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Als Journalist gehörte Klaus Taubert in der DDR zu der Gruppe derjenigen, die das Bindeglied zwischen Partei und Volk darstellten und die am Bild des sogenannten Staatssozialismus der DDR mitstrickten. Doch im Unterschied zu vielen anderen, die bis zuletzt Anteil an der Aufrechterhaltung des Systems hatten, geht Taubert in seinem spannenden Buch schonungslos mit sich ins Gericht und erzählt, wie der Opportunismus seinen Alltag bestimmte. In "Generation Fußnote" beschreibt er - exemplarisch für eine ganze Generation -, wie er in der DDR sozialisiert wurde, sich mit dem System solidarisierte und die Chancen nutzte, die ihm der Staat bot, der dafür aber absolute Loyalität einforderte. Taubert erzählt fesselnd und humorvoll aus dem Alltag der DDR und aus den Hinterzimmern der DDR-Bürokratie und schildert zahlreiche Anekdoten, die schon damals die Diskrepanz zwischen dem Selbstbild des Staates und der Realität offenlegten.
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Seitenzahl: 374
Klaus Taubert
Schwarzkopf & Schwarzkopf
Als mein vorletztes Vaterland entstand, war ich neuneinhalb Jahre alt und besuchte die vierte Klasse unserer Dorfschule. Die Schiefertafel hatte ich bereits zertrümmert, jetzt lernte ich, mit Federhalter, Deutsche Demokratische Republik, Pieck, Grotewohl und Ulbricht zu schreiben – Namen, die mich ein mehr oder weniger gutes Stück durchs Lebens begleiten sollten. An der Rückwand unseres Klassenzimmers, im Blickfeld der Lehrer, hing ein Porträt Josef Stalins, dem wir den verlorenen Krieg und die Zukunft der Menschheit zu verdanken hatten.
Zur DDR-Gründung zog ich mein weißes Hemd an, knotete das blaue Pioniertuch um den Hals und stellte mich mit anderen in Reih und Glied vor die alte Schule, wo vorher schon andere in ganz anderen Hemden gestanden hatten. An einem Holzmast wurde eine schwarz-rot-gelbe Fahne in den Wind gehängt. »Seid bereit!«, sagte unsere Pionierleiterin statt »Guten Morgen«. Wir antworteten: »Immer bereit!« – wozu, das würden wir schon noch erfahren.
So begann meine Zeit mit einem Staat, der mich mit nützlichem und überflüssigem Wissen anreicherte, mit Verantwortung betraute, überzeugte und indoktrinierte, auszeichnete und demütigte, faszinierte und enttäuschte. Er drückte mir das Brandzeichen »Ossi« auf die Stirn, mit dem ich bis heute auf noch so manchen Euro verzichten müsste, wenn Verfassungsrichter nicht mit der Gleichheitsfloskel im Grundgesetz drohten.
Ohne Wehmut schaue ich zurück, staune über die vielen Experten, die alles haben kommen sehen, wie es gekommen ist. Mit tausend Fragen blättere ich in hundert Notizheften aus meinem Journalistenleben, bevor sie auf dem Umweg über die Altpapiertonne einer nützlichen Verwendung zugeführt werden. Vielleicht entdecke ich, wo die Gründe für mein loyales Verhalten einem Staat gegenüber lagen, dem nach der allein gültigen Lehre jener Zeit die Zukunft gehörte und der doch so kläglich an seinen schwülstigen Dogmen und an der machtbesessenen Unfehlbarkeit seiner proletarischen Diktatoren zugrunde ging.
Es wäre im Nachhinein leicht, sich mit ein paar alten Männern aus der Verantwortung zu stehlen. Lange genug sonnten wir uns in ihrer Nähe und waren ihnen mit vorauseilendem Gehorsam zu Diensten. Ihre Illusionen bestimmten unsere Träume, ihre Wünsche waren unsere Ziele. Ihr Erziehungssystem gipfelte in der Maxime des Opportunisten: Jedes Ding hat drei Seiten – eine für den Parteisekretär, eine für den Klassenfeind und eine für das eigene Wohlbefinden.
Geradezu töricht wäre es, sich nicht rasch der verschrobenen Weltsichten jener Allgewaltigen zu entledigen, von denen nach dem Abfall der Macht der morbide Rest einer heruntergewirtschafteten Gesellschaftsalternative geblieben ist, deren Weltrevolutionslegende, geschrumpft und geölt, im Lenin-Mausoleum künstlich am Tod gehalten wird.
Auf einen meiner Sprüche aus jungen Jahren konnte ich mich in der DDR immer verlassen:
Jahre machen dich,
mit Glück, leiser,
älter ganz gewiss,
doch selten weiser.
Die DDR spielte sich im Wesentlichen zwischen Jubiläumsfeiern, Kampfdemonstrationen und Solidaritätsbasaren ab. Daran hatten sich die Bürger gewöhnt, denn sie feierten gern, sie marschierten gern und sie gaben auch.
Solche Tugenden wurden dem Nachwuchs frühzeitig anerzogen. Von den guten Tanten im Kindergarten, den freundlichen Staatsbürgerkundelehrern in der Schule und den vielen FDJ- und Parteisekretären, die der Vernunft manchen Stein in den Weg räumten. Das Volk selbst zerfiel in Klassen und Schichten, Demagogen und Opportunisten, Prämierte und Deprimierte. Zusammen waren es, knapp und knapper werdend, sechzehn Millionen.
Am liebsten wurde in der DDR gefeiert. Gelegenheiten fanden sich immer, da wurde nichts ausgelassen. Und weil zu jeder Feier auch eine Losung gehört, kamen Millionen Sprüchemaler nicht aus den Überstunden. Es war allemal einfacher, eine heruntergekommene Hauswand mit einem Transparent zu drapieren, anstatt zu verputzen. Parteipoeten, die sich die Sprüche ausdachten, standen bis zum Hals in der Pflicht. Einen ihrer Reime hörte ich auf einem FDJ-Parlament: »Der Papst übt heimlich auf dem Klo das Lied ›Avanti Popolo‹ «.
Losungen können es demzufolge nicht gewesen sein, an denen es dem Staat der Arbeiter und Bauern mangelte. Es waren Lösungen. Weil zu jedem Spruch die passende Anstecknadel gehört, wurden volkseigene Betriebe beauftragt, solche herzustellen. Die Abzeichen waren mehr oder weniger prunkvoll, die einfachen aus Plaste und Elaste aus Schkopau, die besseren aus emailliertem Messing. Letztere steckten sich die SED-Oberen an die Reverse ihrer mausgrauen Anzüge.
Nach Abschluss dieser Epoche besitze ich mehr als dreihundert Zeichen jener Zeit, und ich war gewiss nicht überall dabei. Zwar hieß ein Politsong »Wir sind überall …«, doch das galt nur für die Partei als Ganzes, gewissermaßen für ihren Geist, der schon über hundert Jahre als Gespenst in Europa umging.
Ökonomen warnten verhältnismäßig früh, dass die DDR an ihren Feierlichkeiten zugrunde gehen könne. Diesem Pessimismus wurde mit einer wachsenden Zahl staatlicher Auszeichnungen begegnet. Von der Aktivisten-Nadel über den Orden für hervorragende Leistungen in der Wasserwirtschaft bis zur Zetkin-Medaille gab es um die hundertfünfzig. Allein die Interimsspangen, in mehreren Reihen übereinander getragen, brachten Heldenbrüste aus dem Gleichgewicht. Nur die Standhaftesten hielten durch.
