Psychopathen - Kevin Dutton - E-Book
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Psychopathen E-Book

Kevin Dutton

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Beschreibung

Sind Sie ein Psychopath?   Natürlich nicht. Vielleicht sind Sie eine Führungskraft oder ein sehr spiritueller Mensch. Sie haben Charme, Sie sind unerschrocken und risikofreudig, können harte Entscheidungen treffen. Sie sind sehr aufmerksam und können sich gut auf ein Ziel konzentrieren. Sie werden feststellen, dass das Eigenschaften sind, die Sie mit Psychopathen teilen. Selbstredend sind diese Eigenschaften nützlich, wenn man ein Serienmörder werden will. Aber auch im Gerichtssaal, in der Wirtschaft oder im OP. Oder im Leben eines Heiligen. Jede Medaille hat zwei Seiten. »Eine meisterhafte, sehr lesbare und unterhaltsame Darstellung der Psychopathie und ihrer Manifestationen im Alltag. Manche seiner Ideen werden kontrovers diskutiert werden, aber es ist ein höchst anregendes Buch für alle, die die ›psychopathische‹ Welt, in der sie leben, besser verstehen wollen.« Prof. Dr. Robert Hare, Erfinder der Psychopathy Checklist        

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Seitenzahl: 414

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KEVIN DUTTON

PSYCHOPATHEN

Was man von Heiligen, Anwälten und Serienmördern lernen kann

Aus dem Englischen von Ursula Pesch

Deutscher Taschenbuch Verlag

Ungekürzte Ausgabe 2014

Deutscher Taschenbuch Verlag

© 2012 by Kevin Dutton

Titel der englischen Originalausgabe: ›The Wisdom of Psychopaths.

Lesson in Life from Saints, Spies and Serial Killers‹

(William Heinemann, London 2012)

© 2013 der deutschsprachigen Ausgabe:

Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

Umschlagkonzept: Balk & Brumshagen

Umschlaggestaltung: buxdesign, München

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

eBook ISBN 978-3-423-41778-5 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-34823-2

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de/ebooks

Vorwort

Mein alter Herr war ein Psychopath. Es klingt etwas seltsam, das jetzt, im Nachhinein, zu sagen. Aber er war einer. Definitiv. Er war charmant, unerschrocken und skrupellos (aber nie gewalttätig). Gewissensfragen ließen ihn völlig kalt. Er hat niemanden umgebracht. Aber ein paar Treffer hat er schon gelandet. Gut, dass Gene nicht alles sind, oder?

Mein Vater war unglaublich gut darin, genau das zu bekommen, was er wollte. Oft durch eine lässig hingeworfene Bemerkung. Oder durch eine einzige vielsagende Geste. Die Leute sagten immer, er sehe aus wie Del Boy, eine der Hauptfiguren in der sehr populären englischen Sitcom ›Only Fools and Horses‹, eine sehr selbstbewusste und unbekümmerte Persönlichkeit, die lügt, dass sich die Balken biegen. Es stimmt, mein Vater sah aus wie er und war auch so. Außerdem war er ebenfalls Markthändler, genau wie Del Boy. Die Sendung hätte ein Dutton-Familienvideo sein können.

Einmal half ich ihm dabei, auf dem Petticoat Lane Market im Londoner East End eine Ladung Taschenkalender zu verhökern. Ich war zehn und hätte an dem Tag eigentlich in der Schule sein müssen. Die Taschenkalender waren eine Art Sammlerstück. Sie enthielten nämlich nur 11 Monate.

»Das kannst du nicht machen!«, protestierte ich. »Da ist doch gar kein Januar drin.«

»Weiß ich«, sagte er. »Deshalb habe ich ja auch deinen Geburtstag vergessen.«

Dann legte er los: »Leute, das ist eine einmalige Gelegenheit, an Taschenkalender zu kommen, in denen nur 11 Monate drin sind. Ich mache ein Sonderangebot. Ihr kriegt zwei für den Preis von einem, und im nächsten Jahr dann einen mit einem Extramonat kostenlos dazu.«

Wir haben den ganzen Kram verkauft.

Ich habe immer gedacht, dass mein Vater die ideale Persönlichkeit für den modernen Lebensstil hatte. Ich habe nie gesehen, dass er in Panik geriet. Er hat nie seinen klaren Kopf verloren. Er ist nie in Wut geraten. Und für all das gab es wahrhaftig genügend Anlässe.

»Es heißt, die Ängstlichkeit der Leute stamme noch aus den Zeiten, als man sich gegen Raubtiere verteidigen musste, um zu überleben«, sagte er einmal zu mir. »Aber sag mir bloß, mein Junge, siehst du hier irgendwo einen Säbelzahntiger um die Ecken streichen?«

Natürlich habe ich keinen Säbelzahntiger gesehen. Es gab in der Gegend zwar ein paar Schlangen, aber jeder wusste, wo sie sich befanden.

Lange dachte ich, dieses Bonmot meines Vaters sei auch nichts anderes als seine übliche Handelsware. Nicht viel dahinter. So, wie der ganze andere Krempel, den er erstaunlicherweise immer an den Mann brachte. Aber heute, viele Jahre später, ist mir klar, dass eine tiefe biologische Wahrheit in dem lag, was der alte Fuchs von sich gab. De facto hat er damit knapp und präzise die Einstellung beschrieben, die moderne Evolutionspsychologen einnehmen. Wir Menschen, so scheint es, haben unsere Angstreaktion tatsächlich als Überlebensmechanismus entwickelt, um uns vor natürlichen Feinden zu schützen. Affen, deren Amygdala, das Gefühlssortierbüro des Gehirns, nicht richtig arbeitet, tun sehr dumme Dinge. Sie versuchen zum Beispiel, Kobras vom Boden aufzuheben.

Jahrmillionen später, in einer Welt, in der nicht um jede Ecke wilde Tiere kommen, kann dieses Angstsystem überempfindlich sein– wie ein nervöser Autofahrer, der den Fuß immer über der Bremse hält. Es kann auf Gefahren reagieren, die gar nicht wirklich existieren, und dafür sorgen, dass wir unlogische und unvernünftige Entscheidungen treffen.

»Im Pleistozän gab es keine Aktien«, sagt George Loewenstein, Professor für Wirtschaft und Psychologie an der Carnegie Mellon University in Pittsburgh. »Doch der Mensch ist pathologisch risikoscheu. Viele Mechanismen, die unsere Emotionen steuern, passen eigentlich nicht in die moderne Welt.«

Ich ziehe die Version meines Vaters vor.

Die Feststellung, dass moderne Menschen pathologisch risikoscheu sind, bedeutet selbstredend nicht, dass das immer schon ein Problem war. Man kann sogar so argumentieren, dass zum Beispiel diejenigen von uns, die unter einer richtigen Angststörung leiden, einfach zu viel von etwas haben, was eigentlich eine gute Sache ist. In den Frühzeiten der Menschheit, so meinen Evolutionsbiologen, konnte es in einer feindlichen Umwelt ausschlaggebend sein, wenn man hyperwachsam war. Aus diesem Blickwinkel betrachtet konnte Ängstlichkeit zweifellos ein wichtiger Anpassungsvorteil sein. Je empfindsamer man im Hinblick auf das Geraschel im Unterholz war, desto wahrscheinlicher war es, dass man selbst, die eigene Familie und Sippe am Leben blieben. Auch heutzutage sind ängstliche Menschen besser als andere in der Lage, eine Gefahr früh zu erkennen. Wenn man auf einem Bildschirm unter lauter heiteren oder neutralen Gesichtern ein einziges ärgerliches zeigt, dann erkennen das ängstliche Leute viel schneller als diejenigen, die nicht ängstlich sind. Das kann recht hilfreich sind, wenn ein schneller Rückzug vonnöten ist, weil man sich zufällig allein in dunkler Nacht in einer unbekannten Gegend befindet.

Es ist keine ganz neue Beobachtung, dass psychische Störungen generell auch von Nutzen sein können, dass sie manchmal ganz eigenartige, außergewöhnliche Vorteile mit sich bringen. Wie schon Aristoteles vor mehr als 2400 Jahren feststellte: »Es gibt kein Genie ohne einen Hauch von Wahnsinn.« Vielen Menschen ist diese Verbindung zwischen Genie und Wahnsinn ziemlich präsent aufgrund enorm erfolgreicher Filme wie ›Rain Man‹ oder ›A Beautiful Mind‹, in denen es um Autismus und Schizophrenie geht. In dem Buch ›Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte‹ berichtet der Neurologe und Psychiater Oliver Sacks von seiner berühmten Begegnung mit den Zwillingen John und Michael, beide total autistisch. Sie waren damals 26 und lebten in einer Anstalt. Als eine Schachtel Zündhölzer auf den Boden fiel und der Inhalt sich verteilte, riefen beide gleichzeitig »111«. Sacks sammelte die Zündhölzer ein und fing an zu zählen.

