Gerade noch davongekommen - Reinhard Rosenke - E-Book

Gerade noch davongekommen E-Book

Reinhard Rosenke

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Beschreibung

Das Buch mit vielen Bildern gibt einen Querschnitt durch die Tätigkeit eines Grundschullehrers, der viel Freiheit bei der Gestaltung des Unterrichts hatte und sie ohne Ängstlichkeit auch auf Schullandheimfahrten und an Wandertagen weidlich ausnutzte.

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Inhalt

Prolog

Abschied von der Schule

Wie ich wurde, der ich bin

Kurze Familiengeschichte

Mein Leben als Schüler

Flucht nach W-Berlin

Student an der PH

Im Beruf

Meine erste Klasse

Die Backpfeife

Die zweite Klasse

Treffen mit "Ehemaligen"

Ich komme unter die Haube

Drei Hobbys

Laufen

Segeln

Russisch

Die Dichterin Vera Lourie

Aus dem Schulalltag

Geschichte und Geschichten

Der Leidensweg der Juden

Deutsche Gegenwart

Naturkunde

Schwierige Schüler

Studentenpraktikum

Der Musentempel

Musik

Bildnerisches Gestalten

Theateraufführungen

Wir gehen ins Theater

Wandertag

Wiedervereinigung Deutschlands

Schulfeste

80-Jahr-Feier

Sommerfest

Fasching

Konferenzen

Ausflüge mit Kollegen

Radtour mit Jochen Sahm

Kuschkow

Mit dem Rad in den Spreewald

Eine lehrreiche Geschichte

Einige Schullandheim-Fahrten

Wannsee

Langeleben im Elm

Warmensteinach

Schullandheim Polstermühle

Zwiesel im Winter

Wieda im Harz

Gößweinstein

Amrum

Föhr

Bandscheibenvorfall

Hochzeiten ehemaliger Schüler

Leserbriefe

Der letzte Akt

Danach

Epilog

Dieses Buch ist ein Gemeinschaftswerk von Reinhard Rosenke: Inhalt und Eberhard Rosenke: Form (Technik)

Prolog

Der Weg in meinen Keller ist kurz, die Zeit meines Zurückkommens jedoch unbestimmt. Denn dieser Keller birgt Schätze. Für die meisten Leute wären sie Material für die Papiertonne, für mich sind sie Erinnerungsstücke meiner fast 40jährigen Lehrerzeit. Fotos, Briefe, amtliche Schriftstücke, Zeitungsausschnitte und Bücher fordern meine Neugier heraus. Ich greife in die Truhe und schon versinke ich in Erinnerungen...

Plötzlich dringen die grellen Warntöne des Rauchmelders in meine Ohren: "Verdammt - ich muß 'rauf, meine Pellkartoffeln!" Von ihnen blieben nur stinkende Kohlestücke...

Abschied von der Schule

Der Abschied von der Schule war ein einschneidender Moment in meinem Leben. Einerseits in dem Sinne: „Kinder, wie die Zeit vergeht!”, andererseits in dem Sinne: Wie kam es zu all dem?

Aus einem plötzlichen Einfall heraus hatte mich mein Bruder mit den Worten geködert: „Wäre nicht schlecht, aus deinem Stoff von 40 Jahren Lehrertätigkeit ein Buch zu machen." Ich sagte: „Anders kann man das Chaos abgelegter Dokumente nicht in den Griff bekommen." Mein Bruder war einverstanden, all die Zettel, Bilder, Dokumente zu einem Buch zusammenzufassen.

Entscheidend ist dabei mein überaus positiver Rückblick auf mein berufliches Wirken. Kein Blick zurück in Zorn! Eher ein nostalgischer Abgesang auf „Schule", wie sie nicht mehr sein wird.

Giselas Geburtstag

Von diesen Zeilen hat Gisela nie etwas erfahren

So ist denn dieses Jahr vergangen,

unbeschwert der Start.

Doch etwas später schlimm gehangen.

Es war - verdammt - sehr hart

was mit Giselchen geschah.

Dabei - es sah

der Sommer nach Sonne

und Blumen aus.

Mit meiner Klasse

fuhr ich raus

nach Kuschkow, Spreewald,

wo die Störche noch mit Wonne

klapperten zum Morgenschlaf

zwischen Pferd und Schaf.

War's mein Meisterstück?

Und dann - zurück -

winkte Urlaub im „Jammertal",

im Münsterland.

Dort schwamm ich mir

die Wirbel heil

mit Kilometern ohne Zahl,

bis Wirbel fest an Wirbel stand

und ich beim Lauf

'nen flotten Rhythmus fand.

Wir aßen üppig und gepflegt

und haben radelnd

unsre Kondition geprägt.

Zurück - Berlin - Sonnenfinsternis.

Du ahntest es

und es zerriss

das Urlaubswohlgefühl.

Mein kleines Mädchen,

wir verloren nicht den Mut,

nicht die Balance

und hofften auf die kleinste Chance

Wir flohen weg, nach Mecklenburg

und mussten doch Dein Krankenbett

beziehn.

Stock 18, Charite

Wir irrten täglich durch die Mitte.

Und nachts, da gab's nur eine Bitte.

Doch Ärzte und Skalpell

bestimmten dann

den schlimmsten Tag

des Lebens.

13. Dezember 1999

Gisela (1940-2006)

Auf dem Rangsdorfer See

Abschiedsworte

Ex-Chef Joachim Sahm:

Bleibt mir nur noch, dir einige der Dinge aufzuzählen, die für mich untrennbar mit dir und meiner Zeit an der Matthias-Claudius-Grundschule verbunden sind:

Die Gestaltung vieler Einschulungsfeiern mit deinem Chor und deiner Gitarrengruppe, deine Vorträge zur Gitarre („Omsk") und Gitarrenbegleitung unseres „Kollegiumschores" zu unseren Kollegiumsfeiern und Kollegiumsfahrten, deine Aufführungen mit den Schülern deiner Klasse für die Eltern und als Höhepunkte (heute: „Highlights") die Gestaltung zweier Schulfeste, deine Aufführungen zur 50-Jahr-Feier unserer Schule und zum 250. Geburtstag von Matthias Claudius.

