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Change – ein Thema, mit dem sich die Menschen in jeder Organisation beschäftigen. Sie alle erleben Aufbruchstimmung und Euphorie ebenso wie Frust und Resignation. Dabei ist eine Frage zentral: Welche Geschichte über Veränderung erzählen wir uns? Die vom Widerstand der Menschen? Vom Mitnehmen und an Bord holen? Oder die vom Intervenieren in einem komplexen System. Die Antwort auf diese Frage beeinflusst maßgeblich, mit welchen Instrumenten der Change angegangen wird und wie wahrscheinlich sein Erfolg ist.
In diesem Buch wird eine Organisation als komplexes System verstanden, und deshalb werden andere, zielführendere Fragen gestellt, auf die «organisationaler Diskurs» die Antwort ist. Dabei ist dieses Instrument keine schnelle, einfache 08/15-Methode für alle Fälle, sondern eine Einladung zum kollektiven Denken.
Im praktischen Diskurs, der in Kleingruppen stattfindet, denken die Teilnehmenden über ihr Denken nach, über Struktur und geltende Normen in der eigenen Organisation, die Routinen ihres Handelns und die kollektiven Bewertungsmuster. Sie reflektieren gemeinsam und betrachten sich dabei als Individuum, als Team und die Organisationsebene. Das ist nicht trivial und durchaus anspruchsvoll.
Es ist ein iterativer Prozess aus Bewusstmachen, Irritieren, Darlegen, Verabreden. Er wird in diesem neuen Buch von Stephanie Borgert ausführlich vorgestellt und praktisch erläutert. Wenn eine Organisation im Diskurs ihre Bewertungsmuster und -routinen reflektiert und gegebenenfalls neu verabredet, können wir die Geschichten um „Change bringt immer Widerstand mit sich“ in die Mottenkisten legen.
Weil organisationaler Diskurs keine Methode und auch kein Rhetorik-Fahrplan ist, liegen ihm einige Prinzipien zugrunde, damit er seine veränderungswirksame Kraft entfalten kann. Veränderung gelingt, wenn wir in einen guten Diskurs finden, und der bedeutet, miteinander zu denken. Was also erwartet Sie konkret?
Blick in den Inhalt:
Eine kurze Geschichte komplexen Denkens
8 Prinzipien für den organisationalen Diskurs
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veränderung gelingt, wenn wir in einen gehaltvollen Diskurs finden. Die Basis dafür ist gemeinsames Denken.
Aufbruchstimmung und Euphorie oder Frust und Resignation? Change beschäftigt die Menschen in jeder Organisation. Welche Geschichte über Veränderung wird in Ihrer Organisation erzählt? Die vom Widerstand der Menschen? Von langwierigen Projekten, die häufig scheitern?
Oder müssen ganz andere Erwartungen formuliert werden, damit Veränderung überhaupt erfolgreich wird? Zumindest in komplexen Systemen braucht es keine schnellen 08/15-Methoden, sondern die Einladung, über Strukturen und geltende Normen in der eigenen Organisation, die Routinen des Handelns und die kollektiven Bewertungsmuster nachzudenken. Einen Rahmen dafür bietet der «organisationale Diskurs». Es ist ein iterativer Prozess aus Reflektieren, Irritieren, Darlegen, Aushandeln, der in diesem Buch von Stephanie Borgert vorgestellt wird. Denn wenn eine Organisation im Diskurs ihre Bewertungsmuster und -routinen reflektiert und gegebenenfalls neu verabredet, können Geschichten wie «Change bringt immer Widerstand mit sich» in die Mottenkisten gelegt werden.
Organisationaler Diskursals Schlüssel zum Change
von
Stephanie Borgert
VERLAG FRANZ VAHLEN MÜNCHEN
«Die Menschen wissen, was sie tun;häufig wissen sie, warum sie das tun, was sie tun;was sie aber nicht wissen, ist, was ihr Tun tut.»