Auch das allseits bekannte Stereotyp vom brillanten, aber »gequälten« Künstler ist nicht ganz unbegründet. Der Maler Vincent van Gogh, der Tänzer Vaslav Nijinsky und John Nash, der Vater der »Spieltheorie«, waren alle psychotisch. Ist das ein Zufall? Nicht, wenn man Szabolcs Kéri glauben darf, Forscher an der Semmelweis-Universität in Budapest. Er scheint ein genetisches Muster entdeckt zu haben, bei dem sich beides, Schizophrenie und Kreativität verbinden. Er hat herausgefunden, dass Menschen mit zwei Kopien einer speziellen DNS-Kombination eines Gens namens Neuregulin 1, einer Variante, die man mit psychotischen Eigenschaften verbindet, aber auch mit einem schlechten Gedächtnis und Empfindlichkeit gegenüber Kritik, im Durchschnitt eine signifikant höhere Kreativität entwickeln als diejenigen, die nur eine oder gar keine Kopie haben. Menschen, die nur eine Kopie davon haben, sind immer noch durchschnittlich kreativer als diejenigen ohne.

Auch eine Depression kann Vorteile haben. Neuere Forschungen legen nahe, dass wir besser denken, wenn wir niedergeschlagen sind, weil sich die Aufmerksamkeit und die Fähigkeit zur Problemlösung steigern. Joe Forgas, Psychologieprofessor an der University von New South Wales, hat ein geniales Experiment erfunden. Er platzierte Schnickschnack, allerhand Spielzeugsoldaten, Plastiktiere und Spielzeugautos an der Kasse eines kleinen Schreibwarengeschäfts in Sydney. Wenn die Kunden herauskamen, testete er ihr Gedächtnis, indem er sie bat, so viele wie möglich von diesen Gegenständen aufzuzählen. Aber die Sache hatte noch einen Dreh. Wenn das Wetter schlecht war, lief Verdis ›Requiem‹ im Hintergrund. Wenn es schön war, wurden die Kunden mit den Klängen von Gilbert und Sullivan traktiert.

Die Ergebnisse hätten eindeutiger nicht sein können. Kunden, die auf schlechte Stimmung konditioniert waren, erinnerten sich an fast vier Mal so viele Gegenstände. Der Regen hatte auf ihre Stimmung gedrückt, die Musik auch, und diese Stimmung hatte dafür gesorgt, dass sie viel aufmerksamer waren. Und was ist die Moral von der Geschichte? Bei gutem Wetter sollte man das Wechselgeld besonders genau nachzählen.

Wenn man die verschiedenen psychischen Störungen im Hinblick darauf betrachtet, welche Vorteile sie bringen, wo Silberstreifen am Horizont und psychologische Trostpreise zu finden sind, dann stellt man fest, es gibt kaum eine, bei der das– zumindest auf die eine oder andere Art– nicht der Fall ist. Sie sind zwangsneurotisch? Dann werden Sie nie aus Versehen den Herd anlassen. Sie sind paranoid? Ihnen wird es nicht passieren, dass Sie das Kleingedruckte überlesen. In der Tat sind Furcht und Trauer– Angst und Depression– zwei der fünf grundlegenden Gefühle[1], die es in allen Kulturen gibt und die wir nahezu alle irgendwann erleben. Aber es gibt eine Ausnahme, eine Gruppe von Menschen, die diese beiden Emotionen nicht kennen, gleichgültig, wie schwierig und anstrengend die Umstände sind: Psychopathen. Ein[2] Psychopath würde sich nicht einmal dann Sorgen machen, wenn er den Herd definitiv angelassen hätte. Sehen Sie da einen Silberstreif am Horizont?

Wenn Sie einem Psychopathen eine solche Frage stellen, wird er Sie wohl in den meisten Fällen verständnislos anblicken, als ob Sie derjenige sind, der verrückt ist. Warum? Für einen Psychopathen gibt es so etwas wie Wolken am Himmel gar nicht, sondern nur Silberstreifen. Die schlichte Beobachtung, dass ein Jahr aus zwölf und nicht aus elf Monaten besteht, machte den Plan, diese Taschenkalender verkaufen zu wollen, eigentlich zu einer Schnapsidee. Nicht so für meinen Vater. Ganz im Gegenteil. Er machte ein Verkaufsargument daraus.

Damit steht er nicht alleine da. Und liegt auch keineswegs falsch, werden manche sagen. Im Verlauf meiner Forschungen habe ich eine ganze Reihe von Psychopathen getroffen, in allen Lebensbereichen– nicht nur, um das klarzustellen, in meiner Familie. Hinter Gefängnistüren bin ich auch Hannibal-Lecter- und Ted-Bundy-Typen begegnet: gnaden- und gewissenlosen Spitzenpsychopathen, denen man das ziemlich rasch anmerkt, ohne weiter nachfragen zu müssen. Aber ich habe auch Psychopathen getroffen, die weit davon entfernt sind, die Gesellschaft zu zerstören, sondern ihr stattdessen durch ihre Kaltblütigkeit und Entschlossenheit dienen, sie schützen und bereichern: Chirurgen, Soldaten, Geheimdienstleute, Unternehmer– und, wie ich zu behaupten wage, Anwälte. »Mach nicht einen auf großspurig, egal, wie gut du bist. Die Leute sollten dich nicht kommen sehen«, rät Al Pacino als Chef einer einflussreichen Anwaltskanzlei in dem Film ›Im Auftrag des Teufels‹. »Das ist der Trick, mein Guter. Mach dich klein. Mach den Hinterwäldler, den Idioten, den Aussätzigen, den Langweiler. Schau mich an– ich bin vom ersten Tag an unterschätzt worden.« Pacino spielte den Teufel. Und traf mit dieser Bemerkung den Nagel auf den Kopf. Wenn es eine Sache gibt, die Psychopathen verbindet, dann ist es die Fähigkeit, ganz normal und unauffällig zu wirken. Doch hinter dieser brillant getarnten Fassade schlägt das Herz eines Säbelzahntigers.

Wie mir ein ziemlich erfolgreicher junger Anwalt auf der Terrasse seines Penthouses mit Blick auf die Themse sagte: »Tief in mir lauert ein Serienmörder. Aber ich halte ihn bei Laune mit Koks, Formel 1, One-Night-Stands und brillanten Kreuzverhören.«

Ganz vorsichtig bewegte ich mich von der Brüstung weg.

Diese luftige Begegnung mit dem jungen Anwalt, der mich später mit seinem Schnellboot auf der Themse zurück ins Hotel brachte, illustriert in gewisser Weise eine Theorie, die ich über Psychopathen habe. Wir sind so fasziniert von ihnen, weil wir fasziniert sind von Illusionen, von Dingen, die auf den ersten Blick ganz normal erscheinen, sich bei näherer Betrachtung aber als etwas ganz anderes herausstellen. Amyciaea lineatipes ist eine Spinnenart, die genauso aussieht wie die Ameisen, die sie gerne frisst. Ihre Opfer erkennen erst, wenn es zu spät ist, dass sie Charaktere nicht wirklich gut beurteilen können. Viele Menschen, die ich interviewen konnte, kennen dieses Gefühl nur zu gut. Und das sind noch diejenigen, die Glück gehabt haben.

Werfen Sie einen Blick auf das folgende Bild. Wie viele Fußbälle sehen Sie? Sechs? Schauen Sie noch einmal genau hin. Immer noch sechs?[3]

So ist das auch mit Psychopathen. Sie haben eine makellose Tarnung. Nach außen hin sind sie sympathisch, charmant, charismatisch. Dadurch werden wir von ihrem »wahren Gesicht« abgelenkt, sehen nicht, dass sich eine Anomalie dahinter versteckt, und fühlen uns von ihrer hypnotischen Präsenz angezogen.