An ihrem glanzvollen vierzigsten Geburtstag hat sich die DDR bei einer Militärparade noch einmal selbst den Marsch geblasen, bevor sie recht friedlich ihre historische Mission aufgab. Dennoch lebte die DDR für viele erst danach richtig auf, als die Gefahr gering war, dass sie je wiederkehrt. Wie der Philosoph schon sagte: Manche Leute hören erst, wenn man ihnen die Ohren abschneidet.
Kommende Generationen werden die DDR als das wahre Paradies der Menschheit, als das Atlantis der Neuzeit preisen, das den Sorgen und Nöten aller seiner Bewohner mit hunderttausend Helfern Augen und Ohren widmete. Der Mensch, so hat es damals geheißen, wird man später sagen, steht immer im Mittelpunkt. Dagegen wird man immer noch nicht glauben, dass Rom an einem Tag erbaut wurde.
Bevor die Volkskammer der DDR den Gnadenschuss gab und die Konkursmasse zu Schnäppchenpreisen bevorzugt an Ortsfremde verhökern ließ, prägte Klassenkampf den Alltag. Klassenkampf gehörte zum täglichen Leben, wie man sich das von Tomaten und grünen Gurken gewünscht hätte. Wer sich nicht an die Regeln hielt, spürte die harte Hand der Arbeiterklasse und ihrer Avantgarde, die sich Parteisekretäre hielt wie andere Kampfhunde.
Einen Mitkämpfer neben mir stellte ein Parteisekretär einmal barsch mit den Worten zur Rede: »Genosse, du bist nicht richtig angezogen!«
Der Angesprochene blickte an sich hinunter, befühlte den wichtigsten Reißverschluss seiner Verpackung und sah den Nachfolger von Lenin und Stalin fragend an.
»Warum trägst du kein Parteiabzeichen?«, schlug dieser erbarmungslos zu.
Der Mann erschrak, fasste sich ans Herz und erwiderte geistesgegenwärtig: »Das habe ich heute Morgen versehentlich am Schlafanzug gelassen!« Das war Rettung aus höchster Peinlichkeit.
Ein Genosse versteckte sich nicht. Mit dem Abzeichen am Revers bekannte er sich zum »Neuen Deutschland«, der täglichen Gebrauchsanleitung für den Arbeiter-und-Bauern-Staat. Dazu sang uns der »Oktoberklub« ins Gewissen: »Sag mir, wo du stehst und welchen Weg du gehst«. Doch die Frage war rein rhetorisch, denn Weg und Ziel waren vorgegeben, Abweichungen nicht statthaft, nicht einmal Abkürzungen. Dagegen gab es Parteiverfahren, die wie Signaturen den Helm des Klassenkämpfers schmückten und dem Gegner Respekt abnötigten.
Auch in Beurteilungen spielte der Klassenkampf eine wichtige Rolle. Ein Manko in der geistigen oder moralischen Eignung war kaum ehrenrührig, wenn etwas Positives zum Klassenstandpunkt erwähnt wurde.
In der Beurteilung eines Fleischergesellen, der lange genug seinem Chef die Markknochen für die Suppe geklaut hatte, hieß es: »An seinem Klassenstandpunkt gibt es nichts auszusetzen. Ansonsten war er ehrlich bis auf die Knochen.«
Erinnerungen
Was bleibt hängen im Gestrüpp unserer Erinnerungen? Ich versuche meiner eigenen Rück-Sicht auf die Sprünge zu helfen, durchwühlte Stapel von Kalendern und Notizheften, die festhalten, was mir einmal wichtig erschien. Vielleicht war es auch nicht wichtig, aber das weiß man immer erst später.
Überhaupt ist das mit dem Erinnern so eine Sache. Eine geheimnisvolle Kraft entscheidet, was für unser Gedächtnis merkenswert ist. Begeisterung allein kann es nicht sein. Den Führer aus Braunau hatten Millionen frenetisch gefeiert und seinen totalen Krieg geradezu herbeigejubelt. Wo er angekündigt war, warteten die Massen stundenlang wie auf den Messias und sangen: »Nach Hause, nach Hause, nach Hause gehen wir nicht, bis dass der Führer spricht …«
Meine Mutter hat es mir anvertraut, wer sonst wusste schon noch davon. Kaum einer von den vierzehn Millionen, die in der NSDAP oder ihren Gefolgsorganisationen gewesen waren, erinnerte sich. Kollektive Amnesie. Zuerst war das Kurzzeitgedächtnis hinüber, mit den Jahren wurde das Langzeitgedächtnis infiziert. Die Symptome sind heute noch erkennbar.
Dabei ist es nachzuschlagen, wie die Welt einst von diesem Österreicher fasziniert war. Selbst das Nobelpreiskomitee tat sich beim Friedensnobelpreis 1938 schwer, zu entscheiden zwischen dem Autobahnbauer Adolf Hitler und dem militanten Hungerleider Mahatma Gandhi, der sogar Gewaltlosigkeit zur Waffe machte. Man wurde sich nicht einig und wich auf die Nansen-Stiftung zur humanitären Hilfe für die Flüchtlinge des Weltkrieges aus. Sogar das amerikanische Time Magazine hatte Hitler zum »Mann des Jahres« gekürt. Aber das will nicht viel heißen, die kürten auch Stalin, Ceauşescu und Osama bin Laden.
Da sitze ich nun über den blauen Oktavheftchen. Meine eigene Schnellschrift für das Kurzzeitgedächtnis mutet an wie ein archäologischer Fund aus der jüngeren Schreibzeit. Die Sprache derer, über die ich schrieb, war die Sprache der DDR, die nicht mehr die des Dritten Reichs war. So wie der Stechschritt bei der Wachablösung mittwochs Unter den Linden nicht mehr der Stechschritt aus braunen Zeiten war. Er sah zwar so aus, doch in den Stiefeln steckte der revolutionäre Fußschweiß bewaffneter Arbeiter und Bauern.
Aufmärsche hießen inzwischen »Manifestationen«, die immer »machtvoll« waren. Eine »sozialistische Menschengemeinschaft« stapfte im Gleichklang der Losungen in die »lichte Zukunft des Kommunismus« – links, zwo, drei, vier. Die Augen immer schön geradeaus!
»Volksgemeinschaft« und »Gefolgschaft« waren anrüchige Vokabeln der untergegangenen Diktatur des Kapitals, in der des Proletariats pries man in der Sprache Stalins das »Kollektiv der sozialistischen Arbeit«, das sich laut »Brigadetagebuch« verpflichtete, »sozialistisch arbeiten, lernen und leben« zu wollen. Nach Feierabend engagierte man sich in der »sozialistischen Wohngemeinschaft«, beteiligte sich an den »Subbotniks«, fegte Straßen und harkte Grünanlagen, steckte an Feiertagen die Staatsflagge an die Neubauplatte und kämpfte so um die »Goldene Hausnummer«.
Dem Blockwart unrühmlichen Gedenkens folgte der »Vorsitzende der Hausgemeinschaftsleitung«, der übergeordnete »Wohnbezirksausschuss der Nationalen Front« wachte über die »sinnvolle Freizeitgestaltung« der Bürger, die an Wahltagen möglichst geschlossen in das Abstimmungslokal schritten, optimistisch ihre Zettel falteten und unter Missachtung der Wahlkabine in die Urne schoben. Da war sie weg, die Stimme.
Wer sich in der weit entfernt angedeuteten Kabine am Wahlschein zu schaffen machte, war gekennzeichnet. Es nützte aber nichts, das Wahlergebnis widerspiegelte immer das »enge Vertrauensverhältnis zwischen Partei und Volk«. So war alles geregelt, jeder wusste, wo er dran war, nicht immer wann.
