Gelingendes Leben in einer unsicheren Welt - Rainer Zech - E-Book

Gelingendes Leben in einer unsicheren Welt E-Book

Rainer Zech

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Beschreibung

Dieses Buch ist eine philosophische Reise durch eine unsichere Welt. Rainer Zech entwirft eine Ethik, die zum gelingenden Umgang mit den aktuellen Krisen der Gegenwartsgesellschaft befähigen soll: Klimawandel, Finanzkrisen, Terrorismus, Demokratiekrise, Viruspandemie. Er begründet den Übergang von der landläufigen Ethik der Arbeit zu einer allumfassenden Ethik des Lebens. Aus der notwendigen Unsicherheit des Lebens sowie der Fluidität und prozesshaften Veränderung des menschlichen Selbst werden die Herausforderungen und Aufgaben abgeleitet, denen ethisch verantwortliches Handeln genügen muss, das nicht nur die eigene Würde, sondern die Würde alles Lebendigen im Blick hat. Das Buch gipfelt mit einer Reflexion des gelingenden Lebens als Ziel der Ethik und behandelt die größte Unsicherheit des Lebens, den Tod, und wie ein gelingendes Sterben möglich sein könnte. Dies wird garniert mit der Einheit des Wahren, Guten und Schönen, die für ein gutes Leben existenziell ist.

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Rainer Zech

Gelingendes Leben in einer unsicheren Welt

Ein ethischer Kompass

 

 

 

 

Vandenhoeck & Ruprecht

Für meinen Vater

Mit einer Tabelle

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

© 2022 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe

(Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich)

Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: Paul Klee, Der Ballon im Fenster, 1929/akg-images/André Held

Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Produktion: Lumina Datamatics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISBN 978-3-647-99420-8

Inhalt

Vorwort zur Warnung an die Leserschaft

Einleitung – Umrisse einer Ethik für ein Leben in einer unsicheren Welt

Umfassende Unsicherheit als Ausgangspunkt

Der Mensch als Teil der Welt

Sorge und Spiel

Responsefähigkeit

Der und das Andere als mein ethisches Maß

Philosophische Ethiken

Eine Ethik des Lebens in einer unsicheren Welt

Das summum bonum der Ethik

Eine wichtige Tugend: Selbstüberraschungsfähigkeit

Von einer Ethik der Arbeit zu einer Ethik des Lebens

Arbeitsethik: Macht – Arbeit – Sinn?

Die Ethik des selfmade man of wealth

Die meritokratische Ethik

Auf dem Weg zu einer Ethik des Lebens

Ethik als existenzielle Haltung und Praxis in einer mehr als menschlichen Welt

Neues entsteht in Krisenzeiten

Die inhaltlichen Voraussetzungen – die Begründung der Ethik in der Natur

Der Zauber des modernen Lebens

Die zauberhafte Welt der dynamischen Materie

Die Wirklichkeit als lebendige Potenzialität

Pflegschaft des Lebens – die Begründung der Ethik in der Natur

Einige Grundprinzipien einer Ethik in einer mehr als menschlichen Welt

Die Doppelstruktur des summum bonum und die ethischen Herausforderungen des Menschen

Was ist Leben? – eine unbeantwortbare, aber folgenreiche Frage

Mensch, Selbst, Subjekt – ein transformativer Prozess

Die Doppelstruktur des summum bonum und die ethischen Herausforderungen des Menschen

Sorge und Spiel – die beiden grundlegenden Handlungsformen der Ethik in einer unsicheren Welt

Sorge

Sorge als existenziales Grundphänomen

Sorge um sich

Sorge um die Welt

Sorge in einer mehr als menschlichen Welt

Die Bedeutung der Sorge für die Ethik

Spiel

Der Mensch ist nur Mensch, wenn er spielt

Homo ludens – der spielende Mensch

Spielerische Lebenskunst

Spiel der Potenzialität

Die Bedeutung des Spiels für die Ethik

Der Zusammenhang von Sorge und Spiel und der doppelte Bezug aufs Grundgute

Gelingendes Leben und Sterben und die Einheit des Wahren, Guten und Schönen

Gelingen statt Erfolg

Exkurs: Gelingen im Daoismus

Gelingendes Leben

Die Einheit des Wahren, Guten und Schönen

Zum Schluss der Tod – Gelingendes Sterben

Ein Blick zurück

Epilog: Mein Vater

Anmerkungen

Literatur

Vorwort zur Warnung an die Leserschaft

»In Wirklichkeit ist jeder Leser, wenn er liest, eigentlich ein Leser seiner selbst. Das Werk des Schriftstellers ist lediglich eine Art von optischem Instrument, das der Autor dem Leser reicht, damit er erkennen möge, was er selbst in sich selbst vielleicht sonst nicht hätte sehen können.«1 (Marcel Proust)

Die Auseinandersetzung mit Literatur – sei sie wissenschaftlicher, philosophischer oder belletristischer Art – erlaubt uns, unsere eigene Sichtweise zu erweitern bzw. uns aus alten Denkgewohnheiten zu befreien. Sie erlaubt uns – um mit Michel Foucault zu sprechen –, nicht der Gleiche zu bleiben, ein anderer zu werden.2 Das gilt insbesondere für das Schreiben eines Buches über ein Leben in einer unsicheren Welt, über gelingendes Leben und Sterben. »Wenn Sie ein Buch beginnen und wissen schon am Anfang, was Sie am Ende sagen werden, hätten Sie dann noch den Mut, es zu schreiben? […] Das Spiel ist deshalb lohnend, weil wir nicht wissen, was am Ende dabei herauskommen wird.«3