Klinisch betrachtet ist Psychopathie eine Form der Persönlichkeitsstörung. Aber wie Angst, Depression und andere psychische Störungen kann sie gelegentlich anpassungsfähig sein. Psychopathen wie der Teufel Al Pacino und sein prächtiger Londoner Zögling können auch gut für uns sein, zumindest in Maßen. Wir werden sehen, dass Psychopathen eine Reihe von Eigenschaften haben, von denen persönliche Anziehungskraft und ein Talent zur Verstellung nur das Startpaket sind, die nicht nur am Arbeitsplatz, sondern im Alltag generell von Nutzen sein können, vorausgesetzt, man kann damit umgehen. Psychopathie ist wie Sonneneinstrahlung. Wenn man zu viel davon abbekommt, ist sie gefährlich. Aber bei einem vernünftigen Umgang hat sie einen positiven Einfluss auf das Wohlbefinden und die Lebensqualität.

Im Folgenden werden wir diese Eigenschaften genauer betrachten. Und erfahren, dass wir unser Leben dramatisch verändern können, wenn wir die eine oder andere von ihnen in unsere eigene psychologische Ausrüstung integrieren. Selbstverständlich liegt es mir fern, die Handlungen von Psychopathen zu glorifizieren. Das wäre ja so, als würde man ein kognitives Melanom glorifizieren, eine Art Persönlichkeitskrebs. Aber es gibt Hinweise darauf, dass ihre Eigenschaften in kleinen Dosen erstaunliche Vorzüge haben können.

Einige davon kenne ich aus eigener Erfahrung. Die Jahre vergingen, mein Vater zog sich aus dem Handel zurück. Die Götter meinten es nicht mehr besonders gut mit ihm. Und das, obwohl er seinerseits überhaupt nicht wählerisch gewesen war. Auf der Ladefläche seines dreirädrigen Kleintransporters hatten Buddha-Figuren und gerahmte Koranverse genauso ihren Platz gefunden wie Madonnen und Herz-Jesu-Darstellungen. Er bekam Parkinson. Früher hatte er es geschafft, einen Koffer in zehn Sekunden zu packen, eine Fähigkeit, die sich oft als sehr praktisch erwiesen hatte. In beängstigend kurzer Zeit konnte er nicht mal mehr stehen, ohne dass man ihn von beiden Seiten stützte. »Früher haben das die Bullen gemacht«, sagte er gerne.

Aber sein größter Moment kam zweifellos nach seinem Tod. Zumindest wurde ich erst darauf aufmerksam, als er bereits gestorben war. Eines Abends, nicht lange nach der Beerdigung, sah ich seine Sachen durch. In einer Schublade stieß ich auf ein Notizbuch. Die Notizen stammten von den verschiedenen Pflegekräften, die meinen Vater in den letzten Monaten betreut hatten. Obwohl ihn so ziemlich alle davon abbringen wollten, war es meinem Dad gelungen, die letzte Zeit seines Lebens zu Hause zu verbringen. Es war eine Art Pflegetagebuch.

Das Erste, was mir daran auffiel, war, wie gewissenhaft und sorgfältig die Einträge waren. Eindeutig von weiblicher Hand. Je mehr ich las, desto klarer wurde mir, wie wenig Abwechslung es in Vaters letzten Tagen auf Erden gegeben hatte, wie öde und monoton dieser letzte Abschnitt am Marktstand seines Lebens gewesen sein musste. Den Eindruck hat er mir natürlich nie vermittelt, wenn ich bei ihm hereinschneite. Die Parkinson-Erkrankung machte ihn zwar bewegungsunfähig, aber sein Kopf war bis zum Schluss in Ordnung.

Aber jetzt dämmerte mir, wie es wirklich gewesen war:

»Mr. Dutton um 7.30 aus dem Bett geholt.«

»Mr. Dutton rasiert.«

»Mr. Dutton ein Gurkensandwich gemacht.«

»Mr. Dutton eine Tasse Tee gemacht.«

Und so weiter und so fort. Ad infinitum.

Bald wurde mir langweilig und ich begann querzulesen. Da stach mir plötzlich etwas ins Auge. Auf einem Blatt stand in zittrigen krummen Großbuchstaben: »MR. DUTTON HAT IM FLUR RAD GESCHLAGEN.« Und ein paar Seiten später: »MR. DUTTON HAT AUF DEM BALKON EINE STRIP-SHOW HINGELEGT.«

Irgendetwas sagte mir, da hat er wohl gelogen. Typisch für ihn. Schließlich hatte er es das ganze Leben so gehalten.

Aber die Spielregeln hatten sich geändert. Und hinter diesem Quatsch ließ sich eine höhere Wahrheit erkennen. Die Geschichte eines Mannes, dessen Seele unter Beschuss stand, dessen Schaltkreise und Synapsen hoffnungslos und gnadenlos geschlagen waren. Der aber dennoch bis zum Schluss kämpfte, mit unbändiger Respektlosigkeit gegenüber allem und jedem.

Radschlagen und Strip-Shows waren allemal besser als Rasuren und Gurkensandwiches. Was machte es schon, wenn das alles nur Unsinn war?

1 Stich der Skorpione

Groß und gut sind selten dasselbe.

Winston Churchill

Ein Skorpion und ein Frosch sitzen am Ufer eines reißenden Flusses. Beide müssen hinüber auf die andere Seite.

»Hallo, Herr Frosch!«, ruft der Skorpion durch das Schilf. »Wären Sie so nett, mich auf Ihrem Rücken über das Wasser zu bringen? Ich habe auf der anderen Seite wichtige Geschäfte zu führen. Und ich kann bei so starker Strömung nicht schwimmen.«

Der Frosch wird sofort misstrauisch.

»Herr Skorpion«, erwidert er. »Ich verstehe, dass Sie auf der anderen Seite des Flusses wichtige Geschäfte tätigen wollen. Aber denken Sie mal einen Moment lang über Ihre Bitte nach. Sie sind ein Skorpion. Sie haben einen großen Giftstachel an Ihrem Schwanzende. Sobald ich Sie auf meinen Rücken lasse, werden Sie mich stechen. Sie können gar nicht anders.«

Der Skorpion hat schon mit solchen Einwänden des Frosches gerechnet. Er antwortet:

»Mein lieber Herr Frosch, Ihre Vorbehalte sind absolut nachvollziehbar. Aber es liegt eindeutig nicht in meinem Interesse, Sie zu stechen. Es ist wirklich wichtig für mich, auf die andere Seite des Flusses zu gelangen. Und ich gebe Ihnen mein Wort, dass Ihnen nichts geschehen wird.«

Der Frosch sieht ein, dass etwas dran ist an dem, was der Skorpion sagt, und gibt sein Widerstreben auf. Er erlaubt ihm, auf seinen Rücken zu klettern. Und hüpft ins Wasser.

Zunächst ist alles in bester Ordnung und läuft nach Plan. Doch nach der Hälfte der Strecke spürt der Frosch plötzlich einen stechenden Schmerz im Rücken. Aus dem Augenwinkel sieht er, wie der Skorpion den Stachel aus seiner Haut zieht. Ein tödliches Taubheitsgefühl kriecht ihm in die Glieder.

»Du Dummkopf!«, quakt der Frosch. »Du hast gesagt, du müsstest auf die andere Seite, um Geschäfte zu tätigen. Jetzt werden wir beide sterben!«

Der Skorpion zuckt die Achseln und führt auf dem Rücken des ertrinkenden Froschs ein Tänzchen auf.

»Herr Frosch«, antwortet er lässig, »Sie haben es selbst gesagt. Ich bin ein Skorpion. Es entspricht meinem Wesen, zu stechen.«

Dann verschwinden der Skorpion und der Frosch im schmutzigen, trüben Wasser des Stroms.

Und keiner von beiden ward je wieder gesehen.

Bestandteil des Wesens

Im Jahr 1980 wurde dem Amerikaner John Wayne Gacy der Prozess gemacht. Bei der Gelegenheit erklärte er mit einem Seufzer, sein einziges Verbrechen sei es, dass er »einen Friedhof ohne Lizenz betrieben habe«.

Es war wirklich ein Friedhof. Zwischen 1972 und 1978 hatte Gacy mindestens dreiunddreißig junge Männer und Jungen (mit einem Durchschnittsalter von etwa achtzehn Jahren) vergewaltigt und ermordet und dann in einen Kriechkeller unter seinem Haus geschafft. Eins seiner Opfer, Robert Donnelly, überlebte Gacys Aufmerksamkeiten, aber er wurde von ihm so gnadenlos gequält, dass er ihn anflehte, es »hinter sich zu bringen« und ihn zu töten.