Für mich unvergessen eine Unternehmung ganz persönlicher Art mit dir: Ein Treffen bei aufgehender Sonne über nebligen Großziethener Feldern mit einer Radtour über 140 km weit ins Brandenburger Land bis nach Baruth, Halbe, Teupitz, Motzen bei herrlichstem Sommerwetter. Beide froh, nicht lange nach der Wende, über unverhofft wiedergewonnene Freiheit und die Möglichkeit, die herrliche Brandenburger Landschaft auf diese Weise erkunden zu können. Die Hoffnung, das noch einmal mit dir wiederholen zu können, wie wir uns vorgenommen hatten, habe ich noch nicht aufgegeben. Schaffen wir es als Pensionäre?!

Herzlichen Dank für die vielen Jahre gemeinsamer Arbeit - ich wünsche dir ganz, ganz viele schöne Pensionärsjahre dein alter Kollege und Ex-Chef

Der Vize-Chef:

Neben dem Dienst bleiben noch andere Dinge hängen. Irgendwann trafen wir uns an einem Sonntag morgens um 6.00 Uhr in Teltow und radelten so ein wenig (130 km) durch die Landschaften des Flämings. Nie zuvor war ich jemals so lange gebiket, aber zusammen war das kein Problem; Deine Tourenplanung war perfekt, auch ein Plattfuß brachte uns nicht aus dem Gleichgewicht...

Irgendwann stand wieder ein Studientag an. Beschlossen wurde ein Ausflug an den Schwielow-See. Nichts leichter als das, dachten wir uns, das ist eine gute Radentfernung... Nach der Radtour: platsch in den See und sich einfach nur noch wohl fühlen, das war wie ein Hauptgewinn im Leben. An einem anderem Studientag sind wir beide erstmalig zusammen gelaufen...

Marathon-Sonntag. Du hast wie immer teilgenommen... Dich sehen, ein spontaner Schrei „Rooseenkee" war alles eins. Am nächsten Tag hast du mir erzählt, dass Du Dich gefreut hast und es erstmaL nicht so glauben konntest, Deinen Namen gehört zu haben, zumal ja Zehntausende anderer Läufer auch noch unterwegs waren.

Gern denke ich an unsere gemeinsamen Läufe in Lichtenrade zurück... Die Läufe waren sehr harmonisch, hinterher hast Du mich immer kulinarisch verwöhnt. Danke. Machs gut.

Berlin-Rudow im März 2002

Angelika Aderhold

Von ihr übernahm ich mehrere Klassen, die ich dann von Klasse 4 bis 6 führte.

Natürlich freute ich mich, als du auch einige meiner Klassen übernahmst – zur großen Begeisterung der Kinder und Eltern. Immer wieder bewunderte ich deine Geduld, Ausdauer, Phantasie und deinen Einsatz, die nötig waren, um mit diesen unruhigen, verquatschten Geistern regelmäßig gelungene Theateraufführungen auf die Beine zu stellen.

Kaum vorstellbar, was vor vielen, vielen Jahren eine Mutter veranlaßte, während deines Unterrichts in den Klassenraum zu stürmen und dir eine Ohrfeige zu verabreichen. Auch in dieser Hinsicht bist du wohl eine Ausnahmeerscheinung, denn bestimmt ist das bisher noch keinem aus unserem Kreis widerfahren.

Fünfmal ging ich mit dir auf Klassenfahrt: Gößweinstein, Wieda, Wusterwitz, Amrum und Föhr waren die Ziele. Zur sechsten Reise – es sollte noch einmal nach Amrum gehen und für dich die letzte deiner Schullaufbahn werden – kam es leider nicht mehr... (weiteres im Kapitel „Klassenfahrten”)

Auf unseren Fahrten erzähltest du mit großer Begeisterung von deinen vielen, teils sehr abenteuerlichen Reisen, deiner Liebe zur märkischen Landschaft, der Leidenschaft fürs Joggen, Radfahren und Lesen, deinem großen Interesse für die russische Sprache, von deiner Kindheit und Jugendzeit und dem glücklichen Leben mit Gisela.

Nachdem du dein fast 40 Jahre währendes Lehrerdasein nun beendet hast, wünsche ich die für den beginnenden Lebensabschnitt alles erdenklich Gute. Ich hoffe, du behältst dein Kollegium in guter Erinnerung und hegst keine solchen aggressiven Gefühle, wenn du an uns denkst.

Deine ehemalige Kollegin

Christian + Christine

Wir vier Kollegen verbrachten öfter ein Wander- und Skatwochenende in Bayern

Von meinem Kollegen Nitschke:

REINHARD

LEHRER

SINGEN

ABENTEUER

HEITERKEIT

GITARRE

RADFAHREN

DICHTEN

REISEN

ROSENKE

SCHWIMMEN

LAUFEN

MARATHON

"KLASSE" (N)FAHRTEN

LEBENSFREUDE; -MUT; -LUST

Karin, Günter und ich waren ein ideales Team im Schullandheim: immer auf "zack", einfallsreich, gut gelaunt. Leider hat Frieder die Karin nach Schwaben verschleppt.

Ist immer da, stets offnes Ohr, hat üppig Zeit, ist nie in Eile, ist felsenfest, ein starkes Fort, verpönt das Wort der Langeweile.

Es gab da noch 'ne andre Seite, im Schullandheim hat man viel Spaß, die "Dreierbande" wär noch heute für viele immer bestes Maß.

Kurzum, ein Mann mit viel Talent! Ich hoff', ihn weiter oft zu sehn, und jeder, der ihn besser kennt, kann diesen Wunsch wohl gut verstehn.

Das Geschenk der Kollegen

Das schönste Geschenk meiner Kollegen war ein dicker Ordner mit Texten und selbstgestalteten Seiten, auf denen sie ihre persönlichen Erinnerungen an mich – wir duzten uns alle – beschrieben. Das berührte mich bei all den positiven Bildern z.T. richtig peinlich, denn sicher hätte es auch die eine oder andere unfreundliche Situationsbeschreibung geben können...

Mein Geschenk an die Kollegen war eine Collage (Wellness pur – ganz entspannt), für die ich ausgeschnittene Kollegenköpfe von Fotos auf fremde Körper gepflanzt habe.