Für mich war das Schreiben dieses Buches eine Reise ins Neuland. Es ist also gewissermaßen ein Reisebericht. Ich lade Sie ein, mich auf dieser Reise zu begleiten und dabei gedanklich Ihre eigene Reise zu unternehmen. Sie, als Leserinnen und Leser, können im Verlauf des Buches sehen, welche Stationen und welche Sehenswürdigkeiten ich besucht habe und wohin mich die Reise geführt hat. Wenn Sie meine Einladung annehmen und anhand des Buches Ihre eigene Reise unternehmen, dann habe ich mein Ziel erreicht. Ich wende mich also an eine Leserschaft, die sich – um die Kant’sche Standard-definition der Aufklärung zu verwenden – ihres eigenen Verstandes ohne die Anleitung eines anderen bedienen will, um sich Antworten auf ihre eigenen Fragen für ein Leben in einer unsicheren Welt zu geben. Meine Gedanken können dabei bestenfalls als Anregung zum Selberdenken dienen.

Dieses Buch handelt vom Leben und vom Sterben. Es geht um den Umgang mit Unsicherheiten – gesellschaftlichen Krisen, Zer störung der Natur, der Unsicherheit, die die Bedingung des Lebens ist, und der größten Unsicherheit, die wir dem Tod gegenüber empfinden. Es geht um eine Ethik des Lebens und des Sterbens, allerdings um eine Ethik, die uns nicht mit Sollensforderungen erdrückt, sondern um eine Ethik, die zum Können ermutigt. Es geht um ein Gelingen des Lebens und um ein Gelingen des Sterbens, wobei das Können im Sterben ein Lassen ist.

Ich habe das Buch zwar geschrieben, aber es sind erst Sie als Leserinnen und Leser, die die Botschaft entstehen lassen, indem Sie sich auf ihre eigene Reise einlassen. Sie sind es, die den Sinn des Textes für sich selbst erzeugen. Wie ich als Leser und Schreiber meinen Sinn mit diesem Buch geschaffen habe, so sind Sie es, die nun gefordert sind, den Ihren zu schaffen. Das Buch hat seinen Wert nur durch die Teilhabe der Leserinnen und Leser an seinem Sinn, durch ihre Bereitschaft, eine andere bzw. ein anderer zu werden, so wie das Schreiben dieses Buches mich verändert hat. Bedeutung generell entsteht in Beziehungen und durch den Kontext. Der Text des Buches öffnet sich daher erst durch den Kon-Text, durch das, was Sie dem Text durch Ihr Lesen und Ihre Erfahrungen hinzufügen. Manche mögen sich vielleicht fragen, was dies für ein merkwürdiges Buch ist. Ist es Wissenschaft, Philosophie, ein persönlicher Bericht oder gar ein Ratgeber? Es ist alles zugleich, ein Hybrid, ein Buch, das sich weigert, in eine eindeutige Schublade abgelegt zu werden. Es ist so unordentlich wie die Wirklichkeit, die sich auch nicht mehr an die starren Grenzen der Vergangenheit hält, was eben eine der wesentlichen Ursachen der gegenwärtigen Verunsicherungen ausmacht. Am wenigsten möchte es ein Ratgeber sein; es sei denn, Sie raten sich selbst.

Das erste Kapitel des Buches – »Umrisse einer Ethik für ein Leben in einer unsicheren Welt« – skizziert meine Gelingensethik, beginnend mit den Unsicherheiten der aktuellen Krisen der Gegenwartsgesellschaft: Klimawandel, Finanzkrisen, Terrorismus, Demokratiekrise; im Verlauf der Entstehung des Buches kam dann noch die Covid-19-Pandemie mit weltweit katastrophischen Zuständen hinzu. Das Kapitel »Von einer Ethik der Arbeit zu einer Ethik des Lebens« analysiert und kritisiert die impliziten und expliziten Normen und Werte unserer gegenwärtigen Marktgesellschaft. Es begründet den Übergang von einer Ethik der Arbeit zu meiner Ethik des Lebens. Im Kapitel »Ethik als existenzielle Haltung und Praxis in einer mehr als menschlichen Welt« verschiebt sich dann der Blick auf die Unsicherheiten. Es geht nicht mehr nur um die selbstproduzierten Unsicherheiten unserer Wirtschaftsweise und unserer Gesellschaftsform, sondern jetzt erweiternd und ergänzend um die grundsätzliche Unsicherheit, die mit dem Leben an sich verbunden ist – mehr noch, die die Voraussetzung überhaupt für Leben ist, das nur fern vom Gleichgewicht entstehen und sich erhalten kann. Aus der notwendigen Unsicherheit des Lebens sowie der Fluidität und prozesshaften Veränderung des menschlichen Selbst werden dann im Kapitel »Die Doppelstruktur des summum bonum und die ethischen Herausforderungen des Menschen« die Herausforderungen und Aufgaben abgeleitet, denen ethisch verantwortliches Handeln genügen muss, das nicht nur die eigene Würde, sondern die Würde alles Lebendigen im Blick hat. Das Kapitel »Sorge und Spiel – die beiden grundlegenden Handlungsformen der Ethik in einer unsicheren Welt« widmet sich den grundsätzlichen menschlichen Handlungsformen Sorge und Spiel, die geeignet sind, kreativ und gestaltend den Unsicherheiten zu begegnen, ihnen sogar etwas Positives, Schöpferisches abzugewinnen. Das Kapitel »Gelingendes Leben und Sterben und die Einheit des Wahren, Guten und Schönen« hat das gelingende Leben als Ziel der Ethik im Zentrum und behandelt die größte Unsicherheit des Lebens, den Tod, und wie ein gelingendes Sterben möglich sein könnte. Es wird garniert mit der Einheit des Wahren, Guten und Schönen, die für ein gutes Leben existenziell ist. Das Schlusskapitel – »Ein Blick zurück« – wirft mit einem kurzen Resümee einen Blick zurück auf die abgeschlossene Reise. Ein Epilog berichtet darüber, wie mein Vater sich auf seinen Tod vorbereitet hat. Er hat mich durch sein praktisches Vorbild gelehrt, was gelingendes Sterben heißen kann. Ihm ist das Buch gewidmet.

