Gemeinsam, anders, glücklich - Uli Hauser - E-Book

Gemeinsam, anders, glücklich E-Book

Uli Hauser

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Beschreibung

Johannes träumt vom Fliegen – auf einem Kettenkarussell. Durch die Luft sausen und mal nicht behindert sein. Das wäre so schön. Und wunderbar. Aber auch gefährlich. Er darf nicht fallen und nicht stürzen, sein Rücken ist versteift. Johannes, das geht leider nicht, sagt sein großer Bruder. Aber eigentlich will er ihm auch seinen Wunsch erfüllen. Nur wie? Gemeinsam machen sich die beiden auf die Suche. Und entdecken ein Fahrrad, auf dem sie nebeneinander sitzen und sich im Kreis drehen können.  So beginnt er, der Sommer ihres Lebens. Ein Buch über das, was möglich ist, wenn wenig möglich -erscheint. Eine Ermutigung, das Große im Kleinen und Stärke in der -Schwäche zu finden. Über das Leben in einer Gemeinschaft. Von Menschen, die sich umeinander kümmern. Und Menschen, die ihr Schicksal annehmen. Für alle, die neue Kraft schöpfen wollen. 

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Seitenzahl: 165

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Für unsere Eltern. Und ihre Liebe.

Es ist alles anders geworden, als die Ärzte sagten. Sagt meine Mutter. Wir wollten kein Mitleid, und jetzt ist es wunderbar.

Danke, Mama. Danke, Papa

Inhalt

Vorwort von Johannes

Wie alles anfing

Schwere Geburt

Stab im Rücken

Kettenkarussell

Mutter

Und es war Sommer

Kampfgeist

Weiß ich nicht

Bruderherz

Werkstatt

Lebenskünstler

Optimierungswahn

Ich liebe dich

Bewegungslehre

Das Heim

Herrenabend

Kirmes vorm Aufzug

Susi

Wolfgang

Agnes und die anderen

Frauentyp

Wunderbärchen

Wo Liebe wohnt

Schlussspurt

Dank

Vorwort von Johannes

Ich wollte im Sommer nach Hamburg auf eine Freizeit fahren.

Da sollten alle viel zu Fuß gehen, das kann ich nicht so gut.

Also klappte das nicht.

Dann kam mein Bruder aus Hamburg zu mir.

Und dann sind wir Fahrrad gefahren.

Das war so schön.

Im Buch geht es um mich.

Wie es heißt, weiß ich nicht.

Aber ihr solltet es lesen.

Toll, Uli, dass du das gemacht hast.

Und du kannst noch „alles klar“ schreiben.

Wie alles anfing

Was er sich wünsche, hatte ich ihn gefragt. Ans Meer fahren? Zu Tante Gertrud? Ins Deutsche Chipsmuseum? Weit weg? Oder doch lieber zu Hause ausschlafen?

Es waren Ferien und wir hatten zwei Wochen Zeit. Mein Bruder und ich. „Johannes freut sich schon so“, sagte meine Mutter und fuhr erleichtert zur Kur, der ersten nach 89 Jahren. Eine große Sache, wochenlang packte sie Koffer. Einen für Mama, einen für Papa, und das muss noch mit und das. Meine Eltern waren erleichtert, dass ich mich kümmerte.

Mein Bruder ist behindert. Er kommt nicht ohne Weiteres allein zurecht. Es muss jemand da sein. Er kann schlecht laufen und schiebt einen Rollator vor sich her wie andere einen Einkaufswagen. Dieser gibt ihm Halt. Er kann sich nicht so bewegen, wie er will, seine Muskeln sind dauerhaft verkrampft. Spastisch gelähmt, sagen die Ärzte. Nicht heilbar. Aber man kann damit leben.

