Georg Wilhelm Steller - Aura Koivisto - E-Book

Georg Wilhelm Steller E-Book

Aura Koivisto

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Beschreibung

Georg Wilhelm Steller (1709-1746) war Arzt, Botaniker und Ethnograph. Im Jahr 1741 nahm er unter der Leitung von Vitus Bering an der "Großen Nordischen Expedition" teil. Seinem Einsatz ist es zu verdanken, dass die Expedition in Alaska überhaupt an Land ging. In lediglich zehn Stunden erfasste und dokumentierte Steller über 150 Pflanzen und entdeckte die indigene Gesellschaft der Aleuten. Auf der Rückreise strandete die Expedition für rund ein Jahr auf der Beringinsel. Unter extremen Bedingungen erwies sich Steller als herausragende Führungsperson. Vor allem ihm ist zu verdanken, dass ein großer Teil der Besatzung überlebt hat. Zudem hat er auf der Beringinsel Fauna und Flora dokumentiert. Einige mittlerweile ausgestorbene Tiere sind uns nur durch seine Aufzeichnungen bekannt. Aura Koivisto zeichnet nicht nur das Leben und die Entdeckungen Stellers auf seiner abenteuerlichen Reise nach, sondern geht auch auf die Folgen menschlicher Eingriffe in unberührte Naturräume ein.

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Inhalt

Cover

Titelei

Vorwort des Verlages

Karte (KeinKT)

Gedanken eines Verstorbenen

1 Große Pläne

Der rastlose Wanderer

Wissenschaftler von Gottes Gnaden

Bering und das Meer

Von Ochotsk zur Awatscha-Bucht

Die nutzlose Karte

In was für Gewässern segelten die St. Peter und St. Paul?

2 Alaska

João-da-Gama-Land

Kayak Island

Shumagin Islands

Begegnungen

Gewaltige Stürme

3 Die Beringinsel

Vor Anker

Landgang und Besiedelung

Im selben Boot

Kapitänswechsel

Der Alltag der Schiffbrüchigen

Der Frühling rückt näher

Am Robbenstrand

Die Vermessung der Seekuh

Aufbruch von der Insel

4 Kamtschatka und Sibirien

Das Leben geht weiter

Jukkola, Kisla und Selaga

Bei den Itelmenen

Die Welt der Eroberer

Der Zwischenfall in Irkutsk

Auf Reisen in Sibirien

Die Liebe

Der Tod

5 Was nach Steller kam

Veränderungen

Leere Inseln

Der unaufhaltsame Fortschritt

Verlorener Reichtum

Die Stimme der Wissenschaft

Hydrodamalis gigas

Nachwort eines Verstorbenen

Danksagungen

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Die Schriftstellerin Aura Koivisto (geb. 1964) hatte eine außergewöhnliche Kindheit: Sie lebte in ihrer Kindheit im Zoo von Korkeasaari, wo ihr Vater Direktor war. Sie schreibt Artikel für Zeitschriften und hat sowohl Sach- und Kinderbücher als auch Belletristik veröffentlicht. Ihre rund 25 Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt.

Aura Koivisto

Georg Wilhelm Steller

Die Opfer einer Forschungsreise

Aus dem Finnischen von Marleen Hawkins

Verlag W. Kohlhammer

Die Übersetzung wurde von Finnish Literature Exchange (FiLi) mit einer großzügigen Förderung unterstützt.

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

Dieses Werk enthält Hinweise/Links zu externen Websites Dritter, auf deren Inhalt der Verlag keinen Einfluss hat und die der Haftung der jeweiligen Seitenanbieter oder -betreiber unterliegen. Zum Zeitpunkt der Verlinkung wurden die externen Websites auf mögliche Rechtsverstöße überprüft und dabei keine Rechtsverletzung festgestellt. Ohne konkrete Hinweise auf eine solche Rechtsverletzung ist eine permanente inhaltliche Kontrolle der verlinkten Seiten nicht zumutbar. Sollten jedoch Rechtsverletzungen bekannt werden, werden die betroffenen externen Links soweit möglich unverzüglich entfernt.Umschlagabbildung: Der Shishaldin Vulkan auf Unimak Island, Aleutische Inseln, Alaska (Foto: naql via flickr.com; CC BY 2.0).

Das finnische Original erschien erstmals 2019 unter dem Titel Mies ja merilehmä. Luonnontutkija Georg Stellerin kohtalokas tutkimusmatka (Into Kustannus Oy, ISBN 978-952-351-154-5)

1. Auflage 2024

Alle Rechte der deuschen Übersetzung vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-042654-2

E-Book-Formate:pdf:ISBN 978-3-17-042655-9epub:ISBN 978-3-17-042656-6

Vorwort des Verlages

Das tragische Aussterben der Stellerschen Seekuh ist geradezu paradigmatisch für unzählige Tier- und Pflanzenarten, die der unbedachten menschlichen Wirkmacht zum Opfer fielen und gegenwärtig mehr denn je fallen.

Der Rückblick auf die historische Expedition Berings und die faszinierenden Entdeckungen Georg Wilhelm Stellers können vor diesem Hintergrund auch als ein Ausblick in die Zukunft unserer Welt begriffen werden. Geschichte, Gegenwart und Zukunft gehen in dem geistreichen Text von Aura Koivisto eine spannende Verbindung ein.

Daher war es dem Kohlhammer Verlag ein Anliegen, die Übersetzung dieses einzigartigen Buches in Angriff zu nehmen. Dass die Übersetzung durch Frau Marleen Hawkins realisiert werden konnte, ist der tatkräftigen Unterstützung vieler zu verdanken. Ihnen allen sei an dieser Stelle gedankt. Namentlich sind zu nennen: Dr. Joachim Ruf, der die Übersetzung nicht nur angeregt, sondern darüber hinaus das Projekt in allen Phasen verfolgt und unterstützt hat. Die Übersetzung wurde von Finnish Literature Exchange (FiLi) mit einer großzügigen Förderung unterstützt. Frau Prof. Dr. Margritt Engel hat den Druck des Buches mit einem Zuschuss unterstützt. Ebenso hat der Rotary Club Rothenburg o. d. T. die Produktion des Buches gefördert. Viele haben die durch Krankheiten geprägte Übersetzungsphase mit Interesse und Zuspruch verfolgt und so die Last mitgetragen. Ihnen allen gebührt unser Dank, denn ohne ihre Hilfe wäre dieses Buch nie in deutscher Sprache erschienen.

Für Übersetzungen gilt: So nah am Original wie nötig und so frei wie möglich. Konkret haben Übersetzerin und Verlag sich bemüht, Überlegungen und Beispiele, die im Originaltext speziell auf Finnland gemünzt sind, entweder auf Deutschland oder auf Festlandeuropa zu übertragen. Wörtliche Zitate wurden von der Autorin zwar ausgewiesen, jedoch wie in Sachbüchern üblich nicht wissenschaftlich belegt. Diese Eigentümlichkeit haben wir in die deutsche Übersetzung übernommen.

Frühjahr 2024

Abb. 1:Die Expeditionen von Vitus Bering 1728 – 30 und 1733 – 1741

Gedanken eines Verstorbenen

Ich dachte oft an meine einsamen Stunden auf jener Insel im Arktischen Ozean. Keine andere Zeit erinnere ich so intensiv. Liegt es daran, dass das Leben dort so ungewiss und deshalb so intensiv war? Seltsam war diese Zeit, fremd und unwirklich, trotz aller alltäglicher Pflichten und vielerlei Unannehmlichkeiten. Fleischsuppe kochen, Holz hacken, Kleidung nähen, Durchfall, Ekzeme und Muskelkater, aber wir lebten wie auf unserem eigenen kleinen Planeten, in einem unbewohnten Raum zwischen Himmel und Meer, wobei der Rest der Menschheit nichts von uns wusste. Für sie waren wir tot. Und in der Tat: Tote gab es in unseren Reihen wahrlich reichlich.

Am Leben zu bleiben, erfordert in diesem primitiven Umfeld harte Arbeit und hohe Risikobereitschaft. Wir konnten nicht alles hinterfragen oder anzweifeln. Wir mussten uns die Kälte und den Hunger vom Leibe halten, um zu überleben. Wir mussten täglich an die Grenzen gehen und an dem Glauben festhalten, dass wir es eines Tages – so Gott will – wieder ans Festland schaffen würden. Am meisten machte uns der Mangel an Tageslicht zu schaffen, denn dadurch war die Zeit für die Arbeiten und andere Tätigkeiten begrenzt, während der erzwungene Müßiggang niemandem nützte. Bereits bevor der Sturm uns an das Ufer der Insel gedroschen hatte, schien sich eine düstere Schwere auf den Himmel gelegt zu haben und die darauffolgenden bewölkten, nebligen und grauen Tage hielten über Wochen an – wie ein Wechselspiel zwischen Dämmerung und totaler Finsternis. Nordlichter habe ich indes nur ein einziges Mal gesehen.

Im Winter lag alles unter einer Decke aus Eis und Schnee verborgen. Schnee, den der Wind auf die Insel gepeitscht hatte. Und wie der Wind uns tagelang antrieb, sodass es die reinste Mühe war, überhaupt aufrecht zu stehen, geschweige denn sich in die richtige Richtung fortzubewegen. Der Schnee, den die Windstöße mit sich trugen, machte die Augen blind und schlug seine glitzernden Stacheln in unsere Gesichter. Blickte man hinter sich, hatte er bereits die eigenen Fußspuren verweht, wie ausradiert. In den Schluchten zwischen den Klippen heulte und pfiff der Wind manchmal so dröhnend und furchterregend, als hätte ein böses Ungeheuer sich losgerissen, um ziellos umherzuwüten. Genauso wütend grollte das Meer und warf sich gegen die Ufer, als wollte es die ganze Insel in Stücke reißen.