Natürlich gab es auch Missbildungen, nehmen wir allein die sprachlichen. Begriffe wie »Textilverbundelement« (Knopf), »Flexibler transportabler Schüttgutbehälter« (Sack), »Rauhfutter verzehrende Großvieheinheit« (Rind), »Jahresendflügelfigur« (Weihnachtsengelchen), »Kinderkombination« (Kindergarten und -krippe unter einem Dach) und die »Komplexannahmestelle«, mit der nicht die Praxis eines Psychiaters gemeint war, sondern eine Sammelstelle für Reparaturaufträge, setzten sich kaum durch. Ebensowenig der »Wohnblockzusteller«, der nicht etwa Wohnblöcke zustellte, sondern Briefe und Zeitungen, wie einst Postbote und Zeitungsfrau.
Es ging schon rein praktisch nicht, einem Kumpel auf die Schulter zu klopfen und ihn mit den Worten zu begrüßen: »Na, du alter flexibler transportabler Schüttgutbehälter!«
Kriegsversehrte
Irgendwann hat der Sozialismus in meinem Kopf Fuß gefasst. In den Notizen finde ich keine Einzelheiten, also muss es früher gewesen sein, vielleicht in der Kindheit. Kinder sind für die absonderlichsten Ideen empfänglich.
Meine eigenen Eindrücke reichen bis in die letzten zehn bis zwölf Kriegsmonate zurück. Ich sehe Soldaten in langen Kolonnen an unserem Dorf vorbeifahren. Sie ziehen in den Krieg, sagt meine Mutter, die mit mir am Straßenrand steht, weil wir meinem Vater zuwinken wollen. Doch wir finden ihn nicht, winken allen Soldaten zu.
Auch die Abende habe ich nicht vergessen, an denen meine Mutter mit Nachbarsfrauen vor unserer Haustür auf den Stufen saß. Sie redeten viel, aber sie schwiegen auch lange. Das Schweigen war unheimlich, weil ich glaubte, sie seien weggegangen. Von dem, was sie erzählten, verstand ich so gut wie nichts, aber der Tonfall ihrer Gespräche hielt mich wach. Zum Beispiel als eine Nachbarin weinend erzählte, ihr Mann sei am Schnepperbogen gefallen. Ich war schon oft gefallen, und niemand außer mir hatte geweint. Von der Schlacht am Dnepr hatte ich keine Ahnung. Und was »gefallen« hieß, das erfuhr ich erst später, wenn Mitschüler nie von ihren Vätern erzählen konnten.
Zu den unvergessenen Bildern aus jener Zeit gehört auch das: Entlang der Gera ziehen an einem kalten Vormittag im frühen fünfundvierziger Jahr in einem langen Treck heruntergekommene, ausgemergelte Gestalten in gestreifter, viel zu dünner Kleidung. Die Männer mit ihren ausdruckslosen Gesichtern wurden getrieben von Uniformierten und richtigen Hunden. Die Leute im Dorf nannten sie »die Buchenwäldler«. Meine Mutter zog mich rasch weg, ich denke, sie konnte den Anblick auch nur schwer ertragen, zumal sie als Rot-Kreuz-Schwester gewohnt war zu helfen, wo Hilfe vonnöten war.
Als der Krieg näher zu uns kam, versteckten wir uns immer öfter im Keller zwischen Kohlen und keimenden Kartoffeln. Pessimisten befürchteten, Flieger könnten versehentlich ihre Bombenlast schon vor Erfurt ausklinken und unser Dorf treffen. Optimisten meinten, die Stadt sei so schön hell, die könne man gar nicht verfehlen. Erfurt hatte Glück, ein paar Dutzend Wohnhäuser wurden zerstört und dabei etwa tausenddreihundert Menschen umgebracht, das war gerade mal der 0,000026-ste Teil der Toten des Zweiten Weltkrieges. Geht doch eigentlich.
Damals sang im »Volksempfänger« die Frau mit der tiefen Stimme: »Ich weiß, es wird einmal ein Wunderrrr gescheh’n«. Die Zeitungen waren voll mit schwarz eingerahmten Wundern. Meine Mutter saß stumm über den Anzeigen.
»Ist Vati auch dabei?«, fragte ich. Da weinte sie. Es war, als müsse sich jeder deutsche Mann schämen, dort nicht genannt zu sein. »Heldenklau« sagte der Volksmund, Heldenklau hatte sie alle geholt.
Soldaten mit ganz anderen Stahlhelmen, als wir sie kannten, parkten bald ihre Autos auf unseren Dorfstraßen. Sie bezogen auch unsere Wohnung, wir kamen in einem Waschhaus bei Verwandten unter. Vorsichtig näherte ich mich einem Soldaten mit dunkler Hautfarbe, der einem Mohren aus meinen »Putzi«-Büchern glich. Hanni, Fritz, Putzi und der Rabe Kolk kämpften während ihrer vielen Abenteuer auch gegen böse schwarzhäutige Menschenfresser in der Südsee.
Der Schwarze im Jeep war offensichtlich kein Menschenfresser. Er lachte, schenkte mir ein Päckchen und half es angesichts meines Zögerns aufzureißen. Es war Schokolade und das Zeug schmeckte.
Thüringen wurde im Juli von der Roten Armee besetzt. Als mein dunkelhäutiger Amerikaner verschwunden war und wir wieder in unsere Wohnung durften, lag eine Menge Schokolade herum. Als Miete, sagte meine Mutter. Aber alles wird einmal alle. Später gab es in der DDR den Schokoladenersatz »Vitalade«, in der alles drin gewesen sein mochte, kaum aber Kakao.
Für alles gibt es Alternativen. Offensichtlich nicht für die »Putzi«-Bücher von Joachim Rohde aus dem Jahr 1937 mit den schwarzen Menschenfressern aus der Südsee, denn die wurden 1991 in Erfurt neu verlegt.
Stärker in meinen Erinnerungen haften geblieben sind andere Kriegsfolgen, Männer, denen ein Arm, ein Bein, beide Beine, ein Auge oder nur ein paar Finger fehlen. Es war für uns Kinder wie eine Entdeckung: »Schnell, komm mit, ich zeige dir einen Mann mit nur einem Arm.«
Ein Kollege meines Vaters hatte zwei Holzfüße in den Schuhen stecken. Beim Sportfest ließ er das runde Eisen der Kugelstoßer »versehentlich« darauf fallen. Wir Kinder amüsierten uns, weil Fremde nichts von den Prothesen wussten und erschraken. Der ohne zwei Füße lachte. Der mit nur einem Arm wettete, dass er die Kraft der zwei Arme in einem hätte und forderte zum Armdrücken heraus. Sein Bier bezahlten die Unterlegenen. Und der mit nur einem Auge wollte uns glaubhaft machen, das andere Auge sei aus Glas, damit er durchsehen könne. So gewann mancher Betroffene dem Krieg noch eine lustige Seite ab.
Vielleicht fiel es Schulkameraden dadurch leichter, einem Frosch ein Bein auszureißen. Wurde ja mit Menschen auch gemacht und die lebten. Manch einer nahm einen Strohhalm, steckte ihn dem Frosch in das Hinterteil und blies ihn auf. Es gab wenig, was den Menschen erspart blieb.
Neulehrer
Mein erster Lehrer hatte schon meinen Vater unterrichtet. Er trug einen grauen Anzug mit Weste, in der eine Uhr an der Kette lag. Sein Gesicht nach unten schloss ein grauweißer Kinnbart ab, der mehr zu Toulouse-Lautrec passte als zu Ulbricht. In seiner Freizeit malte er wogende Kornfelder in Öl. Da auch ich gerne malte, lud er mich ein, ihm zuzuschauen. Zu Hause zeichnete ich ihn, wie er wogende Kornfelder malte, doch es wurde eine Karikatur.
