollegin Bundy Mackintosh die rettende Idee. Warum nicht mit den Vögeln in ihrer eigenen Sprache sprechen? Sie schnitt aus einem Pappkarton die Silhouette eines Adlers aus und klebte sie ins Fenster. Tief in ihrem kleinen Hirn haben die Vögel eine Art Armaturenbrett, auf dem sofort rote Signallichter aufleuchten, wenn der Umriss eines Raubvogels zu sehen ist. Ein altes Kraftfeld der Evolution fängt an zu wirken, vertreibt die Vögel und leitet sie weg von der Gefahr. Problem gebannt.
Damit man mit den Vögeln in ihrer eigenen Sprache sprechen kann, muss man die Syntax ihrer biologischen Mundart kennen. Und falls Sie denken, so etwas können nur Menschen, dann täuschen Sie sich. Die Biologin Karen McComb an der University of Sussex hat ein interessantes Phänomen bei Katzen entdeckt: Um Herrchen oder Frauchen dazu zu bringen, dass sie den Napf füllen, produzieren Katzen ein spezielles »Aufforderungsschnurren«. McComb und ihre Mitarbeiter haben die Reaktion von Katzenbesitzern auf unterschiedliche Arten des Schnurrens getestet und herausgefunden, dass die Schnurrtöne, wenn Katzen Futter wollen, weniger leicht ignoriert werden als andere Schnurrtöne. Es ist eine andere Tonlage. Wenn Katzen Futter wollen, dann senden sie die klassische gemischte Botschaft, indem sie dem zufriedenen tiefen Schnurrton einen drängenden höheren Laut, eine Art Weinen, hinzufügen. Das bewahrt sie davor, sofort aus dem Schlafzimmer geworfen zu werden, was bei dem hohen Ton alleine der Fall wäre, und weckt gleichzeitig den uralten Beschützerinstinkt des Säugetiers für seinen verletzlichen abhängigen Nachwuchs. »Den Heulton mit einer Lautäußerung zu verbinden, die normalerweise Zufriedenheit signalisiert, ist eine ziemlich raffinierte Methode, um eine Reaktion zu erzeugen«, sagt McComb. Und bei Menschen löst dieses Aufforderungsschnurren offensichtlich mehr aus als bloßes Miauen.
Ein Schlüsselreiz ist Beeinflussung in der reinsten Form. Ein Schlüsselreiz ist eine elegante hundertprozentige Manipulation des Denkens, unbeeinträchtigt von Sprache und Bewusstsein, die dadurch einfach aus dem Feld geschlagen werden. Schlüsselreize sind simpel, eindeutig und leicht zu verstehen, Überzeugung im ursprünglichen Sinne. Die offizielle Beschreibung von Schlüsselreizen hört sich natürlich etwas anders an: Ein Schlüsselreiz kann definiert werden als Auslöser in der Umwelt, der durch sein Auftauchen festgelegte Verhaltensmuster in Gang setzt. Das Programm ist angeboren und läuft (im Regelfall) kontinuierlich ab, bis es erfüllt ist. Im Großen und Ganzen bedeuten aber beide Beschreibungen dasselbe.
In der Natur gibt es dafür ungezählte Beispiele. Manche Schlüsselreize sind optisch, so wie der Adler, andere akustisch, wie das Aufforderungsschnurren. Manche auch kinetisch, so wie der Tanz der Honigbienen, wenn sie ihren Artgenossinnen den Weg zu einer Futterquelle weisen wollen. Manchmal kommen alle drei Elemente zusammen. Besonders wenn es um Paarung geht. Trihramahras Melodius etwa ist berühmt für seine kobaltblaue Kehle. Und für seinen süßen und melodischen Gesang. Und für sein ausgedehntes Balzritual, das bis zu zwei Minuten dauern kann. Nein, Trihramahras Melodius ist kein Latin Lover, sondern ein tropischer Singvogel, der tief im Dschungel des Amazonas lebt. Sein Hirn hat die Größe einer Bohne. Trihramahras Melodius ist auch kein Mitglied der Seduction Community.2 Trotzdem weiß er bestens über das Aufreißen Bescheid. Wenn ein Männchen der Spezies ein passendes Weibchen sieht, schleicht es nicht um den heißen Brei herum. Ganz im Gegenteil. Es stürzt sich sofort darauf und macht Punkte.