Im Februar schien das Ende nahe, als unser Eiland von einem Erdbeben erschüttert wurde. Zuerst brach ein bedrohliches Donnern über uns herein, das mehrere Minuten andauerte, und schließlich begann die Erde zu beben. Ich befand mich in unserem Erdloch, als die Strukturen unserer Unterkunft bedrohlich zu schaukeln begannen und hastete nach draußen, um zu sehen, was in der Natur geschah. Das Meer zeigte keinerlei Regung und das Wetter war absolut angenehm ...

Insgesamt erlebten wir auf der Insel drei Erdbeben, das letzte im Sommer. Dieses letzte rief uns in Erinnerung, was für ein verletzliches Geschöpf der Mensch ist, und dass die Naturgewalten in diesem Teil der Erde das ganze Jahr über unberechenbar sind. Ich dachte bei mir, dass nicht die Natur es ist, die dem Menschenleben eine Bedeutung beimisst, sondern Gott. Aber es gibt auch die Momente, in denen Gott seinen Blick in eine andere Richtung wendet und den Menschen der Natur überlässt. Diese Momente müssen wir überstehen, ohne zu zerbrechen.

In all diesen Erinnerungen bin ich an jenem Ort. In einer Landschaft, in der die Fluten des Meeres, die Höhe des Himmels und die Kargheit der Tundra ewig herrschen. Alles ist offen und weit. In der Ferne die Berge, deren Farbtöne sich ins Violett neigen und deren Konturen stellenweise schroffe Steilhänge oder senkrecht aus dem Meer ragende Felsklippen bilden. Dort, wo das Ufer seicht ist, erstrecken sich Wiesen, Kies- und Sandstrände und bieten einen friedlichen und beinahe zeitlosen Anblick. Aber es gibt auch Plätze, deren Gestalt sich mit den Jahreszeiten ändert: Einige Strände kann man nur bei Ebbe betreten, doch schon setzt sich das Meer wieder in Bewegung und steigt bald unaufhaltsam bis an die Felswände heran.

An den Stränden unserer Insel ragen massive Basaltsteinformationen empor, die an die Ruinen altertümlicher Burgen erinnern. Besonders imposant wirken diese prächtigen Türme, Säulen und Gewölbebögen im Nebel oder vor dem Hintergrund finsterer Gewitterwolken, die von der Sonne angestrahlt werden. Ja, an Gestein mangelt es nicht, obwohl das Wasser es seit Anbeginn der Zeiten geschliffen und zersetzt hat.

Die Zeit, die mir auf dieser Insel noch bleibt, offenbart sich mir nicht, denn in ihrer eigenen Zeitlosigkeit geben das Meer und die Berge nichts preis – und von menschlichen Behausungen gibt es keine Spur. Nichts, bis auf unser Lager, in der Not eilig improvisierte Unterkünfte, die mithilfe knapper Materialien instandgehalten werden. In ihrer Primitivität lassen sie kaum Rückschlüsse auf ihre Bewohner zu: Unseren aus Treibholz, Brettern des Schiffwracks, Leder und Schiffsegeln halb unterirdischen Behausungen sieht man ein Jahrhundert mehr oder weniger nicht an ... Wir nennen sie Gräber, obwohl wir in ihrem Schutz überlebt haben, und obwohl es auf den nahen Wiesen, auf denen der Hahnenfuß und der Sauerampfer blühen, ja auch echte Gräber gibt.

Einer von denen, die in diesen Gräbern ruhen, ist unser Kapitänkommandeur Vitus Bering, der hier am 8. Dezember 1741 starb. In seinem Andenken haben wir die Insel nach ihm benannt. Wir waren seine Forschungsgruppe und dies war seine Amerika-Expedition, von der er selbst nie zurückkehrte. Das anmutige, zweimastige Paketschiff St. Peter legte im Juni 1741 ab und erlitt im November desselben Jahres Schiffbruch. Der Kapitänkommandeur hatte mich, Georg Wilhelm Steller, zum Geologen seiner Expedition ernannt. Die Bezeichnung war weit gefasst, denn zu meinen Aufgaben gehörte jede Art der Naturforschung und mich interessierte tatsächlich alles: das Spiel der Seeotter, die Verwendung von Heilkräutern, die flussaufwärts ziehenden Lachse, die lachsroten Himbeeren, die Austernfischer und die Diademhäher ... Und auch meine eigene Spezies habe ich nicht vergessen, denn auch die Naturvölker und ihr Leben gehörten zu meinen Forschungsgegenständen.

Zu entdecken, was noch nicht entdeckt worden war – das war meine Berufung, mein Antrieb und meine Passion, hinter der sich alles andere einreihen musste. Ich habe meine Heimat Deutschland verlassen und bin Diener des russischen Imperiums geworden, Adjunkt der Petersburger Akademie der Wissenschaften. Ich wurde auf eine Forschungsreise geschickt, erst nach Sibirien, wo ich meine Landsleute, die Professoren Gerhard Friedrich Müller und Johann Georg Gmelin traf. Und sie schickten mich weiter nach Kamtschatka, wo ich eine Einladung von Kapitänkommandeur Vitus Bering erhielt. Ich wurde »geschickt« und »eingeladen«, doch ich allein hatte mir die Reise ausgewählt. Das war mein Leben und ich stand keineswegs nur im Dienst des russischen Imperiums und der Petersburger Akademie, sondern ich war vor allem ein Diener der Wissenschaft und ein Diener Gottes.

In Sibirien, Kamtschatka und Amerika habe ich für die Wissenschaft neue Tiere und Pflanzen dokumentiert, die später nach mir benannt wurden. Die »Stellersche Seekuh« – Hydrodamalis gigas ist das wohl berühmteste Beispiel. Riesen, die in der Brandung des Ozeans wogten und mehrere Tonnen schwer sein mochten. Wie gigantische Robben, obwohl sie nicht zu den Robben, sondern zu den Sirenentieren gehörten. Sie waren von runder Gestalt mit kleinem Kopf. ihre Haut war dick wie die Rinde einer Eiche. Sie diente ihnen als Schutz vor Eis und Felsriffen. Mit ihren stumpfen, schnurrbärtigen Schnauzen zupften sie das Seegras an den Ufern und zermalmten es zu breiiger Nahrung. Ihre Familien blieben stets zusammen, die Partner waren einander ein Leben lang treu. Sie waren von geselliger und erstaunlich sanfter Natur. Wenn ein Familienmitglied verwundet war, versammelten sich die anderen besorgt um es herum und sie verstanden es nicht, vor den Jägern zu fliehen. Und so haben wir sie getötet und gegessen, insgesamt 13 Exemplare.

Heute weiß ich es: die Strände der Kommandeurinseln östlich von Kamtschatka waren die letzten Orte, an denen man sie noch finden konnte. Nach uns sind noch andere zur Insel gesegelt, jedes Jahr neue Schiffe, neue Männer und sie alle jagten. Sie jagten vor allem Pelztiere, doch die Seekühe töteten sie, um sie zu essen, genau wie wir auch. Und sie töteten diese arglosen Tiere so gnadenlos, dass ihr Bestand innerhalb kürzester Zeit zurückging, bis die Tiere schließlich ausstarben. Bereits 27 Jahre nach unserer ersten Entdeckung wurde das letzte seiner Art gesichtet.

Die Stellersche Seekuh ist von dieser Welt verschwunden, und ich bin es ebenso. Während die Knochen der Seekuh noch in verschiedenen Museen dieser Welt zu sehen sind, ist von mir nicht mehr viel übrig. Mein Grab am Flussufer der Tura in Sibirien ist schon vor einiger Zeit zerstört worden. Im Frühjahr trat der Fluss über das Ufer und im Frühjahr darauf wieder. Jahr für Jahr hat das Wasser die Böschung abgetragen, bis schließlich das ganze Ufer zusammenfiel und in den Fluss stürzte.

1 Große Pläne

Der rastlose Wanderer

Wie kann jemand, der schon eine ganze Weile tot ist, von seinem Leben berichten und auf Ereignisse blicken, die erst nach seiner Zeit geschehen sind? Wie kann ein Toter noch lebendig sein? Gar nicht. Mit dem Tod geht das Bewusstsein eines menschlichen Individuums verloren, es verlischt auf immer und ewig. Anderslautende Behauptungen sind in der Geschichte der Menschheit allenfalls in der Welt der Sagen und Märchen zu finden. Über die eigene Einzigartigkeit, die zwangsläufig auch vergänglich ist, kann man Stolz empfinden oder Trauer, doch ob wir es nun wollen oder nicht: Unvergänglichkeit ist mehr als das Aufrechterhalten der Ich-Form durch den Verstand, das Gedächtnis und die Persönlichkeit. So hinterlassen etwa diejenigen, die sich fortpflanzen, ihren Nachkommen ihre Gene. Doch darüber hinaus gehören zum Kontinuum der Menschheit auch die Geschichten, Kenntnisse sowie Fähigkeiten, Moralvorstellungen, Gedanken und Gefühle. Nicht alle haben lebende Blutsverwandte, doch vermutlich gibt es niemanden, dem auf seinem gesamten Lebensweg kein einziger Seelenverwandter begegnet ist. Deshalb kann durch jeden, der einmal am Leben war, etwas Neues ins Leben gerufen werden, und das kann immer wieder und wieder geschehen. Dieses Neue entsteht aus den Spuren, die ein Mensch und seine Zeitgenossen hinterlassen, seien dies nun Schriftstücke, Bilder oder andere Dinge, welche nachfolgende Generationen berührt. Das ist es, was wir brauchen – eine Berührung, das Gefühl der Verbundenheit, etwas, womit wir uns identifizieren können. Dadurch können wir viele Leben, in verschiedenen Epochen und an unterschiedlichen Orten, miterleben. Auf diese Weise bleiben die, die lange vor uns gelebt haben, in uns gewissermaßen lebendig.