Ich bin einigen Menschen zu Dankbarkeit verpflichtet: Meiner Frau Claudia Dehn, die mich zu diesem Buch ermutigt, die alle seine Teile mit mir diskutiert und mir wichtige Anregungen gegeben hat. Sondra Czarnecki, Michael Krüger und Jürgen Schunter, die das Manuskript dieses Buches mit mir diskutiert und mir ebenfalls hilfreiche Rückmeldungen gegeben haben. Schließlich möchte ich dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht danken, der nun schon ein viertes Buch von mir angenommen hat. Hier ist es insbesondere Günter Presting, der alle meine Bücher im Verlag verantwortet, dem mein Dank gilt. Das Coverbild hat Ulrike Rastin gefunden, der ich auch für ihre Lektoratsarbeiten danke. Es ist ein Bild von Paul Klee, das gut den Aufbruch ins Offene symbolisiert.

Auch wenn es in diesem Buch um Unsicherheiten geht, soll es keine vorschnelle Sicherheit vermitteln. Vielmehr soll es zu einem kreativen und konstruktiven Umgang mit den Unsicherheiten des Lebens ermutigen und im besten Fall befähigen. Für mich bestand eine Annäherung an das Sterben als Teil der Lebenskunst auch darin, mich durch das Schreiben über Leben und Tod mit der letzten großen Unsicherheit anzufreunden. Ich würde mich freuen, wenn einige Leserinnen und Leser nun ihrerseits das Buch nutzen, um sich mit ihrer eigenen Haltung dem Leben und Sterben gegenüber auseinanderzusetzen. Sind Sie also bereit, die Reise anzutreten? Dann kann sie beginnen.

Rainer Zech

Einleitung – Umrisse einer Ethik für ein Leben in einer unsicheren Welt

Wir stehen jetzt am Anfang der Reise, die, wenn Sie nicht unterwegs aus der Reisegruppe aussteigen, am Ende zu den Möglichkeiten eines gelingenden Lebens und Sterbens führen soll. Diese Einleitung ist quasi ein Überblick über das Programm der Reise, die ich nun hinter mir und die Sie gegebenenfalls vor sich haben. Dieses Buch war ein Abenteuer für mich, an dem teilzuhaben ich Sie mit der Programmvorstellung einlade. Als ich es begann, wusste ich nicht, wo es mich hinführen würde. Es war genau diese Unsicherheit, die mich zu diesem Buch motiviert hat. Aber beginnen wir am Ausgangspunkt der Reise.*

Umfassende Unsicherheit als Ausgangspunkt

Die Welt ist unsicher geworden, sagen uns täglich unsere Medien. Auch in der Parteienpolitik hat das Thema »Innere Sicherheit« Konjunktur, wenn man das Wahlvolk zur Stimmabgabe für die eigene Partei motivieren will. Vermutlich allerdings war Leben nie besonders sicher; lange Zeit war uns dies bloß nicht mehr bewusst. Uns wurde vorgegaukelt, und wir haben es geglaubt, die natürlichen Gefahren und selbstproduzierten Risiken seien technologisch beherrschbar. Dabei ist es gerade die Kontrolle, die mit Hilfe mechanisch-linearer Technologien Sicherheit verspricht und als Feedback vergrößertes Risiko erntet. »Risikogesellschaft« war das Schlagwort von Ulrich Beck4 zum Zustand der von ihm so genannten reflexiven Moderne. Gerade unsere Art und Weise, die Unbeherrschbarkeit zu kontrollieren, führte zu vermehrtem Kontrollverlust. Die altbekannten Phänomene der Unsicherheit sind schnell benannt: Klimawandel, Finanzkrisen, Terrorismus, politischer Rechtspopulismus und Demokratiekrise. Als weiteres Risiko für unser globales Überleben ist seit 2020 die Pandemie der Viruserkrankung Covid-19 hinzugekommen, die weltweit dystopische Zustände mit Millionen Erkrankten und Toten ausgelöst hat.

Das Unsicherheitsgefühl der Menschen in der gegenwärtigen Situation hat aber auch tiefere, strukturelle Gründe. Die Moderne zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass sie die Gegenwart nicht mehr aus der Perspektive der Vergangenheit beobachtet, sondern aus der Perspektive der Zukunft. Und die Zukunft ist per definitionem das, worüber wir nichts wissen; Zukunft ist prinzipiell unsicher! Die Moderne kann geradezu als die gesellschaftshistorische Epoche der permanenten Produktion von Unerwartetem und Innovativem bezeichnet werden. Ob in der Wirtschaft, den Medien oder der Wissenschaft, das Althergebrachte hat keinen guten Ruf. Es gilt als überholt, nur Neues hat Konjunktur. Die einzelnen Menschen sind gefordert, im ständig Unerwarteten zumindest vorübergehend feste Erwartungsstrukturen aufzubauen, um orientierungs-, planungs- und handlungsfähig zu sein. Das alles kann schon verunsichern!