Gacy war irritiert. »Dazu komme ich noch«, erwiderte er.

Ich habe das Gehirn von John Wayne Gacy in den Händen gehalten. 1994 wurde er durch eine Todesspritze hingerichtet. Dr. Helen Morrison, eine Zeugin der Verteidigung bei seinem Prozess und eine der weltweit führenden Experten in Bezug auf Serienmörder, hatte bei seiner Autopsie in einem Chicagoer Krankenhaus assistiert. Anschließend war sie mit einem Konservenglas auf dem Beifahrersitz ihres Buick, in dem Gacys Gehirn hin- und herschwappte, nach Hause gefahren. Sie hatte herausfinden wollen, ob es etwas gab– Läsionen, Tumore, eine Krankheit–, das sein Gehirn von den Gehirnen normaler Menschen unterschied.

Bei den Tests kam nichts Ungewöhnliches heraus.

Jahre später hatte ich das Vergnügen, mit Dr. Morrison in ihrem Büro in Chicago bei einer Tasse Kaffee über die Bedeutung dieser Untersuchungsergebnisse zu sprechen. Darüber, was es bedeutete, dass man nichts gefunden hatte, keinerlei Anomalien.

Ich fragte sie: »Heißt das, dass wir im Grunde genommen tief in unserem Inneren alle Psychopathen sind? Dass jeder von uns die Neigung zum Vergewaltigen, Töten und Quälen hat? Wenn es keinen Unterschied zwischen meinem Gehirn und dem von John Wayne Gacy gibt, was genau macht dann den Unterschied aus zwischen mir und diesem Psychopathen?«

Helen Morrison zögerte etwas und wies dann auf eine der fundamentalen Wahrheiten der Neurowissenschaften hin.

»Ein totes Gehirn unterscheidet sich stark von einem lebenden«, sagte sie. »Von außen betrachtet mag das eine Gehirn dem anderen sehr ähnlich sehen, aber dennoch können sie völlig unterschiedlich funktionieren. Ausschlaggebend ist, was passiert, wenn die Lichter an sind, nicht, wenn sie aus sind. Gacy war ein so extremer Fall. Ich hatte mich ja gefragt, ob vielleicht noch etwas anderes die Ursache seines Handelns war– irgendeine Verletzung oder Schädigung des Gehirns oder eine anatomische Anomalie. Doch das war nicht der Fall. Sein Gehirn war normal. Was erneut deutlich macht, wie vielschichtig und schwer durchschaubar das Gehirn ist, wie schwierig es ist, ihm seine Geheimnisse zu entlocken. Zum Beispiel können Unterschiede in der Erziehung oder andere zufällige Erfahrungen subtile Veränderungen der internen Verdrahtung und der Chemie herbeiführen, die dann später für tektonische Verschiebungen des Verhaltens verantwortlich sind.«

Als Helen Morrison so bildhaft vom Licht und den tektonischen Verschiebungen des Verhaltens sprach, erinnerte ich mich an ein Gerücht, das ich einmal über Robert Hare, Psychologieprofessor an der University of British Columbia und einer der weltweit führenden Autoritäten in Bezug auf Psychopathen, gehört hatte. In den 1990er-Jahren hatte Hare bei einer wissenschaftlichen Zeitschrift ein Forschungspapier eingereicht, in dem er unter anderem über die EEG-Reaktionen von Psychopathen und Nicht-Psychopathen bei der Durchführung einer Wortaufgabe berichtete. Hare und sein Koautoren-Team hatten den Testteilnehmern eine Anzahl von vermeintlich beliebigen Buchstabenfolgen gezeigt und sie aufgefordert, so schnell wie möglich festzustellen, ob diese Folgen sinnvolle Wörter enthielten.

Die Ergebnisse waren frappant. In den Buchstabenfolgen gab es emotional befrachtete Wörter wie K-r-e-b-s und V-e-r-g-e-w-a-l-t-i-g-u-n-g und neutrale Wörter wie B-a-u-m oder T-e-l-l-e-r. Die normalen Testteilnehmer identifizierten diese emotional befrachteten Wörter viel schneller als die Psychopathen. Für die Psychopathen waren die Emotionen irrelevant.

Die Zeitschrift, so das Gerücht, hatte das Forschungspapier abgelehnt. Wie ich später erfuhr, nicht wegen seiner Schlussfolgerungen. Nein, es ging um etwas ganz anderes. Einige der EEG-Muster, so behaupteten die Kritiker, seien so anomal, dass sie nicht von wirklichen Menschen stammen konnten. Aber das taten sie definitiv.

Ich war fasziniert von den Rätseln und Geheimnissen des psychopathischen Geistes. Angeregt durch mein Gespräch mit Helen Morrison in Chicago besuchte ich Robert Hare in Vancouver und wollte von ihm wissen, ob das Gerücht wirklich stimmte. War das Forschungspapier wirklich aus diesem Grund abgelehnt worden? Wenn ja, was war mit den untersuchten Gehirnen los?

Ziemlich viel, wie sich herausstellte.

»Es gibt vier unterschiedliche Arten von Gehirnwellen«, erklärte er mir, »von Betawellen während Phasen großer Wachsamkeit über Alpha- und Theta-Wellen bis hin zu Delta-Wellen, die den Tiefschlaf begleiten. Diese Wellen spiegeln die unterschiedlichen elektrischen Aktivitäten im Gehirn zu verschiedenen Zeiten wider. Bei normalen Mitgliedern der Bevölkerung werden die Theta-Wellen mit meditativen Phasen oder Schlafphasen assoziiert. Doch bei Psychopathen treten sie auch während normaler Wachphasen auf– manchmal sogar während Phasen stärkerer Erregung…

Die Sprache hat für einen Psychopathen keine tiefere Bedeutung. Sie ist für ihn nicht emotional besetzt. Wenn ein Psychopath zum Beispiel sagt, ›Ich liebe dich‹, dann hat das für ihn nicht viel mehr Bedeutung als der Satz ›Ich hätte gern eine Tasse Kaffee‹… Das ist einer der Gründe dafür, warum Psychopathen bei extremer Gefahr so kühl, ruhig und gefasst bleiben und warum sie so belohnungsgesteuert sind und Risiken eingehen. Ihr Gehirn ist buchstäblich weniger ›eingeschaltet‹ als das Gehirn von anderen Menschen.«

Ich dachte wieder an Gacy und an das, was mir Helen Morrison erzählt hatte. Auch Gacy hatte nach außen hin völlig normal gewirkt. Er war eine Stütze seiner Gemeinde gewesen und sogar einmal mit der damaligen First Lady Rosalynn Carter fotografiert worden. Seinen inneren Skorpion verbarg er unter einem Deckmantel von Liebenswürdigkeit und Charme. Doch es war Bestandteil seines Wesens, zuzustechen– auch wenn das seinen Untergang bedeutete.

»Leckt mich am Arsch!«, hat er wohl gesagt, als er den Hinrichtungsraum betrat.

Sprechen durch Gehen

Fabrizio Rossi war früher Fensterputzer gewesen. Doch sein Faible für Morde hatte schließlich die Oberhand gewonnen und nun verdiente er damit sogar seinen Lebensunterhalt. Als wir uns an einem milden Frühlingsmorgen gemeinsam und mit einem Gefühl des Unbehagens in John Wayne Gacys Schlafzimmer umsehen, frage ich ihn, wie es kommt, dass wir Psychopathen so unwiderstehlich finden. Warum sie uns so faszinieren.

Diese Frage hört er eindeutig nicht zum ersten Mal.

»Das Entscheidende ist wohl«, sagt Rossi, »dass Psychopathen einerseits so normal, ja, uns so ähnlich sind, sich aber andererseits so stark von uns unterscheiden. Ich meine, Gacy hat sich als Clown verkleidet und ist bei Kinderpartys aufgetreten… So ist das mit den Psychopathen. Nach außen hin wirken sie so gewöhnlich. Doch wenn man an der Oberfläche kratzt und, wie in Gacys Fall, in den Kriechkeller späht, weiß man nie, auf was man stößt.«

Wir befinden uns natürlich nicht in Gacys tatsächlichem Schlafzimmer. Vielmehr handelt es sich um einen Nachbau, Teil einer Ausstellung in einem Museum, das sicher ein Anwärter für den Titel »Grausigstes Museum der Welt« ist: das Serienkiller-Museum in Florenz an der Via Cavour, einer prachtvollen Straße in der Altstadt von Florenz, nur einen Steinwurf vom Dom entfernt.