Collage

Abschiedsmusik für mich

Kollegen singen für mich

Susanne, die Beste aus dem Gitarren-Kursus, musiziert für mich Sie wurde inspiriert und studierte später Musik

Meine letzte (vierte) Klasse singt für mich

Das Kollegium

Das Kollegium 1969

1999: Vom 1969er-Kollegium sind nur drei übrig

Unter den Kollegen meiner letzten 10 Jahre gab es viele kreative, rührige Geister, die das Bild der Schule prägten. Entscheidend: die kameradschaftliche Mitarbeit der Schulleitung. Der Zusammenhalt unter uns Lehrern vertiefte sich nach dem Mauerfall im November 1989 durch Wochenendfahrten zu schönen Zielen wie z.B. in den Spreewald.

Kreative Kollegen

Schüler meiner 4. Klasse verabschieden mich

Ich war gerne Lehrer

Erinnerungen von Reinhard Rosenke1

Noch als Student der Pädagogischen Hochschule tauchte ich 1962 als 22jähriger mal für kurze Zeit hospitierend und unterrichtend an der Matthias- Claudius-Grundschule auf. Innerlich sang ich das berühmte „Lied vom Dorfschulmeisterlein", denn Rudow erschien mir damals wie ein richtiges Dorf. Rektor Schülke warf sogleich sein Lasso nach mir aus, und nach der Prüfung gab's kein Entkommen. Nun war ich das jüngste Mitglied der kleinen Lehrerschar. Und dabei wollte ich mir doch erst den Wind der weiten Welt um die Nase wehen lassen... zum Lehrersein wäre noch Zeit genug gewesen. Mit den Studienfächern Geschichte und Russisch schwebte mir eigentlich nicht die Arbeit mit dem kleinen Grundschulgemüse vor. Jedoch wurde mir schnell der Glücksfall bewusst, unter einem Chef zu arbeiten, dessen Ausstrahlung auf Autorität, Lebenserfahrung und pädagogischem Geschick beruhte.

Mein Einstand als Klassenhäuptling wurde eine harte Nuss. Warum? Meine neu gebildete fünfte Klasse war ein Auffangbecken für Schüler aus fünf Parallelklassen, die aus allen Nähten platzten. Im Nu hatte ich 35 Kinder, die freiwillig diesen Schritt in einen neuen Klassenverband getan hatten. Ein schönes Sammelsurium kam dabei zusammen, halt Kinder, die keine Bindung zur alten Klasse verspürten. Außerdem arme Würstchen aus einer Obdachlosensiedlung und aus einem Jungenwohnheim, „reifere" Mädchen mit Lockenwicklern im Haar neben kleinen, zarten Blümelein, die brav und fleißig alles für ihren jungen Lehrer taten. Vier Jahre Altersunterschied mussten unter einen Hut gebracht werden. Von Seiten der Eltern bekam ich ausdrücklich ,freie Hand", sogar für eine Ohrfeige. Allmählich wurde der wilde Haufen zahm, wir sangen viel (zur Gitarre), führten den Eltern, Großeltern und Verwandten Theaterstücke vor, unternahmen zwei Radtouren an den Grunewaldsee (und mit was für „Mühlen"...). Welch lehrreiche Zeit für mich!

Nach der feierlichen Verabschiedung der sechsten Klasse folgte für mich im neuen Schuljahr eine vielleicht noch größere Bewährungsprobe: Ich bekam eine erste Klasse. Die behielt ich sechs Jahre, und mit ihr wurde ich wohl zu einem echten, überzeugten Grundschullehrer. Übrigens hatte ich von denen vor einigen Tagen zwanzig Exemplare zu einem Klassentreffen bei mir zu Hause. Sie sind jetzt um die 55 Jahre, mit allem, was dazu gehört. Natürlich duzen wir uns längst, sind Freunde und vertreiben uns die Zeit bei lustigem Schulgeschichten, alten Dias, mit donnerndem Gesang und bei einem zusammengewürfelten „kalten Buffet". Dabei amüsiert sich der alte Dorfschullehrer köstlich, wenn er die früheren Eigenarten seiner Schützlinge auch heute noch an ihnen wiederentdeckt.

Erinnerungen sind dazu da, hervorzuheben, was damals anders war, als heute. Ja, schon der Blick aus meinen Klassenfenstern, hinweg über die Köpenicker Straße, hatte etwas Besonderes: eine Ackerfläche bis zum Horizont! Ein späteres Klassenzimmer bot mir das Vergnügen, auf einen Bauernhof zu schauen, unsere Nachbarn (die Seite mit dem Autoparkplatz). Sie züchteten Schweine. So war für Landluft immer gesorgt, manchmal zu viel des Guten - wir mussten die Fenster schließen. Höhepunkt war ein schulfreier Tag aus diesem Grunde.

Unsere Schulmöbel bestanden aus gutem Holz und stammten aus der Gründungszeit unserer Schule. Auf den Tischplatten befanden sich noch die Löcher für die Tintenfässer und so manche interessante Einritzung früherer Schülergenerationen. Eines Tages, nach der Klassenrenovierung durch die Eltern, beschlossen wir, unsere Tische und Stühle mit Lack zu überpinseln. Was für ein erfrischender Anblick von gelben, blauen und roten Möbeln! Der riesige Klassenschrank verwandelte sich in einen „altdeutschen" Bauernschrank.

Obwohl jeder freie Quadratmeter des Klassenraumes wichtig war (die Schülerzahl schwankte zwischen 30 und 40), verteidigte ich über ein Jahrzehnt hinweg den Freiraum für ein 140- Liter-Aquarium und üppige Topfpflanzenvegetation drum herum. An tollen Schülern, die sich um das Gedeihen des Lebens kümmerten, mangelte es nie. Erst, als immer wieder Eindringlinge nachmittags Fische und Wasserpflanzen raubten, kapitulierten wir. Neben den Klassenfesten, die bis zu meinem letzten Lehrerjahr jährlich stattfanden, lange Abende mit Theaterspiel, Sketchen, Tänzen, Liedern, Vorspielen meiner Gitarrengruppen und den großartigen Buffets, die die Eltern im Flur aufgestellt hatten, bleibt wohl allen Schülern, auch meiner Klassen, das Erlebnis der Klassenfahrten dauerhaft in Erinnerung. Solange West-Berlin eine politische Insel inmitten der DDR war - und noch für einige Zeit danach - umfasste eine Fahrt 15 Tage. In der Bundesrepublik standen den Berlinern etliche Schullandheime zu. Die Preise waren erschwinglich und selbstverständlich kam jedes Kind mit auf die Reise.