„Was hat er denn?“, fragen mich manchmal Leute, wenn die Rede auf meinen Bruder kommt. Dann versuche ich damit zu antworten, was Johannes alles kann. Er kann allein sein Bett machen. Eine Suppe aufwärmen. Mit dem Rollator bestimmt eine Stunde am Stück unterwegs sein, ohne aus dem Atem zu kommen. Ist zwar anstrengend, aber es geht. Er zieht sich alleine an und wäscht sich. Duscht im Sitzen, auf einem Stuhl, den man hoch und herunter bewegen kann. Er kann lesen und schreiben. Ziemlich gut ist er im Erfassen atmosphärischer Stimmungen, Johannes hat Feingefühl. Er weiß, wer wann Geburtstag hat, und erinnert uns daran. Was bei fünf Geschwistern, acht Nichten und Neffen und angeheirateten Partnern schon eine logistische Leistung ist. Sein Lieblingsgeburtstag aber ist der 90. meiner Mutter, über den Johannes meint, man müsse sich dringend dazu treffen und alles besprechen. Obwohl alles längst klar ist. Axel, der Metzger, hat schon gesagt, er würde das Buffet machen, Kartoffelsalat und so. Er hat auch Pastrami, New York Style, aber so was kommt bei uns nicht auf den Tisch, das kennt keiner. Meine Mutter übrigens hat die Vorbereitungen für die Party eigentlich schon abgeschlossen, bei Regen setzen wir uns in die Garage und wenn, wie immer, die Sonne scheint, stellen wir unsere Party-Bänke auf den Rasen. Ute wird wieder ihren guten Pflaumenkuchen bringen, das geht auch schon Anfang Juli, wegen der Globalisierung, und meine Mutter wird auf jeden Fall sagen, dass dies ihre letzte große Feier gewesen sei. Das sagt sie allerdings schon seit 60 Jahren. Johannes kennt das mit dem Feiern auch gar nicht anders. Wir sind nie unter dreißig Leute und jeder ist willkommen. So was Neumodisches wie „wir haben keinen Platz mehr am Tisch“, das kennen wir nicht. Meine Mutter hat uns gern um sich versammelt. Sie mag keine „Ich-Menschen“, wie sie immer sagt, also Leute, die nur an sich denken und andere ausschließen.

Als ich Johannes fragte, wie ich meine Hochzeit feiern sollte, sagte er: „Groß.“ Johannes und ich besprechen die wirklich wichtigen Dinge. Man kann mit ihm ganz gut reden. Jetzt nicht über den Haushaltsstreit und den europäischen Stabilitätspakt, aber für die Praxis reicht es. Also Hochzeit, Party, wann sehen wir uns wieder?

„Bald“, sagte ich am Telefon, „dann komme ich und wir machen Urlaub zusammen.“

„Ich freu mich schon so“, sagte er.

Wenn Johannes was wirklich gut kann, dann sich freuen. Er freut sich, wenn er seine vier Brüder sieht und seine Schwester. Es Mama und Papa gut geht und allen anderen auch. Er freut sich auch über eine gute Tüte Chips und Kaffee mit Schaum. Und einen Löffel darin zum Rühren, so lange, dass andere darüber einschlafen. Ist irgendwann in drei Monaten irgendwo ein Fest, freut er sich jeden Tag im Voraus. Früher hat er sich so doll gefreut, dass er krank wurde, wenn es soweit war. Ich weiß nicht, ob es so etwas gibt wie Überfreude, aber sein Körper hielt die Anstrengung nicht aus, das Trommelfeuer der Glückshormone, zu viel Dopamin. Es war ganz schön traurig, die anderen fuhren weg, und Johannes blieb am Tag eines Ausflugs im Bett.

Jetzt aber war Urlaub. Johannes war über all die Vorfreude nicht krank geworden. Und mit mir in unserem Feriendomizil angekommen, bei uns zu Hause. In Orsoy am schönen Niederrhein. Einer alten Festungsstadt mit einer Fähre über den Fluss und einer Mauer mit Schießscharten.

Johannes schläft gern lang. Mittag war, als er zum Frühstück erschien. Sturmfrei die Bude, das Elternhaus ohne Eltern. Das hatten wir auch noch nie erlebt. Johannes setzte sich in unserer kleinen Küche an das Ende des Tisches, wo er immer sitzt, neben der Tür, und schmierte sich Brötchen, so wie er es immer tut. Mit Marmelade und das alles in Zeitlupe. Könnte auch die Übung eines Zen-Meisters sein, zum Runterkommen. Ist aber Originalzeremonie von Bruder Johannes. Einatmen, schmieren, ausatmen. Bloß keine Ablenkung und volle Konzentration auf den Augenblick.

Johannes goss heißes Wasser in löslichen Kaffee und strahlte mich an. „Hast du gut geschlafen, Ulrich?“ Er war bereit. Sein erster Urlaubstag, und diese herrlichen Brötchen. Johannes ruckelte sich auf seinem Stuhl zurecht, räusperte sich kurz und begann das Festmahl.