Ja, letztlich sterben wir alle und verlieren unser Bewusstsein, doch einige von uns hinterlassen Spuren ihrer selbst, und als Spezies ist der Mensch zumindest bis auf weiteres am Leben. Vielleicht könnte unsere Spezies auch länger bestehen – von anderen Spezies ganz zu schweigen –, wenn wir die Fähigkeit und den Willen hätten, uns noch besser in die Schicksale anderer hineinzuversetzen? Doch warum spukt mir plötzlich ausgerechnet Georg Wilhelm Steller durch den Kopf? Ein Reisender, dessen Leben schon lange Zeit zurückliegt? Was ist an ihm so faszinierend? Der Grund für die Entstehung dieses Buches liegt in einer über dreißig Jahre zurückliegenden Erinnerung:

Ich war mit meinen Freunden im Norden Norwegens, an der Küste des Arktischen Ozeans. Wir saßen in einem kleinen Boot des Hamningberger Kaufmannes Erling Sundve, sind durch die Gischt und die tosenden Wellen und bis an den imposanten Felsklippen von Syltefjordstauran gefahren. Diese Klippen ragten schroff aus dem Meer – und sie waren über und über mit Vögeln bedeckt. Meine Freunde und ich sind leidenschaftliche Vogelbeobachter, doch diese geflügelte Vielfalt stellte alle unsere bisherigen Erfahrungen in den Schatten. Es war unfassbar, nicht in Worte zu fassen: Zigtausende Vögel – Dreizehenmöwen, Lummen, Alkenvögel, Krähenscharben – saßen dicht aneinander gedrängt an der Steilküste und verkündeten lautstark ihre Existenz und ihr Nistrecht. Der Lärm war ohrenbetäubend und die Kakophonie wurde von andauernder Bewegung begleitet. Es herrschte ein einziges Getöse, Vögel, die in ihrer Masse an einen Mückenschwarm erinnern, rasten und sausten durch die Luft. Nicht nur von den Vögeln war die Luft gesättigt, sondern auch von den starken Gerüchen ihrer Hinterlassenschaften, von Algen und von der salzigen Brandung. Die weißen, stromlinienförmigen Basstölpel, die die turmartigen Felsformationen erobert hatten, wirkten ganz besonders exotisch – diese Großvögel sind genauso majestätisch wie Albatrosse. Diese Welt der Vogelklippen wirkte fremd und man scheint dort eine Reise durch die Zeit zu machen. Als bekäme man die Welt so zu sehen, wie sie einst gewesen war – in einer Zeit, als der Mensch noch ein zu vernachlässigender Faktor war und die Natur über eine Fülle und Vielfalt verfügt haben muss, die wir uns heute nicht einmal mehr vorstellen können.

Neben diesen Reiseeindrücken blieb mir noch eine Pflanze in Erinnerung. Sie bedeckte Steine und Felsen wie ein dichter, saftig-grüner Teppich und hatte weiße, rundliche Blütentrauben. Echtes Löffelkraut, Cochlearia officinalis, das zu den Kreuzblütengewächsen gehört und laut Erling Sundve ein wichtiges Skorbutkraut der Seeleute war. Der Geschmack ist auf angenehme Weise bitter und sauer, man kann das Vitamin C geradezu herausschmecken. Auch Steller entdeckte auf seiner Seefahrt Echtes Löffelkraut. Ich weiß nicht, ob Erling Sundve ebenfalls an Steller dachte, aber es ist gut möglich, dass er dessen Geschichte kannte. Als Naturkenner wird er von Steller wenigstens schon mal gehört haben. Zumindest der Name wird ihm ein Begriff gewesen sein. Eine der Arten, die Steller für die Wissenschaft dokumentiert hat, ist die Scheckente, Polysticta stelleri, die wir gleichfalls an Stränden Nord-Norwegens mit dem Fernglas beobachteten. Ein Wasservogel, der in der russischen Arktis nistet, sich aber im Winter und im frühen Frühjahr in den Gewässern am Varangerfjord im äußersten Nordosten Norwegens aufhält. Das Federkleid der Männchen ist von atemberaubender Schönheit. Eine Spezies, deren Bestand bedrohlich zurückgeht – eine von vielen ...

Später wohnte ich über zehn Jahre auf der estnischen Insel Vormsi, wo ein ganz anderes Klima herrscht. Weder Berge noch Gezeiten. An den Stränden eine Blütenpracht wie in einem südlichen Garten, Sonnenschein und der zarte Glanz des Meeres ... Skorbut und Forscher, die durch den Sturm segelten, gerieten bei mir vor diesem Hintergrund wieder in Vergessenheit. Dreißig Jahre später unternahm ich aber erneut eine Reise nach Varanger. Und dort traf ich auf Steller. Die Arktis ist in der Tat ein Ozean. Dort kann man Wale sehen und man kann von dort aus nahezu überall hingelangen, jedenfalls theoretisch. Sogar nach Kamtschatka und Alaska. Die Grenzenlosigkeit von Himmel und Ozean bieten dem Geist freien Lauf. Am Strand fühlen sich einige klein, mich hingegen überwältigt das überragende Schauspiel! Und zugleich überfällt mich auch ein Wissensdurst. Ich möchte alles Mögliche in Erfahrung bringen, da die Welt so großartig und voller Wunder ist – und am Rande eines Ozeans wird mir dies in besonderer Weise bewusst.

Auch Georg Wilhelm Steller war sein ganzes Leben lang vom Wissensdurst getrieben. Und um diesen zu stillen, unternahm er gewaltige Anstrengungen. Informationen aus zweiter Hand reichten ihm nicht aus, er wollte selbst suchen und finden. So werden Abenteurer geboren. Wenn ich etwas über Steller in Erfahrung brachte, wollte ich noch mehr wissen. Und so bestellte ich ein Buch nach dem anderen, schaute mir im Internet Bilder von der Beringinsel an, Bilder von Alaska, von exotisch aussehenden Vögeln und Pflanzen, Zeichnungen von Stellers Seekuh, ich breitete Landkarten auf meinem Tisch aus. Es war ein Festtag für mich, als nach wochenlangem Warten Leonhard Stejnegers 600 Seiten starke Steller-Biografie eintraf, die ich aus den Vereinigten Staaten bestellt hatte. Stejneger war ein norwegischer Biologe, der im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert gelebt hat und später in die Vereinigten Staaten emigrierte. Auch er hat sich von Steller inspirieren lassen und verbrachte viel Zeit auf der Beringinsel mit der Erforschung der Flora und Fauna und vor allem mit der Suche nach Skeletten von Stellers Seekuh. Leonhard Stejneger – ein Name, den man sich merken sollte, zumal er auf den folgenden Seiten immer wieder in Erscheinung treten wird. Sein Buch unter dem Titel Georg Wilhelm Steller: The Pioneer of Alaskan Natural History ist 1936 erschienen. Der mir vorliegende, antiquarisch erworbene Nachdruck aus dem Jahr 1970 sieht neu und unbenutzt aus, ein weinroter Ziegelstein, der in seiner Ernsthaftigkeit an die Bibel erinnert. Auf der ersten Seite elegante Zeichnungen des amerikanischen Blauhähers (Cyanocitta cristata) und von Stellers Diademhäher (Cyanocitta stelleri). Dazu ein Zitat von Carl von Linné, dem Großmeister der Biologie, seine Beileidbekundung zu Stellers Tod:

O bone deus, quod tantum virum eripuisti!Oh guter Gott, was für einen großen Mann hast du uns entrissen!

Ich las das Buch über Steller andächtig, beinahe so, als hätte ich mich in einen Mann aus dem 18. Jahrhundert verliebt! Aber warum auch nicht? Er war doch schlicht und einfach faszinierend. Mutig, forsch und scharfsinnig. Uneitel und bescheiden, rastlos und ungestüm. Ein Mann mit Sinn für Anstand und Gerechtigkeit. Ein Mann, der kein Blatt vor den Mund nahm und zugleich sarkastisch, sensibel und poetisch war. Ein wunderbar widersprüchlicher, warmherziger, lustiger Geist. Offen gesagt hatte er auch weniger sympathische Eigenschaften. Als ich im Alter von zwanzig Jahren zum ersten Mal auf Steller aufmerksam wurde, empfand ich überwiegend Abscheu für diesen brutalen Tierquäler. Es dauerte dreißig Jahre, ehe ich diesem Mann verzeihen konnte, ihn besser kennenlernte. Zuerst musste ich den Gedanken akzeptieren, dass man einen Menschen immer vor dem Hintergrund seiner Zeit betrachten muss.

Er war ein Held und seine Geschichte ist ein einziges Abenteuer, das man voller Spannung nachverfolgen kann, selbst wenn man die Hauptzüge schon aus den Geschichtsbüchern kennt. Wer wird gerettet und wer schafft es nicht? Und was passiert mit wem? Menschen mit ihren unterschiedlichen Schicksalen, all die unzähligen Seitenpfade hier und dort. Aber da ist noch mehr. Naturliebhabern bietet Stellers eine geografische Rundfahrt, die Beschreibung einer Vielfalt an Gattungen von Lebewesen, beeindruckenden Landschaften, wunderschönen Pflanzen und prächtigen Tiere, von denen wiederum jede eine eigene Geschichte erzählt. Und nicht zuletzt werfen diese so vielseitigen Geschichten weitere Fragen auf. Wie war vor 300 Jahren die Beziehung zwischen Mensch und Natur? Und wie ist sie heute? Was hat sich verändert und was ist gleichgeblieben? Ich denke über Steller als Mensch nach, seine Entscheidungen, seine Weltanschauung. Was hat dieser Mann gesehen und erlebt, was hat er gedacht, was hat er gefühlt? Und was würde er über die heutige Zeit denken? Ich lasse mich mitreißen zu dieser Reise der Imagination, tauche in eine andere Zeit ein und versetze mich in einen anderen Menschen hinein, sodass mein eigener Alltag manchmal in den Hintergrund rückte ...

Bis die Vorstellung verblasste und ich in die Realität zurückkehrte. Ich genoss abwechselnd die imaginierte Welt und dann die Freude darüber, wieder etwas verständiger geworden zu sein. Es ist erstaunlich, wie ein längst verblichener Mensch durch seine Leistungen unser eigenes Leben so bereichern kann!