Zwei Wochen weg „von Muttern" war für manches Kind keine leichte Sache. Kontakt zur Heimat gab es nur auf dem Postweg. Im herrlichen Buchenwald des Elm suchten und fanden wir im Kalksteinbruch Fossilien, im Harz gehörten wir nach der Wende zu den ersten Besteigern des Brocken, in Franken fanden wir im Ausgrabungsschutt von Höhlenforschern die Zähne von Höhlenbären, im 0berpfälzer Wald hatten wir ein Haus für uns, bekamen täglich frische Milch vom Bauern und mussten selbst für alles sorgen. Eine Mutter und Frau (Vorschul-)Engel kochten, die Mädchen backten Kuchen und die Jungen lernten die andere Art von Hausarbeit kennen. In Bayern verwöhnte uns die Herbergsmutter mit selbstgebackenen Torten. An der Weser war der „Rattenfänger von Hameln" nicht fern, und auf den Nordseeinseln Amrum und Föhr gelang uns eine spannende Wattwanderung von einer zur anderen Insel. Mehrmals war ich mit Schülern am Plöner See (Schleswig-Holstein).

1 Für eine Festzeitung wurde ich um diese Erinnerungen an meine ersten Lehrerjahre gebeten.

Wie ich wurde, der ich bin

Kurze Familiengeschichte

Mein Großvater Bruno Rosenke väterlicherseits war ein Bauernsohn aus Mogilno (ehemals Westpreußen). Er wurde Postbeamter in Bromberg. Vorher war er Landbriefträger. Er erzählte, daß er im Winter, wenn er mit dem Schlitten unterwegs war, vom Heulen der Wolfsrudel beunruhigt wurde. Der Großvater mütterlicherseits, Otto Dumke, stammte aus Margonin, ebenfalls im ehemaligen Westpreußen gelegen. Er wurde ebenfalls Postbeamter.

Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg wurde Westpreußen polnisch. Beide Familien gingen als Migranten nach Berlin. Im Bezirk Köpenick begannen sie ein neues Leben in der Großstadt.

Bruno Rosenke, Briefträger in Bromberg 1913

Im Zuge der deutschen Jugendbewegung gründeten auch westpreußische Jugendliche 1920 in Köpenick einen Jugendverein: den „Deutschen Jugendbundes Ostmark”, einer seiner Gründer war der Bruder meiner Mutter, Artur Dumke. Mein Vater Walter, obwohl kein Vereinsmensch, trat ihm nach einiger Zeit ebenfalls bei. Das gemeinschaftliche Wandern, Singen und Tanzen gefiel ihm. Der „Bund” wurde nach vielen Querelen 1926 aufgelöst, doch es blieb ein „Fähnlein der sieben Aufrechten” übrig, das sich auch weiterhin traf. Man sang, unternahm Ausflüge und wanderte.

Die Super-Inflation Anfang der 20er Jahre vernichtete das Geld der Eltern, so daß mein Vater nicht studieren konnte, wie er es vorgehabt hatte. Das Wandern war für ihn ein Gegengewicht zur Schlips-und-Kragen-Gesellschaft und ein Ausgleich zum Beruf.!934 heiratete er Elisabeth, die Schwester Arturs. Seine Wander- und Naturliebe übertrug sich auf seine Söhne.

Sorenbohm

Dann brach der Zweite Weltkrieg aus. Walter mußte Soldat werden, der Rest der Familie wurde wegen der Bombenangriffe auf Berlin in das Ostseebad Sorenbohm evakuiert - zusammen mit zwei befreundeten Ehefrauen und deren Kinder. Sie wohnten anfangs im dortigen Gasthaus, in dem auch der berühmte Schauspieler Heinrich George Urlaub machte. Auf seinen Knien vergnügte sich Reinhard mit Hoppe-hoppe-Reiter. während Eberhard den vorbereiteten Pudding für die Urlaubsgäste heimlich mit Salz bestreute. Dann zog Lis mit den Kindern ins Pfarrhaus um, wo ein Gänserich Angst und Schrecken verbreitete. Mindestens einmal kam Walter zu Besuch (Heimaturlaub). Eberhard ging in die Einraum-Dorfschule, hinter dem Pult des Lehrers blickt ihn streng ein Hitler-Bild an. Einmal wurde am Ostseestrand eine Leiche angeschwemmt.

Aquarell: Die Köpenicker Altstadt

In der Sterntalerstraße

Lis spielte mit den Bauern im Gasthaus Skat. Als der Kanonendonner der Ostfront näher rückte, half ihr das: ein „Skatbruder” stellte Pferd und Wagen zur Verfügung, der Lis, ihre Freundinnen und die Kinder im Februar 1945 zu einem Güterbahnhof brachte. Sie bestiegen dort einen offenen Güterwaggon – einziges Gepäck: ein Topf voller Schmalz -, der sie in die Hafenstadt Kolberg brachte, das gerade von der Roten Armee eingekesselt wurde. Im Hafen lag ein großes Passagierschiff, am Ufer warteten verwundete Soldaten, Parteifunktionäre sowie Frauen und Kinder. In dieser Reihenfolge ging man auch an Bord. Unterwegs (bei Nebel) gab es Minen-Alarm, aber das Schiff gelangte unbeschadet nach Swinemünde.

Von dort ging die Reise nach Lehrte bei Hannover, wo Lis bei einem Tischlermeister einquartiert wurde. Eberhard ging in dort in die Grundschule.

Sie erlebten den Einmarsch der Amerikaner. Artur tauchte aus einem englischen Kriegsgefangenenlager auf und nahm seinen alten Beruf als Grundschullehrer in dem Dorf Haimar bei Hannover wieder auf. Walter, der in Weißrußland für die Wehrmacht Dolmetscherdienste für Russisch ausübte, hatte das Glück, einen Oberarm-Durchschuß zu erleiden. Denn nach seinem Krankenhausaufenthalt wurde er an die West-Front versetzt, wo ihn die Amerikaner gefangen nahmen und in ein Kriegsgefangenenlager bei Bad Aibling verfrachteten.