Denken, Diskurs und Veränderung
Organisationaler Diskurs – kein Rezept, sondern Instrument
ERSTER TEIL
Eine kurze Geschichte des komplexen Denkens
Prinzipien für den organisationalen Diskurs
#1 Wirklichkeit ist ein Konstrukt
#2 Organisation als komplexes System
#3 Kommunikation erzeugt Kommunikation
#4 Veränderung braucht Energie
#5 Eine Organisation kann lernen
#6 Das Menschenbild ist entscheidend
6#7 Wir müssen uns mehr Komplexität zumuten
#8 Die Antwort auf Komplexität ist …
ZWEITER TEIL
Organisationaler Diskurs
Die Wurzeln des organisationalen Diskurses
Das Wofür (nicht)
Der praktische Diskurs
1. Reflect
2. Irritate
3. Declare
4. Agree
Das Setting
Wirkungen und Widersacher
Wirkungen
Die Widersacher des organisationalen Diskurses
Glossar
Literaturverzeichnis
Über die Autorin
Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in einem Meeting. Gemeinsam mit Ihren Kolleginnen und Kollegen erarbeiten Sie die kommende Veränderungsmaßnahme. Die Auseinandersetzung ist hitzig, Argumente fliegen durch den Raum, Standpunkte werden bezogen. Es wird leidenschaftlich argumentiert. Dann herrscht plötzlich Stille. Alle, auch Sie, denken nach. Aber nicht über das nächste Argument oder wie man hier als Sieger vom Platz gehen kann, sondern über all das Gehörte, die geteilten Sichtweisen, die jetzt bekannten Motive, die Einwände, die Wünsche. Es ist eine kurze Pause. Der Diskurs geht weiter, und er hat an Tiefe gewonnen. Es bleibt weiterhin hitzig und turbulent. Am Ende jedoch haben Sie gemeinsam eine Verabredung getroffen, die für alle Beteiligten verbindlich und orientierend ist.
Sollten Sie jetzt denken, dass es bei Ihnen im Unternehmen doch genau so läuft, dann antworte ich: Allein, mir fehlt der Glaube. Denken Sie gerade, dass es bei Ihnen und mit Ihren Leuten eh nicht möglich ist, entgegne ich: Allein, Ihnen fehlt der Glaube. Am Ende dieses Buches werden wir (vermutlich) zu der Erkenntnis kommen, dass beide Antworten richtig sind.
8Veränderungen sind an der Tagesordnung. Change Projekte werden initiiert, Transformationen beschlossen und Maßnahmenkataloge erarbeitet. Ob diese Projekte tatsächlich zu 70 Prozent scheitern, ist nicht bewiesen. Im Organisationsalltag zeigen sich aber zunehmend Change-Müdigkeit, Ablehnung gegenüber beschlossenen Veränderungen, Aussitzen und Unterlaufen der Maßnahmen bis hin zu offenem Widerstand. Warum ist das so? Die häufige (oberflächliche) Antwort darauf lautet: Die Menschen wurden nicht abgeholt, eingebunden, mitgenommen und erzeugen Gegenwind. Aha, die Menschen leisten also Widerstand gegen Veränderung. Nicht selten wird darüber hinaus noch mit dem Alter der Beteiligten und deren Angst und Unsicherheit argumentiert. Diese Argumentation zeigt vor allem eines – das existierende Menschenbild. Vielleicht haben wir uns alle aber auch einfach an diese Erklärung gewöhnt. Veränderung – Widerstand – Mensch, fertig. Das ist einfach, geht schnell und wir müssen uns keine weiteren Gedanken machen.
Denn ob wir es Change, Transformation oder Veränderung nennen, wir beeinflussen damit die Organisation, also ein komplexes System. Eine Organisation lässt sich nicht über die Summe ihrer Mitglieder und deren jeweilige Persönlichkeit erklären. Es ist ein System, mit etablierten Strukturen und dem Zweck, sich selbst zu erhalten. Mit diesem Blick auf Organisation ändern sich die Fragen, die wir uns stellen, wenn es um Veränderung geht. Welche Strukturen, also welche unserer expliziten und impliziten Verabredungen von Zusammenarbeit, müssen sich ändern? Wo liegt eine große Hebelkraft? Welche Strukturen verhindern oder hemmen die Veränderung möglicherweise? Haben wir ausreichend Energie und Instabilität im System für den Change?
Diese Fragestellungen kommen bisher kaum vor in den Kick-offs für die agile Transformation, den Strategiewechsel oder die Erschließung neuer Märkte. Solange wir aber unseren Blick auf die Menschen (und deren Widerstand) halten, wird sich die Diskussion um gescheiterte Vorhaben nicht verändern und der Erfolg weiterhin eher zufällig bleiben.