Nicht Bewegungen, sondern Geräusche sind die Sprache der Liebe bei bestimmten Froscharten. In Louisiana ist der Amerikanische Laubfrosch (Hyla cinerea) nicht zu überhören, vor allem wenn man müde ist und gerne eine Mütze Schlaf bekommen würde. Wegen ihres Paarungsrufs, dessen »quonk, quonk« an Glocken erinnert, auch Bell Frogs genannt, leben diese Tiere in den verschiedensten Umgebungen, in Teichen, Straßengräben und Sümpfen etwa, kommen aber auf der Jagd nach Insekten gerne auch auf erleuchtete Veranden und veranstalten dort ihr Konzert. Wobei ihr akustisches Arsenal einigermaßen vielfältig ist. Häufig koordinieren mehrere Exemplare ihr Unisono-Gequake, und herauskommt eine durchaus harmonische, gleichwohl entnervende Kakophonie, ein »Quonk-quack, quonk-quack«-Refrain. Untersuchungen haben ergeben, dass die Männchen ihre Rufe je nach den Umständen variieren können. In der Dämmerung etwa, als Vorspiel, wenn sie sich zum Aufzuchtteich aufmachen, geben sie ein »Territorial-Quaken« von sich, das Rivalen fernhalten soll, und wechseln dann, wenn sie auf ihre etwas träge Art aneinandergeraten sollten, zu eher gereizten Lauten. Erst wenn sie den Teich erreicht haben, geht es so richtig los und der Chorus schwillt zum »Quonk-quonk«-Finale. Dieses namengebende Paarungsgeläute können die Froschweibchen über 300 Meter Entfernung hören. Und andere Anwohner auch.
Die bislang betrachteten Formen der Beeinflussung im Tierreich waren gewissermaßen ehrliche Versuche, die direkt zum Punkt kamen. Das können wir auch in der menschlichen Gesellschaft regelmäßig beobachten. Der einzige Unterschied besteht darin, dass diese Viecher es besser machen. Von dem Zeitpunkt an, wo man auf einen möglichen Partner trifft, bis zu dem Punkt, an dem man dieses existenzielle Geschäft abgeschlossen hat, hängt der Erfolg von einer gemeinsamen Sprache ab. Und mehr Gemeinsamkeit als den Schlüsselreiz gibt es nicht.
Die Bedeutung dieser gemeinsamen Sprache, wenn es um Überzeugung geht, die Bedeutung der Empathie,3 wird noch klarer, wenn wir eine ganz andere Art von Beeinflussung betrachten, nämlich Mimikry. In diesem Fall ahmt ein Mitglied einer Spezies die Eigenarten einer anderen Spezies nach, um einen persönlichen Vorteil zu erlangen. Das kann auch artüberschreitend stattfinden. Bleiben wir noch einen Augenblick bei den Bell Frogs. Bei den meisten von ihnen folgt das ganze Paarungspalaver einem feststehenden Muster. Nüchtern betrachtet bleibt ja auch nicht viel Handlungsspielraum, wenn man nichts anderes als quaken kann. In der Regel läuft das so ab: Die Männchen hocken herum und quaken, und wenn sie Glück haben, kommen die Weibchen angehüpft. Es könnte also nicht einfacher sein. Doch haben sich diese Herzchen noch etwas anderes ausgedacht und diesen Prozess ziemlich hinterlistig erweitert. Gar nicht so selten wird einer dieser quakenden Baritone, ohne dass er das bemerkt, von einem Geheimbund nicht-quakender Stalker beschattet.
Hier haben wir wieder einmal einen Beleg für die eiskalte Raffinesse der natürlichen Auslese. So eine nächtelange Quakerei muss ziemlich kräftezehrend sein. Das kann man sich leicht vorstellen. Und deshalb kann im Anschluss zweierlei passieren: Entweder kann der erschöpfte Rufer für diese Nacht das Handtuch werfen und ein Taxi rufen oder er hat Glück und hüpft mit der heißgemachten Gefährtin zur Paarung in den Teich. Wie auch immer der Abend endet, für den weiteren Verlauf spielt das keine Rolle. In jedem Fall wird der Platz frei, den der Held bislang besetzt hatte. Und ebendarauf haben die nicht-quakenden Gesellen gewartet. Sobald der Quaker verschwunden ist, besetzen sie den frei gewordenen Platz. Und wenn ein weiteres nichtsahnendes Weibchen den unermüdlichen Quaker sucht, stößt es auf den bislang stummen Betrüger. Bemerkt es einen Unterschied? Nein, wie denn auch.4
Mimikry ist eine geniale Waffe der Überzeugung. Wenn der Schlüsselreiz ein direktes Instrument der Einflussnahme ist, dann ist Mimikry sozusagen direkte Empathie. Wie beim Schlüsselreiz gibt es verschiedene Arten – und einige davon sind, wie wir gerade gesehen haben, nicht wirklich harmlos. Beginnen wir mit der offensichtlichsten, der optischen. Genau das praktizieren die nicht quakenden Frösche in Louisiana. Doch auf der Skala des biologischen Betrugs gibt es auch weit subtilere Varianten, die nicht nur visuelle Winke nutzen, sondern auch auditive und olfaktorische.
