Genuss und Sinn - Rainer Zech - E-Book

Genuss und Sinn E-Book

Rainer Zech

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Beschreibung

Gerade in unsicheren Zeiten, in denen traditionelle Normen und Werte wenig Orientierung bieten, stellen sich die Menschen verstärkt die Frage nach dem Sinn ihres Lebens. Wie kann das Leben jenseits von verantwortungsloser Vergnügungslust einerseits oder freudlosem Puritanismus andererseits gelingen? Dass ein ökologisch verantwortungsvoller Lebensgenuss und ein sinnerfülltes Leben keine Gegensätze sind, sondern nur zusammen gelingen können, versucht dieses Buch aufzuzeigen. Es werden Lebensbereiche herausgearbeitet, die unser Leben lebenswert machen und deren Genuss uns nährt und Kraft gibt.

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Inhalt

Worum es geht

Das Leben leben – eine Minimalanthropologie

Geboren werden – sterben

Einzeln sein – gemeinsam sein

Das Leben genießen

Liebe und Freundschaft

Arbeit und Muße

Natur und Kunst

Orte und Landschaften

Immanenz und Transzendenz

Dem Leben Sinn verleihen

Der Sinn von Sinn

Sinnlichkeit und Sinn

Sinn erscheint in Mustern

Lebenssinn wurzelt in der Verbindung mit dem Guten

Lebensgenuss und Lebenssinn

Lebensgenuss und sinnvolles Leben

Genuss und Sinn werden durch Werte gesteuert

Der Zusammenhang von Sinn und Genuss

Sinnliche und geistige Genüsse

Sinnliche Genüsse

Erotische Theorie

Genießende Vernunft

Sinnlicher, aber sinnfreier Genuss

Daseinsgenuss

Sexueller Genuss

Zu einer Ethik des Lebens

Subjektiv gelebtes Leben und ethische Verantwortung

Abstand halten

Ethischer Hedonismus

Vom Ganzen zum Einzelnen

Literatur

Anmerkungen

Worum es geht

Die Sentenz von der Entzauberung des Lebens durch die Moderne wird üblicherweise Max Weber zugeschrieben. Er bezeichnete damit in den 1920er Jahren den Rationalisierungsprozess der modernen gesellschaftlichen Entwicklung, der den Aberglauben des Mittelalters durch die aufgeklärte Vernunft vertrieben hätte. Der Alltag sei kalt geworden, die Gesellschaft ein bürokratisches, stählernes Gehäuse und die Menschen nur noch Rädchen im großen Getriebe. Weber fragte auch, ob die Welt einen Sinn hat und ob es einen Sinn hat, in ihr zu existieren.1 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno hatten 1945 im Angesicht der Katastrophe von der völlig verwalteten Welt gesprochen; die aufgeklärte Vernunft sei zu instrumenteller Rationalität der Herrschaft über Mensch und Natur verkommen.2 Das ist bis heute die gültige Erzählung, und mit Blick auf den herrschenden Zustand der Welt und der Menschheit findet man sich in dieser Einschätzung bestätigt. Gründe, depressiv zu werden angesichts der multiplen Katastrohe aus menschengemachtem Klimawandel, Artensterben, Umweltzerstörung, Krieg und zunehmender Gewalt im Alltag, gibt es also genug. Immer mehr Menschen, auch bereits Jugendliche, werden es auch. Leben und dabei wenigstens unsere individuelle Würde bewahren müssen wir trotzdem.

Ist die Welt verhext? Und wer ist der Hexer? Nun ja, das sind die überindividuellen Kräfte einer ausbeuterischen globalen Ökonomie, denen es mehr um ihren Profit als um den Erhalt des Lebens geht. Und da ist die in Sachen Natur- und Lebenserhalt tatenlose Politik, wenn sie nicht sogar Menschenrechte verletzt und Kriegsverbrechen begeht. Das ist alles richtig, aber das darf nicht alles sein. Wir, jeder und jede Einzelne von uns, könnten trotzdem moralisch richtig handeln – einfach deshalb, weil es richtig ist, auch wenn man im globalen Maßstab kaum Anlass zu Hoffnung sieht. Die Menschheit als Ganze habe ihre Würde verloren, meint Thomas Metzinger, es gebe aber keinen Grund, dass wir uns individuelle ebenso würdelos verhalten.3 Aber dafür brauchen wir eine individuelle Lebensform, die würdevoll und gangbar ist und sich auch dann bewährt, wenn sich der Zustand der Welt weiter verschlechtert. Wir müssen keine Partys auf dem Vulkan feiern, übers Wochenende mit klimaschädlichen und Steuermitteln gesponserten Billigfliegern nach Mallorca jetten oder mit Monster-SUVs den CO2-Ausstoß erhöhen. Aber für den vermeintlichen Spaß, auf den wir verzichten, brauchen wir eine bessere Alternative.