Was also ist zu tun? Die kurze Antwort an dieser Stelle: einen organisationalen Diskurs führen.
Das klingt zunächst nach einer bestimmten Art, miteinander zu sprechen, nach einer Kommunikations-Methode, eventuell sogar zeremoniell. Da haben Sie sicher schon einiges probiert. In vielen Organisationen wird die Diskussion um Meeting-Regeln, Zuhör-Techniken und Sprechsteine 9genauso regelmäßig wiederholt, wie der Blick auf gescheiterte Maßnahmen. Unterstelle ich etwa, dass nicht «gut» miteinander gesprochen wird? Ja, das tue ich. Als Sammelbegriff für die Art und Weise, wie Meetings, Workshops, Retrospektiven oder Führungskräfterunden kommunikativ ablaufen, verwende ich gern den Begriff «undiszipliniert». Was meine ich damit? Viele Aspekte oder Problemstellungen werden gleichzeitig in die Luft geworfen, die Redenden beziehen sich nicht aufeinander, Reden dient einzig dem Verteidigen des eigenen Standpunktes, Fragen werden kaum gestellt, Grundannahmen zum eigenen Standpunkt nicht mitgeliefert. Es wird in Bewertungen gesprochen, ohne die Beobachtung zu benennen, es gibt keine Momente des Schweigens und Probleme werden nicht in der Tiefe betrachtet. Alles soll schnell gehen, und auf jeden Fall müssen am Ende konkrete To-dos herauskommen. Viel Rauschen, wenig Gespräch.
Schnell erklingt mitunter der Ruf, diese Phänomene über die rote, gelbe, grüne oder blaue Persönlichkeit der Menschen zu verargumentieren und dann die Lösung in Seminaren zu gewaltfreier Kommunikation oder Regeln für wertschätzendes Feedback zu erhoffen. Auch hier sind die Menschen nicht das Problem. Wir haben Systeme und damit Strukturen etabliert, die ernsthaften, verbindlichen organisationalen Diskurs be- oder sogar verhindern. Damit sorgt der Ruf nach Wir-Gefühl, Eigenverantwortung und Wertschätzung für eine Ambivalenz bei den handelnden Menschen. Wir «verabreden», wie wir miteinander umgehen, halten uns aber nicht daran. Das erzeugt Frust. Wenn unsere Strukturen einen Diskurs nicht zulassen, sollten wir zunächst unser System betrachten und daran arbeiten.
Wir reden «nicht passend» miteinander, weil wir verlernt haben, miteinander zu denken. Das Denken ist der zugrunde liegende Knackpunkt. Die Mitarbeitenden in den Unternehmen, die ich begleiten darf oder durfte, können miteinander denken, aber nur im Krisenfall. Laufen die Organisationen auf Normalbetrieb, fallen sie in undisziplinierte Interaktionsmuster zurück. Ein spannendes Phänomen, denn die geltende Struktur wird in einer Krise quasi ausgehebelt. Dann ist zu beobachten, wie Gespräche tiefer werden, langsamer mitunter, Denkpausen entstehen, Standpunkte bezogen und wieder aufgegeben werden.
10Im organisationalen Diskurs, der in Kleingruppen stattfindet, denken die Teilnehmenden über ihr Denken nach, über Struktur und geltende Normen in der eigenen Organisation, die Routinen ihres Handelns und die kollektiven Bewertungsmuster. Sie reflektieren gemeinsam und betrachten sich dabei als Individuum, als Team und die Organisationsebene. Das ist nicht trivial und durchaus anspruchsvoll. Dann können wesentliche strukturelle Verabredungen neu getroffen oder verändert werden.
Wie das konkret geht, welche Phasen es braucht und mit welchen Risiken und Nebenwirkungen zu rechnen ist, stelle ich Ihnen in diesem Buch vor. Weil organisationaler Diskurs keine Methode und auch kein Rhetorik-Fahrplan ist, liegen ihm einige Prinzipien zugrunde, damit er seine veränderungswirksame Kraft entfalten kann. Veränderung gelingt, wenn wir in einen guten Diskurs finden, und der bedeutet, miteinander zu denken. Was also erwartet Sie konkret im Folgenden?