Ein anschauliches Beispiel für diese Hybridform der Mimikry findet man in der Pflanzenwelt. (Beeinflussung findet, wie gesagt, in allen Bereichen des natürlichen Lebens statt.) Moniliniavaccinii-corymbosi ist ein Pilz, der zum raschen Absterben befallener Blätter und Triebe zum Beispiel von Heidelbeerbüschen führt (zur sogenannten Triebwelke). Interessant ist die Vermehrung dieses Pilzes. Er bringt die befallenen Blätter dazu, süße, zuckrige Substanzen wie Glucose und Fructose auszuscheiden. Das heißt, die Blätter, die Nektar produzieren, übernehmen trügerisch die Rolle von Blüten und ziehen tatsächlich bestäubende Insekten an: obwohl sie nicht wie Blüten aussehen und, abgesehen von ihren Duftstoffen, keinerlei Ähnlichkeiten mit Blüten haben. Sie bleiben Blätter. Mutter Natur besorgt den Rest. Bienen kommen angeflogen, die den Zucker für Nektar halten. Während die Bienen den Nektar mit ihrem Rüssel prüfen, setzt sich der Pilz auf ihrem Unterleib fest. Die Bienen fliegen weiter, zu echten Heidelbeerblüten, und transportieren den Pilz zu den Narben. Im Fruchtknoten wachsen durch die Pilzmyzele mumifizierte, ungenießbare Beeren heran. In diesen überwintern die Myzele und infizieren im nächsten Frühjahr neue Pflanzen.
Damit endet das Treiben nicht. Es gibt noch eine weitere Stufe dieses schäbigen Spiels. Zu den olfaktorischen Emissionen der Blätter kommt eine visuelle Veränderung hinzu. Wie sich gezeigt hat, reflektieren die vom Pilz befallenen Blätter des Heidelbeerstrauchs im Gegensatz zu den gesunden Blättern ultraviolettes Licht. Das gleiche Licht senden auch Blüten aus: als Lockmittel für die bestäubenden Insekten. Die Blätter haben also zwei voneinander unterschiedene Eigenschaften der Blütenidentität angenommen: optische und olfaktorische. Und das alles macht ein ganz ordinärer Pilz.
Was der Triebwelke-Pilz an Mimikry bietet, ist eher außergewöhnlich. Normalerweise werden zu solchen Betrügereien nicht noch Dritte hinzugezogen, wie in diesem Fall die Blätter. In der Regel agiert der Betrüger allein. Gnomenkäuze (Glaucidium gnoma oder californicum) zum Beispiel haben »falsche Augen« auf der Rückseite ihres Kopfes, mit denen diese kleinen Vögel ihren Fressfeinden vorgaukeln, dass sie sie sehen können. Bananenfalter (Caligo eurilochus) wiederum, manchmal auch Eulenfalter genannt, haben Augenflecken auf der Unterseite ihrer Flügel, die mit hellem »Rand« und dunkler »Iris« wie Eulenaugen aussehen und, plötzlich gezeigt, Feinde abschrecken.5 Zipfelfalter gehen noch ein Stück weiter in ihrer Mimikry: Die Zipfel an ihren Flügelenden erzeugen, zusammen mit anderen Elementen der Flügelfärbung, den Eindruck eines zweiten »Kopfs«, was Fressfeinde täuscht und ihre Angriffe ins Leere laufen lässt. Manchmal sind zwei Köpfe eben besser als einer.