Aber die Unsicherheit liegt noch einmal tiefer; sie ist ontologisch im Werden begründet. Dass Leben grundsätzlich immer unsicher, d. h. nur fern vom Gleichgewicht überhaupt möglich ist, zeigen uns Evolutionsbiologie und Mikrophysik (siehe S. 51 ff.). Außerdem belehrt uns die Kybernetik zweiter Ordnung5 über die prinzipielle Unvorhersagbarkeit von natürlichen und sozialen Ereignissen und Sachverhalten, die uns gesellschaftlich und individuell nichts anderes übriglässt, als uns auf die paradoxe Komplexität der Welt einzulassen. Eine wirkliche Kontrolle der nichtlinearen Dynamik der Welt ist eine Illusion – allerdings eine verhängnisvolle.

Die Ursache der gesellschaftlichen Krise ist im Grunde bekannt: die Ideologie des unbegrenzten Wachstums in einer Welt der begrenzten Ressourcen, die hinter unserem kapitalistischen Wirtschaftssystem steht. Sogar die Viruspandemie ist durch menschliches Tun mitverursacht, weil aus Profitinteresse die Lebensräume der Tiere immer weiter eingeengt und zerstört werden, sodass sich die vormals nur tierischen Viren im Menschen neue Wirte suchen. Man könnte meinen, die Natur würde aufhören, sich natürlich zu verhalten und sich gegen die menschliche Natur wenden. Nichtsdestotrotz heißt die Antwort von Wirtschaft und Politik auf die zerstörerische Wachstumskrise: Wachstum! Sind Hybris und Gier noch größer als gedacht? Oder steckt dahinter nicht vielmehr ein ökonomischer Mechanismus, der Wirtschaft nicht als Befriedigung gesellschaftlicher Bedarfe versteht, sondern als ein Verwertungsprinzip, um aus Geld mehr Geld zu machen – wie dies bereits 1848 von Marx6 herausgearbeitet wurde?

Dieser kapitalistischen Wirtschaftsweise ist eine radikalindividualistische und rücksichtslose Ethik implizit, die Menschen ausschließlich auf ihr Eigeninteresse verweist und meritokratisch nur nach ihrem ökonomischen Beitrag zum Bruttosozialprodukt bewertet (siehe S. 33 ff.). Die Wirtschaft folgt nicht mehr dem Bedarf, sondern der Bedarf folgt der Wirtschaft, stellt Niklas Luhmann pointiert fest.7 Er hat darüber hinaus aufgezeigt, dass in die spätmodernen gesellschaftlichen Funktionssysteme ein prinzipieller Steigerungsmechanismus eingebaut ist, der nicht nur die Wirtschaft betrifft, sondern z. B. auch die Wissenschaft und die Kunst. Zudem zeichnet sich die Moderne durch ein instrumentelles Verhältnis zur Natur sowie im Umgang mit anderen Menschen und des Menschen mit sich selbst aus, wie Max Horkheimer und Theodor W. Adorno8 schon 1944 festgestellt haben.

»Hybris ist heute unsre ganze Stellung zur Natur, unsere Natur-Vergewaltigung mit Hülfe der Maschinen und der so unbedenklichen Techniker- und Ingenieur-Erfindsamkeit«, schrieb schon Nietzsche.9 Dabei handelt der Mensch sogar in göttlichem Auftrag, wenn er sich die Erde untertan macht. So steht bereits am Beginn eine Trennung: Der Mensch versteht sich nicht als Teil der Welt, sondern als ihr übergeordnet. Er ist nicht eingebunden in die Natur, sondern deren Herrscher. Pech nur, dass die Kräfte, die er bei seinen Beherrschungsversuchen freigesetzt hat, seiner Kontrolle entglitten sind und sich nun gegen ihn wenden. Jetzt steht der Zauberlehrling vor dem Scherbenhaufen seiner Zauberkunststücke und starrt ängstlich in eine Zukunft, die er vielleicht nicht mehr hat. Aber Angst ist ein schlechter Ratgeber; sie macht anfällig für einfache Antworten. Das ist der Nährboden für den sich ausbreitenden politischen Populismus und Autoritarismus.

Auf der subjektiven Seite der Krisenauswirkungen finden wir die Phänomene, die hinlänglich bekannt sind: Verunsicherung, Ratlosigkeit, Angst, Erschöpfung, Depression – die beiden letzten als unmittelbare Folge neoliberaler Marktvergötterung, wie Alain Ehrenberg10 bereits vor Jahren aufgezeigt hat. Der gesellschaftsstrukturelle Hintergrund ist eine radikalisierte Individualisierung, die die einzelnen Individuen zwingt, die Verantwortung für ihr Leben weitgehend auf individuelle Entscheidungen zurückzuführen. Entscheidungen sind aber doppelt unsicher. Zunächst muss zwischen Alternativen gewählt werden, die nicht vollends überblickt werden können, weil sich ihr Ergebnis erst in der Zukunft zeigt. Nach der Entscheidung bleibt die Unsicherheit, ob nicht doch die abgewählte Alternative die bessere gewesen wäre. Man wird es niemals herausfinden. In Zeiten der Unsicherheit boomt deshalb die Ratgeber- und Beratungsbranche, die sich allerdings in der Regel dadurch auszeichnet, dass komplexe Sachverhalte in markt- und handelsfähige Begriffsformen gepresst werden, die verunsicherten Kunden mit vorschnellen Lösungsversprechungen angeboten werden können. Man könnte dies als ein mythologisches Vorgehen verstehen, die Unbeherrschbarkeit durch Namensgebung zu beherrschen. Rumpelstilzchen lässt grüßen. Der mythische Sammelbegriff der Beratung für den derzeitigen Weltzustand heißt VUCA – ein Akronym aus den Anfangsbuchstaben für Volatility, Uncertainty, Complexity, Ambiguity –, wofür Agilität und Resilienz die versprochenen Lösungen sein sollen. Nicht die Ursachen sollen bekämpft, sondern die Widerstandskräfte sollen gestärkt werden. Vakzine gegen lebensgefährliche Viren haben wir bereits; vielleicht sollten wir auch einen Impfstoff gegen Selbstzerstörung entwickeln.