Im ersten Teil setzen wir uns mit grundlegenden Denkmodellen auseinander. Wie erklären wir uns die Welt, das Verhalten anderer Menschen, Probleme, Situationen, die Organisation? Welche Theorien und Modelle legen wir dabei zugrunde? Diese Fragen sind zentral, vor allem wenn es um Change geht. Wir werden mit einigen Überzeugungen aufräumen, die heute immer noch in vielen Organisationen zu finden sind. Wir beschäftigen uns mit den Menschenbildern in Organisationen und gehen Fragen nach wie Was ist Wirklichkeit? oder Was verstehen wir unter Kommunikation? Was braucht es, um Veränderungen umzusetzen? Was ist denn Basis für Veränderungen und warum sollten wir über Probleme sprechen? Ich lade Sie ein, Ihre eigenen Überzeugungen zu reflektieren und auf Validität zu überprüfen. Gerade so wie im Diskurs.
Damit ist das Fundament gelegt, und wir steigen im Zweiten Teil intensiv in den Viersprung des organisationalen Diskurses ein:
Reflect – Irritate – Declare – Agree
Dazu stelle ich Ihnen die philosophischen Wurzeln des organisationalen Diskurses vor. Wir klären, in welchem Kontext der Diskurs seine volle Wirksamkeit entfalten kann, welches Setting dafür notwendig ist und natürlich auch, mit welchen Wirkungen Sie rechnen dürfen.
11Der organisationale Diskurs ist ein multi-disziplinäres Instrument zur Organisationsentwicklung. Die Einflüsse aus den diversen Denkschulen sorgen für Widersprüche und Paradoxien. Die erspare ich Ihnen nicht. Im Gegenteil, das genau sorgt für gute Momente, um intensiv nachzudenken und die eigene Sichtweise zu überprüfen.
Die wichtigsten Einflussgebenden des organisationalen Diskurses
Ameisen gehören zu den im Kollektiv lebenden Tieren, die mich schon lange faszinieren. Sie leben in Kolonien mit teilweise mehreren Millionen Insekten. Da braucht es ein gutes Zusammenspiel, damit nicht nur das Chaos herrscht. Sie führen Krieg, suchen nach Futter und bauen gigantische Hügel mit Kammersystemen. Sie lösen also komplexe Aufgaben. Ameisen organisieren sich ohne zentrale Steuerung. Sie arbeiten arbeitsteilig, jede Ameise weiß immer, was ihre Aufgabe ist.
Bei Bedarf jedoch, wenn beispielsweise ein Ameisenbär den Hügel plündert, organisieren sie sich neu. Funktionen werden gewechselt. Jede Ameise übernimmt die jetzt notwendige Aufgabe, ebenfalls ohne dass ihr das jemand sagt oder vorgibt. Diese kleinen Tiere mit ihren winzigen Gehirnen sind nicht besonders clever. Als Kollektiv jedoch unschlagbar. Ihre Organisation lässt sich nicht über die einzelne Ameise erklären, sondern über ihr Zusammenspiel. Jede Ameise trifft zwar Entscheidungen, jedoch sehr lokal in ihrem direkten Umfeld. Als Ganzes sind Ameisenkolonien quasi Super-Organismen, denn das große Ganze funktioniert bestens, und zwar ohne formale Führungskraft oder Koordinationsstelle. Kein Wunder also, dass Forschende schon lange daran arbeiten, was wir Menschen von den Ameisen in Bezug auf Verkehrsführung oder Organisieren lernen können. Kolonien sind ein Paradebeispiel für komplexe Systeme und aus diesem Grund illustrieren Ameisen einige Aspekte in den kommenden Kapiteln.
Mit diesem Buch möchte ich Ihnen Impulse, Einsichten und Anregungen liefern, damit Sie leicht in einen organisationalen Diskurs finden. Einen Diskurs, der auseinandersetzungsstark, tiefgehend, konstruktiv, zielgerichtet und gleichzeitig offen sein kann. Ihn in Ihrem Kontext zu durchdenken, auszugestalten und zum Leben zu erwecken, müssen Sie jedoch selbst. Dabei wünsche ich Ihnen gutes Gelingen und schöne Überraschungen.