Die Augenflecken des Eulenfalters
Weniger freundliche Methoden der Ablenkung lassen sich in der Welt der Spinnentiere beobachten. Die Goldene Seidenspinne (Nephila clavipes) – von den USA bis nach Argentinien verbreitet – hat ihren Namen von den auffälligen goldenen Netzen, die sie an lichtdurchfluteten Stellen, Waldrändern und Lichtungen etwa, spinnt. Auf den ersten Blick keine besonders gute Idee für ein Tier wie eine Spinne, das für sein Mittagessen eigentlich auf unsichtbare Fallen angewiesen ist. Doch hat dieser Wahnsinn Methode. Untersuchungen haben gezeigt, dass Bienen (Beutetiere der Seidenspinnen), anders, als man zunächst annehmen würde, solche Netze leichter vermeiden, wenn das Licht nicht gut ist, wenn die Spinnennetze schlechter zu erkennen sind und auch die gelbe Färbung undeutlich wird. Warum? Nun, die Biene sucht nach Nektar produzierenden Blüten, und welche Blütenfarbe ist am häufigsten?
Man hat Experimente unternommen, bei denen sich die Farbe von Spinnennetzen ändert. Dabei hat sich herausgestellt, dass Bienen durchaus in der Lage sind, andere Farbtöne – rote, blaue und grüne – mit Gefahren zu verbinden und diese zu meiden. Von gelben Tönen dagegen lassen sie sich immer wieder verlocken.
Solchen zoologischen Schwindel gibt es auch in der Insektenwelt. Das Prinzip der »Honig-Falle« ist aus diversen Agentenfilmen bestens bekannt. Aber Hollywood hat es nicht erfunden. Die Idee ist viel älter. Möglicherweise stammt sie von den Glühwürmchen. Studien haben gezeigt, dass die Weibchen der Gattung Photuris genau die gleichen Lichtsignale aussenden, mit denen die Weibchen der Gattung Photinus ihre Paarungsbereitschaft melden. Wenn nun Photinus-Männchen den Signalen dieser Femmes fatales der Leuchtkäferwelt folgen, erwartet sie alles andere als ein Liebesabenteuer – sie werden gefressen. So eine Verabredung hatte ich auch mal.
Wir haben gesehen, mit welchen Methoden Tiere und Pflanzen andere »beeinflussen«, sozusagen Überzeugungsarbeit leisten. Das geschieht ohne Sprache. Dennoch kann man hier zweifellos von Beeinflussung sprechen, der gleichen Art der Beeinflussung, die wir auch bei Menschen beobachten können. Allerdings schneller, weniger chaotisch, konzentrierter. Die Goldene Seidenspinne muss, um an ihr Ziel zu kommen, weder Kunst noch Innenarchitektur studieren. Und doch ist das Spinnennetz gelb – aus einem einzigen Grund. Es soll die Bienen dazu bringen, etwas ganz Dummes zu tun, woran sie normalerweise nicht im Traum denken würden: bei diesem Netz vorbeizuschauen.
Das Gleiche gilt für den Triebwelke-Pilz. Dieser skrupellose Pilz mit seiner zweifelhaften botanischen Moral weiß genau, dass Bienen und andere bestäubende Insekten ihn normalerweise großräumig umfliegen würden. Was also tut er? Was jedes andere räuberische, auf seinen Vorteil bedachte Wesen auch tun würde: Er versichert sich der Mitwirkung eines unschuldigen Dritten und nutzt ihn skrupellos aus. Nur weil keine Worte eingesetzt werden, heißt das noch lange nicht, dass es keine Beeinflussung gibt. Das habe ich rasch gemerkt, als ich geheiratet hatte. Wie heißt es so schön: Ein Blick spricht Bände.
Die Grenzlinie zwischen tierischer und menschlicher Beeinflussung verwischt sich noch mehr, wenn wir überlegen, wie viele Elemente des menschlichen Verhaltens instinktiv und ohne Sprache wirken – wie bei den Tieren auch. Das Geheimnis guter Werbung besteht nicht darin, dass sie unsere rationalen, kognitiven Fähigkeiten anspricht, sondern dass sie sich direkt an die die Gefühle verarbeitenden Areale unseres Gehirns wendet. An uralte Strukturen und Mechanismen, die wir nicht nur mit den Tieren teilen, sondern de facto von ihnen geerbt haben.