Die Nachwelt erinnert sich an Steller aufgrund von Vitus Berings Expedition nach Amerika, die auf traurige Weise berühmt wurde. Heute würde man diese Expedition wohl eher als Stellers Expedition bezeichnen. Denn er war es, der uns seine Aufzeichnungen hinterlassen hat, nicht Bering. Seine offizielle Bezeichnung war »Adjunkt der Petersburger Akademie der Wissenschaften«. Dieser Titel wird an unseren Universitäten nicht mehr verwendet, findet aber am ehesten im »Assistenten« ein Äquivalent. Denn auch die Position eines Adjunkten war die eines Forschungsassistenten, der den Studenten übergeordnet und dem Professor untergeordnet ist.

Den Anstoß zur Gründung der Akademie der Wissenschaften hatte Zar Peter der Große im Jahr 1724 gegeben, wenngleich die Umsetzung in die Praxis aufgrund seines Todes im Jahr 1725 seiner Ehefrau und Nachfolgerin Katharina I. überlassen blieb. Diese neue Instanz sollte Russland dazu befähigen, mit den wissenschaftlichen Errungenschaften des westlichen Europas mitzuhalten und diese sogar zu übertrumpfen. Natürlich war dem Herrscher des russischen Imperiums klar, dass die Wissenschaft auch wirtschaftlichen, administrativen und militärischen Interessen dienlich sein sollte. In der Anfangszeit der Akademie bestand jedoch ein Mangel an russischen Gelehrten, weshalb man auf Unterstützung aus dem Ausland zurückgreifen musste. Die Gelehrten kamen vorwiegend aus den deutschen Ländern und waren typischerweise Männer in den Zwanzigern, die noch am Anfang ihrer Karriere standen. Für sie bot Russland vielversprechende Aussichten.

Auch Steller war Deutscher. Er wurde am 10. März 1709 in Windsheim, einer Kleinstadt in Mittelfranken, geboren. Sein Vater war Kantor und die Familie hatte sage und schreibe zehn Kinder. Steller studierte vor allem an den renommierten Universitäten von Wittenberg und Halle, zwischendurch auch in Leipzig und Jena, wo er sich aber offenbar nicht wohlfühlte. Er studierte zunächst Theologie, wechselte jedoch von den geistlichen Studien nach und nach zu den physischen, besuchte den Anatomie-Unterricht und machte sich mit Tier- und Pflanzenkunde vertraut. Die Pflanzen interessierten ihn am meisten und er widmete sich der Pflanzenkunde mit einer solchen Überzeugung und Inbrunst, dass sein Mentor Friedrich Hoffmann seinetwegen anfing, eine Professur in diesem Fachbereich in Halle einzurichten.

Der siebzigjährige Hoffmann war ein angesehener Mann, Arzt am königlichen Hof, der nicht nur Professor der Medizin war, sondern sich daneben, soweit seine Zeit eben reichte, auch mit Pflanzenkunde und allerlei anderen Dinge beschäftigte. Er drängte Steller, in Berlin das Examen abzulegen, das Voraussetzung für seine Professur in Pflanzenkunde war. Doch als Steller sich schließlich hierfür bereit erklärte, war die Angelegenheit in Halle ins Stocken geraten. Für die Gründung der Professorenstelle bedurfte es nämlich eines königlichen Beschlusses, der jedoch nicht zu erreichen war, da König Friedrich Wilhelm I. erkrankt war. Hoffmann musste ihm als Mediziner zu Hilfe eilen, um ihn zu pflegen. Und so stand die Installation dieses Amtes vor einer ungewissen Zukunft.

Ein junger Mann will leben, nicht warten. Steller verabschiedete sich von seiner potenziellen Akademiker-Karriere mit der Sicherheit des westlichen Stadtlebens und machte sich auf nach Russland. Er war zu diesem Zeitpunkt 25 Jahre alt, in einem fremden Land, umgeben von einer ihm unbekannten Sprache und Kultur, doch er fand seinen Platz erstaunlich schnell. Den Beginn seines neuen Lebens markierte er für alle wahrnehmbar mit einem Namenswechsel, hieß er doch eigentlich Stöller. Vielleicht wollte er die Russen nicht mit dem ungewöhnlichen Trema des Umlauts irritieren. Vielmehr lag es an ihm, das fremd wirkende kyrillische Alphabet zu lernen. Außerdem musste er sich an die neue – oder besser gesagt alte – Zeitrechnung gewöhnen. Denn in Russland wurde noch der julianische Kalender verwendet, der dem gregorianischen Kalender elf Tage hinterherhinkte. In den historischen Überblicken zu Stellers Zeitalter gilt daher stets der Grundsatz »andere Länder, andere Zeiten«. Die Ereignisse in Russland werden immer nach dem alten Kalender erzählt. Und so erleben wir die Ereignisse auch in diesem Buch nach Stellers Ankunft in Russland elf Tage nach unserer Zeitrechnung. Zwar hat das exakte Datum meist keine große Bedeutung, doch sollte man im Hinblick auf die Zeitangaben und Wetterbedingungen auf Berings Expedition im Hinterkopf behalten, dass beispielsweise der Herbstanfang weiter zurücklag und der Winter bereits weiter vorangeschritten war, als es die Angaben im Logbuch annehmen lassen.

Als Steller in Russland ankam, ließ er sich in St. Petersburg nieder, doch schon bald zog es ihn nach Sibirien – damals wie heute nicht das Traumziel der meisten Menschen. Er sorgte jedoch selbst dafür, dass er dorthin geschickt wurde. Als Forschungsreisender legte er tausende Kilometer mit dem Schlitten, auf dem Binnenschiff oder zu Fuß zurück. Er schlief unter freiem Himmel oder auch in pechschwarzen Schwitzhütten. Als er schließlich am östlichsten Rand Asiens ankam, setzte er seine Reise auf dem Seeweg über unkartierte Gewässer fort – ohne Rücksicht darauf zu nehmen, dass er eine ›Landratte‹ und kein Seemann war. Der Kapitänkommandeur Vitus Bering ernannte Steller zum Geologen seiner Expedition. Doch die Untersuchung von Mineralen reichte diesem nicht aus. Er war ein Naturforscher, der an allem Interesse fand: neben Ottern, Muscheln und Doldenblütlern auch an seiner eigenen Spezies. Sowohl in Amerika als auch in Russland machte er voller Begeisterung anthropologische Beobachtungen. So studierte er etwa die Esskultur der Itelmenen und stellte Vermutungen über den Ursprung der Besiedlung Amerikas an.

Durch Berings Reise wurde Steller zum ersten Wissenschaftler, der Alaska betrat. Sowohl auf der Sibirien- als auch auf der Alaska-Reise gelang es ihm, zahlreiche Tier- und Pflanzenarten für die Wissenschaft zu dokumentieren. Einige wurden später nach ihm benannt. Bekanntheit haben vor allem die Stellersche Seekuh und der Stellersche Seelöwe durch die biologische Nomenklatur erlangt. Auf der Liste der wissenschaftlichen, lateinischen Bezeichnungen findet sich der Name Steller noch öfter wieder. Unter anderem sind nach ihm zahlreiche Vögel, Fische, Mollusken und vor allem Pflanzen benannt. Dies ist umso bemerkenswerter, als die meisten Arten-Bezeichnungen zuvorderst die Tiere selbst beschreiben sollen und nicht die Menschen, mit denen sie historisch oder wissenschaftlich in Verbindung gebracht werden, weshalb auch nur ein Teil Stellers wissenschaftlicher Funde nach ihm benannt ist. Da er selbst es nicht schaffte, sein immenses Material zu verarbeiten und da zudem die von Carl von Linné entwickelte binäre Nomenklatur zu Stellers Lebzeiten noch nicht verwendet wurde, bleibt es schwierig, überhaupt nachzuvollziehen, wie viele für die Wissenschaft neue Arten Steller dokumentiert hat. Hinter der wissenschaftlichen Bezeichnung wird nämlich in Klammern der Namensgeber vermerkt und Stellers Funde – von ihm gesammelte Proben und von ihm angefertigte Beschreibungen – wurden von vielen Forschern jahrelang geprüft und benannt, auch noch Jahrzehnte nach seinem Tod. Daher findet sich hinter den Bezeichnungen der von ihm entdeckten Arten in aller Regel der Name eines Anderen statt seines eigenen. Stellers Funde wurden später nicht nur durch Linné benannt, sondern auch durch Johann Georg Gmelin, Johann Friedrich Gmelin, Peter Simon Pallas, Wilhelm Gottlieb von Tilesius, Georges Cuvier und Alexander von Middendorff ...

Schon allein dieser Auszug aus einer noch viel längeren Liste berühmter Forscher belegt, dass es zahlreiche Tiere und Pflanzen waren! Viele sind asiatische und nordamerikanische Arten, die hierzulande nicht verbreitet sind. Doch auch unter den sibirischen und alaskischen Arten findet sich die eine oder andere uns noch bekannte, zum Beispiel der Dreistachlige Stichling (Gasterosteus aculeatus), ein winziger Fisch, der auch in unseren heimischen Gewässern lebt und zumindest nach Meinung der Biologen eine besonders spannende Art ist.1

Steller selbst ist nie portraitiert worden, sodass sich kein gesichertes Bild von ihm erhalten konnte. Wir können also nicht mit Sicherheit wissen, wie er ausgesehen hat. Er ist mit dem lateinischen Ausdruck corpore indurato (»abgehärteter Körper«) beschrieben worden. Seine vorzügliche Kondition wird durch das hohe Reisetempo bestätigt. Vor der Erfindung der Fotografie wurden für Forschungsreisen häufig Künstler angeheuert, die die Reise mit Zeichnungen und Gemälden dokumentierten. Diese Künstler waren auch für Steller von Nutzen. Einer von ihnen war Johann Berckhan und es wird vermutet, dass eine seiner Zeichnungen möglicherweise Steller darstellt: der Mann, der in das Gewand eines sibirischen Schamanen gekleidet ist, hat nämlich europäische Gesichtszüge. Auf dieser Grundlage malte Ivan Stankov ein Porträt, das 2016 an der Universität Tjumen in Russland enthüllt wurde. Als ich dieses Bild von Steller sah, hatte ich bereits in meiner Vorstellung ein Bild von ihm gemacht. Stankovs Gemälde zeigt einen stilvollen Mann mit feinen Gesichtszügen. Dagegen hatte ich mir Steller rau und kernig vorgestellt, sodass Stankovs Steller im Verhältnis nahezu prinzenhaft wirkte. Und tatsächlich kann mich von meiner eigenen Vorstellung nicht so recht lösen, obwohl diese nicht auf fundierte Belege aufbaut.