Anfang der 2000er-Jahre arbeitete ich als IT-Beraterin für ein renommiertes Software- und Systemhaus. Ich hatte formale Führungsverantwortung für rund 20 Mitarbeitende, und noch einigen mehr war ich fachlich vorgesetzt. Gemeinsam betreuten wir einen der wesentlichen Kunden unseres Arbeitgebers. Das war spannend, weil wir laufend mit dem Kunden über dessen Probleme philosophieren durften und Ideen erdenken konnten. So schön meine Rolle und die Zusammenarbeit waren, gab es doch immer wieder ein Ärgernis. Wann immer ich mit einer Produkt- oder Serviceidee vom Kunden «heimkam» und mich an die entsprechenden Kollegen aus Consulting, Produktentwicklung oder auch Marketing wandte, erntete ich nichts als Ablehnung. Das ist nicht eingeplant. Keine Ressourcen. Passt gerade nicht zur Strategie. Das macht ja noch kein Wettbewerber, da wären wir die ersten. Mehr als einmal stand ich fassungslos vor diesen «Ausreden» und fragte mich, was denn los sei. Ich verortete das Nichtwollen in den handelnden Menschen: Der Leiter des Marketings hat doch keine Ahnung. Die Chefin des Consulting-Bereiches denkt nicht an den Kundennutzen. Ich arbeitete mich an den Menschen ab. Das half aber nicht. Mein Frust stieg, denn dieses Spiel wiederholte sich zigfach. Die Diskussionen zwischen 16den Verantwortlichen und mir wurden hitziger, meine Meinung über sie schlechter. Ich merkte, dass ich mich im Kreis drehte, hatte aber kein anderes «Erklärungsmodell» zur Verfügung als die handelnden Menschen.
Irgendwann in dieser Zeit stolperte ich über die Arbeiten von Jay W. Forrester und Donella Meadows. Ich tauchte ein in die Welt der Systemdynamik. Zum ersten Mal betrachtete ich unsere Organisation als ein System. Und ebenfalls zum ersten Mal fragte ich mich, mit welchem Modell beziehungsweise auf Basis welcher Theorie ich mir eigentlich «die Welt» erkläre. Aus dem Stand fand ich die Frage schwer zu beantworten, aber nach ein wenig Reflexion war klar, dass ich bis dahin ausnahmslos individualistisch versucht hatte alles Mögliche zu erklären. Warum das Marketing sich immer sperrt, genauso, weshalb ich mich in meiner Rolle als Führungskraft nicht pudelwohl fühlte. Das muss ursächlich in den Menschen (also auch in mir) begründet sein, da war ich mir (bis dahin) sicher.
Ab dem Zeitpunkt meiner Begegnung mit den Systemtheorien las ich alles, was mir in die Finger kam: Bateson, von Foerster, Maturana, Haken und viele andere. Es ergaben sich so viel passendere Erklärungen für all die Situationen, die ich erlebt hatte. Und mindestens genauso gewichtig war, dass mir die Systemtheorien neue Möglichkeiten eröffneten, um Einfluss zu nehmen.
All unsere Erklärungen basieren auf Annahmen. Die sind nichts anderes als Ableitungen von Theorien, wobei jede Theorie wiederum auf einer allgemeineren basiert. Die Allgemeinste ist dabei unser Weltbild, unsere Weltanschauung. Wie denken wir über die Welt? Auf welche Art und Weise?