Und Fabrizio Rossi ist sein Kurator.

Das Museum ist gut besucht. Alle sind dort vertreten: von Jack the Ripper bis zu Jeffrey Dahmer. Von Charles Manson bis zu Ted Bundy.

Bundy sei ein interessanter Fall, sage ich zu Rossi. Ein böses Omen für die verborgene Macht des Psychopathen. Ein peinigender Hinweis darauf, dass sich in dem Kriechkeller noch weitaus mehr verbergen könne als dunkle Geheimnisse– wenn man nur genau genug hinsehe.

Rossi ist, gelinde gesagt, überrascht.

»Aber Bundy ist doch einer der berüchtigtsten Serienmörder aller Zeiten«, meinte er. »Er ist eine der größten Attraktionen des Museums. Was soll es denn da noch mehr geben außer diesen dunklen Geheimnissen?«

2009, zwanzig Jahre nach Bundys Hinrichtung im Florida State Prison (als Bundy zum elektrischen Stuhl geführt wurde, forderten die örtlichen Radiosender ihre Hörer auf, die Haushaltsgeräte auszuschalten, um die Stromzufuhr zu maximieren), beschlossen die Psychologin Angela Book und ihre Kollegen an der Brock University in Kanada, den amerikanischen Serienkiller beim Wort zu nehmen. Bundy, der Mitte der 1970er-Jahre in einem Zeitraum von vier Jahren fünfunddreißig Frauen den Schädel einschlug, hatte während eines Interviews mit dem für ihn typischen jungenhaften, durch und durch amerikanischen Lächeln gesagt, er könne ein »gutes« Opfer einfach an seinem Gang erkennen.

»Ich bin der abgebrühteste Hurensohn, dem Sie je begegnen werden«, hatte Bundy verkündet. Da mochte er wohl recht haben. Aber, so fragte sich Angela Book, war er vielleicht auch einer der schlauesten?

Um dies herauszufinden, führte sie ein einfaches Experiment durch. Zunächst ließ sie siebenundvierzig männliche Studenten die sogenannte Self-Report Psychopathy Scale ausfüllen. Das ist ein Fragebogen, der speziell zu dem Zweck entworfen wurde, psychopathische Persönlichkeitsmerkmale zu messen, und zwar nicht in einem Gefängnis oder in der Psychiatrie, sondern bei der Bevölkerung allgemein. Im Anschluss teilte Book die Probanden in zwei Gruppen ein, je nachdem, ob sie bei diesem Test eine hohe oder eine niedrige Punktzahl erzielt hatten. Dann nahm sie ein Video mit zwölf neuen Teilnehmern auf, auf dem diese zu sehen waren, wie sie durch einen Flur von einem Raum zum anderen gingen. Dort füllten sie einen standardisierten demographischen Fragebogen aus, der die folgenden beiden Fragen mit einschloss: (1) Sind Sie schon einmal zum Opfer gemacht worden (ja oder nein)? (2) Wenn ja, wie oft?

Schließlich zeigte Book den ursprünglichen siebenundvierzig Test-Teilnehmern die zwölf Videoaufnahmen und stellte ihnen folgende Aufgabe: Bewerten Sie auf einer Skala von 1 bis 10, wie gefährdet jede der Zielpersonen ist, ausgeraubt zu werden.

Der Gedankengang war einfach. Wenn Bundys Behauptung stimmte und er wirklich in der Lage gewesen war, potenzielle Opfer schon an ihrem Gang zu erkennen, dann müsste es, so vermutete Book, den Probanden mit einer hohen Punktzahl auf der Self-Report Psychopathy Scale besser gelingen, die Schwäche der Zielpersonen einzuschätzen, als den Probanden mit einer niedrigen Punktzahl.

Genau das war dann auch der Fall. Als Book die Prozedur mit klinisch diagnostizierten Psychopathen aus einem Hochsicherheitsgefängnis wiederholte, fand sie aber noch etwas anderes heraus. Auch wenn die erste Studie gezeigt hatte, dass die »psychopathischen« Studenten mit der hohen Punktzahl gut darin waren, Schwächen zu erkennen: Die klinischen Psychopathen setzten dem noch eins drauf. Sie erklärten ausdrücklich, dass sie die Schwäche der Menschen an ihrer Art zu gehen erkannt hatten. Wie Bundy wussten sie genau, wonach sie suchten.

Röntgenblick

Angela Books Ergebnisse sind keine Eintagsfliege. Ihre Studie gehört zu einer wachsenden Zahl von Forschungen, durch die es in den vergangenen Jahren möglich wurde, Psychopathen in einem neuen, facettenreicheren Licht zu zeigen: Das ist ein anderes Licht als der düstere Schatten, den Schlagzeilen und Hollywood-Drehbuchautoren auf solche Menschen werfen. Die Ergebnisse dieser Forschungen sind schwer zu verdauen. Man begegnet ihnen in der Regel mit einer gesunden Portion Skepsis. So auch in dem mörderischen kleinen Eckchen von Florenz, wo ich mich aufhielt.

»Wollen Sie sagen, dass es zuweilen nicht unbedingt schlecht ist, ein Psychopath zu sein?«, fragt Rossi ungläubig.

»Nicht nur das«, erwidere ich mit einem Nicken. »Manchmal ist es sogar gut, einer zu sein– wenn man nämlich genau deswegen einen Vorteil gegenüber anderen Menschen hat.«

Der ehemalige Fensterputzer war offensichtlich weit davon entfernt, sich überzeugen zu lassen. Und wenn man sich in seinem Museum umsah, war das nicht weiter verwunderlich. In die Gesellschaft von Bundy und Gacy will man wirklich nicht geraten. Seien wir ehrlich: Wenn sich dann auch noch ein paar Dutzend andere von diesem Typus in den Ecken drängen, ist es wohl schwierig, das Positive zu sehen. Doch das Serienkiller-Museum erzählt nicht die ganze Geschichte, de facto nicht einmal die halbe. Denn das Schicksal eines Psychopathen hängt, wie Helen Morrison erläutert hatte, von einer ganzen Reihe von Faktoren ab, einschließlich Genen, Familienverhältnissen, Erziehung, Intelligenz und Chancen. Und wie diese Faktoren miteinander interagieren.

Jim Kouri, der Vizepräsident der US National Association of Chiefs of Police, sieht das ähnlich. Eigenschaften, die man häufig bei psychopathischen Serienkillern antrifft– ein grandioses Selbstwertgefühl, Überzeugungskraft, oberflächlicher Charme, Rücksichtslosigkeit, fehlende Reue und die Fähigkeit, andere Menschen zu manipulieren–, sind, so Kouri, auch unter Politikern und Führungspersönlichkeiten weit verbreitet. Unter Menschen also, die sich nicht vor der Polizei verstecken, sondern ganz das Gegenteil tun. Ein solches Profil, sagt Kouri, erlaubt es den Betreffenden, zu tun, was sie wollen, wann immer sie es wollen, völlig unbeeindruckt von den sozialen, moralischen oder rechtlichen Folgen ihres Handelns.

Wenn Sie unter einem solchen Stern geboren wurden und so viel Macht über den menschlichen Verstand haben wie der Mond über das Meer, dann ordnen Sie womöglich den Mord an 100000 Kurden an und schlurfen mit einer solch rätselhaften Renitenz zum Galgen, dass selbst Ihre schärfsten Gegner eine perverse, unausgesprochene Hochachtung empfinden.

»Ich habe vor niemandem Angst«, soll Saddam Hussein wenige Minuten vor seiner Hinrichtung gesagt haben.

Wenn Sie gewalttätig und durchtrieben sind wie Robert Maudsley, ein »Hannibal Lecter« des wirklichen Lebens, dann locken Sie womöglich einen Mitinsassen in Ihre Zelle, schlagen ihm mit einem Tischlerhammer den Schädel ein und verspeisen sein Gehirn: so lässig, als handele es sich um ein weichgekochtes Ei. (Maudsley hat übrigens die vergangenen dreißig Jahre in Einzelhaft verbracht, eingesperrt in eine mit Panzerglas ausgekleidete Zelle im Kellergeschoss des Wakefield-Gefängnisses in England.)

Sind Sie jedoch ein brillanter Neurochirurg, der auch unter immensem Druck eiskalt und fokussiert handelt, dann könnten Sie so wie James Geraghty Ihr Glück auf einem ganz anderen Spielfeld versuchen: auf den entlegenen Vorposten der Medizin des 21.Jahrhunderts, wo das Risiko mit einer Windgeschwindigkeit von 160Kilometern pro Stunde hereinweht und der Sauerstoff für langes Nachdenken zu dünn ist.