In dem Ort, in dem ich aufgewachsen bin, gab es einmal große Aufregung, weil sich an einer Kreuzung, die zwar belebt, aber eigentlich ungefährlich war, eine steigende Anzahl von Unfällen ereignete. Alle waren alarmiert. Etwa eine Woche später füllte eine Story die Titelseite der Lokalzeitung. Auf dem Bild dazu sah man, wie ein paar verlegene Jungs von der zuständigen Polizeiwache eine riesige Reklametafel wegschafften, auf der eine vollbusige, spärlich bekleidete Blondine prangte. Sex sells, das galt immer schon. Allein das Wort »Sex« steigert die Auflagen. Die bloße Verbindung der drei Buchstaben wirkt als mächtiger, die Blicke und Interessen fangender, Geld angelnder Schlüsselreiz.
Marketingbarone und andere Industriekapitäne bombardieren uns unablässig mit hinterlistig eingesetzten, unseren Radar unterlaufenden Schlüsselreizen. Im unermüdlich geführten Kampf um Aufmerksamkeit, um den so lukrativen Werberaum zwischen unseren Ohren, ist die Entwicklung von Schlüsselreizen das psychologische Äquivalent eines Nervengifts. Betrachten Sie das Foto von Marilyn Monroe:
Hübsche Gitarre
Kommt Ihnen etwas merkwürdig vor? Was ist zum Beispiel mit der Taille? Ist das nicht etwas zu sehr »Wespe«? Bilder wie dieses, auf denen ein Model, sei es durch die Gaben der Natur, sei es durch ein wenig Nachhilfe des Grafikdesigners (heutzutage meist das Letztere), außerordentlich ansprechende Qualitäten zeigt, sind allgegenwärtig in unserer Gesellschaft. Manchmal ist es richtig schwierig, sich ihnen zu entziehen (und ich möchte hinzufügen, dass dieser Zustand uns Männern genauso auf die Nerven geht wie euch Frauen). Diese Bilder sind da, weil sie Umsätze puschen. Doch interessanter als die Frage nach der Wirkung ist die nach der Ursache. Was erregt und beunruhigt uns daran? Das lässt sich ganz einfach beantworten. Wir haben hier sozusagen eine biologische Karikatur – einen Bell Frog mit einem Megaphon. Man könnte auch sagen: einen »synthetischen« Schlüsselreiz.
Um das zu erläutern, muss ich auf die Küken der Silbermöwen zu sprechen kommen. Sie reagieren instinktiv auf einen kleinen roten Fleck am Schnabel des Weibchens. Sie picken nach diesem Fleck, und das Muttertier beginnt automatisch, Nahrung auszuwürgen. Der rote Punkt ist also ein Schlüsselreiz. Was aber hat es damit auf sich, was genau macht den »Schlüssel« dieses Reizes aus? Biologen haben das untersucht, haben den Küken verschiedene Vogelköpfe und Schnabelformen präsentiert. Es stellte sich heraus, dass die Farbe von Kopf und Schnabel keine große Bedeutung hatte. Wesentlich für die Erzeugung einer Reaktion waren der rote Punkt, die schmale Schnabelform und bestimmte Bewegungen. Der Kopf muss gesenkt werden, so dass der Schnabel nach unten zeigt. Das sind die Hauptauslöser. Sie sind so wesentlich, dass ein stilisiertes Modell des Vogelkopfes – die Forscher sprechen von einem »supranormalen« Set von Reizen – sogar noch besser funktioniert. Ein braunes Stöckchen mit drei roten Streifen an der Spitze verstärkt, wenn es gegen das Küken gesenkt wird, den Effekt im Vergleich zum biologischen Original. Das Küken pickt noch intensiver.
Das ist der Punkt.
Die gleichen Prozesse der Beeinflussung, die bei Silbermöwen funktionieren, wirken auch bei uns Menschen. Aus den gleichen Gründen und mit den genau gleichen Mechanismen. Supermodellierte Brüste, supergeformte Pobacken, aufgespritzte Lippen, ein Waschbrettbauch wie aus Granit gemeißelt, endlos lange Beine – das sind sexuelle Signale, auf die wir Menschen genauso reagieren wie die Küken auf das braune Stöckchen und die roten Streifen. Es sind – ganz wörtlich – Karikaturen, nämlich übertriebene Darstellungen der ursprünglich gelernten sexuellen Reize, die irgendwann unseren Blick eingefangen haben. Und sie verstärken unsere Reaktionen.
Ich bin nicht doof. Man hat mich nur so gezeichnet.