Aus Walters Tagebuch im Kriegsgefangenenlager

20. Mai 1946, Pfingsten

Heute ist der Geburtstag meines Eberhard: Neun Jahre vollendest Du heute, mein lieber Junge. Fünf von diesen Jahren bist Du ohne Deinen Vater aufgewachsen, hast ihn jährlich nur einmal für drei Wochen gesehen. Du wirst das nicht so schmerzlich empfunden haben wie ich, Du bist ein Kind und hast noch Deine Mutter. Der Krieg ist zuende, ich habe, Gott sei Dank, mein Leben und meine gesunden Glieder behalten. Wann ich zu Dir zurückkommen werde? Ich weiß es nicht, aber einmal wird dieser schöne Tag kommen. Und dann werden wir uns nicht mehr trennen. Wir werden spielen und spazierengehen und tun, was uns Spaß macht. Und wir wollen alles tun, damit nie wieder ein Krieg kommt und das Glück und Leben so vieler Menschen sinnlos zerstört. Wo magst Du jetzt sein, mein Eberhard? Ich weiß es nicht, doch hoffe. ich, daß Du und Mutti und Reinchen gesund seid.

Evakuiert in Sorenbohm

Evakuiert (1942-1945) im Ostseebad Sorenbohm (Hinterpommern)

Am Ostseestrand:: Reinhard, Birgitta Brüning, Ulli Brüning, Eberhard (von rechts)

Kriegsweihnachten in Köpenick (1940)

Kriegsurlaub in Sorenbohm (1943?)

Sorenbohm heute

Familienbilder

Hungerzeit (1946): Reinhard, Lis, Eberhard

Reinhard, Walter, Lis, Eberhard (1953)

Federballspiel am Störitzsee

Reinhard angelt am Störitzsee

Schnipp

Hinein!!!

Berlin Köpenick (1949): Klasse 5. Die Klassenlehrerin bekam TBC und steckte viele Mitschüler an (auch mich)

Buchprämie

Der Blick vom Balkon

Konfirmation

Der Konfirmand (1954)

Konfirmand Reinhard und Festgesellschaft

Nachkriegszeit

Nach seiner Entlassung nach Berlin fand Walter die Wohnung in der Köpenicker Sterntalerstraße halb ausgeraubt und durch ein Loch in der Decke durchfeuchtet vor. Dank seiner russischen Sprachkenntnisse bekam er Arbeit beim sowjetischen Tourismus-Unternehmen „Intourist”. Von dort bereitete er die Familienzusammenführung vor. Meine Mutter und und wir Söhne überquerten unter der Führung von Artur bei Ellrich im Harz die „grüne Grenze”, auch „Zonengrenze” oder - später - „antifaschistischer Schutzwall” genannt. Reinhard wurde in der Köpenicker Schule am Wongrowitzer Steig eingeschult. Es folgten karge Jahre.

Wir wohnten nahe am Köpenicker Forst. Fast täglich streifte ich mit unserem Drahtfox Schnipp, den mir 1951 eine Frau als Welpen geschenkt hatte, im Wald umher, immer gab es etwas zu entdecken und zu beobachten. Die enge Begegnung mit der Natur formte mein Bewusstsein, machte mich zum „Waldläufer”. Mit der Ziegenherde meines Freundes verbrachten wir viele Stunden im Wald, stählten unsere Körper beim Erklettern majestätischer Eichen und erschlossen uns Phänomene der Natur. Die Ziegenmilch half mir in den Nachkriegsjahren auch bei der Überwindung einer Hilusdrüsen-TBC.

Stille Gewässer, mit dem Fahrrad erreichbar, weckten meine Angelleidenschaft. Ein Favorit war der Störitzsee. Aquarien und Terrarien wurden mit erbeuteten Kleinlebewesen besetzt. Ein Erdhüttenlager russischer Soldaten mitten im Wald zog mich und meine Freunde magisch an, es kam zu flüchtigen, freundlichen Kontakten. Oft hörten wir abends im Bett ihre Soldatenlieder.

Sonntags fuhr die Familie immer ins Grüne, mit S-Bahn und Dampflock bis Fangschleuse. Oft schlossen sich befreundete Familien an. Am Störitzsee, ab und zu auch am Peetzsee, lagerte man den ganzen Tag, badete und spielte Federball. Zu essen gab es gekochte Eier mit Kartoffelsalat oder Grießbrei. Auch Tagestouren zu den Stahlbergen, den Gosener Bergen, nach Hangelsberg oder in die Straußberger Gegend wurden abgewandert, treibende Kraft war Walter. Er war auch der Pfadfinder. Manchmal wurden bis zu zwanzig Teilnehmer gezählt. Mindestens einmal im Jahr machten wir eine Dampferfahrt: Von Köpenick spreeaufwärts durch den Müggelsee, vorbei an Hessenwinkel, durch den Dämeritzsee, die Löcknitz aufwärts bis nach Fangschleuse. Oder noch weiter durch den Werlsee in den Peetzsee, mit der Endstation Alt-Buchhorst. Eine ganztägige Fahrt ging von Köpenick nach Prieros an der Dahme, wo die Passagiere zwei, drei Stunden Zeit hatten, essen zu gehen oder sich die Beine zu vertreten. Walter strebte stets zum Hölzernen See mit seinem schönen Eichenwald.

Mein Leben als Schüler

In der Grundschule erlebte ich noch die eine oder andere Ohrfeige. An unseren Schulmappen hingen täglich die Kochgeschirre für die Schulspeisung, für die sich die Kinder in der Großen Pause in langen Schlangen anstellten. Mein junger Klassenlehrer mit einer knarrenden Beinprothese schärfte uns unermüdlich seine Abscheu gegen den Krieg ein: „Nie wieder fasse ich eine Waffe an!”

Bald darauf trug er das FDJ-Blauhemd und revidierte seine Einstellung gegenüber den Waffen. Innerhalb kurzer Zeit trugen zwölf Mitschüler das blaue Pioniertuch um den Hals, was sich auf den Schulalltag nicht auswirkte, aber höchstwahrscheinlich von den Eltern dieser Kinder mit Hintergedanken zum späteren Oberschul-Übergang verbunden war. Dank meiner physischen Stärke und meines Harmoniebedürfnisses war ich beliebt und wurde mehrmals zum Klassensprecher gewählt. Am Ende der Klasse 8 erhielt ich von meiner Klassenlehrerin eine offizielle Belohnung: das Buch „Wunderwelt der Steine” mit einer Widmung von ihr.