Seit der Renaissance als «Geburtsstunde moderner Wissenschaft» leitet uns die Analyse, wenn es darum geht, Dinge zu verstehen. Sie ist unser übliches Denkmodell, und so werden wir heute noch in den Bildungseinrichtungen und Unternehmen sozialisiert. Was tun Sie, wenn Sie einen Gegenstand in die Hand nehmen, den Sie nicht kennen? Vermutlich werden Sie ihn (zumindest gedanklich) zerlegen und die Einzelteile zu verstehen versuchen. Danach setzen Sie ihn wieder zusammen. Ihr Verständnis entsteht über das Verstehen der Einzelteile. Das genau ist Analyse. Wir nutzen den Begriff als Synonym für das Denken. Dahinter steckt nicht nur die Annahme, dass wir über etwas vollständiges Verständnis erlangen können. Wenn wir Dinge in Einzelteile zerlegen, dann betrachten wir auch die Beziehung zwischen den Teilen. Dabei reduzieren wir wieder, auf die 17eine Beziehung. Wir benennen sie dann als Ursache-Wirkungs-Relation. Wie so viele Begriffe und Ausdrücke ist die ursprüngliche Bedeutung dieser Beziehung meist nicht mehr bekannt. Es ist aber wichtig, weshalb ich hier kurz erinnern möchte:
Die Ursache ist notwendig, um die Wirkung zu erzeugen. Die Wirkung tritt nicht ein, wenn die Ursache fehlt.Die Ursache reicht aus, um die Wirkung zu erzeugen. Wenn die Ursache eintritt, muss die Wirkung folgen.Dem reduktionistischen Denkmodell nach müssen wir nur die Ursache finden, um etwas zu erklären. Vielleicht nehmen Sie zu Ihrem Vergnügen mal einige oft diskutierte Überzeugungen und überprüfen deren Ursache-Wirkungs-Relation. Jede Veränderung erzeugt Widerstand bei den Menschen. Der FC Liverpool gewinnt die Champions League, weil Jürgen Klopp sie trainiert. Das Team «performt nicht», weil es gerade keine Führungskraft hat.
Was aber, wenn die Ursache sich nicht so leicht finden lässt? Dann behandeln wir sie eben wie eine Wirkung und suchen nun nach deren Ursache. Irgendwann, so das eingeübte Denken, müssen wir ja bei der einen ersten Ursache ankommen. In Veränderungsprozessen werden hierfür dann oft die Menschen als Platzhalter genommen. Die Umwelt wird jedoch nicht mitbetrachtet. Wir denken also kontextfrei über Erklärungen nach und limitieren damit den Erklärungsraum deutlich. Deshalb braucht es ein «anderes Denken».
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Analyse versus Synthese
Wie organisieren Ameisen ihre Versorgung mit Nahrung und finden dabei schnell den kürzesten Weg, ohne Staus zu produzieren?
Analyse: Wir starten beim System Ameisenstaat, zerlegen ihn in Teilsysteme wie Königin, männliche Ameisen und Arbeiterinnen. Dann betrachten wir die Arbeiterinnen, weil die sich um Nahrung kümmern. Also zerlegen wir am Ende eine Ameise in ihre «Elemente». Kein Element kann die Aufgabe erfüllen, die Frage wird so nicht zu beantworten sein. Durch Analyse können wir dieses System nicht verstehen.
Synthese: Wir beginnen mit der Betrachtung der Ameise und ihres Umfeldes. Der Ameisenstaat ist Teil des Ökosystems Wald, der wiederum eingebettet ist in ein größeres System. Unsere Frage lässt sich beantworten, wenn wir auf die Funktion schauen, die Ameisen gemeinsam erfüllen können, eine allein jedoch nicht. (Spoiler: Ameisen nutzen Pheromone. Der Mechanismus wird in Kapitel #2 Organisation als komplexes System etwas näher erläutert.) Es sind die Wechselwirkungen der Elemente, die die Eigenschaft des Systems ausmachen.
19Wichtige Impulse dieses «anderen Denkens» brachten Kybernetiker wie Norbert Wiener in den 1940er-Jahren in die Welt. Sie schauten auf Systemen, Wechselwirkungen und Zusammenhänge. Sie untersuchten Systeme, die aus vielen Elementen und Wechselwirkungen bestehen. Jedes Element kann das Verhalten des Systems beeinflussen, ist aber nie unabhängig in seiner Wirkung. Ein System ist ein Ganzes, das eben nicht in seine Teile zerlegt werden kann, ohne die Eigenschaft des Systems zu verändern. Kein Element hat die Eigenschaft des Systems. Zerlegen Sie Ihr Smartphone in seine Bestandteile, werden Sie mit dem Akku allein nicht telefonieren können. Dabei ist der Akku durchaus wichtig als Element, damit Ihr Smartphone seinen Dienst tut. Ein System, ob Smartphone, Auto, Ihr Körper, eine Organisation oder ein Projekt, ist nicht bloß die Summe seiner Teile. Es ist das Produkt ihrer Wechselwirkungen. Es geht also darum, wie die Teile miteinander wirken, nicht wie sie einzeln funktionieren – Synthese. Das ist komplexes Denken und das Gegenstück zur Analyse. Da, wo Analyse zu Wissen über «wie etwas funktioniert» führt, fokussiert die Synthese auf Funktionen und kommt zu einem Verständnis «warum es so funktioniert, wie es funktioniert».