Die Silbermöwen sind gut dran, denn die kommerzielle Ausbeutung von Schlüsselreizen kennen sie nicht. Das ist Angelegenheit der Menschen. Gleichwohl aber sind wir nicht nur im kommerziellen Bereich empfänglich für diese Art der Beeinflussung. Auch in unserem normalen alltäglichen Verhalten sind solche uralten Muster zu beobachten. Sie stammen aus einer Zeit, in der Beeinflussung eher eine Sache der Biologie als der Psychologie war. Und wo sie sich zeigen, können diese Muster ziemlich mächtig sein.
Von Marco Mancini habe ich von der Freundin einer Freundin auf einer Party gehört. Er war ein Kollege von ihr beim Arbeitsamt. Sie war nicht lange dort geblieben, schon nach einigen Monaten holte sie sich ihre Papiere und zog ans Meer. Sie wollte nicht den Verstand verlieren und hatte es nicht mehr ausgehalten, wie viele andere vor ihr. Vier Mal in der Woche wurde der Feuerlöscher von der Wand gerissen, nicht um Feuer zu löschen, sondern um es zu schüren. Er wurde gegen das eiserne Sicherheitsgitter geschleudert, das ihren Arbeitsplatz vom Warteraum trennte. Schließlich zog sogar jemand eine Schusswaffe.
Mit Mancini habe es etwas Besonderes auf sich gehabt. Es war die Art, wie er mit den Leuten sprach, erzählte sie. Alle anderen hätten sich hinter Panzerglas verschanzt, Mancini sprach ungeschützt mit seiner Klientel, Auge in Auge, egal um was es ging. Stets hatte er einen Kaffee bereit, sein Tisch stand in der Mitte, dort, wo alle ihn sehen konnten. Sie fand das extrem leichtsinnig, geradezu wahnsinnig. Ich auch. Aber trotz aller Probleme – und es habe eine Menge davon gegeben – sei Mancini in den zweieinhalb Jahren, in denen er dort arbeitete, nie tätlich angegriffen worden. Kein einziges Mal. Und noch etwas sei merkwürdig gewesen. Sobald die Leute mit ihm in Kontakt kamen, schienen sie geradezu entspannt. Als ob ein Schalter umgelegt worden wäre. Keiner wusste, wie Mancini das schaffte, aber alle Kollegen hätten es beobachtet. Vielleicht, sagten sie, war er einfach verrückt, und die anderen Verrückten reagierten darauf.
Später habe ich Mancini kennengelernt und war überrascht. Irgendwie hatte ich eine Art Robert De Niro oder Al Pacino erwartet. Stattdessen sah ich einen schicken, großstädtischen Jesus, der aussah, als arbeite er in einer Saftbar. »Marco«, sagte ich, »wie ich höre, hattest du in all der Zeit beim Arbeitsamt niemals Probleme. Was ist dein Geheimnis?«
Wie sich herausstellte, war die Lösung des Rätsels ziemlich einfach. Er habe einfach erst mal gar nichts gemacht. Er habe aber dafür gesorgt, dass der Stuhl seines Gesprächspartners etwas höher war als sein eigener. Die Menschen, mit denen er zu tun hatte, konnten also aus erhöhter Position mit ihm sprechen. Er hörte von unten zu. Und noch etwas: Sobald sie sich ein bisschen beruhigt hatten und der schlimmste Sturm vorüber war, habe er den Leuten direkt in die Augen gesehen. Man müsse erregten, durchgedrehten Leuten in die Augen schauen. Und lächeln. Und man müsse sie berühren, wenigstens einmal, am Arm.