„Diese Nahrung ist ein Geschenk der Erde, des Himmels, zahlreicher Lebewesen und das Ergebnis von viel Liebe und Mühe. Mögest du mit Achtsamkeit und Dankbarkeit essen und dich dieses Geschenks als würdig erweisen“, sagte ich. Ich war mal in Thailand in einem Schweigekloster und habe da langsames Essen geübt. „Mögest du unheilbare Geistesgebilde erkennen und verwandeln, insbesondere deine Gier, und lernen, noch maßvoller zu kauen.“

Johannes schaute nicht mal auf, er war voll fokussiert, in seinem Grund, wie Mystiker sagen würden, verbunden mit seinem Geheimnis.

Gleich würde er aufstehen und sich noch einen Kaffee machen, mit sehr viel Milch und noch mehr Zucker und sich hernach der Mahlzeit des Vortags annehmen und sie in der Mikrowelle aufwärmen, so kenne ich das von ihm. Es war ja schon Mittag, also Zeit für ein Essen. Johannes hat seine Rituale. So können wir natürlich auch den Urlaub verbringen, dachte ich. Ich war schon zehn Stunden wach.

„Und“, fragte ich, „weißt du, was du dir wünschst? Hast du es dir überlegt?“

„Ja“, sagte Johannes. Er schob den Teller beiseite und wischte sich den Mund ab.

„Ich wünsche mir, Karussell zu fahren.“ Er strahlte über beide Backen.

Ich runzelte die Stirn. „In echt?“

„Jaha.“ Er zog dieses Ja so sehr in die Länge, dass es keinen Zweifel geben konnte. „Ja, wirklich“, sagte Johannes.

Er leckte seinen Finger ab; das hat er schon als Kind getan, ein halbes Jahrhundert später hatte sich daran nichts geändert.

Und wie früher sagte ich: „Johannes, lass das, das ist nicht sexy, das machen nur kleine Kinder, und du gehst bald schon in Rente.“

„Haha“, sagte Johannes.

Er spülte Teller und Tasse und war startklar. So begann er, der Sommer unseres Lebens.

Schwere Geburt

Johannes kam auf die Welt, da war ich sieben.

„Er sieht anders aus“, sagte ich, „so wie ein Äffchen.“

„Das sagt man nicht“, antwortete meine Mutter.

Aber irgendetwas stimmt nicht mit ihm, dachte ich, aber mehr dachte ich wiederum auch nicht; ich konnte kaum beschreiben, was ich fühlte und wie ich es sagen sollte.

Er war langsamer als meine beiden anderen Brüder, das stand fest. Johannes lag eher auf dem Boden, als dass er lief. So richtig sprechen konnte man auch nicht mit ihm, hilflos war er und sehr schreckhaft. Wir mussten seine Wörter entziffern, meinst du das? Und mit seinen Fingernägeln zerkratzte er unsere Schallplatten. Heino und Heintje und die anderen hatten einen Sprung.

„Ihr müsst ein bisschen mehr Rücksicht nehmen“, sagte meine Mutter. Das meinte auch unser Pastor, wenn ich zum Beichten ging, jeden Samstag. Ich wusste nie, von welcher Sünde ich ihm berichten und was ich falsch gemacht haben sollte; mein erstes echtes Vergehen, an das ich mich erinnere, beichtete ich nicht. Das war, als der Kaugummiapparat von Bille, unserer Nachbarin, ohne Münzeinwurf funktionierte und sich ohne Ende drehen ließ. Ein Kaugummi nach dem anderen purzelte hinaus und ich war reich. Leider hatte Bille das gesehen und ich musste mich, peinlich genug, nach der Strafpredigt meiner Mutter entschuldigen.

Dieses Beichten war mittelalterliche Prozedur: Ich kniete im Gebälk und flüsterte dem Herrn Pastor vermeintliche Geheimnisse ins Ohr. Seine Absolution lief immer auf ein paar Vaterunser hinaus und der Bitte, meinen Eltern eine Hilfe zu sein. Die Mädchen übrigens mussten das Ave Maria beten.

In unserer Straße waren viele Kinder, keines war wie Johannes. Zart und verletzlich und anhänglich. Schmusen war so ein Wort, was ich von ihm in Erinnerung habe. Johannes wollte immer schmusen.