Abb. 2:Georg Wilhelm Steller. Ein zeitgenössisches Portrait, von dem wir mit Sicherheit sagen können, dass es Steller darstellt, ist nicht erhalten. Dieses Gemälde ist eine Rekonstruktion des Malers Iwan Stankow im Auftrag der Universität Tjumen und wurde 2016 veröffentlicht. Als Vorlage diente eine alte Zeichnung, die möglicherweise Steller darstellt.

Wissenschaftler von Gottes Gnaden

Von Georg Steller ist den nachfolgenden Generationen also kein verlässliches Porträt geblieben, doch der rastlose Wanderer hat sich immerhin in seinen Schriften verewigt. Seine in lateinischer Sprache verfasste Forschungsarbeit De bestiis marinis (dt.: »Ausführliche Beschreibung sonderbarer Meerestiere«) erschien posthum im Jahr 1751. Seine Kamtschatka-Beschreibung, die im Jahr 1774 veröffentlicht wurde, war in deutscher Sprache verfasst worden, ebenso wie sein 1793 publiziertes Tagebuch seiner Amerika-Reise. Alle drei Texte sind auch ins Englische übertragen worden. Später hat man von ihm noch weitere Texte entdeckt, wie lateinische Arten-Kataloge. Im 20. Jahrhundert wurden in den Petersburger Archiven überraschenderweise sein Briefkorpus sowie das zerstört geglaubte Tagebuch der Sibirien-Reise gefunden. Beide Texte sind inzwischen auf Deutsch herausgegeben.

Seinerzeit gelangte Stellers Hinterlassenschaft nach Petersburg, wo sich vor allem Peter Simon Pallas, Professor an der Akademie der Wissenschaften, seines Erbes annahm – von der Untersuchung der Proben bis hin zur Reinschrift und Veröffentlichung seiner Texte. Pallas wurde 1741 geboren, also im selben Jahr, in dem Bering nach Amerika segelte, und starb 1811. Ebenso wie Steller war auch Pallas Deutscher, hatte an der Universität in Halle studiert und lange Forschungsreisen durch Sibirien unternommen. Er war einer der höchstangesehenen Naturforscher seiner Zeit, der neben seiner eigenen Feldforschung auch Forschungsreisen Anderer organisierte und eine große Menge wissenschaftlicher Texte verfasste. Das Porträt Pallas' zeigt einen sanft, ja ein wenig melancholisch in die Welt blickenden Mann. Pallas' Zusammentragen und Veröffentlichen von Stellers Material war ein dankenswerter Dienst, wenngleich er als Diener des russischen Imperiums notwendigerweise kleine Retuschen vornehmen musste. So korrigierte er einige inhaltliche Fehler und feilte an Stellers Aussagen, an denen die Autoritäten Anstoß hätten nehmen können.

Das deutschsprachige Tagebuch von Stellers Amerika-Expedition wurde 1917 in den Petersburger Archiven gefunden. Die Übersetzung ins Englische legte der Steller-Biograf Leonhard Stejneger vor.2 Eine neuere Übersetzung ist das 1988 erschienene Journal of a Voyage with Bering 1741–1742. Sie wurde von Margritt A. Engel und Orcutt William Frost angefertigt. Letzterer lehrte als Geschichtsprofessor an der Universität von Alaska und ist unter anderem für seine erstklassige Bering-Biografie bekannt. Engel ist wiederum emeritierte Professorin für deutsche Sprache und hatte gemeinsam mit Karen Willmore auch Stellers Kamtschatka-Beschreibung ins Englische übertragen.

Stellers Texte sind mühsam zu deuten. Dafür gibt es mehrere Gründe. Die Handschrift ist entsprechend der damaligen Zeit verschnörkelt, es gibt keine Druckbuchstaben. Fehler in Abschriften und Transkriptionen lassen sich also kaum vermeiden und diese können in den weiteren Arbeiten übernommen werden. Besonders gefährlich sind solche Fehler, wenn durch das Verschreiben eines einzelnen Buchstabens sich ein völlig anderer Wortsinn ergibt! Auch die Tatsache, dass Stellers Deutsch aufgrund von mangelnder Sprachpraxis gelitten oder doch sehr individuelle Züge angenommen hatte, macht die Interpretation nicht einfacher. Zur Zeit Stellers lag im Studium der Schwerpunkt auf der lateinischen Sprache, in Russland sollte wiederum die dortige Landessprache verwendet werden. Steller erfand mitunter Wörter, in denen das Deutsche und das Russische miteinander vermischt wurden, und in seinem Kamtschatka-Buch wurde dieser ›Mischmasch‹ noch dazu um den Wortschatz der Ureinwohner erweitert, den er nach Gehör transkribierte, da es dort ja noch nicht einmal eine Schrift gab. Und natürlich wandelt sich eine Sprache auch im Laufe der Zeit; viele Wörter haben heute eine andere Bedeutung als im 18. Jahrhundert.

Auch die lateinischen Tier- und Pflanzenbezeichnungen bereiteten den Forschern Kopfzerbrechen. Da Linnés Nomenklatur zu Stellers Zeiten noch nicht verwendet wurde, sind die von Steller selbst vergebenen Namen wortreiche Beschreibungen, die nachträglich geändert wurden. Engel und Wilmore mussten für ihre Übersetzung regelrechte Detektivarbeit leisten. So mussten sie neben Biologen auch Experten der lateinischen Sprache des 18. Jahrhunderts konsultieren – und sich dennoch an mancher Stelle allenfalls mit Vermutungen zufriedengeben.

Die lateinische Sprache beherrschte Steller tadellos und sein bedeutendster wissenschaftlicher Text, die Beschreibung der Stellerschen Seekuh, ist in dem Werk De bestiis marinis enthalten. Er hatte ihn als Schiffbrüchiger auf der Beringinsel verfasst, also unter mithin primitiven Bedingungen, in einem Erdloch hausend, unter freiem Himmel, vielleicht in einem windgeschützten Hohlraum unter einem Felsen. Ohne je zu wissen, ob er es überhaupt jemals schaffen würde, die Insel wieder lebend zu verlassen. Das Vorwort zu diesem Werk verfasste Steller später, als er einen Winter in Kamtschatka verbrachte. In diesem Text zeigt er, dass ihm vollkommen bewusst ist, dass seine Ausdrucksweise nicht ausgefeilt ist. Zugleich räumt er gewissermaßen den nachfolgenden Generationen das Recht ein, den Text aufzuarbeiten und nach Bedarf zu verwenden – wichtig ist ihm nur, dass die Funde dokumentiert und der Welt zugänglich gemacht sind:

»Wenn jemandem nicht gefällt, dass ihm der Brei in einer etwas grob gefertigten Tonschale serviert wird, kann er diesen ja selbst in einer feineren Silberschüssel servieren.«

Steller hatte keine Zeit, elegant seinen kleinen Finger abzuspreizen und seinen Text aufzuhübschen. Er eilte voran mit seinen Notizen und seinem wenigen Gepäck im Rucksack. Hinter den Bergen wartete schon die nächste Entdeckung ... Ja, Steller plante tatsächlich bereits neue Reisen: Er hatte von Mammutknochen erfahren, die an der Flussmündung der Kolyma in Sibirien gefunden wurden und wollte diese untersuchen. Seine Gedanken drehten sich um die Gerüchte, die ihm zu Ohren gekommen waren. Gerüchte über seltsame Raubtiere in der Region Astrachan, große schwarze Wölfe und die Hyänen der Antike. Wüsten interessierten ihn. Er wünschte sich, von der Petersburger Akademie der Wissenschaften hierhin und dorthin entsandt zu werden. Die Welt ist so groß und es gibt so viel zu erforschen! Aber Steller blieb nicht mehr viel Zeit: noch vier Jahre. Er starb im Jahr 1742 im Alter von nur 37 Jahren.

Obwohl die Naturwissenschaft Stellers große Leidenschaft war, vertiefte er sich bei Bedarf auch in Fragen zur Seelsorge und physischer Gesundheit, wobei ihm sein Fachwissen als Naturforscher auch dabei von Nutzen war. Die Medizin des 18. Jahrhunderts fußte noch auf der Pflanzenkunde und so musste ein kompetenter Arzt sich mit Heilkräutern und ihrer Verwendung auskennen. Daher hatten Ärzte der damaligen Zeit praktisch zwei ziemlich unterschiedliche Fachgebiete. Die Allgemeinmediziner versuchten, die große Vielzahl an Krankheiten und Beschwerden zu behandeln, die Chirurgen ihrerseits waren vor allem an der Front gefragt. So fungierten die Allgemeinmediziner in der Praxis als Botaniker, während die Chirurgen ihr Messerarsenal geschickt bedienten wie kunstreiche Barbiere. Und was für Steller wichtig war: ein Naturforscher steht nicht nur in den Diensten der Wissenschaft, sondern auch im Dienste Gottes! Alles Leben ist die Schöpfung sowie das Werk Gottes und der Beweis für seine Existenz. Indem Steller die Natur deutet, begreift er Gott und seine Taten. Als junger Mann hatte er auf der Abschlusszeremonie seiner Schule, bevor er an die Universität wechselte, eine Abschiedsrede gehalten mit dem Thema »Das Gewitter als Beweis für die Macht Gottes«. Wahrscheinlich betrachtete er dabei auch Wetterphänomene aus naturwissenschaftlicher Perspektive, zumal er sich schon als kleiner Junge für die Natur begeisterte. Doch der Titel deutet auf das grundlegende Verständnis hin, dass Gott hinter allem steht. Diese Ansicht teilten damals die meisten seiner Zeitgenossen.