»Ich habe kein Mitgefühl mit denen, die ich operiere«, sagte er mir. »Diesen Luxus kann ich mir einfach nicht leisten. Im OP werde ich wiedergeboren: als kalte, herzlose Maschine, völlig eins mit Skalpell, Bohrer und Säge. Wenn man dem Tod hoch oben über der Schneegrenze des Gehirns ein Schnippchen schlagen möchte, sind Gefühle unangebracht. Emotionen sind äußerst schlecht fürs Geschäft. Ich habe sie im Lauf der Jahre so gut wie ausgemerzt.« Geraghty gehört zu den Topchirurgen Großbritanniens. Bei seinen Worten läuft es einem kalt über den Rücken. Andererseits leuchten sie auch ein.

Kaum hat man das Wort Psychopath ausgesprochen, tauchen im Kopf Bilder von Serienkillern, Vergewaltigern und verrückten Bombenlegern auf. Was aber, wenn ich Ihnen ein völlig anderes Bild zeichne? Wenn ich Ihnen sage, dass der Brandstifter, der Ihr Haus niederbrennt, in einem Paralleluniversum auch der Held sein könnte, der sich mutig in ein brennendes, einsturzgefährdetes Gebäude stürzt, um nach Ihren Lieben zu suchen und sie dort herauszuholen? Oder dass der Jugendliche, der in einer dunklen Gasse mit einem Messer auf Sie lauert, zu einer anderen Zeit an einem anderen Ort mit einem anderen Messer bei einer Operation Ihr Leben retten könnte?

Solche Aussagen sind natürlich schwer zu glauben. Dennoch sind sie wahr. Psychopathen sind furchtlos, selbstsicher, charismatisch, skrupellos und fokussiert, doch im Gegensatz zur landläufigen Meinung nicht unbedingt gewalttätig. Das klingt nicht nur gut– es ist auch gut. Oder kann es vielmehr sein. Es hängt ganz davon ab, welche anderen Persönlichkeitsmerkmale sich noch dazugesellen. Der Fall ist keineswegs so klar, wie es auf Anhieb scheint: Entweder ist man ein Psychopath oder man ist keiner. Es gibt innere und äußere Zonen der Störung: ein bisschen wie bei den Tarifzonen auf einer U-Bahn-Karte. Wir haben es, wie wir in Kapitel 2 sehen werden, mit einem Spektrum zu tun, auf dem fast jeder von uns seinen Platz hat. Nur eine kleine Minderheit bevölkert die »Innenstadt«.

Ein Mensch kann zum Beispiel unter Druck eiskalt sein und etwa so viel Empathie zeigen wie eine Lawine (einigen von dieser Sorte werden wir später auf dem Börsenparkett begegnen). Das bedeutet nicht automatisch, dass er auch gewalttätig, antisozial oder gewissenlos handelt. Ein solches Individuum weist zwar zwei psychopathische Merkmale auf und steht damit auf der »psychopathischen« Skala höher als jemand, dem diese Merkmale fehlen. Damit ist es aber noch weit entfernt von der Gefahrenzone derjenigen, die sämtliche psychopathischen Merkmale aufweisen.

Zwischen einem Tiger Woods und jemandem, der an den Wochenenden zur Erholung Golf spielt, gibt es keine scharfe, klar definierbare Trennlinie. Genauso unscharf ist auch die Grenze zwischen einem Weltklassepsychopathen und jemandem, der sich lediglich »psychopathisch« verhält. Psychopathische Merkmale sind wie die Stellknöpfe und Schieberegler an einem Mischpult. Wenn man alle auf maximal stellt, kommt ein Soundtrack heraus, mit dem keiner etwas anfangen kann. Wird der Soundtrack jedoch so zusammengemischt, dass einige Knöpfe und Regler höher eingestellt sind als andere– so wie zum Beispiel Furchtlosigkeit, Fokus, mangelnde Empathie und mentale Härte–, kann es sich um einen überragenden Chirurgen handeln, der auf seinem Gebiet höchste Leistungen vollbringt.

Natürlich ist die Chirurgie nur ein Beispiel dafür, dass sich ein psychopathisches »Talent« als vorteilhaft erweisen kann. Es gibt andere. Nehmen wir zum Beispiel die Strafverfolgung. Im Jahr2009, kurz nachdem Angela Book die Ergebnisse ihrer Studie veröffentlicht hatte, beschloss ich, eigene Forschungen zu betreiben. Wenn es, wie Book festgestellt hatte, Psychopathen tatsächlich besser gelang, Schwächen zu erkennen, dann musste es auch Bereiche geben, in denen sich diese Fähigkeit zum Vorteil der Gesellschaft nutzen ließ. Die Erleuchtung kam mir, als ich einen Freund am Flughafen abholte. Wir werden alle ein bisschen paranoid, wenn wir durch den Zoll gehen, dachte ich mir. Selbst wenn wir völlig unschuldig sind. Doch wie würde es sich wohl anfühlen, wenn wir wirklich etwas zu verbergen hätten?

An meinem Experiment nahmen dreißig Studenten teil: Die Hälfte von ihnen hatte auf der Self-Report Psychopathy Scale eine hohe Punktzahl erzielt, die andere Hälfte eine niedrige. Darüber hinaus gab es fünf mögliche »Täter«. Die Aufgabe der Studenten war leicht. Sie mussten in einem Klassenzimmer sitzen und beobachten, wie die potenziellen »Täter« durch eine Tür hereinkamen, eine kleine erhöhte Bühne überquerten und auf der anderen Seite wieder hinausgingen. Doch das war nicht alles. Die Studenten mussten aus den Bewegungen der »Täter« auch schließen, wer von ihnen »schuldig« war: wer von den fünfen ein scharlachrotes Taschentuch schmuggelte.

Um den Anreiz zu erhöhen, erhielt der »schuldige« Täter, d.h. der mit dem Taschentuch, 100 Pfund. Gelang es der Jury, ihn zu identifizieren, musste er das Geld zurückgeben. Kam der »schuldige Täter« jedoch davon, weil der Verdacht auf jemand anderen fiel, wurde er belohnt und durfte die 100 Pfund behalten.

Die »Täter« waren eindeutig nervös, als sie ihren Auftritt hatten. Aber wer von den Studenten würde der bessere »Zollbeamte« sein? Würden sich die Raubtierinstinkte der Psychopathen als verlässlich erweisen? Oder würde ihr Gespür für Schwächen sie im Stich lassen?

Die Ergebnisse waren außergewöhnlich. Von den Probanden, die auf der Self-Report Psychopathy Scale eine hohe Punktzahl erzielt hatten, pickten über 70Prozent den »Schmuggler« heraus. Bei den Probanden mit einer niedrigen Punktzahl schafften es nur 30Prozent.

Schwächen zu erkennen mag also durchaus zum Werkzeugsatz eines Serienkillers gehören. Aber es könnte sich auch am Flughafen als nützlich erweisen.

Psychopathenradar

2003 führte Reid Meloy, Professor für Psychiatrie an der School of Medicine der University of California in San Diego, ein Experiment durch, das ein Licht auf die Kehrseite der Taschentuch-Gleichung warf.1 Die Asse unter den Psychopathen haben offenbar ein Gespür für die Verletzlichkeit ihrer Mitmenschen. Sie sind aber auch dafür bekannt, dass sie uns das Gruseln lehren. In Geschichten aus der klinischen Praxis und in Berichten aus dem Alltagsleben gibt es zahllose Aussagen von Menschen, die solchen unbarmherzigen sozialen Raubtieren begegnet sind, Aussagen wie: »Mir haben sich die Nackenhaare aufgestellt« oder »Als ich ihn sah, hab ich eine Gänsehaut bekommen«. Aber ist da tatsächlich etwas dran? Halten unsere Instinkte einer genauen Überprüfung stand? Sind wir ebenso gut in der Lage, Psychopathen einzuschätzen, wie die Psychopathen es verstehen, uns einzuschätzen?

Um dies herauszufinden, fragte Meloy 450 in den Bereichen Strafjustiz und psychische Gesundheit Beschäftigte, ob sie bei der Befragung von Psychopathen– gewalttätigen Kriminellen, bei denen alle Mischpult-Regler auf maximal gestellt sind– je solch seltsame körperliche Reaktionen gehabt hätten.