Er erzählte mir ein Erlebnis aus seiner Kindheit: »Damals war ich zehn. Ein Mitschüler hatte mich beim Lehrer verpetzt und ich bin fast ausgeflippt, wirklich durchgedreht. Ich lief auf den Schulhof, um den Kerl zu suchen und die Scheiße aus ihm herauszuprügeln. Doch als ich ihn dann fand, habe ich bloß herumgebrüllt. Und dann war ich plötzlich still. Das kam von der Art, in der er da saß. Er saß tief, auf einem Mäuerchen, und tat nichts. Wie soll man jemanden verprügeln, der nichts tut? Das ist ja so, als ob man jemanden kaltblütig niederschießt. Wie soll er sich denn verteidigen? Außerdem hatte er die ganze Zeit, während ich herumbrüllte, den Kopf gesenkt. Dann sah er zu mir hoch, rührte sich aber immer noch nicht. Als wollte er sagen: »Gut, hier bin ich. Schlag mich, wenn du willst.« Aber ich konnte nicht. Es ging einfach nicht. Also habe ich mich umgedreht und bin weggegangen.«
Ein Verhalten wie das von Mancini sollte man nicht leichtfertig nachahmen, wenn man kein Gehirnflüsterer ist. Man muss nämlich nicht nur das richtige Verhalten an den Tag legen, sondern auch die richtigen Qualitäten vorweisen, vor allem Selbstvertrauen und Einfühlungsvermögen. Davon war schon die Rede. Aber das Verhalten ist sehr wichtig. Da wird es richtig interessant. Bei genauer Betrachtung hatte Marcos Verhalten große Ähnlichkeit mit Unterwerfungsgesten, den ritualisierten, symbolischen Verhaltensmustern, die im Tierreich zur Konfliktlösung dienen. Es ist eine Art, sich herauszureden, wenn man in Schwierigkeiten ist und nicht einfach die Escape-Taste drücken kann.
Nehmen wir zum Beispiel den Stuhl. Der empörte Besucher, der aber eigentlich etwas von der Behörde will, sitzt höher als derjenige, der ihm helfen soll. Wenn Mimikry direkte Empathie bedeutet, liegt die ursprüngliche Macht eines Schlüsselreizes zur Beschwichtigung in der Kunst der Überraschung. In der Inkongruenz. Oder, wie Darwin es in seinem Buch ›Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei Menschen und Tieren‹ formuliert hat, im »Prinzip des Gegensatzes«. Ein Pavian, egal ob Männchen oder Weibchen, zeigt dem Angreifer seinen Hintern und begibt sich in eine scheinbare Begattungsposition. Wenn er Pech hat, wird das Angebot angenommen. In der Regel aber wird diese Geste, der Gegensatz von Aggression, als Unterwerfungsgeste akzeptiert und das Gnadengesuch des unterlegenen Parts wird angenommen.
Nehmen wir die passive Haltung. Neueste Untersuchungen an Flusskrebsen weisen darauf hin, dass die Unterwerfungsstrategie der Dominanzstrategie sogar überlegen ist. Wenn männliche Flusskrebse um Weibchen kämpfen, zeigen sie, wer der Boss ist, indem sie den Gegner auf den Rücken werfen und dann die Begattungsposition einnehmen. Die unterlegenen Tiere haben zwei Möglichkeiten. Entweder sie wehren sich. Oder sie lassen es sein. Fadi Issa und Donald Edwards von der Georgia State University haben festgestellt – sehr zum Vergnügen des eher metrosexuellen Anteils der Flusskrebspopulation –, dass passives Ertragen sich lohnt. 24 Stunden später war die Hälfte derer, die Widerstand geleistet hatten, tot. Alle, die das nicht getan hatten, lebten noch. Die Dinge einfach liegend oder, wie im Fall von Marco, sitzend zu ertragen, scheint auch seine Vorteile zu haben.
Wie wir gesehen haben, macht unser Wissen über Schlüsselreize, ihre Wirkung und ihren gewaltigen Einfluss es möglich, sie zu unseren Gunsten zu nutzen. Die gewaltigsten Bauwerke können in sich zusammenfallen, wenn eine kleine Sprengladung richtig platziert ist. Scheinbar unlösbare Konflikte können entschärft werden durch ein paar einfache Worte oder Gesten. Wie die Geschichte lehrt, wussten das alle großen Verführer. Im Johannesevangelium versuchen die Pharisäer Jesus in die Enge zu treiben, indem sie ihn einer Ehebrecherin gegenüberstellen und ihn um Rat fragen: »Meister, diese Frau wurde beim Ehebruch auf frischer Tat ertappt. Moses hat uns im Gesetz vorgeschrieben, solche Frauen zu steinigen. Nun, was sagst du?« (Kap. 1, Vers 4f.)
Die Pharisäer sind nicht wirklich an Jesus’ moralischer Beurteilung dieses Falls interessiert, und Jesus weiß das. In Wirklichkeit sind ihre Motive erheblich niedriger. Sie wollen ihm eine Falle stellen. Sie wollen ihn mit dem Gesetz in Konflikt bringen. Dem mosaischen Gesetz zufolge müsste die Frau tatsächlich gesteinigt werden. Doch Palästina war von den Römern besetzt, und statt des mosaischen galt das römische Gesetz. Hätte Jesus das mosaische Gesetz darübergestellt, hätte man ihn dafür als Aufwiegler anklagen können. Doch das war nicht sein einziges Problem. Denn wenn er von der Steinigung abriete, würde man ihm vorwerfen, die uralten Traditionen seiner Vorfahren zu missachten. Es stand also nicht gut für Jesus.