Die Naturwissenschaft des 18. Jahrhunderts wird noch gewissermaßen von der Theologie umarmt, wie auch die Medizin an die Pflanzenkunde gekoppelt war. Erst als 1859 Darwins Über die Entstehung der Arten erschien, konnte man sich allmählich von der Idee eines himmlischen Schöpfers lösen. Gott hatte nicht jede Spezies einzeln erschaffen, tatsächlich war in dem ganzen Prozess sein Eingreifen überhaupt nicht nötig gewesen. Wenn Darwin auferstehen würde und sich mit der heutigen Evolutionstheorie bekannt machen könnte, die mit allen ihren genetischen und paläontologischen Entdeckungen seine Idee so solide untermauert und so Phänomene erklären kann, die zu seiner Zeit noch Rätsel aufgegeben hatten, so wäre er sicher begeistert und vielleicht auch stolz. Auch wenn Darwin in Bezug auf religiöse Fragen nie seinen Standpunkt geäußert hat – er war ein taktvoller Mann und seine Frau Emma eine fromme Christin –, hätte unsere heutige biologisch begründete Weltanschauung ihm wohl kaum Probleme bereitet. Für Naturforscher, die vor ihm gelebt haben, so wie Steller, müsste diese hingegen ein ziemlicher Schock sein.

Steller war außerordentlich gläubig. Auch wenn er offiziell nicht die Laufbahn eines Priesters eingeschlagen hatte, stand er unter den pietistischen Einflüssen an der Universität in Halle. Für die Pietisten waren ein bescheidener Lebensstil und das Entsagen aller Heucheleien zentrale Ideale. Der Glaube war Teil des Alltags, nicht nur die Andacht an heiligen Feiertagen, und die christliche Gesinnung zeigte sich in den alltäglichen Dingen, in Worten wie auch in Taten. Wenn man sich Steller im 21. Jahrhundert vorstellen möchte, würde die moderne Medizin sein Weltbild möglicherweise doch nicht gänzlich aus den Angeln heben, zumal es auch heute religiöse Forscher gibt. Auf den Glauben an Gott müsste er also auch heute nicht verzichten, er könnte weiterhin an eine übernatürliche Instanz und transzendentale Dimensionen glauben und so gewissermaßen zwei voneinander getrennte Ebenen aufrechterhalten. Einzig den Kreationismus müsste er verwerfen, da die gesamte moderne Biologie auf der Evolutionstheorie basiert. Die Evolution zu akzeptieren, könnte ihm recht leichtfallen, da er tatsächlich bereit war, sich neue Anschauungen anzueignen. Gewiss hatte er über das Rätsel der Verbreitung der Arten und über deren Variationen nachgedacht. Und auch wenn Steller keine Zweifel daran hatte, dass alle Arten von Gott geschaffen worden waren, musste er erkannt haben, dass die Schöpfung an verschiedenen Teilen der Welt stattgefunden hatte. Diesen Schluss hatten ihm unter anderem die Robben nahegelegt, die er am Baikalsee beobachtet hatte. Wie konnten Robben, diese Wesen, die sich an Land nur mit kläglicher Hilflosigkeit fortbewegten, vom Meer in den weit entfernten See übersiedeln, wenn sie nicht mit voller Absicht eben genau dort erschaffen worden waren?

Steller überlegte sich auch, wie Umwelteinflüsse auf Lebewesen, ihre Entwicklung, Größe und ihre Körperbedeckung auswirkten. Er beobachtete, dass jakutische Rinder, die nach Kamtschatka gebracht worden waren, eine Zunahme an Größe und Produktivität aufwiesen. Europäische Pferde wurden in Sibirien kleiner und widerstandsfähiger, in Indien und China wurden sie hingegen zierlicher, sodass sich im Verlauf der Zeit eigene Rassen entwickelten. Diese Feststellung ist besonders interessant, denn Steller musste daraus abgeleitet haben, dass die von Gott erschaffenen Arten nicht endgültig und unveränderlich sind.

Auch Darwin richtete seine Aufmerksamkeit auf die Variation von Haustieren – verständlicherweise, denn mit dem Menschen als verstärkenden Faktor der Evolution wurden Veränderungen in noch kürzerer Zeit möglich. Steller als einen Vorreiter der Evolutionstheorie darzustellen, wäre freilich zu weit hergeholt. So weit gingen seine Gedanken wohl doch nicht. Er interessierte sich für den Einfluss der Umwelt auf das äußere Erscheinungsbild und das Verhalten der Arten, auch seiner eigenen Spezies. Doch das dürfte kaum seinen Glauben an die wortgetreue Wahrheit der Schöpfungsgeschichte erschüttert haben.3 Heute steht der Kreationismus mit religiösem Fundamentalismus in Zusammenhang. Da sich die Evolutionstheorie nicht mit einer wörtlichen Deutung der Bibel in Einklang bringen lässt, versuchen Kreationisten sie für falsch zu erklären. Daher ist die Haltung der Kreationisten zum wissenschaftlichen Fortschritt eklektisch: zwar setzen sie bei Ärzten nicht die Fähigkeiten eines Botanikers voraus und auch die Heilmittel der modernen Medizin lehnen sie nicht kategorisch ab. Doch von den Biologen erwarten sie sehr wohl, dass diese in ihren Erkenntnissen mehrere Jahrhunderte zurückfallen.

Uns mag die Interdisziplinarität des 18. Jahrhunderts abwegig erscheinen. Doch für Steller erweist sich die unspezifische Ausbildung unter den strapaziösen Umständen der Expedition als Rettung. Denn als Schiffbrüchiger auf dem öden Eiland sind ihm sowohl seine Pflanzenkenntnisse als auch die im Anatomiestudium erworbenen Häutungs- und Sezierfähigkeiten von großem Nutzen. Und da sein Glaube an einen schützenden Gott so tief verankert ist, fällt es ihm in der Katastrophensituation leichter, tapfer und zuversichtlich zu bleiben. Selbst wenn nicht alle gerettet werden können, ist für ihn die Gewissheit tröstlich, dass alles nach dem Willen des allmächtigen Gottes geschieht. Die einem Diener Gottes angemessene Demut und Selbstbeherrschung lässt er zwar zeitweise vermissen. Doch was wäre gewesen, wenn er nicht so selbstsicher, wenn er nicht so sehr von seinen eigenen Fähigkeiten überzeugt gewesen wäre? Ein bescheidener, zurückhaltender und unsicherer Steller hätte die Reise wohl kaum jemals angetreten. Er hätte sich in einem Steinhaus in irgendeiner deutschen Kleinstadt eingerichtet und sich nach einer Professorenkarriere gesehnt ... Und wir hätten niemals von ihm erfahren.

Steller schonte weder sich selbst noch andere. Er nahm kein Blatt vor den Mund und viele bezeichneten ihn als unbequem. Er machte vor den Vorgesetzten keine Bücklinge, stellte Forderungen und wurde sauer, wenn diese nicht erfüllt wurden. Er war ein Besserwisser, wie er im Buche steht. Und dennoch konnte derselbe Mann, der seinen Nächsten mit Zorn und Sarkasmus begegnete, sich selbst geradezu vergessen, wenn die Lage ernst war. Wenn es brenzlig wurde, krempelte er die Ärmel hoch, angetrieben von aufrichtiger Nächstenliebe. Es scheint, als wäre er in schwierigen Situationen zu seiner Höchstform aufgelaufen. Wie seinem Tagebuch zu entnehmen ist, hatte er während der gesamten Schiffsreise zu nörgeln – sinngemäß: »die anderen verstehen nichts ...«, oder »ich habe es ja gewusst ...« usw. Doch den tragischen Überlebenskampf der Schiffbrüchigen beschreibt er distanziert und sachlich, geradezu als Außenstehender. Er mag schroff und nonkonformistisch gewesen sein, allein sein Verhalten hing davon ab, wie ordentlich die Arbeiten und Aufgaben erledigt wurden. Hinsichtlich äußerer Umstände war er hingegen gänzlich anspruchslos und anpassungsfähig.

Als Steller auf der einsamen Insel dem erkrankten Kapitänkommandeur das Fleisch eines Otterjungen zum Essen anbot, war Bering vom ekeligen Gericht angewidert und wunderte sich über Stellers Geschmacklosigkeit. »Ich versuche nur, mich an die gegebenen Umstände anzupassen.«, konterte dieser. Man kann sich vorstellen, wie er mit den Schultern zuckt, da für ihn die Anpassung an die äußeren Umstände selbstverständlich war. Steller wird seinerseits erstaunt zur Kenntnis genommen haben, dass der Verzehr von Otterfleisch in dieser lebensbedrohlichen Situation einer Rechtfertigung bedurfte. Für den Kapitänkommandeur wurden künftig nur Schneehühner geschossen.

Die Anspruchslosigkeit spiegelte sich auch in seinem unprätentiösen Auftreten wider. Heutzutage würde seine äußere Erscheinung kaum auffallen: Biologen tragen bei der Feldforschung funktionale Trekkingkleidung. Und es bringt auch nichts, seinen akademischen Grad vor sich herzutragen, wenn man etwa durch einen Sumpf watet. Das ist ohnehin in der akademischen Welt unüblich, sofern die Information nicht von Bedeutung für die Arbeit ist. Doch noch vor ein paar Generationen trugen Biologen auf ihren Exkursionen Anzug und Krawatte! Auf alten Fotos sieht man Wissenschaftler, die im Jackett durch Wälder und Felder wandern. Doktoren und Professoren hoben sich bereits vom Pöbel ab, noch ehe auch nur ein einziges gelehrtes Wort über ihre Lippen gekommen war. Im Russland des 18. Jahrhunderts ist das Gefälle zwischen den sozialen Schichten ganz besonders eklatant: von den recht- und besitzlosen Leibeigenen bis hin zu den unvorstellbar wohlhabenden Adeligen, zu deren liebsten Beschäftigung das Ausrichten aufwendiger Feste gehörte – denken wir nur an die von russischen Klassikern beschriebenen »Namenstage« und »ersten Tänze«. In dieser Welt der Extreme ist es nur normal, dass man die Zugehörigkeit zum jeweiligen Stand bereits äußerlich im Auftreten Ausdruck verleiht. Für die niedrigeren Stände beschränkte sich die Selbstdarstellung aufgrund mangelnder Alternativen auf nackte Zehen, Lumpen und Buchweizengrütze, während die Oberschicht sich einer Vielfalt an Accessoires bediente, um ihren Status für alle unverkennbar sichtbar zu machen. Dabei ging es jedoch nicht nur um bloße Zurschaustellung; vielmehr waren diese Menschen schlicht ein gewisses materielles Niveau gewohnt, das zu unterschreiten einem Schock gleichgekommen wäre.