Die Ergebnisse waren absolut eindeutig. Mehr als drei Viertel bejahten diese Frage, wobei der Prozentsatz bei den Frauen höher lag als bei den Männern (84 verglichen mit 71Prozent). Kliniker mit einem Master/Bachelor-Abschluss berichteten häufiger davon als Kliniker mit einem Doktortitel, aber auch als Polizeibeamte (84Prozent gegenüber 78Prozent bzw. 61Prozent). Die Äußerungen lauteten in etwa: »Hatte das Gefühl, ich könnte als Mittagessen dienen«, »Abscheu… Widerwillen… Faszination« und »Mir lief es kalt den Rücken hinunter«.

Was genau nehmen wir da eigentlich wahr?

Um diese Frage beantworten zu können, geht Meloy in der Zeit zurück: in die menschliche Vorgeschichte mit den geheimnisvollen, schemenhaften Geboten menschlicher Evolution. Es gibt eine Reihe von Theorien zur möglichen Entstehung der Psychopathie, mit denen wir uns später noch beschäftigen werden. Eine sehr wichtige Frage im Zusammenhang mit ihren Ursachen besteht darin, aus welcher ontologischen Perspektive sie überhaupt betrachtet werden sollte: von einem klinischen Standpunkt aus als Persönlichkeitsstörung? Oder vom Standpunkt der Spieltheorie aus als legitimer biologischer Schachzug– als Lebenszyklusstrategie, die in der urzeitlichen Umgebung unserer Ahnen wichtige reproduktive Vorteile hatte?

Kent Bailey, emeritierter Professor für klinische Psychologie an der Virginia Commonwealth University, vertritt die zweite Perspektive und stellt die Theorie auf, dass ein heftiger Konkurrenzkampf innerhalb und zwischen Abstammungsgruppen der primäre evolutionäre Vorläufer der Psychopathie gewesen sei (oder, wie er sagt, des »Kriegsfalken«).2

»Ein gewisser Grad an Raubtierhaftigkeit«, so Bailey, »war bei der Jagd auf großes Haarwild für das Aufspüren und Töten nötig«– und ein Elitetrupp skrupelloser »Kriegsfalken« hätte sich vermutlich nicht nur beim Aufspüren und Töten der Beute als nützlich erwiesen, sondern auch als Verteidigungstrupp zur Abwehr unerwünschter Annäherungsversuche von ähnlichen Trupps benachbarter Gruppen.

Das Problem war natürlich, was man in Friedenszeiten mit den Kriegsfalken anfangen soll? Die Forschungen von Robin Dunbar, Professor für Psychologie und evolutionäre Anthropologie an der Oxford University, unterstützen Baileys Behauptungen.3 Dunbar geht zurück zu den Wikingern ins neunte bis elfte Jahrhundert und führt als Beispiel die »Berserker« an: die gefeierten Wikingerkrieger, die– wie die Sagen, Gedichte und historischen Berichte zeigen– offenbar mit brutaler, tranceartiger Heftigkeit gekämpft haben. Sieht man sich genauer in der Literatur um, ergibt sich ein noch etwas düstereres Bild von einer gefährlichen Elite, die sich zuweilen gegen Mitglieder der Gemeinde wendete, die sie beschützen sollte, und ihren eigenen Landsleuten brutale Gewalt antat.

Hier liegt laut Meloy die Lösung des Geheimnisses: die Erklärung für die sich aufstellenden Nackenhaare und unseren »Psychopathenradar«. Denn wenn diese raubtierhaften Individuen unter unseren Vorfahren tatsächlich psychopathisch waren, wie Kent Bailey behauptet, dann musste man nach allem, was man über die natürliche Selektion weiß, folgern, dass es sich nicht um eine Einbahnstraße gehandelt haben kann. Friedfertigere Mitglieder der unmittelbaren wie auch der größeren Gemeinschaft werden höchstwahrscheinlich einen Mechanismus entwickelt haben, eine geheime neurale Überwachungstechnologie, die Gefahr signalisierte, wenn etwas in den kognitiven Luftraum eindrang– ein geheimes Frühwarnsystem, damit man sich schnell aus dem Staub machen konnte.

Wenn man betrachtet, was Angela Book über die Opfer von Angriffen herausgefunden hat und ich über das Schmuggeln von roten Taschentüchern, dann wäre ein solcher Mechanismus auch eine ziemlich plausible Erklärung für die Geschlechter- und Statusunterschiede in Meloys Experiment. Wenn man sich den Psychopathen als eine Art diabolischen emotionalen Sommelier mit einem Näschen für die verborgenen Basstöne der Schwäche vorstellen muss, dann lässt sich nicht ausschließen, dass Frauen als raffinierten darwinistischen Ausgleich für eine größere physische Verletzlichkeit sehr wohl intensivere und häufigere Reaktionen zeigen– aus genau demselben Grund wie die Kliniker mit einem niedrigeren Status.

Auf jeden Fall ist es eine Arbeitshypothese: Je stärker man sich bedroht fühlt und je höher das Risiko für einen Einbruch ist, desto wichtiger ist es, die Sicherheitsmaßnahmen zu verschärfen.

Zweifellos gab es in den fernen Tagen unserer Vorfahren gnadenlose, unbarmherzige Jäger, die in der Kunst des räuberischen Verhaltens versiert waren. Sie mussten sich in der Natur sehr gut auskennen, um Erfolg zu haben. Das muss aber noch nicht heißen, dass sie Psychopathen waren, wie wir sie heute kennen. Dagegen spricht aus diagnostischer Sicht die Empathie. Denn es ist anzunehmen, dass nicht die blutrünstigsten und unermüdlichsten Individuen die erfolgreichsten Jäger waren, wie man vielleicht erwarten würde, sondern die mit der größten Gelassenheit und dem besten Einfühlungsvermögen. Sie konnten die Mentalität ihrer Beute verstehen, sie waren fähig, »über den Tellerrand zu gucken«, sich in die Lage der Jagdobjekte zu versetzen und damit auch die typischen Fluchtstrategien vorauszusagen.

Um das zu verstehen, muss man nur beobachten, wie ein Kleinkind laufen lernt. Die allmähliche Entwicklung der aufrechten Fortbewegung, der zunehmenden Zweifüßigkeit, kündigte den Beginn einer brandneuen Ära der Lebensmittelbeschaffung an. Eine aufrechte Haltung ermöglichte eine effizientere Mobilität und erlaubte es unseren Vorfahren in der afrikanischen Savanne, über wesentlich längere Zeitspannen nach Futter zu suchen und zu jagen, als es mit der vierbeinigen Fortbewegung möglich gewesen wäre.

Doch die »Ausdauerjagd«, wie die Anthropologie sie nennt, hat ihre eigenen Probleme. Gnus und Antilopen können viel schneller laufen als der Mensch. Bevor er guckt, sind sie hinter dem Horizont verschwunden. Gelingt es dem Jäger jedoch, vorherzusagen, wo sie schließlich vielleicht anhalten werden, indem er nachsieht, was sie bei ihrer Flucht zurückgelassen haben, oder ihre Gedanken liest, oder beides–, kann er seine Erfolgschancen und damit auch seine Überlebenschancen verbessern.

Wie aber können Jäger, die Empathie zeigen und in manchen Fällen sogar in hohem Maße empathisch sind, Psychopathen sein? Was Psychopathen angeht, sind sich die meisten Leute in einer Sache einig: Charakteristisch ist das deutliche Fehlen von Gefühlen und ein außergewöhnlicher Mangel an Verständnis. Wie also lösen wir diese Quadratur des Kreises?

Hilfe naht in Form der kognitiven Neurowissenschaften, unterstützt von ein wenig teuflischer Moralphilosophie.

Das Straßenbahn-Dilemma

Joshua Green, Psychologe an der Harvard University, hat die letzten Jahre damit verbracht, zu beobachten, wie Psychopathen moralische Dilemmata lösen, wie ihr Gehirn in verschiedenen ethischen Druckkammern reagiert.4 Und hat etwas Interessantes herausgefunden. Empathie ist keineswegs ein homogenes Phänomen, Empathie ist schizophren. Es gibt zwei unterschiedliche Arten: warm und kalt.