Johannes ist behindert: Keine Ahnung, wann ich dies zum ersten Mal hörte. Wer mir das sagte und ob das überhaupt etwas zu bedeuten hatte. Irgendwann, später, ich war schon älter, fragten mich Freunde, was mit Johannes sei und wie sie auf ihn reagieren sollten, sie seien unsicher und wollten so eine Art Gebrauchsanweisung. Dieses Fragen kam mir immer komisch vor. „Er ist Spastiker und geistig behindert“, sagte ich dann. Niemals habe ich mir ein Buch genommen und nachgeschaut, was das nun genau sein sollte. Wir schmusten einfach weiter.

Wir wurden größer, Johannes auch, und erst nach Jahren erfuhren wir, was gewesen war. „Johannes hat keine Luft bekommen bei der Geburt“, sagte mein Vater.

„Also zu wenig“, sagte meine Mutter.

Ach so. Wir stellten keine weiteren Fragen, meine Eltern legten es darauf auch nicht an. Wir nahmen zur Kenntnis, meine Brüder und ich. Wir konnten laufen und sprechen und streiten und hatten anscheinend genug Luft bekommen.

Meine Mutter und mein Vater fuhren sehr oft mit Johannes zum Arzt und Oma passte auf uns auf.

Irgendwann kam ein Bus und brachte Johannes zu einem speziellen Kindergarten und danach in eine Schule für Körperbehinderte.

Johannes ist das vierte Kind meiner Eltern. Er kam Anfang Mai 1969 auf die Welt, kurz nach der Generalprobe der Amerikaner für die Mondlandung. Mein Vater hatte sich eigentlich ein Mädchen gewünscht, nach drei Jungen in vier Jahren. Es waren, wie man sagte, geburtenstarke Jahre. In unserer kleinen Stadt wurden in einer Nacht manchmal zehn Kinder geboren. Lenchen, die Hebamme, hatte ein Telefon neben ihrem Bett stehen. War es wieder so weit, rief sie den Arzt an und dann ging es los.

Es gab weder Ultraschall noch andere Innenaufnahmen aus dem Bauch der Mutter, und oftmals war die einzige Vorbereitung auf die Geburt, guter Hoffnung zu sein. Väter hatten in Kreißsälen nichts zu suchen, nach der Niederkunft wurde das Kind erst mal zum Waschen und Wiegen auf die Säuglingsstation gebracht. Das war schrecklich, sagt meine Mutter noch heute. Kaum auf der Welt, kamen die Kinder hinter Gitter. In kleine Bettchen, aus denen sie nicht fallen konnten. Und alle paar Stunden wurden sie zum Stillen vorbeigebracht. So war das damals.

Als Johannes geboren war, fragte meine Mutter, ob alles in Ordnung sei. Erschöpft war sie, aber glücklich. Ihr viertes Kind war kein Mädchen, aber ein Kind der Liebe, wie sie immer sagte. „Ja, Frau Hauser, ihr Sohn ist wohlauf, herzlichen Glückwunsch.“ Meine Mutter war erleichtert, hatte sie doch schwere Geburten hinter sich. Bei meinem zweiten Bruder verfing sich die Nabelschnur und bei mir war der Kopf zu groß für den Geburtskanal. Schwierige Schwangerschaft und viel Aufregung. Die Wehen wollten nicht einsetzen, all das vorher auf ärztliche Anordnung erfolgte Autofahren auf holprigen Feldwegen brachte wenig. Die Zeit drängte. Zuletzt legte sich der Arzt in seiner Verzweiflung auf den Bauch meiner Mutter und presste mit. Rausquetschen wollte er mich, doch ich bewegte mich keinen Millimeter. War wohl zu gemütlich da drinnen. Die Ordensschwestern in unserem katholischen Krankenhaus holten Kerzen, eine Nottaufe vorzubereiten, sollte der erste Sohn nur kurz das Licht der Welt erblicken und dann sterben. Es war ein Drama, ein Dammschnitt wurde eingeleitet, und auch der Name der leitenden Ordensschwester auf der Geburtsstation stand dem Geschehen in nichts nach: Sie hieß Notburga.

Schließlich war ich da, sehr lebendig und sehr schwer, fast zehn Pfund. Der Arzt meinte: „Geben Sie dem Jungen mal ein Butterbrot.“

Meine Mutter war also einiges gewohnt und froh, dass bei Johannes wohl alles in Ordnung war, keine weiteren Komplikationen.