Wir waren nun DDR-Bürger. Es bereitete uns große Freude, als das ZK der Kommunistischen Partei und des Ministerrats der UdSSR und des Präsidiums der Welt den Tod Stalins am 7. März 1953 verkündete:

Ärztliches Gutachten: In der Nacht zum 2. März erlitt J. W. Stalin einen Schlaganfall (Blutung.in der linken Gehirnhälfte) auf der Grundlage einer Hypertonie und Arteriosklerose. Infolgedessen kamt es zu einer rechtsseitigen Lähmung und zu einem 'anhaltenden Verlust des Bewußtseins. Schon am. ersten Tag der Krankheit wurden Anzeichen der Störung der Atemtätigkeit infolge Störung der Funktionen der Nervenzentren festgestellt. Diese Veränderungen nah-men von Tag zu Tag zu; sie trugen den Charakter der sogenannten periodischen Atmung mit längeren Pausen. In der Nacht zum 8. März, nahmen die Störungen der Atemtätigkeit zeitweise einen bedrohlichen Charakter an. Ferner wurden seit Beginn der Erkrankung wesentliche Veränderungen des Herzgefäßsystems, und zwar hoher Blutdruck, Beschleunigung und Störung des Pulsrhythmus (Flimmerarhythmie) und Herzerweiterung, festgestellt...

Aus meinem Zeitungsarchiv

Zeitungsmeldung aus Moskau (ADN): Der Tod des Genossen Stalin, der sein ganzes Leben selbstlos In den Dienst der großen Sache des Kommunismus gestellt hat, ist ein außerordentlich schwerer Verlust für die Partei, die Werktätigen des Sowjetlandes und der ganzen Welt. Die Nachricht vom Hinscheiden des Genossen Stalin wird in den Herzen der Arbeiter, der Kolchosbauern, der Intelligenz und aller Werktätigen unserer Heimat, in den Herzen aller Kämpfer unserer ruhmreichen Armee und Kriegsmarine, in den Herzen der Millionen Werktätigen aller Länder der Welt tiefen Schmerz auslösen. In diesen Tagen der Trauer schließt sich die große brüderliche Familie ...

Der DDR-Dichter Kuba alias Kurt Walter Barthel (1914-67) schrieb:

5. März 1953, 21.50 Uhr

Gesiegt!

Und alles, alles, alles ist vollbracht.

Er ruht!

Die Millionen sind die Seinen.

Sein Lächeln leuchtet uns auch diese Nacht.

Er hat uns arme Leute reich gemacht.

Wir aber weinen...

Der 17. Juni 1953

Aus meinem Zeitungsarchiv (über den 17. Juni 1953)

Mein persönliches Erlebnis: Meine Schule am Köpenicker Wongrowitzer Steig hatte Anita und mich (wir waren Vertrauensschüler unserer 7. Klassen) wenige Tage nach dem Aufstand mit einem Blumenstrauß nach Friedrichshagen geschickt, wo unsere Klassenlehrerin in der Christophorus-Kirche getraut wurde. Der Kirchenvorplatz war gespenstig leer. Nur Armeefahrzeuge standen zum Eingreifen bereit. Unsere Lehrerin kam allein heraus, denn mehr als drei Personen durften nicht zusammen stehen. Sie bedankte sich lächelnd, war aber wohl sehr traurig.

Die Regierung der DDR senkte die Löhne und erhöhte die Arbeitsnormen. Die Folge: Arbeitsniederlegungen, dann ein Protestmarsch Ostberliner Bauarbeiter, dann eine Demonstration von mehr als 10.000 Menschen, dann ein Aufstand gegen das Regime, der blutig von sowjetischen Truppen und der ”Volkspolizei” niedergeschlagen wurde. Nach dem Arbeiter-Aufstand bemerkten wir, daß Mitmenschen von heute auf morgen ihr Parteiabzeichen verbargen. Ich triumphierte und lächelte solche Leute besonders freundlich an.

Oberschule

Ich wurde 1954 in eine 9. Klasse der Gerhart-Hauptmann-Schule (GHS) aufgenommen. 1956 kam unserer Familie ein Exemplar des STERN in die Hände. Eine ganze Seite trug die Überschrift "Rote Taufe bei Marschmusik". Unser Erstaunen war groß, als wir in dem "Tauf-Vater" meinen Mathelehrer und in dem Spitzbart dahinter unseren Schulrektor erkannten, der uns in "Gegenwartskunde" (d.h. Staatsbürgerkunde) unterrichtete.

Ich fühlte mich wohl, wir hatten eine gute Klassengemeinschaft. Der Einzugsbereich der Schule war sehr groß, die meisten Mitschüler kamen aus Friedrichshagen, Rahnsdorf, Wilhelmshagen und Hessenwinkel. So gab es wenig Möglichkeiten, sich nachmittags zu treffen. Bei gutem Wetter fuhren wir nach der Schule mit dem Fahrrad zum Müggelsee. Im März war „Anbaden” angesagt. Kälte schreckte uns auch später nicht ab.

Ab Klasse 10 hatte sich der Lehrkörper zu 80% verändert. Die für mich „guten” Lehrer waren gen Westen abgewandert. Walter Ulbricht regierte stalinistisch und mit harter Hand. Mein Vater arbeitete seit 1956 in West-Berlin, mein Bruder war nach dem Abi an der GHS Student an der Freien Universität geworden. So wurde ich zum „gebrannten Kind” und bekam das zu spüren.

Entsprechend dem Leben in einer Diktatur spielte in Familiengesprächen und im Umgang mit meinen Freunden Politik immer eine Rolle. Denunzianten gab es in jeder Klasse, man musste achtgeben, was man sagte. Der Ungarnaufstand von 1956 wie später auch der Mauerbau und die Besetzung der Tschechoslowakei durch ihre „Bruderländer” bestätigten uns in unserer Abneigung gegenüber dem Kommunismus.

Rückblick auf meine Oberschul-Zeit in Friedrichshagen

21. Juni 2008

Meine lieben Klassenkameraden

Leider bin ich zu unserem kleinen historischen Ereignis nicht unter Euch. Es hat sich, denke ich, sicher schon herumgesprochen, warum: Ich bin zurzeit auf einer Radeltour unterwegs und befinde mich am heutigen 21. Juni vielleicht gerade in den Ausläufern des Ural. Auf alle Fälle werde ich abends, wenn ich meinen müden Körper am Feuer ausstrecke, ein gehöriges Wässerchen auf unser aller Wohl trinken, wobei ich - wie ganz sicher auch Ihr - meine Gedanken in die Vergangenheit schweifen lassen werde. So passt es wohl auch, wenn ich mit diesem Brief einen persönlichen Eindruck von meiner Gerhard-Hauptmann-Oberschulzeit für Euch hinterlasse. Ehrlich gesagt, jedes unserer bisherigen Treffen hat mich nicht nur mit eitel Freude und nostalgischer Wehmut erfüllt. Ihr wisst, ich habe meine Schulzeit ohne Abschluss, also als „Durchgefallener” beendet. Vielleicht war ich ja auch tatsächlich der Faulste, Naivste und Unintelligenteste unter uns und fiel sozusagen der „natürlichen Auslese” zum Opfer. Oder gab es vielleicht auch andere Gründe? Lasst mich ein wenig erzählen.