Was wir brauchen sind aber keine simplen Rezepte oder zweifelhaften Sicherheitsversprechen, sondern eine Ethik, die uns hilft, mit der Unsicherheit zu leben und konstruktiv, d. h. ursachenbekämpfend, mit ihr umzugehen. Wir brauchen eine geeignete Ethik, weil in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche und Krisen die moralischen Normen, wie sie für stabile Gesellschaften kennzeichnend sind, ebenfalls in die Krise geraten und ihre handlungsleitende Funktion verlieren; der individuelle und gesellschaftliche Orientierungsbedarf, vor allem in Entscheidungssituationen, wächst. Hier stellen sich Aufgaben ethi scher Reflexion auch für die Beratung. »Der Gestaltung der Selbstverhältnisse, aber auch der ethischen Beratung fallen dadurch neue Aufgaben und Chancen zu.«11

Wechseln wir die Perspektive und betrachten wir die grundsätzliche und nicht beherrschbare umfassende Unsicherheit nicht als Problem, sondern als Bedingung der Lösung. Begrüßen wir also die Unsicherheit als Möglichkeit eines experimentellen Lebens, das nicht länger die Problemursache des ungebremsten Wachstums als Lösung anbietet, sondern nach neuen Lösungen sucht. Wir wissen auch aus den Naturwissenschaften um die Unvorhersagbarkeit mikrophysikalischer Ereignisse – die Heisenbergsche Unbestimmtheitsrelation12 (siehe S. 51 ff.) –, aber auch, dass der Zustand größter Unordnung die Voraussetzung emergierender Neuordnung ist; »emergence takes place at critical points of instability« and »results in the creation of novelty«.13 Der Versuch, Unsicherheit komplett zu vermeiden, reduziert unsere Freiheit. Machen wir diesen Gedanken daher zum Ausgangspunkt einer Ethik für ein Leben in einer unsicheren Welt.

Der Mensch als Teil der Welt

Zunächst gilt es, eine erste ethische Grundentscheidung zu treffen, die Heinz von Foerster14 als solche benannt hat. Wir müssen uns entscheiden, ob wir uns als Teil der Welt verstehen oder ob wir durch ein Guckloch auf die Welt schauen wollen, die wir als getrennt von uns betrachten. Letzteres ist unsere klassische westliche Perspektive, die bereits in der Frühzeit der Moderne von René Descartes (1596– 1650) formuliert wurde und die sich als enorm wirkmächtig herausgestellt hat. Er unterteilte die Welt in eine res cogitans und eine res extensa – also in ein Denken, das sich vom Sein getrennt erlebt.15 Der Mensch als denkende Sache steht der Welt als ausgedehnte Sache abstrakt gegenüber. Descartes zweifelt an allem, nur nicht an sich, der Tatsache seines Denkens: cogito ergo sum – ich denke, also bin ich!

Sowohl die modernen Kognitionswissenschaften als auch traditionelle Weisheitslehren wie der Buddhismus oder der Daoismus haben zu der Erkenntnis geführt, dass wir über kein substanzielles, von der Umwelt getrenntes Ich verfügen, obwohl wir es so sehr als Grundlage unseres alltäglichen Handels unterstellen (siehe S. 79 ff.). Das erlebte Selbst ist vielmehr die emergente Eigenschaft aller unserer je konkreten Erfahrungen, Wahrnehmungen, Gefühle etc. – ein kontinuierlicher, fluider Prozess, kein festes Ding, sondern das sich wiederholende Muster unseres gewohnheitsmäßigen Handelns. »Ego-self, then, is the historical pattern among moment-to-moment emergent formations.«16 Unser Selbst, unser Ich, unser Ego – wie immer wir es nennen wollen – ist kein Ding, keine Sache (»res«), sondern ein sich in ständiger Entwicklung befindender Prozess, fluide und nicht fix, so sehr wir uns etwas auf unsere Identität auch einbilden. Identität ist ein Verfahren erkennungsdienstlicher Identifizierung und keine Eigenschaft von Menschen.

Westliches Denken hat sich nun traditionell damit befasst, nach einem festen Grund zu suchen – von Decartes’ cogito bis zur Apelschen Letztbegründung17–, im Prinzip schon seit der griechischen Substanzphilosophie oder der platonischen Ideenlehre. Nach einem inneren oder äußeren festen Grund zu suchen in der Angst, ihn nicht zu finden, ist – nach Varela, Thompson, Rosch – die Quelle unserer Frustrationen und modernen Beunruhigungen. Ganz populär wurde diese Grundsuche in der seit den 1970er Jahren beliebten Selbstsuche psychotherapeutischer oder spiritueller Art, die ja auch nicht dazu geführt hat, ein wahres Selbst zu finden, sondern nur zu weiterer Suche Anlass gab und weiterhin gibt. Die neoliberale Variante dieser Selbstverwirklichung ist die aktuelle Form der Selbstoptimierung, wie sie ausgehend von ökonomischem Wettbewerbs- und Konkurrenzdruck angepriesen wird. An der Welt zu zweifeln, mag ja noch angehen, aber das eigene Ich in Zweifel zu ziehen, ist für den westlichen Menschen offenbar zu viel, obwohl bereits Sigmund Freud18 gezeigt hatte, dass unser Ich nicht Herr im eigenen Haus ist. »In a way, ›knowing yourself‹ or ›finding yourself‹ can be dangerous. […] It can close you off to inner potential and outer opportunities.«19