Die ersten Wochen nach der Geburt aber schrie Johannes nur. Kinder schreien, das ist normal. Aber Johannes wehklagte. Schluchzte. Wimmerte. In ihm das Elend dieser Welt. Nichts half, kein Streicheln, kein Schaukeln. Die Tage wurden zu Wochen, die Wochen zu Monaten, es änderte sich nichts. Johannes stöhnte und keuchte und war kaum zu beruhigen. Die Nächte ein Graus, die Tage auch. Der Frühling ging, der Sommer kam, grelle Schreie. Was war nur mit dem Jungen?

Wir anderen wuchsen und wuchsen, Johannes blieb am Boden. Die Ärzte wussten keinen Rat, außer dem, zu hoffen und zu beten und Geduld zu bewahren.

Manchmal traf meine Mutter die Hebamme auf der Straße und tröstete sie. Lenchen holte ein Kind nach dem anderen raus, aber ihr Wunsch nach einem eigenen wurde ihr versagt, über lange Jahre.

„Das wird schon“, sagte meine Mutter, „seien Sie ganz beruhigt, eines Tages wird es klappen.“

„Und Ihnen geht es gut, Frau Hauser“, fragte die Hebamme, „und dem Johannes auch?“

„Ja“, sagte meine Mutter. „Johannes schreit ganz viel und kann schlecht schlafen. Aber das wird wohl noch werden.“

Mit 38 schließlich bekam die Hebamme ihr erstes und mit 42 Jahren ihr zweites Kind. Lenchen aus Vierlinden am Niederrhein, während des Krieges mit ihren Eltern über den Rhein gezogen zu uns nach Orsoy, nicht weit von Duisburg. In ein kleines Städtchen am Rand des Ruhrgebiets, wo jeder jeden kannte und es ein Krankenhaus gab, das weithin bekannt war wegen seiner guten Ärzte und der Geburtsstation. Im Marienhospital, das der Mutter Gottes gewidmet war, der Trösterin der Betrübten.

„Maria, breit den Mantel aus“, sangen wir auf jeder Wallfahrt, „mach Schirm und Schild für uns daraus, lass uns darunter sicher stehn, bis alle Stürm vorübergehn, Patronin aller Güte, uns allezeit behüte.“

Hat bisher, so im Großen und Ganzen, so weit ganz gut geklappt.

An ihre erste Geburt als Hebamme erinnert sich Lenchen noch gut: „Das war die von der Tankstelle“, sagt sie. „1961 geboren und schon zwei Jahre später tot, Hirnhautentzündung, ein Mädchen.“ Von meiner Geburt ein Jahr später kann sie auch noch erzählen. „Du warst ein Zehnpfünder. Ein dickes, stabiles Kind.“

Es kann viel passieren bei einer Geburt. Auch heute noch. Dass die Fruchtblase platzt, noch vor den Wehen, und der Muttermund sich nicht öffnet. Das Kind nicht mit dem Kopf zuerst, sondern mit dem Steiß nach draußen strebt, und nicht zu sehen ist, ob es richtig atmet, zum Beispiel.

Manche Kinder wurden mit der brachialen Kraft einer Saugglocke geholt oder einer Zange, so war es früher; ein Trauma, wenn der feststeckende kindliche Kopf auch noch in die Zangenblätter geriet. Wurde es noch dramatischer, wurde die werdende Mutter narkotisiert, und Lenchen saß stundenlang hinter ihr und träufelte zur Betäubung Äther auf eine verchromte Maske, die über die Nase gezogen war. Das kam gottlob selten vor, und von den 5.000 Kindern, denen sie auf die Welt half, hatten nur wenige eine schwere Geburt.

„Und bei Johannes? Wird wohl alles auch gut gegangen sein“, sagt Lenchen heute. Sie ist mit ihren 90 Jahren ein paar Monate älter als meine Mutter und bei bester Gesundheit. „Ich kann mich nicht erinnern, dass Johannes eine schwere Geburt war“, sagt sie, „wir hätten es gewusst.“

Stab im Rücken

„Wir könnten auch auf den Spielplatz gehen“, sagte ich. Schaukeln. Ich wusste nicht, wo ich nun ein Karussell herbekommen sollte. Johannes kennt von mir, dass ich ihm Wünsche erfülle. Oder es zumindest versuche. Früher, wenn ich zu Freunden ging, wollte er mit. Und ich nahm ihn immer mit, egal zu wem.