In den ersten Schuljahren lief bei mir noch alles glatt. Da hatten wir Lehrer, deren sozialistisches Bewusstsein noch nicht besonders stark entwickelt war. Als Messlatte gegenüber den Schülern galt die Leistung. Fallen Euch noch die Namen ein (Jenson, Schauert, Reichel, Wurm Schallert u.a.)? Sie gingen im Laufe unserer ersten zwei, drei Jahre in den Westen oder wurden gegangen. Nach der Zäsur „zehnte Klassse” sah ich den kommenden zwei Jahren leistungsmäßig unbesorgt entgegen. 1957 verabschiedete sieh mein Vater von seiner damaligen Arbeitsstelle „INTOURIST” und wechselte zum Klassenfeind über, der „Deutschen Bank”. Na, das wurde dann wohl sehr rot und dick in meiner Akte vermerkt. Mein älterer Bruder Eberhard, zur sportlichen Elite der GHS zählend, wurde damals, wie andere auch, sehr intensiv von Offizieren der noch jungen NVA bedrängt, eine militärische Karriere einzuschlagen, mit all den damit verbundenen Vorteilen. Alternative: ”Bewährung in der Produktion.” Eberhard, schon damals mit ausgeprägter philosophischer Neigung und Widerspruchsgeist ausgestattet, pries trotzig den im Sozialismus verteufelten Individualismus als sein Lebensideal. Auch dieses wurde sicherlich ebenso in Reinhards Akte vermerkt, wie das Studium des Bruders an der FU. Nachdem mir bei einem Arbeitseinsatz im KABELWERK KÖPENICK während unserer großen Ferien in Hoffes Anwesenheit drei Finger der linken Hand fast abgequetscht wurden (der mittlere wurde um das oberste Glied amputiert, der Zeigefinger ist verkrüppelt, und Horst hat bis heute den Geschmack meines verspritzten Blutes auf den Lippen), ließ meine Mutter gegenüber Rektor Sack sehr hitzige Worte zu der Tatsache unterbliebener Arbeitsschutzbelehrungen fallen. Sacks schlechtes Gewissen drängte bei diesem Disput mehrmals die für einen Marxisten-Leninisten-Stalinisten ungewöhnliche Anrede „gnädige Frau” aus seinem Mund. Was hätte wohl eine West-Gewerkschaft zu meinem Arbeitsunfall gesagt??? Aber wirklich schlimm war für mich das endgültige „Aus” für die geliebten Klavierstunden bei Mutter Ihme. Auch mein Gitarrenspiel kann nun immer nur ein Geklimper bleiben. Irgendwann erfuhr ich dann in Klasse 11 Sacks persönliche Ablehnung. So erwiderte er z.B. niemals meinen Gruß, wenn wir uns begegneten und ich unterließ es dann ebenfalls, ihn zu grüßen.

Auch der „freundliche” Rebelsky (Mathe) verhielt sich mir gegenüber eiskalt, der blonde Sachse Günter - mal alleine auf der Treppe (Bio) - gab mir zu verstehen „...mit Ihnen fahre ich noch mal Schlitten...” und selbst der trottelig erscheinende Papak (Latein) ließ bei einem Klärungsversuch nach einer zurückgegebenen Arbeit mir gegenüber den Satz fallen: „Rosenke, was wollen Sie noch? Mit Ihnen kann ich sowieso nichts anfangen...”. Als Sack nach einem Beliebtheitstest in unserer Klasse mitbekam, dass ich vorzüglich abgeschnitten hatte, versuchte er, das Ergebnis zu nivellieren, indem er Euch (uns) wegen Eures bürgerlichen Menschenbildes kritisierte.

Dann war da noch der Ernteeinsatz in Alt-Schadow. Wir halfen damals Bauern, die den Segnungen der Kollektivierung noch nicht anheim gefallen waren. Da hat doch tatsächlich eine Klasse der GHS für ein Kulakendorf geschuftet! Ihr wisst vielleicht noch, dass Prof. Gottschaldt dort eine Jagd gepachtet und uns diesen Einsatz vermittelt hatte.

Schulbilder

Der Lehrkörper der Gerhart-Hauptmann-Schule 1954

Friedrichshagen: Gerhart-Hauptmann-Schule, 9. Klasse (1954)

Vor dem Fahnenappell

Der Rektor beim Appell während einer Mai-Demonstration

Auf dem Dach der Turnhalle

Ich bin dran (ca. 1957)

Gerhart-Hauptmann-Schule 1958: Unser Klassenbalkon

Nach der Schule am Müggelsee

Der Waldmensch

Mit dem Rad zur Ostsee

An der Ostsee: Wärme tanken

Winterliches Bad im Schlachtensee

Nach dem Bad wird uns warm

West-Berlin: 13. Klasse

Wieder zurück in Berlin, ließ Sack kein gutes Haar an unserem Werk. Und bezeichnender Weise geiferte er namentlich über den Rosenke, der sich angeblich durch besonderen Eifer hervorgetan hatte Wie kam er eigentlich darauf? Vielleicht hatte ja Frau Gottschaldt mich in der irrigen Absicht vor Sack gelobt, um mir bei ihm ein paar Pluspunkte einzuhandeln und genau das Gegenteil war der Fall. Aber es hat sogar gestimmt, denn mir machte die Arbeit großen Spaß (übrigens hatte ich später sogar vor, Landwirtschaft zu studieren, besitze noch einige Briefe der von mir angeschriebenen Gutshöfe in Schleswig-Holstein). Damals wie heute weiß ich nur, dass ich ohne unsere gute Klassengemeinschaft unter der spürbaren persönlichen Ablehnung bestimmter Lehrer deutlich mehr gelitten hätte...