Stellers ›Rucksackreise‹ erscheint im Vergleich zu seinen Zeitgenossen und Landsmännern geradezu anarchistisch. Gerhard Friedrich Müller und Johann Georg Gmelin waren wie Steller als Forscher der Petersburger Akademie durch Sibirien gereist. Doch ihr Auftreten war ein gänzlich anderes: Sie repräsentierten die Gepflogenheiten ihrer Zeit und der akademischen Aristokratie. Obwohl Steller tatsächlich nur Adjunkt war, während Müller und Gmelin bereits Professoren waren, lag der zentrale Unterschied in der Qualität und dem Umfang ihrer Ausrüstung. Steller wurde auf seiner Reise von ein oder zwei Gehilfen begleitet, während die Professoren von einer langen Karawane umgeben waren, zu der neben Ärzten, Bediensteten, Soldaten, Vermessern, Dolmetschern, Künstlern, Sekretären und anderen Gehilfen auch eine ehrfurchterregende Ausstattung gehörte. Was die Herrschaften an Garderobe, Geschirr und Forschungsinstrumenten mitführten, kann man sich heute kaum noch vorstellen. In historischen Aufzeichnungen ist die Rede von einer mehrere hundert Bände umfassenden Bibliothek – darunter befanden sich neben wissenschaftlichen Büchern auch Unterhaltungsliteratur, wie Robinson Crusoe und Gullivers Reisen – sowie feine Weine aus dem Rheinland. Für jeden der beiden Professoren waren zehn Lastenpferde reserviert, für alle anderen Teilnehmer standen sechs weitere zur Verfügung.

Aber natürlich, wenn man zu Hause im Ohrensessel sitzt, fällt es leicht, sich über die fürstliche Art zu reisen zu amüsieren. Dabei sollte man nicht vergessen, dass Forschungsreisen nach Sibirien damals nicht nur eine kurze Forschungsperiode dauerten, sondern in aller Regel Jahre. Auf den langen unbewohnten Strecken war man mehr oder weniger auf sich selbst gestellt und selbst in den rustikalen Städten konnte man keine Wunder erwarten. Müllers und Gmelins ›Dekadenz‹ muss man daher vor der Tatsache sehen, dass sie zu ihrer Expedition im Jahr 1733 in St. Petersburg aufbrachen und erst 1743 wieder zurückkehrten. Die Sibirien-Exkursion stellte für sie also einen großen Lebensabschnitt dar. Die Professoren gaben sich auch durchaus nicht nur dem Genuss von Wein und dem Lesen von Romanen hin, sondern sie arbeiteten eifrig. Gmelin sammelte Material für das monumentale Werk über die sibirische Pflanzenwelt Flora Sibirica und verfasste nach seiner Rückkehr nach Deutschland eine Reiseschilderung, die auch für ihr literarisches Niveau Anerkennung fand. Müller seinerseits machte sich mit der Geschichte Sibiriens vertraut und sicherte einzigartiges Material aus den lokalen Archiven, die andernfalls in Bränden und der turbulenten Geschichte Sibiriens für immer untergegangen wären. Zwar genossen die Herrschaften ihren Luxus, doch im Gegenzug wurden sie von den harten Bedingungen in Sibirien auf die Probe gestellt: rauer Frost und Sommerhitze, Sümpfe und Mückenschwärme, unkooperative Beamte, unmotivierte Arbeiter und leichtsinnige Säufer. Und nie konnten sie sicher sein, nach den miserablen Zuständen im Gelände ein komfortables Obdach zu finden, da auch die Unterkünfte ziemlich unangenehm sein konnten.4

Trotz dieser Unterschiede verstanden sich die Professoren gut mit Steller. Sie begegneten sich im Januar 1739 am Jenissei in Sibirien. Zu diesem Zeitpunkt waren Müller und Gmelin bereits seit Jahren auf dem Weg. Sie hatten es bis nach Jakutsk geschafft, wo sie jedoch müde wurden. Sie wollten nach Ochotsk und von dort über das Meer nach Kamtschatka, beschlossen jedoch ihre Abreise zu verschieben. Sie schickten den russischen Studenten Stepan Krašeninnikov nach Kamtschatka vor: der Jüngling sollte eine Menge vorbereiten, Unterkünfte organisieren und die Forschungen in die Wege leiten. Die Professoren kehrten an den Jenissei zurück, wo der Winter nicht ganz so rau ist wie in Jakutsk. Gmelin wollte auch noch in der Gegend am Jenissei umherziehen, um das Material zu ersetzen, das er beim Brand einer der Herbergen verloren hatte. Tatsächlich waren Müller und Gmelin schon abgekämpft und wollten nicht mehr nach Kamtschatka. Sie hatten bereits einen Antrag an den Senat geschickt, diese letzte Etappe der Forschungsreise auszusetzen. Und so erschien ihnen Steller am Jenissei wie ein Geschenk des Himmels.

Steller war Anfang des vorangegangenen Jahres in St. Petersburg aufgebrochen und hatte bereits einen gewissen Eindruck von Sibirien erhalten. Die Reise war gewiss nicht leicht gewesen. An Weihnachten war er in Tomsk dem Tod in Gestalt einer Fiebererkrankung gerade noch von der Schippe gesprungen. Doch dieser Mann war nicht so schnell zu bremsen, strotzte vor Energie und war hochmotiviert, die Reise bis zum äußersten Rand des Festlands fortzusetzen. Daher schrieb Gmelin einen weiteren Brief nach St. Petersburg. Darin empfahl er, den Forschungsauftrag in Kamtschatka den Professoren abzunehmen und stattdessen Steller damit zu beauftragen.5 Gmelins Brief berichtet nicht nur von Steller, sondern auch von Gmelin selbst. Die Unterschiede zwischen den beiden Männern waren enorm. Dies ist umso augenfälliger, da doch beide aus Deutschland stammten, beide die Universität besucht haben, beide etwa gleich alt waren und aus ähnlichen Verhältnissen stammten.

In seinem Brief erinnert Gmelin daran, dass es für einen Forschungsreisenden in Sibirien unerlässlich sei, allerlei Ausstattung mit sich zu führen. Zugleich hebt er jedoch bewundernd hervor, dass Steller keinerlei derartigen Ballast mit sich führe. Vor allem Stellers Sparsamkeit beim Essen schien ihn beeindruckt zu haben. »Er hat nur eine einzige Tasse, aus der er sein Bier und seinen Schnaps trinkt«, schreibt Gmelin und erwähnt auch die für ihn denkwürdige Tatsache, dass er überhaupt keinen Wein trank. Steller brauchte auch keinen Koch, weil er sein Essen selbst zubereitete, wobei Gmelin auch die Art der Zubereitung erwähnenswert schien: »Gemüse und Fleisch brodeln gleichzeitig in ein und demselben Topf und aus demselben Topf isst er auch.« Neben der spartanischen Küche spiegelt sich die Askese in Stellers gesamten Lebensstil wider. Wenn er in seinem Arbeitszimmer eifrig seiner Arbeit nachging, ließ er sich weder von Unordnung noch von Rauch und Gestank aus der Ruhe bringen, bewunderte Gmelin. Selbst im Gelände schien ihm jedes Schuhwerk gut genug. Und was auch vom Stil der gelehrten Herren seiner Zeit abwich: »Er gebraucht weder Perücke noch Puder.« Anerkennung fand auch sein Charakter. Laut Gmelin war er immer gut gelaunt; seine Laune schien sich noch zu bessern, wenn um ihn herum viel los war. Damit an dieser Stelle nicht der Eindruck eines unbedarften Witzboldes entsteht, betont der Professor, dass Stellers Genügsamkeit sich keineswegs auf seine wissenschaftliche Arbeit erstreckte. Diese führte er äußerst akribisch und gewissenhaft durch. »Sodass wir in dieser Hinsicht nicht die kleinste Sorge haben.« Gmelin räumt unumwunden ein, dass der Zar seine Ausgaben reduzieren könnte, würde er Steller anstelle der Professoren den Auftrag übertragen; zweifellos eine ehrliche und richtige Einschätzung. Zudem führt er an, dass der Anführer der Großen Nordischen Expedition, Kapitänkommandeur Vitus Bering, gewiss ebenfalls lieber Steller in seine Mannschaft aufnehmen würde, als die beiden Professoren, die sich selbst der Akademie der Wissenschaften und Seiner Majestät verpflichtet fühlten. Die Professoren wären daher dem Kapitänkommandeur gegenüber sicher weniger unterwürfig und gehorsam als Steller. Nun ja, was diese Einschätzung angeht, stellt Stejneger, der Verfasser von Stellers Biografie, lapidar fest: »Offensichtlich hat Gmelin diesen Mann nicht gekannt.«

Tatsächlich störte sich auch Gmelin schon bald an Stellers mangelnder Achtung der Vorgesetzten. Zwischen den beiden kam es zu einem handfesten Streit, da Steller sich nämlich als Forscher der Akademie der Wissenschaften und nicht als Gmelins Assistent begriff. Als Gmelin ihm auftrug, ihm künftig alle Pflanzen und sonstiges Material, das er im Laufe der Expedition sammeln würde, zukommen zu lassen, ignorierte er diesen Befehl schlichtweg. Er machte nach eigener Aussage einen gefügigen Eindruck, um einen Streit zu vermeiden. Doch als sich ihre Wege trennten und Steller seine Forschungen in Irkutsk fortsetzte, adressierte er seine erste Sendung als versiegeltes Paket direkt an die Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg. Vielleicht wollte er die Übermittlung seiner Funde auf diese Weise beschleunigen und möglicherweise verstand er auch die Dünnhäutigkeit des Professors nicht so ganz. Außerdem war er es gewohnt, auf eigene Faust zu handeln. Wie hätte er es sonst geschafft, durch Sibirien zu reisen? Deshalb dürfte er Gmelins Forderung, seine Proben untersuchen und beurteilen zu lassen, nicht nur für unnötig, sondern auch für herabsetzend gehalten haben.