In Bezug auf unseren Ausgangspunkt der allumfassenden Unsicherheit spätmoderner Lebensverhältnisse wird die Erkenntnis, dass Welt und Selbst nicht getrennt gegeben sind, sondern sich in einem Prozess evolutionären Driftens immer wieder neu in wechselseitiger Koproduktion hervorbringen, in der Regel nicht als Befreiung von einem uns behindernden Identitätszwang erlebt, sondern als zusätzliche Verunsicherung. Der Verlust eines fixen Ichs könnte aber auch die Voraussetzung einer Befreiung von hergebrachten Glaubensvorstellungen und damit die Voraussetzung einer Offenheit für neue, ungewohnte Erfahrungen bieten. Der Verlust von Fixierungen bietet die Möglichkeit für ein anderes Selbst- und Weltverhältnis: »An open-hearted sense of compassionate interest in others can replace the constant anxiety and irritation of egoistic concern.«20

Sorge und Spiel

Es geht um eine Ethik, die uns hilft, mit der Nichtlinearität komplexer Systeme, die sich einer unmittelbaren Steuerung entziehen, zu leben. Fritjof Capra und Pier Luigi Luisi21 haben evolutionsbiologisch aufgezeigt, dass unser Planet ein zusammenhängendes Ganzes bildet, ein großes, sich selbst organisierendes, autopoietisches System. Alle Teile dieses Systems – geologische Struktur, Atmosphäre, Klima, Pflanzen, Tiere und ja, auch die Menschen – sind miteinander vernetzt. James Lovelock22 bezeichnet die gesamte Erde daher als Lebewesen (siehe S. 73 ff.). Eingriffe in dieses lebendige System können nicht lokal begrenzt werden, sondern haben immer Auswirkungen auf das Gesamtsystem. Tausende von Jahrmillionen hat sich dieses System herausgebildet und selbst gesteuert, bis der Mensch als Herr der Schöpfung durch seine vermeintliche Naturbeherrschung dieses System aus seinem dynamischen Gleichgewicht gebracht hat. Alles, was wir entscheiden und tun, hat seine Folgen und kommt auf die eine oder andere Weise auf uns zurück. Mittlerweile sind diese Eingriffe in die sich selbststeuernde Natur so gravierend, dass der natürliche Selbstregulationsmechanismus gestört ist. Die Erderwärmung aufgrund unserer rücksichtslosen Industriepolitik hat inzwischen einen Klimawandel ausgelöst, der die gesamten Lebensgrundlagen unseres Planeten bedroht – und eine Lösung ist nicht in Sicht. Die Natur, in welcher Form auch immer, wird überleben – im Zweifel ohne den Menschen.

Die Frage ist, welche ethische Grundhaltung dieser volatilen, unsicheren, komplexen, ambigen Welt gegenüber angemessen ist. Mit »play and care« hat Pat Kane die beiden Komponenten dieses Ethos benannt. »An ethic of play, in effect, an ethic which makes a virtue, even a passion, out of uncertainty.«23Play nicht im Sinne eines regelgeleiteten Spiels, sondern einer Offenheit für Erfahrungen und ungewohnte kreative Lösungen. Care im Sinne einer gewissermaßen Heideggerischen Sorge für das Dasein, einer nachhaltigen Pflege unserer (zwischen-)menschlichen und natürlichen Lebengrundlagen (siehe S. 99 ff.).24 Ein entsprechendes Denken und Handeln erfordert die Verkörperung der Sorge für die anderen menschlichen und nichtmenschlichen Lebewesen, mit denen wir unsere gemeinsame Welt hervorbringen (siehe S. 57 ff.). Ein sorgender Umgang mit unseren natürlichen Lebensgrundlagen erfordert ein Verständnis für die systemischen Zusammenhänge unseres Ökosystems, dessen Teil wir sind. »Ecoliteracy« haben Capra und Luisi25 diese Fähigkeit genannt in Anlehnung an unsere Kundigkeit im Umgang mit Sprache und Schrift. Die Fähigkeit, uns als Teil des Ökosystems zu begreifen und entsprechend zu handeln – eben ecoliteracy –, erfordert eine reflektierte Reflexivität, also bewusst abwägend zu bedenken (reflektiert), was wir durch unser Handeln auslösen und wie dies auf uns zurückwirkt (Reflexivität).26

Sorge und Spiel als neue Grundunterscheidung soll Kane zufolge die bisherige Grundunterscheidung von Arbeit und Freizeit ersetzen – eine Unterscheidung, die uns auf beiden Seiten der Fremdbestimmung unterwirft und die durch die kapitalistische Arbeitsethik immer wieder befestigt wird (siehe S. 33 ff.). Kapitalistische Arbeitsorganisation beruht auf der Ausbeutung der natürlichen Lebensgrundlagen und der menschlichen Arbeitskraft, verbunden mit dem trügerischen Versprechen, dass man sich durch Arbeit selbstverwirklichen würde. Freizeit ist kein freies Spiel im Schiller’schen Sinne des Menschseins – der Mensch ist »nur da ganz Mensch, wo er spielt«27 –, sondern bestenfalls Reproduktion von Arbeitskraft, wenn nicht sogar konsumistische Zweitausbeutung durch die Kultur- und Modeindustrie.