Alle unsere Klassenräume rochen nach Fußbodenöl. Als alles im Dorf knapp war, schien allein das Fußbodenöl nicht auszugehen. Selbst in neu angebauten Schulräumen roch es sofort nach Fußbodenöl. Vielleicht war es ein Desinfektionsmittel gegen Fußpilz? Ich weiß es bis heute nicht genau.
Als Erstklässler schrieben wir auf Schiefer. Der Schiefer war in Holz gefasst, am Rahmen baumelten ein feuchter Schwamm und ein trockenes Läppchen, mit denen wir die Tafel säuberten. Wir schrieben mit einem dünnen Schieferstift, der mit einer Raspel spitz gehalten wurde.
Urplötzlich wurde unser alter Lehrer in den Ruhestand versetzt und mit ihm ein Gutteil der humanistischen Bildung. Fort waren sie, die alten Romantiker, die in der Waschfrau »die Alte dort in weißem Haar« sahen und nicht die ausgebeutete Proletarierin. Geblieben waren ein bisschen Aufklärung, etwas Sturm und Drang und viel Vormärz mit kernigen Sätzen wie: »Jeder Atemzug der Aristokratie ist das Röcheln der Freiheit.« Mit solchen Sprüchen war gut enteignen.
Die Klasse wurde von einem Neulehrer übernommen, dem Zange und Schraubenschlüssel vertrauter waren als eine Horde von Rotzlöffeln. Er mühte sich redlich ab, doch wir waren ihm keine große Hilfe. Allzu leicht verfingen elterliche Vorurteile: »Ein Lehrer ohne Lebenserfahrung, gerade ein paar Jahre älter als die großen Schüler – das kann nichts werden!« Irgendwann gab er auf und heiratete in eine begüterte Familie. Eine »Umsiedlerin« unterrichtete uns fortan, die gegen alle Vorurteile der Alteingesessenen mit Handarbeitsunterricht begann und es bis zur Kreisschulrätin brachte.
Dankbar erinnerte ich mich unserer Neulehrer Ende der sechziger Jahre beim Fernsehmehrteiler »Wege übers Land« von Helmut Sakowski mit Glanzrollen für Manfred Krug und Ursula Karusseit. Da gab es einen Neulehrer, der Blume mit h schrieb, beschwerte sich jemand. Im Moment gibt es Wichtigeres, erwiderte Bürgermeister Krug. Irgendwann werde er das h schon weglassen.
Zusammenbruch
Ein Wort geisterte durch alle Zeitungen, Versammlungen und Stammtische. Es hieß »Zusammenbruch«. Nicht vom verlorenen Krieg, nicht von Niederlage, bedingungsloser Kapitulation und auch nicht von Schuld und Sühne war die Rede. Man hatte sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner geeinigt und der hieß Zusammenbruch. Jeder konnte entscheiden, was für ihn zusammengebrochen war, für die einen eine Welt, für die meisten die Hölle. Wäre »Zusammenbruch« nicht schon belegt gewesen, hätte er ganz gut auch auf das Ende der DDR gepasst, besser als die »Wende«, mit der Honecker-Erbe Krenz in seiner ersten Rede versuchte, hinter dem Ofen vorzulocken.
Ich war acht oder neun Jahre alt, als sich im Dorf ein Mann vorstellte, der Bürgermeister werden wollte oder sollte. Es war nicht mehr so, dass ein Großbauer von der Obrigkeit zum Dorfschulzen ernannt wurde, nein, es sollte demokratisch zugehen. Der Dorfschulze hieß jetzt Bürgermeister und die Obrigkeit SED. Meine Eltern nahmen mich mit in den Gasthof, wo der Mann seine Lebensgeschichte ausbreitete, damit ich etwas lernte.
Während ich mich langweilte, fiel mir auf, dass der Mann sein Leben in zwei Hälften teilte. Er erzählte, was er vor dem Zusammenbruch getan oder nicht getan hatte und wie seine Entwicklung nach dem Zusammenbruch verlief.
Der Zusammenbruch war das Jahr Null, von dem aus entweder nach hinten oder nach vorn erzählt wurde. Wie damals, als sich die christliche Welt einigte, die Zeit vor der Geburt des Jesuskindes nach hinten abzurechnen und ab seiner Geburt nach vorn zu zählen. Nur dass diesmal mehr gestorben als geboren worden war. Ich erlebte den Beginn einer neuen Zeitrechnung, nur dass sie nicht bei null begann.
Nach dem Zusammenbruch besuchte uns ein Mann aus der Stadt, der vordem der Hauptmann meines Vaters war. Er war freundlich, sagte zu meiner Mutter »gnädige Frau« und schenkte mir Spielsachen. Dafür packte ihm mein Vater ab und zu eine große Tüte aus der Zuckerfabrik ein, in der er arbeitete. Der Hauptmann handelte mit Versicherungen, und mein Vater überredete seine Kollegen, sich für die Zukunft gut abzusichern. Dafür bekam er Provision.
Auch nach 1989 verkauften ehemalige Offiziere, Partei- und Staatsdiener der DDR Versicherungen und anderes. Ein ehemaliger Mitarbeiter aus dem Amtssitz des Staatsrates bot mir Lexika aus dem Weltbild-Verlag an. Als er mich erkannte, war ihm das peinlich. Musste es nicht, denn zum einen habe ich nichts gegen das achtenswerte Angebot dieses Verlages, und zum anderen bin ich sicher, mein Bekannter war nie in Bestechungsskandale verwickelt, hat nie heimlich Parteispenden kassiert, nicht vor Untersuchungsausschüssen gelogen und wurde vom Leben doch so gebeutelt, nur weil er seinem Staatsoberhaupt treu gedient hat. Loyalität hat in Umbruchzeiten keine Lobby.
Meistens waren es Versicherungen, die diese Leute anpriesen. Nach Kriegen, Zusammenbrüchen und Revolutionen gehen Versicherungen immer gut. Doch für Kriege, Zusammenbrüche und Revolutionen scheinen sie nicht besonders geeignet zu sein.
Hunger
Mitunter wählte ich meinen Heimweg aus der Schule so, dass ich am offenen Küchenfenster eines größeren Bauernhofes vorbeigehen musste. Ich verlangsamte meine Schritte oder tat, als suche ich etwas in meiner Schultasche, um den Duft, der aus dem Fenster drang und aus einer Mischung von Schinken, Wurst, frischem Brot und Gebratenem bestand, so lange wie möglich in mich aufzusaugen. In den Pökelfässern und Räucherkammern der Bauern war schon wieder eine Menge Hoffnung.
Im Herbst sammelten wir Kinder Zuckerrüben, die von den Pferdewagen fielen, mit denen die Bauern ihr Erntegut in die Zuckerfabrik am Dorfrand fuhren. Fielen keine, halfen wir nach. Mein Vater hatte als erfahrener Zuckerkocher aus dem Waschkessel in der Küche eine Saftfabrik gemacht. Ich weiß noch, wie ich den störenden Schaum abschöpfte, wenn das Zeug kochte. Aus den Rüben wurde süßer Sirup, der verschwenderisch über den Brotrand tropfte, wenn man nicht schnell genug mit der Zunge war.
Im Sommer gingen wir »Ähren lesen«, das heißt, wir sammelten auf abgeernteten Feldern Getreideähren. Die kamen in einen Sack, der kräftig auf die Erde geschlagen wurde, damit sich die Spreu vom Weizen trennte. Damit hatten wir Futter für unsere schlanken Italiener und die dicken Rohdeländer, die Eier- und Suppenfleischlieferanten, sowie Streu für die Kaninchen.