Wie es der Zufall will, landete das Paket aber dennoch in Gmelins Händen, der daraufhin die Fassung verlor: Eine Unverschämtheit! Es kam zu einem zornigen Briefwechsel. Steller war nun in Gmelins Augen ein inkompetenter Novize und seine Arbeit nutzlos. Steller bildete sich wiederum ein, der Wissenschaft neue Funde geliefert zu haben, dabei hatte Gmelin selbst diese schon abgehandelt. Auch die Pflanzen sind völlig falsch benannt. »Als wäre jede Art, die Steller neu erscheint, auch für die Wissenschaft neu!«, spottete Gmelin und ging sogar so weit, dass er Steller in einem Brief zumindest bis auf Weiteres die Reise nach Kamtschatka untersagte. Stattdessen beauftragte er ihn, ins Lena-Delta am Nordpolarmeer zu reisen. Steller war alarmiert. Es wäre doch schade, wenn ihm wegen dieser Fehde die langersehnte Kamtschatka-Reise vorenthalten bliebe. Sogleich setzte er einen langen, verschnörkelten und hochachtungsvollen Brief an die Akademie der Wissenschaften auf, in dem er die Gründe für sein Handeln darlegte. Danach zog er kurz entschlossen nach Kamtschatka. Schließlich war er kein Student von Gmelin, sondern ein Forscher, der die Universitäten in Wittenberg, Halle und Berlin besucht hatte! Die beiden Männer begegneten sich nie wieder und auch die Feindschaft fand zum Glück ein Ende. Beschwichtigend sandte Steller seine späteren Proben an Gmelin und auch dieser sah wohl ein, dass er aus einer Mücke einen Elefanten gemacht hatte. Als Steller in Ochotsk ankam, erhielt er offenbar einen in versöhnlichem Ton formulierten Brief Gmelins, da er auf das Schreiben demütig und eloquent reagierte. Fortan war der Briefwechsel bis zu Stellers Tod stets in herzlichem und freundschaftlichem Duktus gehalten.

Ein freimütiger Mensch, der schon mal die Rangfolgen vergisst, stößt im militärischen Umfeld der Marine ganz gewiss auf Schwierigkeiten. Doch obwohl sich die Beziehung zu Kapitänkommandeur Vitus Bering später als problematisch gestalten sollte, verlief die erste Begegnung angenehm. Auch diese kleine Anekdote wirft ein bezeichnendes Licht auf Steller: Am Ende seiner Reise quer durch Sibirien erreichte er zu Pferd die Hafenstadt Ochotsk, wo die Expeditionsleitung ihren Stützpunkt hatte. Dort wollte er Bering treffen und wurde von Kapitän Martin Spangberg begleitet. Spangberg war wie Bering Däne und einer dessen engsten Vertrauten, der von Anfang an bei der Organisation der Reise und beim Bau der Schiffe dabei war. Zudem hatte er die Expedition auf die Kurilen und nach Japan geleitet. In Berings Mietshaus trafen sie jedoch nur dessen Sohn Anton an, der Steller offenbar wegen seiner zerlumpten Kleidung für einen Bediensteten von Spangberg hielt und ihn wieder fortschickte. Als Bering kurz darauf auftauchte, lachten die Männer herzlich über das Missverständnis – auch Steller.

Zu Beginn der Segelfahrt nach Amerika verhielt sich Bering Steller gegenüber achtungsvoll. Über die Tage und Wochen hinweg kam es jedoch vermehrt zu Reibereien, die sich nicht mehr verbergen ließen. Das Temperament der beiden und auch ihre Ansichten über die Prioritäten der Reise waren zu unterschiedlich. Bering war vorsichtig, schließlich trug er die Verantwortung für das Schiff und das Leben der Besatzung. Für Steller hingegen gehörte Risikobereitschaft zu einer Forschungsreise dazu und es mangelte ihm nicht an Selbstsicherheit. Während der Seefahrt verteilte er ständig Ratschläge; bisweilen lag er falsch – das Festland lag nicht immer da, wo er es vermutete, manchmal waren die Inseln, die er zu sehen glaubte, nur Wolken über der Wasseroberfläche; manchmal hatte er aber auch Recht. Er wurde jedenfalls nicht mehr ernstgenommen und aus seinen Tagebucheinträgen geht hervor, dass die Offiziere etwas zu sehr von sich selbst überzeugt waren. Das mag zwar stimmen, doch zugleich ist Steller auch nicht besonders diplomatisch. Vielleicht lag es an seinem Stil, seiner Vehemenz und seinem Temperament, das selbst in seinem Tagebuch noch deutlich erkennbar ist. Seinem Biografen Stejneger zufolge verlor er seinen Sinn für Humor, sobald ein Witz auf seine Kosten ging. Steller fühlte sich auf dem Schiff allein gelassen, er wurde zum Außenseiter, den alle lauthals verspotteten. Er war verletzt und heilte seine Wunden, indem er sich sarkastisch in seinem Tagebuch ausließ. Von rein therapeutischem Schreiben kann jedoch nicht die Rede sein, denn obwohl sein Tagebuch der Amerika-Reise nicht mehr zu seinen Lebzeiten erschien, war es auf jeden Fall von Anfang an zur Veröffentlichung bestimmt. Man sagt, es sei zugleich eine Anklage und eine Verteidigungsrede. »Ein Pamphlet«, wie Peter Lauridsen es abtut, der seinerseits mit seiner Bering-Biografie eine angesehene Verteidigungsschrift für Bering geschaffen hat.

Steller macht darin den Marineoffizier für die Irrtümer verantwortlich, die zu dem katastrophalen Ende der Reise führten. Zugleich rechtfertigt er sich dafür, dass seine eigenen Forschungsergebnisse seiner Meinung nach so mager ausgefallen sind. Man kann sich gut ausmalen, wie er an Deck des Schiffes verärgert und frustriert auf- und abmarschierte und die Beschränkungen und verpassten Chancen bei seiner langersehnten Forschungsreise verfluchte. Steller ist in seiner Direktheit geradezu ungehalten. Es schien ihm überhaupt nichts auszumachen, dass sein Text nicht nur für Ärger sorgte, sondern vielleicht sogar zu einer Verleumdungsklage führen konnte. Andererseits mag sein Beweggrund echter Sorge darüber entsprungen sein, die Akademie der Wissenschaften und der Senat könnten annehmen, er wäre seiner Pflicht nicht nachgekommen. Und so musste er belegen, dass er seine Verpflichtungen nicht so ausführen durfte und konnte, wie er es wollte. Missachtung der Staatsgewalt war schließlich keine Bagatelle. Zweifellos schreibt Steller in seinen Augen nur die Wahrheit. Insofern musste den Beteiligten wenig daran gelegen sein, gegen diese Darstellung auf die Barrikaden zu gehen, da die Schmach nur auf sie zurückfallen würde. Für einige von ihnen findet Steller durchaus dankende und lobende Worte. Vielleicht entsteht gerade dadurch der Eindruck, dass es sich bei ihm um einen objektiv aufrichtigen Mann handelt. Objektiv zu bleiben ist bekanntermaßen schwierig, aber Stellers aufrichtige Worte zeugen von seinem Rückgrat. Er erscheint so ehrlich, wie es für einen Menschen in seiner Situation überhaupt möglich ist.

Am besten zeigt sich dies in seiner Einstellung zu Bering, denn in seinem Tagebuch zeichnet er den Kapitänkommandeur keineswegs als eindimensionale Gestalt wie etwa die untergeordneten Offiziere Sven Waxell und Sofron Hitrovo. Besonderes über letzteren hat er jedoch nichts Gutes zu berichten. Waxell wird von Steller dagegen eher indirekt kritisiert, wenn er vage von »den Offizieren« spricht und ihn so mit Hitrovo in einen Topf wirft. Waxell ist eine der bedeutendsten Personen dieser Expedition, da er unter dem erkrankten Bering das Steuer übernahm und nach dessen Tod schließlich auch das Kommando. Von Bering schien Steller viel gehalten zu haben. Er sah in ihm einen rechtschaffenen, guten Mann, der sich die Meinungen anderer anhört und diese in seine Entscheidungen einbezieht. Andererseits kann man ihm das auch als Schwäche auslegen. Bering hat zu viel auf andere und deren Meinungen gehört – vor allem aber auf die falschen Leute gesetzt. Deshalb funktionierte schließlich an Bord des Schiffes nichts mehr. Der Kapitänkommandeur war insofern weder Kapitän noch Kommandeur. Tatsächlich steckt in dieser Kritik viel Wahres. Ein zentrales Problem stellten die Regeln dar, an die die russische Flotte gebunden war und die dem Offizierskorps außerordentlich viel Macht gaben: sollte jemand gegen den Kapitän aufstehen und sein Verhalten kritisieren, drohte der Verlust des Dienstgrades und Einkommens. Diese ungewöhnliche Praxis war von der Admiralität wahrscheinlich festgelegt worden, um die Entscheidungsgewalt der Russen selbst sicherzustellen – um Kapitäne, die aus dem Ausland für die Flotte rekrutiert wurden, unter Kontrolle zu behalten.