Auch Pekka Himanen schlägt eine neue Ethik vor, die unsere klassische protestantische Arbeitsethik ersetzen soll. Arbeit sollte nicht länger als Pflicht und Zwang organisiert werden, sondern als freies und disponibles Spiel kreativer Kräfte – nicht nur aus humanen Gründen, sondern auch aus pragmatischen, weil sich nur so unkonventionelle Lösungen finden lassen, die nicht nur Vorhandenes in die Zukunft verlängern, sondern wirklich alternative Wege des Produzierens, Konsumierens und Zusammenlebens ermöglichen. Auch für Himanen28 ist eine Haltung der Sorge die notwendig ergänzende Seite des spielerisch kreativen Arbeitens: »Caring is the beginning of all ethical behavior.« Für Himanen ist der Ausgangspunkt einer solchen Ethik die Frage, »what it means to be human«.29 Und Menschsein heißt für ihn, eine sorgende Verantwortung für unsere gemeinsame Welt zu übernehmen. Eine Ethik der Sorge und des Spiels ist die angemessene Haltung in einer Welt, in der es um unser Überleben geht, eine Ethik »as source of human energy; as perpetual engagement with the world; as mentality capable of living with uncertainty and risk, as an attractive form of collective identity; as an imaginative, symbolic freedom; as a spirit of honesty and integrity; as a saving sense of humour and subversion.«30 Es geht um eine Ethik des gelingenden Lebens unter Unsicherheitsbedingungen und mit Blick auf die eigene Endlichkeit (siehe S. 123 ff.).

Responsefähigkeit

»If everything is uncertain, then the future is open to creativity, not merely human creativity but creativity of all nature«, schreibt auch Immanuel Wallerstein.31 Dafür braucht es eine neue Handlungsfähigkeit, die sich nicht ängstlich an Vorhandenes klammert, sondern offen ist für eine ungewisse Zukunft, eine »strong agency and vigorous imagination in the face of radical uncertainty«32. Im Zentrum dieser neuen Handlungsfähigkeit steht eine Verantwortlichkeit für die Welt als Ganzes. Sorge und Spiel sind ihre grundlegenden Handlungsformen (siehe S. 98 ff.).

Der Verantwortungsbegriff hat im Deutschen eine gewisse Schwere, wie es für teutonischen Geist nicht unüblich ist, der sich selbst als tief gegenüber allem vermeintlich Oberflächlichen geriert. Im deutschen Sprachgebrauch wird man zur Verantwortung gezogen, wenn man etwas falsch gemacht hat. Hier ist es entgegen der neoliberalen Propaganda eine Obrigkeit, die wacht und sorgt, und nicht die Kompetenz des Einzelnen gegenüber seinem Leben. Verantwortung wird nach oben delegiert und nach unten sanktioniert. Anders klingt es im Englischen, wo responsibility schon vom Wortstamm her die Fähigkeit (ability) bezeichnet, eine angemessene Antwort (response) auf Herausforderungen zu geben, die das Leben für uns bereithält. Responsefähigkeit habe ich diese Kompetenz bereits vor etlichen Jahren genannt.33 Dabei geht es um eine Grundhaltung, dass der Mensch sich als Befragter versteht, befragt durch das Leben, und als Verantwortlicher für die Antwort, die er dem Leben gegenüber gibt. Mensch und Welt sind hierbei nicht getrennt, sondern System und Umwelt gibt es nur im Doppelpack als zwei Seiten einer Medaille, so wie es bereits der systemische Ansatz von Humberto Maturana34 in der Biologie vorgezeichnet und die Systemtheorie von Niklas Luhmann35 für die Soziologie ausgearbeitet hat. Ein System existiert nicht in einer unabhängigen Umwelt, die vom System getrennt richtig oder falsch kogniziert werden kann, sondern das System ist seine eigene Unterscheidung zu einer Umwelt, die als seine erst durch die Unterscheidung hervorgebracht wird. Beide Seiten entstehen in koordinierter Koproduktion und sind untrennbar. Die Umwelt ist die jeweilige Umwelt des Systems und keine objektive Gegebenheit. Varela, Thompson und Rosch36 nennen diesen Vorgang »enaction«; der Geist ist in der Welt und die Welt im Geist verkörpert (»embodied mind«). Die seit Jahrhunderten wirkmächtige Unterscheidung in res cogitans und res extensa von Decartes, in Geist und Körper, Leib und Seele wird damit naturwissenschaftlich aufgehoben. Der Mensch ist Teil der Welt, er guckt nicht durch ein Guckloch auf etwas außerhalb von ihm und kann sich somit auch nicht seiner Verantwortung für das Ganze entziehen. Langfristiges Überleben erfordert eine wohlwollende Reziprozität, betont Howard Gardner37, eine Wechselseitigkeit zwischen dem Menschen und seiner natürlichen, d. h. seiner menschlichen und mehr als menschlichen, Umwelt. »The test of ethics is resposibility independent of one’s own particular niche or stake in the outcome.«38 Die Erkenntnis, dass wir die Welt, in der wir leben, selbst hervorbringen, könnte die Motivation schaffen, uns für Erhaltung und Entwicklung dieser Welt zu engagieren (siehe S. 51 ff.).

Der und das Andere als mein ethisches Maß

Unser Selbst, unser Ich ist eine, wenn auch hartnäckige, Illusion, wie alte Weisheitslehren und moderne Kognitionswissenschaften bestätigen. Was wir als unser zeitfestes Selbst erleben ist lediglich ein sich ständig verändernder Prozess (siehe S. 79 ff.). Wenn unser vielgeliebtes identisches Ich also eine Illusion ist, was macht dann unsere Subjektivität aus?