Johannes war immer dabei. Für meinen Bruder Stephan wurde die Reaktion der anderen auf ihn gar zu einem Ausschlusskriterium bei der Wahl einer Freundin: Guckte die komisch, wenn sie Johannes sah, war es das. Niemand von uns konnte sich vorstellen, mit einem Mädchen zusammen zu sein, das Johannes ausschloss. Er war unser Maßstab für unsere Vorstellung von Liebe und der Vermessung der Welt. Was das anging, orientierten wir uns an unserem Bruder. Was falsch war und was richtig: Johannes half uns zu verstehen.

Wir machten uns keine weiteren Gedanken. Johannes war da, und es war gut so. Man konnte keinen Marathon laufen mit ihm, aber wer wollte das schon.

„Nein, kein Spielplatz.“ Johannes zog die Augenbrauen hoch. Fand ich in Wahrheit jetzt auch keine gute Idee.

„Schaukeln, nicht gut?“

„Ach, nee.“ Ich wusste, Johannes schaukelt für sein Leben gern. „Achtung, Johannes, jetzt ganz gut festhalten, sonst fällst du hinten herunter“, hatte ich früher immer gesagt. Die Leute guckten und sagten: „Das ist doch viel zu gefährlich für den Jungen, lass das.“

So sind wir miteinander groß geworden, immer ein bisschen mehr, immer ein bisschen drüber über dem, was andere dachten. Stephan legte sich beim Schlittenfahren sogar auf Johannes und sauste mit ihm den Berg herunter. Den Berg hoch brauchte Johannes eine Hand, und gut war es.

Fahrradfahren ging auch mal, für eine kurze Zeit, auf einem Dreirad. Johannes sang eine Zeit in einem Chor, und bei Landessportfesten war er in weithin unbekannten, aber nicht weniger fordernden Wettbewerben erfolgreich. Zum Beispiel im Weitwurf von Reissäckchen. Dem Rollen von Riesenbällen. Und im 20 Meter-Hindernisgehen. Alles keine olympischen Disziplinen, aber eben auch anstrengend. Am liebsten war er mit uns unterwegs, seinen Brüdern, keine Party ohne Johannes. Ich möchte auch nicht ausschließen, dass wir manchmal mit ihm angegeben haben; weniger mit seiner Behinderung als unserem Bemühen, uns zu kümmern und Wünsche von den Lippen abzulesen. Fähigkeiten, die ja auch im Umgang mit Frauen nicht zu unterschätzen sind. Es gab auch nie, soweit erinnerlich, unangenehme, brüskierende oder blamable Situationen. Ein jeder nahm Johannes so, wie er ist und an die Hand, auch versuchte keiner, ihn bloßzustellen. Nur einmal wurde es unangenehm. „Du weißt“, meinte vor Jahren mal ein Bekannter meines Vaters, „was früher mit deinem Bruder passiert wäre, oder?“

Johannes und ich waren Eis essen, ich ging noch in die Schule, und wir trafen den Mann auf der Straße. Ich wusste, dass er als junger Mensch Nationalsozialist gewesen war, wir sprachen oft darüber. Ich war auf alles gefasst.

„Man hätte ihn“, er führte die Hand an seine Gurgel, „also das mit ihm gemacht.“

Er sagte das so gleichgültig und ohne sichtliche Regung, dass ich zu erschrocken war, ihn zu fragen, wie er das wohl meinte.

1969, als mein Bruder geboren wurde, waren viele noch da, die mitgemacht oder geschwiegen hatten und nun verdrängten, was war und wie es war, amtlich zu einem Krüppel gestempelt, gequält, gedemütigt, getötet zu werden.

Johannes löffelte genüsslich eine Erdbeereis-Kugel, es war ein absurder Moment in hellstem Sonnenschein. Wie ein Überlebender, der den Sieg davongetragen hatte, stoisch genießend. 29 Jahre früher hätten sie ihn aussortiert, abgeholt und weggesperrt. Lebensunwertes Leben. Nicht arbeitsfähig.

Eine Belastung. Weil krumm. Und geistig nicht ganz auf der Höhe.

An Menschen wie ihn hätten die Nazis probiert, wie ein Massenmord zu organisieren sei.