Ab und zu borgten wir uns eine Zentrifuge, gewannen den Rahm aus der Milch und verdickten ihn in einer Schleuder, bis er zu Butter wurde. Über das Schnapsbrennen durfte ich nicht reden. Ich weiß nur, dass es unentwegt aus einem Glaskühler tropfte. Auch kosten durfte ich nicht, wie beispielsweise beim Wein. Wenn der aus dem großen dunkelgrünen Ballon, auf den ein Violinschlüssel aus Glas gestöpselt war, in Flaschen abgefüllt wurde, saugte ich mit dem Mund am Schlauch. Alle amüsierten sich, wenn mir etwas in den Mund geriet. Ich tat überrascht und schluckte mehr, als hätte sein müssen.
Wenn die Erwachsenen feierten, gab es von allem etwas, und alle waren lustig. Dazu wurden Spiele gespielt, die ich als Siebenjähriger durch einen Türspalt beobachtete. Ein Mann und eine Frau, die als Paar nicht zusammengehörten, hatten eine Taschenuhr von je einer Seite zu küssen, die ein anderer an der Kette vor ihren Gesichtern baumeln ließ. Wenn beide die Uhr küssten, zog der Spielleiter die Uhr blitzschnell weg, und alle klopften sich vor Lachen auf die Schenkel. Solche Spiele gehen heute nicht mehr, wo kaum noch jemand eine Taschenuhr trägt.
Während der Hackfruchternte stoppelten wir Kartoffeln. Mit Handwagen, Sack und Hacke zogen wir auf gerodete Felder und wühlten nach Erdäpfeln, die sich an der Kartoffelschleuder vorbeigemogelt hatten. Wenn wir auf Feldern stoppelten, die noch nicht abgeerntet waren, nahmen wir die Fahrräder und mein Vater fuhr mit. Da er sozial dachte, klauten wir nur auf Feldern großer Bauern, nicht von schmalen Arbeiteräckern.
Mitunter gab es Nudeln mit Täubchen. Die Vögel fingen wir mit einem großen Mehlsieb auf dem flachen Schuppendach vor dem Küchenfenster. Wir stellten das Sieb schräg unter einen Holzspan, an den wir einen dünnen Faden banden. Das andere Ende hielten wir hinter der Gardine in der Hand. Mit Körnern lockten wir die Tauben unter das Sieb, um dann den Holzpflock umzureißen. Es kam auch vor, dass meine Mutter Täubchen kochte, die mein Vater gerade verkauft hatte. Er sagte nur: »Die hatten Heimweh.«
Oft rieb ich mir die schmerzenden Beine. Meinen Knochen fehlten Aufbaustoffe, meinte der Doktor. Was sollte ich mit Sand und Kalk – ein gutes Essen würde mir schon genügen, dachte ich. Mitunter begnügten wir uns mit Kaffeesuppe, brockten trockenes Brot in Malzkaffee und verfeinerten das Ganze mit etwas Zucker und Milch. Sonntags gab es »arme Ritter«, also Weißbrotscheiben, die in Milch gewälzt wurden, in die ein Ei gequirlt war. In der Pfanne wurden sie goldgelb gebraten – oder so ähnlich. Eine Spezialität war Kochkäse mit Kümmel, dessen Geschmack ich mit etwas Fantasie bis heute nachempfinde. Andere Diätprogramme kannten wir damals nicht.
Ein gleichaltriger Junge im Nachbarhaus hatte die Schwindsucht, was immer ich mir darunter vorgestellt haben mochte. Er bekam Hundefett aus dem Westen. Ich weiß nicht mehr, ob ich ihn beneidete.
Himmelsgaben
Buchenwald auf dem Ettersberg war eines der ersten Ziele damaliger Schulausflüge. Bevor wir etwas über Weimar und die deutsche Klassik erfuhren, zeigte man uns bei Weimar eine klassische deutsche Vernichtungsanstalt – ein ehemaliges Konzentrationslager. Vor dem Schönen das Abschreckende, vor dem Geist die Macht.
In einer Ruine außerhalb des Barackenlagers saßen sowjetische Soldaten, redeten, rauchten, wurden neugierig auf uns. Wir zögerten, winkten verhalten zurück, gingen langsam auf sie zu, der Lehrer mutig voran. Die »Russen« hatten auch in unseren Köpfen einen Ruf auszuräumen, an dem die meisten von ihnen schuldlos waren. Die Propaganda des tausendjährigen Reichs hatte Verheerendes angerichtet. Ich entsinne mich, wie wir noch Jahre nach dem Krieg im Dorf »Räuber – Russ« spielten. Ich weiß nicht mehr genau, ob die Räuber die Bösen waren.
Die Soldaten drückten uns die Hände, lachten, scherzten auch, stellten uns ihren Kameraden als lebendige Vergleiche mit ihren eigenen Kindern vor. Einer redete auf mich ein, zeigte mir ein Foto von einem ebenfalls blonden Jungen. Dann drückte er mich, steckte mir ein blaugraues Leinenpäckchen mit kyrillischen Buchstaben zu und schob mir eine Zeitung unter die Jacke. Für Papa, sagte er.
Ich war verreist gewesen und hatte sogar etwas mitgebracht! Machorka und ein Stück »Prawda« als Zigarettenpapier. Mein Vater freute sich, kannte er doch Machorka aus seiner Zeit, als er nach Stalingrad unterwegs war.
In Buchenwald ersparte man uns Kindern nicht den Anblick der Todesöfen der Firma Topf & Söhne, verschonte man uns nicht mit der Schilderung von Grausamkeiten, die das Fassungsvermögen unserer kleinen Köpfe überstiegen. Man vergisst so etwas ein Leben lang nicht. Jahre später, als ich mit meiner jungen Familie neben dem eleganten Topf-Anwesen im Erfurter Süden wohnte, spielten wir mit unseren Kindern oft im Park der Villa. Auch in dieser wunderschönen Umgebung konnte ich nie ganz vergessen, dass die einstigen Besitzer Buchenwald ausgestattet und die »Verbrennungszellen« für Auschwitz geliefert hatten. Hightech, von deutschen Ingenieuren ersonnen – »Made in Germany«.
Nichts wussten wir davon, dass in Lagern wie Buchenwald nach dem Krieg Menschen mit anderen Gesinnungen als der herrschenden eingesperrt waren. Darunter ehemalige Sozialdemokraten, Patrioten aus allen Schichten des Volkes, die sich der »Diktatur des Proletariats« widersetzten, die statt der »Einheitslisten« freie und geheime Wahlen forderten. Niemand erzählte uns davon. Zum Vergessen kam schon wieder das Wegschauen.
Ab und zu fand ich hauchdünne Flugblätter mit deftigen Sprüchen gegen Ulbricht und die SED. Ich sah noch, wie sie vom Himmel herabkamen und leicht wie Herbstlaub über die Felder tänzelten oder liegen blieben. Die Schrift war so winzig, dass ältere Leute sie nur mit Brille oder Brennglas lesen konnten. Ich empfand den Inhalt als Hetze, weil er im Gegensatz zu allem stand, was wir lernten.
Auch eine andere »Himmelsgabe« wurde wahrscheinlich aus den Ami-Fliegern geworfen, die unentwegt die Westberliner mit allem versorgten, was die zum Leben brauchten. Aber vielleicht sollte uns das auch nur zur Gründlichkeit animieren. Als im Frühsommer die Kartoffeln in der Blüte standen, schickte uns die Schule mit leeren Flaschen auf die Felder. Für jeden Kartoffelkäfer, den wir vom Blatt lasen und in die Flasche steckten, gab es auf dem Bürgermeisteramt einen Pfennig. Mitunter pflückten wir Käfer und Larven wie Trauben ab.