Der Organisationstheoretiker und Systemdenker Russell L. Ackoff hat das an einem kurzweiligen Beispiel erläutert. Warum fahren die Briten auf der «falschen» Straßenseite? Das geht zurück auf das Mittelalter, in dem die Ritter ihr Schwert oder ihre Lanze rechts trugen und sich links mit dem Schild schützten. Der Feind wurde also von links angeritten. Das übernahmen sie für das Autofahren. Nur der Vollständigkeit halber; nicht ganz Europa fährt links, weil Napoleon in allen von ihm eroberten Ländern Rechtsverkehr befahl. Da er England nicht erobern konnte, blieb es dort wie gehabt. Die Erklärung für den Linksverkehr liegt also nicht im sondern außerhalb des Systems Auto. Sie können beliebig viel Analyse auf das Auto an sich verwenden, eine solche Frage kann so nicht beantwortet werden. Das ist ein entscheidender Punkt, wenn wir Zusammenhänge, Vorgänge, Ereignisse oder Probleme erklären wollen. Wir müssen die Umwelt mitbetrachten, auf Funktionen schauen, die Zusammenhänge beleuchten und Wechselwirkungen statt linearer Kausalbeziehungen sehen.
«Erst die Theorie entscheidet darüber, was man beobachten kann.» (Albert Einstein)
20Das systemische oder komplexe Denken ist ein Denkmodell. Die Frage lautet immer, welches Modell oder welche Theorie in einem spezifischen Kontext hilfreicher ist. Die Hypothese, die ich Ihnen hier anbiete, ist die folgende: Wenn wir Organisationen als Systeme betrachten und gemeinsam komplex denken, werden wir anders miteinander in den Diskurs gehen, Veränderungsvorhaben beschleunigen und deren Erfolg wahrscheinlicher machen.
Ich bin davon überzeugt, dass wir in Bezug auf unser Denkmodell zu Organisation und Zusammenarbeit am Beginn einer Zeitenwende stehen, weg vom rein reduktionistischen hin zum systemischen oder (wie ich es nenne) komplexen Denken. Um es klar zu schreiben – SCRUM, Spotify, Kickertische und Home-Office haben die Wende weder initiiert noch durchgeführt. Sie sind maximal Artefakte entlang des Weges. Das, was sich verändern wird, sind die tiefen Überzeugungen in Bezug auf das Organisieren von Arbeit.
Ich hoffe, Ihnen Appetit auf komplexes Denken und die Systemtheorien gemacht zu haben. Das wäre gut für die kommenden Kapitel, in denen ich wesentliche Denkwerkzeuge vorstelle, die für ein «Systemverständnis» zentral sind. Die Prinzipien des organisationalen Diskurses sind stark von den Systemtheorien geprägt, wobei sie nicht einer einzigen Schule folgen. So biete ich Ihnen einmal mehr soziale Systemtheorie an, mal mehr Systemdynamiken. Das ist meine persönliche Auswahl und kann keine vollständige oder gar widerspruchsfreie Darstellung aller Konzepte sein. Es sind Modelle, Theorien und Denkwerkzeuge, die sich in meiner Arbeit immer wieder als passend erwiesen haben.
«Du fühlst dich im Moment sicher wie Alice im Wunderland, während sie in den Kaninchenbau stürzt?», wendet sich Morpheus an Neo, nachdem dieser im Sessel Platz genommen hat. «Du siehst aus, wie ein Mensch, der das, was er sieht, hinnimmt, weil er damit rechnet, dass er wieder aufwacht. Ironischerweise ist das nah an der Wahrheit. Glaubst du an das Schicksal Neo?» Neos klare Antwort lautet Nein. «Mir missfällt der Gedanke, mein Leben nicht unter Kontrolle zu haben».