Betrachten Sie das folgende Gedankenexperiment (Fall 1), das erstmals von der Philosophin Philippa Foot beschrieben wurde:5

Eine Straßenbahn donnert unkontrolliert über ein Gleis und droht, fünf Menschen zu überrollen, die sich dort befinden und nicht entkommen können. Glücklicherweise können Sie eine Weiche umstellen und die Straßenbahn weg von den fünf Menschen auf ein anderes Gleis umleiten– doch zu einem Preis. Auf eben diesem Gleis befindet sich eine andere Person, die stattdessen ums Leben kommen wird. Sollten Sie die Weiche umstellen?

Die meisten von uns haben wenig Probleme damit, zu entscheiden, was in dieser Situation zu tun ist. Die Aussicht, die Weiche umzustellen, ist zwar keine schöne, doch nach der Nutzenabwägung– ein Menschenleben zu opfern, um fünf zu retten– »das kleinere Übel«. Richtig?

Doch wie sieht es in folgender Situation aus (Fall 2), einer Variation dieses Gedankenexperiments, die von der Philosophin Judith Jarvis Thomson stammt:6

Wie zuvor ist eine Straßenbahn außer Kontrolle geraten und rast auf fünf Menschen zu. Dieses Mal stehen Sie jedoch hinter einem sehr großen, fetten Fremden auf einer Fußgängerbrücke über den Gleisen. Die einzige Möglichkeit, die fünf Menschen zu retten, ist die, den Fremden von der Brücke zu stoßen. Er wird in den sicheren Tod fallen, doch mit seinem massigen Körper die Straßenbahn aufhalten und fünf Leben retten. Sollten Sie ihn stoßen?

Hier, so könnte man sagen, sehen wir uns einem »echten« Dilemma gegenüber. Obwohl das Verhältnis von geretteten und geopferten Menschenleben exakt dasselbe ist wie im ersten Beispiel (fünf zu eins), reagieren wir auf dieses Experiment ein bisschen vorsichtiger und nervöser. Und warum?

Joshua Green glaubt, dass er die Antwort kennt: In die Entscheidung sind jeweils unterschiedliche Klimaregionen im Gehirn involviert.

Fall 1, so Green, ist das, was wir als unpersönliches moralisches Dilemma bezeichnen könnten. Hier werden Gehirnregionen wie der präfrontale Kortex und die hintere Parietalrinde (insbesondere der anteriore paracinguläre Kortex, der Schläfenpol und die obere Schläfenfurche) aktiviert, die vornehmlich mit unserer objektiven Erfahrung der kalten Empathie zu tun haben: mit logischem, rationalem Denken.

Bei Fall 2 hingegen könnten wir von einem persönlichen moralischen Dilemma sprechen, bei dem das als Amygdala bekannte Emotionszentrum des Gehirns– der Schaltkreis der warmen Empathie– aktiviert wird.

Wie die meisten von uns haben Psychopathen relativ wenig Probleme in Fall 1. Sie stellen die Weiche um und die Straßenbahn wird umgeleitet und tötet nur einen statt fünf Menschen. Doch im Unterschied zu normalen Menschen– und da wird die Sache interessant– fackeln sie auch in Fall 2 nicht lange. Ohne mit der Wimper zu zucken, stoßen sie den fetten Mann von der Brücke, wenn die Situation es verlangt.

Dieser Verhaltensunterschied spiegelt sich auch sehr deutlich in den Gehirnaktivitäten wider. Deren Muster stimmen im Fall unpersönlicher moralischer Dilemmata bei Psychopathen und Nicht-Psychopathen überein, unterscheiden sich jedoch dramatisch, wenn die Dinge ein bisschen persönlicher werden.

Stellen Sie sich vor, ich hätte Sie an einen Magnetresonanztomographen angeschlossen und dann mit den beiden Szenarien konfrontiert. Was würde ich beobachten, während Sie sich durch diese moralischen Minenfelder lavieren? Etwa in dem Moment, in dem aus einem unpersönlichen Dilemma ein persönliches wird, würde ich sehen, dass Ihre Amygdala und die mit ihr verbundenen Schaltkreise– Ihr medialer orbitofrontaler Kortex z.B.– aufleuchten wie ein Spielautomat. In dem Moment haben nämlich die Emotionen ihre Münze eingeworfen, sozusagen. Bei einem Psychopathen würde ich jedoch nur Dunkelheit sehen. Das Nervencasino wäre verschlossen und verlassen und der Übergang vom Unpersönlichen zum Persönlichen ginge unbemerkt vonstatten.

Die Unterscheidung zwischen warmer und kalter Empathie– der Art von Empathie, die wir »fühlen«, wenn wir andere beobachten, und dem emotionalen Kalkül, das es uns ermöglicht, gelassen und unvoreingenommen abzuschätzen, was ein anderer denken könnte, ist gewiss Musik in den Ohren von Theoretikern wie Reid Meloy und Kent Bailey. Psychopathen mag es an der gefühlsbetonten Variante mangeln. Doch wenn es um das »Verstehen« statt um das »Fühlen« geht, das eine unpersönliche, unberührte Vorhersage im Gegensatz zu einer persönlichen Identifikation ermöglicht und sich auf das symbolische Verarbeiten statt auf die affektive Symbiose stützt, dann sind die Psychopathen eine Klasse für sich. Das sind genau die kognitiven Fertigkeiten, über die geschickte Jäger und im kalten Deuten Geübte nicht nur in der freien Natur, sondern auch in zwischenmenschlichen Beziehungen verfügen. Sie fliegen mit nur einem Empathiemotor sogar besser als mit zweien. Das ist eine der Ursachen dafür, dass sie so hervorragende Verführer sind. Wenn man weiß, wo die Knöpfe sind und beim Drücken die Wärme nicht spürt, dann ist es durchaus möglich, dass man den Jackpot gewinnt.

Die Unterscheidung zwischen den beiden Arten der Empathie ist zweifellos auch Musik in den Ohren von Robin Dunbar. Manchmal, wenn er sich nicht gerade mit den Berserkern beschäftigt, ist er im Aufenthaltsraum des Magdalen College anzutreffen. Eines Nachmittags sitzen wir bei Tee und Gebäck in einer mit Eichenholz getäfelten Nische mit Blick auf die Kreuzgänge und ich erzähle ihm von den Straßenbahnen und von den Unterschieden, die sie bei der Gehirnfunktion eines Psychopathen und eines normalen Menschen verursachen. Dunbar ist nicht im Geringsten überrascht.

»Die Wikinger hatten damals die Dinge ziemlich gut im Griff«, sagt er. »Und die Berserker haben natürlich nichts getan, was den Ruf zerstört hätte, dass man sich besser nicht mit ihnen anlegt. Ihre Rolle war die, skrupelloser, kaltblütiger und wilder als der durchschnittliche Wikinger-Soldat zu sein, weil sie genau das auch waren! Sie waren skrupelloser, kaltblütiger und wilder als der durchschnittliche Wikinger-Soldat. Wenn Sie einen Berserker an einen Gehirnscanner angeschlossen und mit dem Straßenbahn-Dilemma konfrontiert hätten, dann wäre meiner Ansicht nach ziemlich sicher, was Sie da gesehen hätten. Nämlich genau dasselbe wie bei einem Psychopathen. Nichts. Und mit dem fetten Typen wäre es vorbei gewesen!«

Ich bestreiche mir einen Teekuchen mit Butter.

»Ich glaube, jede Gesellschaft braucht Leute, die die Drecksarbeit für sie leisten«, fährt er fort. »Leute, die keine Angst davor haben, harte Entscheidungen zu treffen. Unangenehme Fragen zu stellen. Sich in die Schusslinie zu begeben. Und solche Menschen gehören nicht zwingend zu denen, mit denen Sie gern Ihren Nachmittagstee trinken würden. Möchten Sie noch ein Gurkensandwich?«

Daniel Bartels von der Columbia University und David Pizarro von der Cornell University stimmen dieser Ansicht voll und ganz zu– und verfügen über entsprechendes Belegmaterial.7 Studien haben gezeigt, dass rund 90Prozent der Menschen sich weigern, den Fremden von der Brücke zu stoßen, obwohl sie wissen, dass fünf andere Menschenleben gerettet werden, wenn sie nur ihre moralische Zimperlichkeit überwinden könnten. Allerdings bleiben dann natürlich immer noch zehn Prozent: eine Minderheit mit einer geringer ausgeprägten moralischen Hygiene, die, wenn es hart auf hart kommt, kaum oder überhaupt keine Gewissensbisse hat, ein Menschenleben zu opfern. Aber wer ist diese skrupellose Minderheit? Wer sind diese zehn Prozent?