Inzwischen hatten sich eine Menge Leute versammelt, die Situation spitzte sich zu. Wie es aussah, gab es kaum einen Ausweg. Selbst dem gerissensten Volksredner wäre das schwergefallen, wie also sollte ein wandernder Zimmermann ohne rhetorische Schulung die Situation retten? Das Johannesevangelium erzählt, wie es weiterging: »Jesus aber bückte sich und schrieb mit dem Finger auf die Erde. Als sie hartnäckig weiterfragten, richtete er sich auf und sagte zu ihnen: ›Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein auf sie.‹ Und er bückte sich wieder und schrieb auf die Erde. Als sie seine Antwort gehört hatten, ging einer nach dem anderen fort, zuerst die Ältesten. Jesus blieb allein zurück mit der Frau, die noch in der Mitte stand.« (Verse 6–9)
Jesus aber bückte sich – eine großartige Stelle. Und die einzige im Neuen Testament, in der Jesus etwas schreibt. Bibelexegeten haben allerhand Spekulationen darüber angestellt, was er wohl geschrieben haben könnte: vielleicht die Sünden der Fragenden? Ihre Namen? Wir werden das nie erfahren. Aus psychologischer Perspektive jedoch ist die Frage, warum Jesus in diesem spannungsgeladenen Augenblick überhaupt das Bedürfnis verspürte, etwas zu schreiben, ein noch größeres Rätsel.
Das Schreiben als solches erscheint ganz sinnlos in dem Moment.
Es sei denn, er hatte noch etwas in der Hinterhand. Vielleicht war das Schreiben nur ein Vorwand. Vielleicht liegt die Bedeutung seines Handelns gar nicht darin, sondern in der Haltung, die er dafür einnehmen musste.
Betrachten wir seine Körpersprache während dieses Zusammentreffens mit den Pharisäern genauer. Der Wortwechsel hat drei Phasen. Wie reagierte Jesus auf die erste Konfrontation? Der Text sagt: »Jesus aber bückte sich.« (Das Prinzip des Gegensatzes; Inkongruenz; eine Unterwerfungsgeste.) Die Pharisäer insistieren, also: Jesus »richtete sich auf« und formulierte seine berühmte Erwiderung (Selbstvertrauen; Angriff). »Und er bückte sich wieder«, nimmt also erneut eine Beschwichtigungshaltung ein. Eine wohlüberlegte Bewegung, um die Situation zu entschärfen.
Die Worte, die Jesus sprach – »der werfe den ersten Stein« –, sind für die Ewigkeit, und ich bin mir sicher, dass er das auch wusste. Eines der schönsten Beispiele für Gehirnflüstern, das es überhaupt gibt. Aber er hatte immer noch ein Problem. So großartig die Formulierung auch war, sie blieb eine Provokation für die Pharisäer und konnte sie nachhaltig reizen. Auch das hat Jesus zweifellos gewusst.
Daraus erklärt sich, warum Jesus in dieser Situation, allen theologischen Lesarten zum Trotz, nicht in einer, sondern in zwei Sprachen gesprochen hat – in einer zeitgenössischen, hörbaren und nachvollziehbaren Sprache und in einer uralten, tonlosen und hintergründigen.
Marco Mancini und Jesus Christus haben wenig gemeinsam, auch wenn Marco, als ich ihn kennenlernte, ein wenig wie Jesus aussah. Marco hat die Geheimnisse des Gehirnflüsterns auf dem Schulhof gelernt. Und Jesus? Wir wissen es nicht. Worauf es mir ankommt: Man braucht keine übernatürlichen Kräfte, um zu überzeugen. Die angeborene Fähigkeit dazu haben wir. Aber anders als unsere Brüder und Schwestern im Tierreich beherrschen wir diese Kunst nicht mehr automatisch.
Eine solche Beeinflussung ist nicht auf kritische Situationen beschränkt. Wir können damit vielleicht ab und an einen Strafzettel oder einen Faustschlag vermeiden. Aber die Fähigkeit dazu