Die radikalste Antwort auf diese Frage hat wohl Emmanuel Lévinas39 mit seiner Ethik des anderen gegeben, obwohl die Verantwortung für den anderen Grundlage jeder Ethik ist. Sinn ist nicht für sich; der Sinn von etwas beruht generell auf seiner Beziehung zu etwas anderem. Die Relationen bestimmen die Relata (siehe S. 51 ff. und 71 ff.). Der Sinn eines Hammers, wenn man so will, besteht z. B. in Bezug auf das Einschlagen eines Nagels; ein Hammer an sich ist sinnlos. Mein Sinn besteht dann in der Verantwortung für den anderen und das andere, für den anderen Menschen, für die nichtmenschlichen Lebewesen und für die Natur als Ganzes. Lévinas40 spricht »von der Verantwortung als der wesentlichen, primären und grundlegenden Struktur unserer Subjektivität« und von der »Verantwortlichkeit als Verantwortung für den Anderen«. Lévinas benennt also die eigentliche menschliche Identität von der Verantwortlichkeit her, die jeder und jede für das gedeihliche Überleben aller übernehmen muss. Bereits der menschliche Säugling würde seine ersten Wochen nicht überleben, wenn seine Eltern nicht für ihn Verantwortung und Sorge tragen würden. Auch wenn man sich später als Erwachsener als autonom und unabhängig gerieren kann, ist ein gelingendes Leben (siehe S. 131 ff.) ohne wechselseitig förderliche Interdependenz nicht möglich. »In der Tat ist Verantwortlichkeit kein bloßes Attribut der Subjektivität, so als würde diese bereits vor der ethischen Beziehung in sich selbst existieren. Die Subjektivität ist nicht ein Für-sich; sie ist, um es zu wiederholen, ursprünglich ein Für-den-Anderen.«41 Dieser andere tritt mir, gemäß Lévinas, als Antlitz gegenüber, das mich anspricht; deshalb ist die Beziehung zum Antlitz von vornherein ethischer Art.42 Es ist der andere, der mich anspricht und damit das menschliche Gespräch ermöglicht. Es ist sein Antlitz, dem gegenüber ich mich in meiner Antwort verantworte.

Für dieses menschliche Gespräch – dem Dialog, dem Ich-Du im Sinne von Martin Buber43 – braucht es wechselseitige Resonanz und auf jeder Seite die entsprechende Reponsefähigkeit. Vor allem der Dialog mit Andersdenkenden ist dabei die größte Herausforderung; dennoch wird es nicht ohne ihn gehen. Die Tatsache, über kein substanzielles Selbst zu verfügen und sich auch nicht krampfhaft an sein vermeintliches Ich mit seinen festen Standpunkten zu klammern, könnte sich für so ein menschliches Gespräch als vorteilhaft erweisen. Ermöglicht dies doch sehr viel mehr Unvoreingenommenheit gegenüber einem zu akzeptierenden Anderssein des anderen, eine vorurteilfreiere Wahrnehmung seiner Besonderheit – bei allem Bewusstsein diesbezüglicher Grenzen. »Uncertainty removes our judgement of others; it preempts the unnecessary stereotyping and biases«.44 Die Potenz des Nichtwissens ist als eine produktive Haltung z. B. auch der systemischen Beratung bekannt.

Philosophische Ethiken

Die radikale Ethik des Anderen von Emmanuel Lévinas, die Play-Ethics von Pat Kane und die Hacker-Ethik von Pekka Himanen wurden schon behandelt. Die buddhistische Ethik des Dalai Lama kommt weiter unten zu Wort. Im Vorfeld werden noch weitere relevante, eher klassische Vertreter der philosophischen Ethikdiskussion vorgestellt.

An erster Stelle ist wohl der Klassiker, die Tugendethik von Aristoteles45 zu nennen, wie sie vor allem in der »Nikomachischen Ethik« ausführlich niedergelegt ist. Dabei geht es darum, bestimmte Einstellungen, Haltungen und Verhaltensweisen – eben Tugenden – herauszubilden, die sowohl zum Seelenheil der Einzelnen als auch zu einem gerechten und gedeihlichen gesellschaftlichen Zusammenleben – genannt eudaimonia – führen. Das oberste Gut – das summum bonum (siehe S. 131 ff.) – ist bei ihm die Gerechtigkeit, und diese bildet mit der Wahrheit und der Schönheit eine Einheit, wie dies bereits bei Platon46 der Fall war. Ein moderner Vertreter der Tugendethik ist z. B. Alasdair MacIntyre47.

Jeremy Bentham48 ist der Begründer des Utilitarismus und hat eine sogenannte Nützlichkeitsethik entwickelt, deren Ziel und Kriterium das größte Glück der größten Zahl der Mitglieder einer Gesellschaft ist. Handlungen werden nach ihren Folgen bewertet; sie sind moralisch gut, wenn sie der Allgemeinheit, jedenfalls dem größten Teil der Allgemeinheit, nützen. Die Handlungsmotive spielen dabei keine Rolle. Das Gegenteil ist bei Immanuel Kant49 der Fall. In seiner Pflichtethik bzw. deontologischen Ethik oder Gesinnungsethik sind es die Handlungsgründe, die entscheidend sind. Es haben bestimmte ethische Maximen unbedingt zu gelten, denen man sich aus Pflicht, nicht aus Neigung, zu unterwerfen hat. So darf man z. B. nicht lügen, selbst dann nicht, wenn man damit einen Freund vor Verfolgung schützen würde. Auf Kant geht der kategorische Imperativ