Jane Bennett hat bereits 2002 einen Gegenentwurf gegen die Säkularisierungstheoretiker, die Sinnverlust und zunehmenden Nihilismus konstatierten, vorgelegt.4 In »The Enchantment of Modern Life« behauptet sie, unsere moderne Welt sei nie völlig durchrationalisiert worden und könne auch niemals vollständig instrumentell beherrscht werden. Trotz aller emotionalen Kälte, Schrecklichkeiten und Sinnlosigkeitserfahrungen gebe es noch immer entzückende und bezaubernde Aspekte. Sie fand den Zauber in den Naturerscheinungen, in der Physik und der Technik, in den vielfältigen Natur-Kultur-Hybriden, aber auch in den Künsten.5 Die zauberhaften und bezaubernden Aspekte müssen wir in unserem Alltag (wieder) entdecken. Sie bilden das Gegengewicht gegen die Sinnlosigkeitserfahrungen im großen Ganzen.

Mit diesem Essay will ich dem Zauber in unserem Alltag nachspüren und aufzeigen, was uns nährt und wie wir unserem Leben wenigstens selbst einen Sinn verleihen können. Ich möchte nachweisen, dass die beiden Wünsche, das Leben zu genießen und es trotzdem verantwortungsvoll zu gestalten, zusammen realisiert werden können. Sogar nur zusammen, denn Genuss und Sinn sind zwei Seiten der gleichen Medaille.

Ist es nicht weit über die aktuelle Krise hinaus ein Zeichen der Zeit, dass viele das Gefühl haben, im ständigen Beschäftigtsein würde ihnen das Leben zwischen den Fingern zerrinnen? Vermissen nicht viele im allgemein und umfassend gewordenen Wettbewerb vor allem Eines? Zeit zu haben, um zu leben! Die angestrengte Art, sich zu amüsieren, ist kein Ersatz – eher ein Zeichen des Mangels. Der Mangel kann sich aber auch als Chance erweisen, um darüber nachzudenken, was es eigentlich bedeutet zu leben, und um unsere Art zu leben zu überdenken: Wofür lohnt es sich zu leben? Wie können wir unserem Leben einen Sinn geben? Wie und was können wir verantwortungsvoll und ohne schlechtes Gewissen genießen? Und was hat Genuss mit Sinn zu tun? Darüber will ich in diesem Essay nachdenken. Ob es hilft? Wir werden sehen. Ein Essay ist ein Versuchen, und einen Versuch ist es allemal wert.

Essays sind ein Wagnis, denn sie suchen nicht nach Aussagen, welche die Leserinnen und Leser getrost nach Hause tragen können. Essays gleichen vielmehr Erkundungsgängen – sprich, sie geben unserem ganzen nicht getrosten Dasein und dem Nicht-ganz-bei-Trost-Seindarin Raum.6

(Marie Luise Knott)

Eingangs werden im Kapitel »Das Leben leben« einige anthropologische Bedingungen der menschlich-gesellschaftlichen Existenz skizziert, und es wird aufgezeigt, in welche Spannungsfelder unsere individuelle Existenz eingespannt ist. Hier geht es um die Spannungsfelder geboren werden – sterben und einzeln sein – gemeinsam sein. Anschließend werden Lebensbereiche herausgearbeitet, die unser Leben lebenswert machen und deren Genuss uns nährt und Kraft gibt. Dies geschieht mehr oder weniger unvollkommen, eher exemplarisch. Die ausgewählten Aspekte sind im buchstäblichen Sinne subjektiv; sie orientieren sich an meinen eigenen Vorlieben und Sinnstrukturen. Andere mögen in ihrem Leben weitere oder andere Kraftfelder finden. Danach wird aufgezeigt, was Sinn im Unterschied zu Funktion und Bedeutung ist und wie wir unserem Leben Sinn geben können, um abschließend den Zusammenhang von Genuss und Sinn über ihre komplementäre Wertstruktur zu erschließen. Darauf folgt ein Kapitel über sinnliche und geistige Genüsse und ein weiteres über Genüsse, die nur über einen Sinnverzicht zu erreichen sind. Im Schlusskapitel wird meine Ethik des Lebens weiter ausgeführt, die ich im vorangegangenen Buch »Gelingendes Leben in einer unsicheren Welt«7 begonnen habe. Dort hatte ich über meine Reise durch die unsichere Welt berichtet und gefragt, wie dennoch Leben gelingen kann. Es ging um einen ethischen Kompass zur Orientierung, der uns hilft, trotz aller Verunsicherungen handlungsfähig zu bleiben. Nun geht es um die weitere Konkretisierung von Gelingensmöglichkeiten: um Liebe und Freundschaft, um gute Arbeit und Muße, um Naturund Kunsterleben, um Lebensorte und Landschaften, um Leben im Hier und Transzendenz im Jetzt.