Morpheus bietet Neo die Wahl zwischen der roten und der blauen Kapsel. Nimmt er die blaue, kann er weiterhin glauben, was er glauben will. Er bleibt in der von Maschinen geschaffenen Scheinwelt. Wählt Neo dagegen die rote Kapsel, geht er in die tiefsten Tiefen des Kaninchenbaus und erlebt die Matrix. «Bedenke, alles, was ich Dir anbiete, ist die Wahrheit, nicht mehr», ist Morpheus’ letzte Warnung, als Neo die rote Pille mit einem Schluck Wasser runterspült. […]
Ist das hier wirklich? Neo staunt. Morpheus antwortet: «Was ist Wirklichkeit? Wie definiert man das? Realität? Wenn du darunter verstehst, was du fühlst, was du riechen, schmecken oder sehen kannst, ist die 23Wirklichkeit nichts weiter als elektrische Signale, interpretiert von deinem Verstand».
Die Umstände in unseren Organisationen sind andere, jedoch erzeugt auch jede Organisation ihre eigene Traumwelt, die durchaus vehement als objektive Realität verteidigt wird. Das, was im Film «Matrix» auf die Spitze getrieben wurde, tun wir Menschen fortlaufend: Wir konstruieren unsere Wirklichkeit.
Unter dem Begriff «Konstruktivismus» gingen und gehen Wissenschaftler verschiedenster Disziplinen der Frage nach, wie wir Menschen zu Erkenntnissen und Wissen kommen. Die meisten stimmen darin überein, dass dies durch Kommunikation geschieht. So konstruieren wir uns ein Modell der Welt. Wir sehen und erleben keine objektive Wirklichkeit, sondern nehmen das Reale gefiltert wahr und interpretieren so unsere individuelle subjektive Wirklichkeit.
Das ist an sich keine erschütternde Neuigkeit mehr, erleben wir individuelle Konstruktionen doch stetig. Was beispielsweise geschieht, wenn Sie mit dem Team, in dem Sie arbeiten, eine Teamentwicklungsmaßnahme durchführen? Vielleicht ein Besuch in einem Escape-Room? Das ist zurzeit populär, und die Versprechungen lauten mehr Wir-Gefühl durch gemeinsame Problemlösung, Spannung und Spaß. Nehmen wir an, es sind acht Teammitglieder, dann können es acht verschiedene Wirklichkeiten sein in Bezug auf Ihren Vorschlag. Von Richtig cool, haben uns besser kennengelernt bis zu Grauenvoll,so wollte ich mich nicht vor meinen Kollegen zeigen. Und alle haben recht. Wahr ist, was jeder Einzelne als seine oder ihre Wirklichkeit konstruiert.
«Würde man die gute Gewohnheit haben, dem, was man spricht, zuzuhören, hätte man das schon längst gemerkt: denn was man wahr-nimmt, nimmt man für wahr. Es gibt ja kein Falschnehmen. Es sind ja immer nur die anderen, die behaupten, man sähe nicht recht, man wäre das Opfer einer Illusion, wenn sie was anders sehen. Was ich mir er-eigne, meine Wahrnehmung, mag kein Ereignis sein für andere.» (Heinz von Foerster, 2012)
24Das Konstruieren ist dabei ein aktiver Prozess. Was immer unsere Sinne erfahren, ein Gegenstand oder ein «Fakt», wir beginnen ihn zu interpretieren. Sie kennen sicher die altbekannte Frage nach dem Glas Wasser, mit der sich bestimmen lässt, ob Sie Optimist oder Pessimist sind. Der Optimist sagt, das Glas sei halb voll. Der Pessimist betrachtet es als halb leer. Das Reale ist identisch, die Wirklichkeiten verschieden. Das Glas Wasser an sich macht uns kein Problem, die Zuschreibung von Bedeutung unter Umständen schon. Gerade in der Zusammenarbeit und in Veränderungsprozessen entstehen Diskrepanzen und Konflikte nicht durch das Reale, sondern durch die diversen Konstruktionen und das diese als Meinungen mit allen Mitteln verteidigt werden. Vor allem, wenn mit ihnen ein Wahrheitsanspruch (der nicht existieren kann) gestellt wird. Aus genau diesem Grund finde ich den Konstruktivismus so praktikabel. Er macht uns die subjektiven Wirklichkeiten bewusst.