Von dem Käfergeld kaufte ich in einem neu eröffneten HO-Laden Schinken, Wurst, Käse, eine gebratene Gans und Ölsardinen. Die waren ganz klein aus Gips zum Spielen. So erfüllten wir unsere großen Träume.
Vaterland
Im Oktober 1949 wurde die Deutsche Demokratische Republik gegründet. In der Schule hatten wir zu den Namen Stalin und Thälmann auch noch die von Wilhelm Pieck, Otto Grotewohl und Walter Ulbricht zu lernen. Bald übten wir auch das Lied, in dem es hinten heißt: »… dass die Sonne schön wie nie über Deutschland scheint, über Deuuutsch-laaand scheeeint.«
Ich war inzwischen »Junger Pionier«, laut deren zehn Geboten ich vor den Eltern das Vaterland zu lieben hatte, danach den Frieden und die Sowjetunion. Appelle bereicherten von nun an den Schulalltag. An Staatsfeiertagen trugen wir zum weißen Hemd das blaue Halstuch, dessen Ecken Schule, Elternhaus und Pionierorganisation bedeuteten. Wenn beim Appell die schwarz-rot-gelbe Fahne aufgezogen wurde – damals noch ohne Hammer, Zirkel und Ährenkranz –, richteten wir die Augen geradeaus. Auf den Gruß der Pionierleiterin »Seid bereit!« erwiderten wir blanko: »Immer bereit!«. Dabei stellten wir die flache Hand mit eng anliegenden Fingern nach hinten hochkant mitten auf den Kopf – warum auch immer. In Deutschland muss bei Grußerweisungen immer eine Hand irgendwie gehalten werden. Vielleicht wird es eines Tages zur Pflicht, Daumen und Zeigefinger gegeneinander zu reiben, wenn man einen Guten Tag wünscht.
Die Freude zur Staatsgründung hielt sich zu Hause in Grenzen. Uns Kinder berührte das kaum, denn aus dem Westen kannte ich gerade einmal Tante Angela aus Düsseldorf. Die besuchte ab und zu meine Oma, weil beide Cousinen waren. Es hieß, ihr Mann sei Kraftfahrer eines gewissen Ludwig Erhard, der Wirtschaftsminister in Bonn geworden war. Tante Angela war vornehm und herzlich. Sie brachte seltenes Obst und echte Schokolade mit. Doch bald kam sie nicht mehr. Offensichtlich hatte man sie in den Kalten Krieg eingezogen.
Auf der Wippe im Kindergarten saß mir ein gleichaltriger Junge gegenüber, den ich noch nicht gesehen hatte. »Bist du Umsiedler?«, fragte ich. Der Junge nickte. Ich wusste nicht, was ein Umsiedler ist. Die Leute im Dorf nannten jene so, die plötzlich von irgendwoher kamen, ein bisschen dünner waren, ein bisschen ernster schauten und auch ein bisschenanders sprachen. Auch wir wurden für ein paar Wochen Quartiergeber, bis die Mutter mit ihren beiden Mädels, die sich lieb um mich kümmerten, irgendwo im Thüringer Wald etwas Dauerhaftes fand.
Wer weiß heute noch, woher diese oder jener gekommen waren? Die hübschen Töchter der Umsiedler wurden später von einheimischen Bauernsöhnen geheiratet, die zugereisten Burschen gingen in die Industrie oder verdingten sich als Knechte und machten den Bauerntöchtern vielversprechende Angebote oder gleich ein Kind. Zum Kirmesball prügelten sich die Platzhirsche mit den Hinzugekommenen, dann vertrug man sich wieder, und alles kam ins Lot. Die Kinder aus den Verbindungen mit den Zugezogenen gehörten bald so selbstverständlich zum Dorf wie wir. Ich glaube nicht, dass Vertriebenenverbände hilfreich gewesen wären, es sei denn, Wunden offen zu halten.
Anfangs hieß es zwar noch: Warum kommen die alle zu uns? Aber das war nicht so. Damals war jeder vierte Bewohner in der Ostzone Umsiedler. Deutschland war kleiner geworden, der Raum musste neu aufgeteilt werden.
Agitator
Mein Vater nannte sich eine Zeit lang auch Agitator. Agitatoren trinken Alkohol und locken die Bauern in die Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft, reimte ich mir zusammen. Denn immer, wenn dies der Fall war, roch er nach Schnaps. Zu meiner Mutter sagte er: »Der weiß genau, dass es ihn eines Tages auch trifft …« oder »Die sollen uns in Ruhe lassen mit ihren russischen Kolchosen.«
Dennoch trottete mein Vater nach Feierabend los, um mit den Bauern zu reden, zu trinken und seinen Parteiauftrag zu erfüllen. Im Dorf kannte jeder jeden. So stand dem Agitator ein alteingesessener Bauer im Dorf näher als die Partei in der Stadt. Tradition und Parteidisziplin mussten unter einen Hut, das ging nur mit Schnaps.
Die meisten LPG waren bis dahin aus ehemals kleineren Bauernhöfen entstanden, deren Besitzer freiwillig eintreten mussten. In den späten Fünfzigern kamen Funktionäre aus Erfurt, die bei Gesprächen mit den Bauern, die sich bis dahin dem Fortschritt verweigert hatten, dabei sein wollten. Nach dem Besuch auf einem Bauernhof sagte der Instrukteur aus der Stadt zu meinem Vater: »Da habt ihr einen ziemlich harten Brocken weich zu kochen.« Er klopfte ihm auf die Schulter und lobte: »Weiter so, Genosse, wir kriegen sie alle.«
Gegen Abend trank mein Vater mit dem »harten Brocken« im Wirtshaus ein Bier, und gemeinsam schimpften sie auf die LPG und auf die Genossen aus der Stadt, die nicht wüssten, wo Barthel den Most holt. Da ich schon in der Lehre war, spendierte mir der Bauer ein Bier und riet: »Werde du nur kein Bauer!« Ich tat ihm den Gefallen.
Viele Bauern beugten sich der Gewalt, die mit subtilen Mitteln jeden, der sich der LPG verweigern wollte, in ihre Fänge bekam. 1960 wurde schließlich der Sieg der »sozialistischen Produktionsverhältnisse« auf dem Land verkündet. Die Bauern hatten verloren.
Vorbilder
Wir wuchsen auf wie im Treibhaus und waren kaum fremden Einflüssen ausgesetzt. Noch lag das Fernsehzeitalter vor uns. Ich bastelte mit zwölf, dreizehn Jahren gerade mal ein Detektorradio. Die Sender tastete ich mit einer Drahtspirale auf einem Bleikristall ab und leitete die Radiowellen über einen Hörer, den ich aus einem alten Telefon hatte, an mein Ohr.
Das Erziehungsrezept war einfach: Wir erlebten Buchenwald, ehrten »Teddy« und erfuhren, dass die Mörder Thälmanns im Westen unbehelligt lebten. Hitlers Generäle, namentlich Speidel und Heusinger, die vielen Kindern die Väter geraubt hatten, bereiteten einen neuen Krieg vor, an dem Leute wie Thyssen und Krupp wieder verdienen würden, während das Volk verelendet. Wir erfuhren, dass Kriegsverbrecher, Blutrichter, KZ-Aufseher und andere Helfershelfer der Nazis in der Bundesrepublik eine neue Heimat hatten, hohe Renten kassierten und Orden bekamen, während in der DDR alle Kriegsverbrecher streng bestraft würden.