Dies ist ein persönlicher Text – eben ein Essay, ein Versuch, aktuell relevante Fragen aus der persönlichen Perspektive zu diskutieren. Ich erhebe keinen Anspruch auf Vollständigkeit und Allgemeingültigkeit. Eher ist es so, dass ich auch nur einer bin, der sich bestimmte Fragen stellt bzw. sich den Fragen stellt, die das moderne Leben an uns stellt. Das heißt, ich behandele meine eigenen Vorlieben im Sinne eines Exempels. Dieser Versuch mag eine gewisse Orientierung für andere bieten, sich ihren eigenen Sinn zu erschließen.

Manche mögen bemängeln, dass ich nicht über Politik und deren Verantwortung für die Krisenbewältigung schreibe. Das tun andere vielfach und gut. Gesellschaftliche Umsteuerungen sind erforderlich, wenn wir allein den Klimawandel, der droht, alles Leben auf der Erde zu vernichten, bewältigen wollen. Das ist unstrittig, aber nicht Gegenstand dieses Essays. Denn ohne dass wir uns auch individuell ändern, geht es ebenfalls nicht. Beides soll und kann nicht gegeneinander ausgespielt werden. Judith Butler wirft daher die durch Adorno klassisch gewordene Frage wieder auf, ob ein richtiges Leben im falschen möglich sei. Sie glaubt, dass wir uns an der Neugestaltung der gesellschaftlichen Bedingungen auch dadurch beteiligen müssen, dass wir uns miteinander und füreinander neu entwerfen.8 Mir geht es darum zu überlegen, woher wir für unseren individuellen Neuentwurf die Kraft nehmen können. Ich will über Möglichkeiten schreiben, eine veränderte ethische Haltung dem Leben gegenüber zu finden, indem wir es genießen und zugleich sinnvoll gestalten. Hier geht es daher nur um Positives und im gewissen Sinn wieder um eine Ethik des Gelingens! Gerade in der heutigen Zeit erscheint es mir sinnvoll, den Blick nicht wie verhext nur auf die Katastrophen zu richten, sondern auch darauf zu schauen, was es trotz alledem noch an Gutem gibt, das uns kräftigt, um dem Negativen entschieden entgegenzutreten. Solidarität mit dem Lebendigen beginnt nun einmal beim Individuum.

Wenn, wie es im Verlauf des Essays weiter ausgeführt und begründet wird, Sinn ausschließlich als ein subjektives Konstrukt zur Selbstverständigung und zur intersubjektiven Kommunikation verstanden wird, dann gibt der Autor mit diesem Text auch seine eigene Sinnkonstruktion preis, die nicht den Anspruch haben kann, verallgemeinert zu werden. Die Publikation einer individuellen Sinnkonstruktion kann allerdings im Kontext der intersubjektiven Kommunikation für die Leserinnen und Leser eine Bedeutung gewinnen, und zwar die, zur eigenen Sinnkonstruktion für die eigene Selbstverständigung und Lebensbewältigung anzuregen, um sich für den erforderlichen Widerstand gegen das Negative in uns und außerhalb von uns zu kräftigen. Darin besteht die Hoffnung.

Ich jedenfalls bin dankbar, dass ich am Leben bin, und das sogar noch in einer Region, die trotz aller Katastrophen immer noch zu den sichersten der Welt gehört. Das ist nicht mein Verdienst, sondern eine unverdiente Gnade.

Ich danke meiner Gefährtin in gefährlicher Zeit Claudia Dehn vor allem dafür, dass wir das Leben zusammen genießen können. Was den sinnlichen Genuss angeht, hat Claudia Dehn ein Rezept beigetragen, bei dem man gleichzeitig vier Geschmäcker genießen kann. Sinnlicher Genuss kann uns kräftigen. Auch was den geistigen Genuss angeht, harmonieren wir ausgezeichnet. Ihre Anregungen zu diesem Buch waren unersetzbar. Dafür widme ich es ihr.

Meinen beiden Freunden Jürgen Schunter und Claus G. Riedel danke ich, dass sie sich als Testleser zur Verfügung gestellt und mir durch ihre Kommentare weitere Anregungen gegeben haben. Ich konnte dadurch noch einmal an der einen oder anderen Stelle deutlich nachbessern. Hier ist das Ergebnis meines Versuchs

Das Leben leben – eine Minimalanthropologie

Ich kann in diesem Essay keine komplette Anthropologie menschlichen Lebens entwerfen; das ist auch nicht Sinn der Sache. Dazu verweise ich auf zwei Jahrhunderte (oder sollte ich sogar sagen: zwei Jahrtausende?) entsprechender Literatur. Stattdessen sollen im ersten Teil lediglich zwei sich kreuzende Spannungsverhältnisse skizziert werden, in die unsere Fähigkeit zu leben eingespannt ist. Obwohl sich das Leben als Ganzes in einem endlosen Kreislauf aus Entstehen, Wachsen, Vergehen und Neuentstehen vollzieht, ist das Leben der menschlichen Individuen eingespannt zwischen Anfang und Ende, zwischen Natalität und Endlichkeit, zwischen geboren werden und sterben. Rund 80 Jahre haben wir mit Glück Zeit, die biologische Tatsache, dass wir leben, zu einem individuell und sozial gelungenen Leben zu machen. Letzteres verweist bereits auf das zweite Spannungsverhältnis zwischen dem Leben als einzelnes Subjekt und dem Leben der Gemeinschaft, der es angehört. Hier geht es darum, im Verhältnis von Selbstsein und Teilsein Autonomie und Verbundenheit individuell auszutarieren, also sowohl gelungen einzeln sein wie gelungen gemeinsam sein zu können. Dass wir am Leben sind, ist nach unserer Geburt eine Tatsache; ob wir verstehen, dieses Leben richtig, das heißt, gelungen, zu leben, ist eine Kompetenz, die wir auch verfehlen können.

Das Leben an sich ist ein sich selbst erschaffendes und sich selbst erhaltendes Netzwerk. Alles hängt mit allem zusammen; nur gemeinsam ist das Ganze überlebensfähig. Zum Ganzen gehört nicht nur das, was wir gemeinhin als lebend anerkennen: Menschen und andere Tiere, Bäume und Pflanzen sowie unendlich viele mikrobische Bestandteile. Zum Ganzen gehören ebenso Flüsse, Meere, Berge sowie die alles umfassende Atmosphäre. Das hat James Lovelock auf der Basis seiner naturwissenschaftlichen Studien dazu bewogen, die Erde als Ganze für lebendig zu erklären, weil alle Bestandteile füreinander notwendig und nicht zu trennen sind.9 Seine Gaia-Theorie nimmt dabei bewusst Bezug auf alte mythologische Vorstellungen einer Mutter Erde, die Grund und Ursache allen Lebens ist. Das Leben ist deshalb das höchste Gut, das summum bonum von Moral und Ethik.10 Dieses Ganze des Lebens – unser Ganzes – zu pflegen und zu bewahren, ist die Aufgabe des Teils, der zu denken gelernt hat. Nichts Lebendem Leid zufügen, ist deshalb die erste ethische Forderung!

Leben ist keine Nebensache, die stattfindet, wenn die Arbeit beendet wurde, selbst wenn es viele so empfinden mögen. Richtig zu leben, ist die Herausforderung, die sich jedem menschlichen Wesen nach seiner Geburt stellt. Das Wort Leben ist ein Nomen, ein Sachverhalt, naturwissenschaftlich definiert durch Wahrnehmung/Kognition, Stoffwechsel/Metabolismus, und Selbsterschaffung/ Autopoiese. Leben als Verb ist ein Tun, ein Vorgang, eine Aktivität, ein Prozess, gestaltet auf der Basis natürlicher und kultureller Lebensbedingungen durch unsere Fähigkeit, in der Begegnung mit anderem durch Aufmerksamkeit und Bewusstheit Gegenwärtigkeit/Präsenz geschehen zu lassen. Lebendigsein ist wache Teilnahme an der Welt und ihrer Schönheit. François Jullien arbeitet seit vielen Jahren an einer »Philosophie des Lebens«.11 Auch ihm geht es um den Vollzug, weshalb er das Verb leben (frz. vivre) dem Nomen Leben (frz. la vie) vorzieht. Zu leben bedeutet für ihn ein ständiges Übergehen in anderes, ein Sich-Verlassen und Abstand nehmen, sich zu entzäunen und seine Grenzen zu erweitern.12 Leben ist aber auch ein – immanent verstandenes – Sich-Transzendieren in einer säkularen Spiritualität. Das Leben als individuelle Aktivität entfaltet sich zwischen Geburt und Tod und ist gekennzeichnet durch einen permanenten Wandel, der auch in unserer Hand liegt.