Regelmäßig gab es Schwarzbücher, Braunbücher oder Weißbücher. Zum Beispiel gegen die »Remilitarisierung« im Westen. Da heißt es: »Kriegsverbrecher an der Spitze von NATO und Bundeswehr. Bonns Nazi-Generalstab zieht einen neuen Teufelskreis um die Welt. Die gefährlichste Offizierskamarilla des deutschen Militarismus greift nach den Kommandospitzen der NATO innerhalb und außerhalb Europas. Die aggressivsten Vertreter der Bonner Expansions- und Revanchepolitik sind dabei.«
Es war nicht allzu schwer, an das zu glauben, was uns als Sozialismus ausgemalt wurde. Zumal es uns Leute schmackhaft machten, die unter dem Naziregime gelitten hatten, mit dem Leben knapp davongekommen waren und ehrlich an das glaubten, was sie erzählten. Wir zollten ihnen Respekt und sahen keinen Grund, solche Lebenserfahrung in Frage zu stellen.
Die DEFA drehte die passenden Filme dazu. »Ernst Thälmann – Sohn seiner Klasse« und »Ernst Thälmann – Führer seiner Klasse«, Pflichtlektionen für Millionen Schüler, Monumentalschinken, für die sich der Regisseur ein halbes Jahrhundert später noch schämte. Der Wahrheitsgehalt war nebensächlich, das Ziel war die Wirkung auf die Menschen, die sein sollten wie dieser Film-Thälmann – ein Bud Spencer des Klassenkampfes.
Die in diesen Filmen mit viel Hurra glorifizierten Straßenkämpfe der zwanziger Jahre in Hamburg und anderswo sollten junge Männer überzeugen, zur Waffe zu greifen. Nicht allzu lange vorher hatte es noch geheißen: »Nie wieder soll ein Deutscher ein Gewehr anfassen!«
Da aber in den neu entstehenden bewaffneten Kräften nicht mit Katapult und Flitzbogen geschossen wurde, hieß es bald im Schulbuch für Staatsbürgerkunde: »Ein Gewehr ist dann eine gute Sache, wenn es für eine gute Sache da ist.«
In den achtziger Jahren wurde übrigens ein neuer Thälmann-Film, diesmal vom DDR-Fernsehen, für die Nach-Ulbricht-Generation gedreht. In einer Szene wurde der junge Erich Honecker eingebaut. Das Foto, auf dem er »Teddy« auf seinen Schultern trägt, schmückt eines der Filmplakate. Während der Dreharbeiten ging Seite für Seite des Buchs ins »große Haus«, um jeden Dialog zum Teil sogar von Honecker persönlich absegnen zu lassen, wie mir einer der Autoren erzählte.
Nach der Uraufführung im Kino »International« wurden Honecker die Schauspieler vorgestellt, protokollgerecht erst die »Guten« und dann die »Bösen«. Erst Helmut Schellhardt, der mit vielen gestelzten Sätzen einen Thälmann gab, wie er gewünscht wurde, viel später der überragende Arno Wyzniewski, der den Goebbels hinlegte, dass dieser sich eine Scheibe davon hätte abschneiden können.
Ich hatte mich während der Film-Gala auf eine Massenszene konzentriert, die auf dem Bebelplatz neben der Staatsoper spielte. Unser Schwiegersohn Torsten, der gerade seinen Grundwehrdienst bei der NVA ableistete, war im Sommer 1986 zu den Dreharbeiten abkommandiert worden. Er hatte alte Klamotten bekommen und einen Arbeiter darzustellen. Es hätte sein Großvater sein können, der von den Nazis in Plötzensee hingerichtet wurde.
Sein Vater hingegen hatte es sich mit Honecker verscherzt und war aus der SED geflogen. Zusammen mit Bärbel Bohley und Wolf Biermann war er im widervereinigten Deutschland inmitten der Stasiakten in den Hungerstreik getreten, damit diese nicht irgendwohin verbracht werden. Wenn er uns zwischendurch zu Hause besuchte, sorgte meine Frau mit ihrer Kochkunst dafür, dass ihm die Streikkraft nicht ausging.
Rausch
Mit Politik hatten wir Kinder nicht viel im Sinn. Wir fühlten uns behütet, verinnerlichten die sinnigen Sprüche von Frieden und Sozialismus und glaubten die Gräuelmärchen über den verruchten Westen, dessen glamouröse Unkultur uns wie Speck in die Mausefalle des Kapitalismus locken sollte.
Wenn wir uns die Welt tatsächlich noch schöner wünschten, stromerten wir Kinder hinaus in die herbstlichen Fluren. Zielgerichtet zu einem Mohnfeld, in dem wir die raschelnden Köpfe abknickten, öffneten und die blauen Körnchen in den Mund schütteten, zermalmten und den süßlichen Brei genüsslich schluckten. Es war alles soooo schön!
Nach dem Unterricht war ich dem Bauernhof gegenüber eine willkommene Arbeitskraft. Zusammen mit dem Enkel des Bauern, mit dem ich befreundet war, hatten wir im Herbst unser tägliches Soll zu erfüllen. Von einem prall gefüllten Pferdewagen warfen wir Futterrüben über eine Backsteinmauer in eine große Miete. Wir spuckten in die Hände, wie Erwachsene das tun, wenn sie sich Lust vortäuschen, und warfen, bis es dunkel wurde und die letzten Rüben gegen die Mauer klatschten, weil wir nicht mehr die Kraft hatten, darüber zu werfen. Die Bäuerin hatte uns zwischendurch aufgemuntert: »Nun macht mal Hennecke«, rief sie uns zu, wenn wir zu trödeln begannen. Nicht dass sie auf Hennecke oder gar auf Sozialismus stand, im Gegenteil. Aber wenn es nützte.
Sie meinte den Bergarbeiter Adolf Hennecke aus Oelsnitz, der im Oktober 1948 beim Steinkohlenabbau die Norm um das x-Fache überbot und so die »Aktivistenbewegung« auslöste. Da die Schicht gezielt vorbereitet und ihre propagandistische Wirkung sehr durchsichtig war, wurde die Aktion von vielen Arbeitern als Verrat bezeichnet. Fünf Jahre später löste die Erhöhung der Normen den Arbeiteraufstand aus.
Die Tochter Henneckes war später die Schulleiterin unserer Kinder. Sie hat als Kind Ehrungen und Beschimpfungen ihres Vaters gleichermaßen erlebt. Sie erwarb sich Achtung und Ansehen, weil sie mehr als einmal wider den Stachel löckte und sich im Interesse ihrer Schüler auch mit den Schulbehörden anlegte. Eine ihrer Lehrerinnen, die u.a. Englisch unterrichtete und sich ebenfalls nicht in persönliche Entscheidungen hineinreden ließ, trug echte Jeans, was bis in die achtziger Jahre an DDR-Schulen überhaupt nicht gern gesehen war.
Die hübsche Blondine störte das überhaupt nicht, sie trug, was ihr gefiel. Geschadet hat es letztlich auch nicht, denn heute ist Carmen Nebel ein gesamtdeutscher Fernsehstar.
Nach der täglichen Rübenaktion ging es in die Bauernküche. Dort hing ein geschnitzter Holzteller mit Kornähren und dem Spruch »Gottes Segen aus Himmel und Erde« an der Wand. Mein Segen war ganz irdischer Natur und bestand aus einer Scheibe vom großen runden Brot und einer etwas dünneren vom Schinken. Mein Freund Jürgen, der Bauernenkel, wollte nie Bauer werden, er wurde Schiffbauer.
Musen
Als ich zwölf war, bescherte mir Herbert Roth mein erstes prägendes Erlebnis mit der Kunst. Mit seinem Ensemble »Suhler Volksmusik« gastierte er 1952 im »Lindenhof«. Ich saß in der ersten Reihe und war von dem dürren Sänger mit dem dunklen, wellig nach hinten gekämmten Haar begeistert. Für 1,20 Mark kaufte ich ihm ein taufrisches Notenblatt mit dem »Rennsteiglied« ab, das ich unentwegt auf meinem Akkordeon übte, um eines Tages so berühmt zu werden wie er.