Geboren werden – sterben

Wir werden angefangen, und irgendwann ist Schluss. Unseren ersten Anfang haben wir nicht in der Hand und oft auch unser Ende nicht. Dazwischen müssen wir leben; diese Verantwortung haben wir selbst. Wir sind nicht dafür verantwortlich, was aus uns gemacht wurde. Eltern, Lehrerinnen und andere Autoritäten haben an unserem Anfang ihre Hand im Spiel. Wir sind schon geformt, bevor wir über unsere Formung nachdenken können. Trotzdem oder gerade deshalb sind wir verantwortlich dafür, was wir aus dem machen, zu dem wir gemacht wurden. Das lebendige Ich ist nicht fixiert, sondern fängt immer wieder mit sich selbst neu an. Es realisiert sich in einer diskontinuierlichen Gestaltenreihe, schreibt Rüdiger Safranski in seiner Studie über das Einzelnsein.13 Es war vor allem Hannah Arendt, die im Gegensatz zu Martin Heidegger14, der das menschliche Dasein als Sein zum Tode charakterisierte, den Menschen durch seine Natalität bestimmte.15 Mit jeder Geburt beginnt ein neuer Anfang, weil dem Neuankömmling die Fähigkeit zukommt, selbst einen neuen Anfang zu machen, das heißt, zu handeln. Ein initium steckt als Element in allen menschlichen Tätigkeiten. Arendts Vorstellung von Handeln war das Erschaffen einer gemeinsamen Welt der Menschen, die unter der Bedingung der Natalität stehen, d. h., durch Geburt auf die Welt gekommen sind.

Die französische Philosophin Corine Pelluchon, die eine Art sinnlich-leiblichen Existenzialismus entwickelt, setzt sich wie Arendt von Heideggers Sein zum Tode ab. Für sie ist die menschliche Existenz in erster Linie ein Sein zum Leben. Deshalb ist auch für sie die Geburt von besonderer Bedeutung.16 Die Geburt ist unser Anfang auf der Welt. Pelluchon zeigt auf, dass in diesen Anfang bereits unsere Leiblichkeit und unsere Intersubjektivität eingeschrieben ist, denn wir wurden von jemandem gezeugt und von jemandem geboren. Leben heißt für sie deshalb, darin einzuwilligen, dass wir geboren wurden und dies nicht selbst entschieden haben. Insofern hat jeder Mensch mindestens zwei Anfänge. Den ersten seiner Geburt hat er bewusstseinsmäßig verpasst. Pelluchon nennt dies die existenzielle Vorgängigkeit unseres Beginns.17 Der zweite Anfang beginnt da, wo der geborene Mensch willentlich anfängt, etwas zu tun. Dem können noch viele Neuanfänge folgen, denn wir sind grundsätzlich fähig, immer wieder neu zu beginnen und immer wieder ein anderer bzw. eine andere zu werden.

So fragt François Jullien zu Beginn seines Buches »Ein zweites Leben«, inwiefern wir innerhalb der Kontinuität unseres Lebens von neuem zu leben beginnen können.18 Wer versucht hat, sich von eingefleischten alten Gewohnheiten zu verabschieden und ein neues Verhalten anzufangen, der weiß, es ist nicht leicht, aber es ist möglich. Die Möglichkeit eines neuen Anfangs eröffnet sich immer wieder durch langsame Reifung, durch kleine Veränderungen oder Abweichungen, die sich verstärken und zu Neuem verbinden. Das Leben an sich ist ein endloser Kreislauf aus Geburt und Tod, aus Anfangen, Enden und Neubeginnen bis zu einem endgültigen, aber unbestimmten Ende des Lebens überhaupt. Unser individuelles Leben hingegen ist linear mit eindeutig definiertem Beginn und definitivem Ende. Die ultimative Bedingung, ein zweites Leben zu beginnen, ergibt sich nach Jullien, wenn man seinem eigenen Tod in die Augen blickt. Das Bewusstsein der eigenen Endlichkeit ist die existenzielle Grundbedingung des Neuanfangs. Der wichtigste Wert dafür ist Offenheit für Neues, die wichtigste Kompetenz spielerische Kreativität.19

Wenn schon oft das Wieder-Neuanfangen schwerfällt, weil uns Gewohnheiten an Altes, Überkommenes binden, ist es mit dem Aufhören nicht grundsätzlich bessergestellt. Ist das Leben erst einmal in einer bestimmten Spur festgefahren, ist es nicht leicht, die Fahrbahn zu wechseln. Immerhin hat das Gewöhnliche, das, woran man sich gewöhnt hat, den Vorteil, dass man es kennt und darin seine Handlungsroutinen entwickelt hat. Was danach kommen könnte, kennt man nicht, und das kann Angst machen. Es gibt allerdings keinen Abschied ohne Schmerz, aber auch keinen Neuanfang ohne Abschied. Trotz allem: Neues kann auch locken.

Aufhören zu können, ist die Fähigkeit, sich vom Alten wirklich zu verabschieden, es nicht weiter mitzuschleppen beim Neuanfang. Dies ist die Voraussetzung des Anfangenkönnens. Anfangen und Aufhören bilden ein Paar; es gibt sie nicht einzeln. Deshalb muss man auch das richtige Abschied nehmen lernen – bereits während des Lebens, nicht nur, um seinen endgültigen Abschied vorzubereiten. Wie sollte aber der, der nie zur rechten Zeit gelebt hat, zur rechten Zeit sterben, fragte Nietzsche im Zarathustra.20 Aufzuhören ist bereits individuell schwer genug, aber es geht, wie jeder bestätigen wird, der z. B. mit dem Rauchen aufgehört hat. Darüber hinaus fehlen unserer modernen Kultur der Dauerpräsenz und der permanenten Innovation allerdings kollektive Rituale des Aufhörens, des Abschiednehmens, was wir alle auf Beerdigungen erleben können, wenn uns die richtigen Worte fehlen, um Anteilnahme auszudrücken, und wir zu vorgestanzten Worthülsen greifen.

Harald Welzer, der Autor der Gesellschaftsutopie des Anders-sein-Könnens, brauchte einen Herzinfarkt, um aus seiner Rastlosigkeit auszusteigen, wie er in seinem Buch »Nachruf auf mich selbst« schreibt.21 Das Aufhörenkönnen zu lernen ist aber nicht nur eine individuelle Aufgabe, sondern auch eine Herausforderung für die Gesellschaft, die unter der Fiktion des immerwährenden Fortschritts durch immerwährendes Weitermachen den Weg in die Katastrophe eingeschlagen hat.22 Vor allem wirtschaftlich darf es nicht länger nur ums Optimieren und Innovieren gehen, sondern um die Frage, womit wir aufhören müssen, wenn wir überleben wollen: z. B. mit der Förderung des Individualverkehrs oder mit der rücksichtslosen Ausbeutung nicht regenerativer Energiequellen. Dass dies in der funktional differenzierten modernen Gesellschaft so schwierig ist, liegt daran, dass in die Funktionssysteme – wie Wirtschaft, Politik, Sport, Kunst etc. – ein unaufhörlicher Steigerungsmechanismus eingebaut ist. In der kapitalistischen Wirtschaft wird Kapital eingesetzt, um Profit zu machen, nicht um Bedarfe zu befriedigen; Letzteres ist eher der Nebeneffekt. Im Sport geht es grundsätzlich nur noch darum, die bisher letzte Höchstleistung zu überbieten, und sei es unterstützt durch Doping. Stoppregeln sind in den modernen Funktionssystemen nicht vorgesehen; das war eine der bedeutenden Erkenntnisse der Systemtheorie von Niklas Luhmann.23 Der Burnout ist inzwischen ins individuelle und gesellschaftliche Leben fest eingebaut. Deshalb werden wir nicht umhin kommen, das Aufhören zu lernen. Genuss und Sinn muss in unserer gesellschaftlichen Situation daher unbedingt an Nachhaltigkeit, sogar an Suffizienz im Sinne von Verzicht gebunden werden. Zunächst und vorbereitend geht es hier um Grundbedingungen unserer anthropologischen Konstitution.