In unserem Haus gab es zwei Mädchen, Marlies und Gudrun. Die eine spielte Geige, die andere Klavier. Wann immer wir Zeit hatten, musizierten wir zusammen. Niemand forderte uns dazu auf, es machte einfach Spaß, zumal die Jüngere der beiden, die aus dem Böhmischen zugesiedelt war, mein Herz entflammt hatte. Unser Repertoire reichte von Jessels »Schwarzwaldmädel« bis zu Kálmáns »Csárdásfürstin«, die wir mit besonderer Freude spielten und sangen. Rock und Beat waren noch nicht erfunden oder hatten uns noch nicht erreicht. Wenn unsere Eltern zusammen Rommee spielten, gab es vorher ein halbstündiges Konzert mit Gesang und Rezitationen, dessen Wirkung ähnlich war wie spätere Fernsehunterhaltung, jedoch mit dem nicht unwesentlichen Vorteil, dass die Künstler zu den Familien gehörten.
Mitunter wurden wir dramatisch, bauten im Hof mit Wäscheleine und Gardinen eine Bühne, richteten ein Parkett für Verwandte und Bekannte her und spielten die Streiche von Max und Moritz. Ich erkannte sehr früh, dass Applaus der wichtigste Lohn des Künstlers ist, wichtiger als jede Gage. Leider wurde uns auch keine angeboten. Künstlerische Wege schlugen wir dennoch nicht ein, die Mädels wurden Ingenieurin und Zahnärztin.
Damals leistete sich meine Familie ein Klavier, gebaut vom Königlichen Hoflieferanten Späthe in Gera. Es hatte 52 weiße, die dazugehörigen schwarzen Tasten und drei Pedale, wie ein Trabant. Da es einem Erfurter Milchhändler gehörte, der sich gerade erhängt hatte, war es nicht sehr teuer. Es war das erste Klavier im weitverzweigten Kreis unserer Verwandtschaft, denn niemand wusste Einzelheiten über seine Bedienung. Da half mir der Dorfkirchenorganist, ein pensionierter Lehrer, der mich für fünf Mark pro Stunde und ab und zu einem Glas Wurst aus eigener Schlachtung unterrichtete.
Fernsehen
Fernsehen war damals noch kein familiärer Störfaktor. Erst Ende 1952 hatten die Kinderjahre des neuen Mediums begonnen. Zu Stalins 73. Geburtstag, am 21. Dezember, strahlte Berlin-Adlershof erstmals ein Versuchsprogramm aus. Herbert Köfer als Nachrichtensprecher und Margit Schaumäker als Ansagerin hätten die Zuschauer vor den etwa 60 Fernsehgeräten in Ostberlin alle mit Handschlag begrüßen können. Doch zwei, drei Jahre später wäre das schon nicht mehr möglich gewesen.
Wenn ich Mitte der fünfziger Jahre aus der Lehre nach Hause in mein Dorf kam, trafen wir jungen Leute uns zum Fernsehen im »Lindenhof«. Der Wirt hatte ein langes schmales Zimmer neben dem Gastraum zum Fernsehzentrum umgestaltet. Der Raum war verdunkelt, damit man das winzige Bild im »Rembrandt« halbwegs gut erkennen konnte. Ein Rauchverbot hätte den Bierkonsum eingeschränkt, der den Fernseher amortisierte, der mehr als dreitausend Mark kostete. Auf einem Stuhl saß, wer rechtzeitig gekommen war, andere hockten im Schneidersitz auf dem Fußboden vor dem Fernseher und verrenkten sich die Hälse. Wer zu spät kam, saß ganz hinten auf einem Tisch.
Zu den ersten Fernsehstars jener Jahre gehörten Christel Bodenstein, Fred Delmare, Edwin Marian, Hans-Peter Minetti, Erik S. Klein, Manfred Krug, Otto Mellies, Günter Naumann, Armin Mueller-Stahl, Hilmar Thate, Jochen Thomas und Gerry Wolff, um nur einige zu nennen, die in den fünfziger und sechziger Jahren Fernsehlieblinge wurden. Es mag Jüngeren nicht viel sagen, aber das waren Schauspieler, deren Können ich sogar bis in eine »Telenovela« gefolgt wäre.
In diese Medienbranche wäre ich fast geraten, als mir Anfang der achtziger Jahre ein Mann aus der Spitze des DDR-Fernsehens anbot, eine leitende Position im Unterhaltungsressort zu übernehmen. Er kannte mich und hatte überdies von meinen Hörspielen, Exposés für die »Heitere Dramatik« und anderen Sachen erfahren. Vielleicht hätte ich ein bisschen mehr Mut haben sollen.
Als in den meisten Häusern Fernsehgeräte standen, hatte sich ein Ritual herausgebildet, das bis zum Untergang der DDR überall praktiziert wurde. Jeden Sonntagvormittag saß mindestens ein schreibkundiges Familienmitglied vor dem Fernseher und notierte die von der ARD ausgestrahlte Programmvorschau für die neue Woche. Oder einer schrieb, der andere las die eingeblendete Laufschrift mit den Programmnotizen vor.
War eine Familie verhindert, beispielsweise durch die Teilnahme an einer Friedensdemonstration gegen die westdeutschen Kriegstreiber, brachte man vorher dem Nachbarn ein paar unbeschriebene Blätter und ein Kohlepapier. Vieler Worte brauchte es nicht. Irgendwann machte man es wieder gut. Da interessierte es auch nicht, ob jemand in der Partei war oder nicht. Hier ging es ums nackte Überleben – um das Fernsehprogramm der kommenden Woche.
Gottesfurcht
Ulbricht blies auf der zweiten SED-Parteikonferenz 1952 in Berlin zum gesellschaftlichen Halali. Er forderte dazu auf, »planmäßig und systematisch die Grundlagen des Sozialismus zu errichten«, und wir spielten Hoftheater. Honecker formierte die FDJ als »Reserve und Helfer der Partei«, und wir sangen Operetten. Damit nicht genug, wir besuchten auch noch den Gottesdienst und nahmen am Konfirmandenunterricht teil. So kann aus dem Sozialismus nichts werden. Also wurden andere Saiten aufgezogen.
Die Mitglieder der christlichen »Jungen Gemeinde« wurden zur Jagd freigegeben. Sie flogen von Oberschulen, durften nicht studieren und oft nicht den gewünschten Beruf erlernen. Musterprozesse gegen Jugendliche und Theologen wurden mit dem Ziel konstruiert, sie der Kriegshetze, Sabotage und Spionage zu bezichtigen. Besonders die Kinder von Intellektuellen waren betroffen. Hunderttausende verließen die DDR. Auch die Familien zweier Freunde von mir, deren Väter Direktoren der Zuckerfabrik waren, setzten sich in die Bundesrepublik ab, um ihren Kindern eine gediegene Ausbildung zu ermöglichen.
Dennoch sah man vieles auf dem flachen Land, wo jeder jeden kennt, entspannter als in der Hektik und Anonymität der Städte. Obwohl ich bis zur Konfirmation kirchlich aktiv war, störte das kaum jemanden. Stolz waren wir allerdings schon, als wir in der achten Klasse zum Appell antraten, ein patriotisches Lied sangen und feierlich die FDJ-Ausweise empfingen. Unser erster richtiger Ausweis. Jetzt brauchten wir uns nicht mehr das Kindertuch um den Hals zu wickeln, sondern trugen das blaue FDJ-Hemd mit der aufgehenden Sonne am linken Ärmel.