Nun noch schnell das letzte Kapitel: Es kam der ganz besondere Abi–Tag. Wir mussten uns ja täglich in der Schule einfinden, obwohl jeder wusste, ob überhaupt oder in welchem Fach er noch geprüft werden würde. Und so fand ich – unvorbereitet - meinen Namen eines Morgens unter dem Fach „Gegenwartskunde”. Ich wusste natürlich, was das Stündlein geschlagen hatte, hatte auch keine Zeit mehr, nach Hause zu fahren. Im Prüfungsraum saß ich dann einer stattlichen (sprich: erschreckenden) Reihe von Funktionären und Lehrern gegenüber. Das Schauspiel konnte beginnen!

Und Sack zelebrierte genüsslich meinen „Untergang”. In den zwei Stunden ging es nicht um staatsbürgerliches Wissen. Es ging allein um meine Einstellung zu dem „parasitären Verhalten” der Familie Rosenke. Ich versuchte gar nicht erst, rumzuschleimen, und es war dann für mich fast eine Genugtuung, meine politische Meinung frei und offen zu äußern (kurioserweise wurde ich im Jahr davor bei einer Radtour mit einer westdeutschen Jugendgruppe in der Lüneburger Heide wegen meiner kritischen Worte zu gewissen Erscheinungsformen in Westdeutschland als „Kommunist” gebranntmarkt Dabei erinnere ich mich noch z.B. an meine Empörung über die Etablierung alter Nazis in der westdeutschen Justiz.

Nach diesem Inquisitionsgericht nahm mich ein Teil von Euch tröstend in die Arme. Das vergesse ich nie! Nicht vergessen habe ich auch die Tränen von Frau Gottschaldt, unserer Elternvertreterin, die meiner Verhandlung ja beiwohnen musste. Und natürlich kann ich auch die dickste 5 meines Lebens nicht vergessen, die unter Sacks Füllhalter im Laufe dieser „Prüfung” für mich sichtbar immer fetter geworden war.

Tja, liebe Brüder und Schwestern, mein Brief ist nun doch leider ganz schön lang geworden – kürzer ging's nicht. Und während Ihr hoffentlich mit einer Fülle lustiger Anekdoten die Stimmung wieder anheben werdet, bin ich auf der Suche – nein, nicht nach der Blauen Blume der Romantik – nein, nach der Roten Nelke des Sozialismus. Vielleicht finde ich sie ja noch, die echte., die richtige, die geschundene und zertretene, die noch nie gesehen wordene, irgendwo in den sibirischen Sümpfen, wachsend auf den Knochen von Millionen Opfern des sozialistischen GULAG.

Gerhart-Hauptmann-Schule, stillgestanden! Wir dienen dem deutschen Volke!” Avanti populo, Euer Reinhard

Wie sich ein „überzeugter” Ex-Klassenkamerad 40 Jahre nach unserem Abitur über mich äußert:

Hallo Renate,

zurück von einem schönen Ostsee-Urlaub in Binz auf Rügen möchte ich Dir einige Zeilen schreiben. Die Reise hatte ich eigens abgewartet, um jede übereilte Reaktion zu vermeiden Es bleibt jedoch dabei.- Dir als Spiritus Rector unserer Klassentage erkläre ich meinen Austritt aus dieser Veranstaltung, an künftigen Klassentagen werde ich nicht mehr teilnehmen, jedweder Kontakt ist mir unerwünscht. Warum?

Hattest Du meinen - wie ich meine doch recht konzilianten - Kommentar zu unserem Klassentag noch zurückgewiesen, weil er Deinem (und wie ich bisher glaubte, unserem) Ziel einer fairen Verständigung zuwiderlief, so hat nun Horst mit der Versendung des Briefes von Reinhard Rosenke eines bestätigt: Edith hat Recht – es geht nicht! Dabei geht es nicht um Reinhard, er scheint mir einfach ein verbitterter alter Mann zu sein. Wie anders wäre es zu erklären, dass selbst das Vokabular seiner Schilderung aus den 50ern stammt? Fünfzig Jahre älter werden, heißt ja gemeinhin, auch reifer zu werden, nicht nur gesellschaftliche Vorgänge, auch das eigene Leben mit Abstand, differenzierter, auf andere Art als in jungen Jahren zu sehen. Dabei will ich weder Herrn Sack (der mich auf andere Weise ebenso nicht leiden konnte, sich nur meiner Mutter wegen zurückhielt, das Problem war wohl weniger politisch als psychologisch begründet) noch bestimmte schulische Zustände rechtfertigen. Deshalb ein nichtschulisches Beispiel:

Reinhard schreibt vom Ernteeinsatz in Alt-Schadow und den Bauern, die „den Segnungen der Kollektivierung noch nicht anheim gefallen waren”. Pardon, aber das schreibt heute nicht einmal mehr die Bild-Zeitung. Und ich dachte, Reinhard sei von Beruf Lehrer?! Doch zurück zu den Bauern: da ich in der DDR blieb, hatte ich viele Landeinsätze zu absolvieren - als Soldat, als Student und später als Lehrer an der Uni. Nicht mit großer Begeisterung - wobei das Kartoffelsammeln in den 70ern wenigstens durch Apfelpflücken abgelöst wurde, doch aber mit mancher auch schönen Erinnerung wie mit Erfahrungen und Lebenskenntnis verbunden.

So stellte ich als Student meinen jeweiligen Arbeitspartnern (ich sammelte Kartoffeln, fuhr Traktor und Pferdegespann, baute elektrische Weidezäune und trieb Vieh) nach einigen Tagen des Kennenlernen die Frage nach dem Leben in der LPG und ob sie lieber die vorgenossenschaftlichen Zustände zurück hätten. Immerhin gab es nicht nur Bauern, sondern auch Landarbeiter, Knechte und Mägde, die Reinhards soziales Gewissen gleich mal ausspart, obwohl doch selbst Literatur und Malerei voller anschaulicher Schilderungen elendigster Lebensumstände nur so strotzen. Sollte ein Lehrer eigentlich kennen. Doch zu den Antworten: vor allem die Frauen lehnten fast alle die Rückkehr ab. Zum ersten Mal in ihrem Leben konnten sie in Urlaub fahren, gab es Kinderbetreuung und betriebsärztliche Untersuchungen, Betriebskantine und gemeinsame Feiern.

Die zumindest in den unteren „Rängen” oft als unerträglich empfundene Dorfhierarchie, der Dünkel der Bauern gegen die Landlosen, der Groß- gegen die Klein- und Mittelbauern und schließlich der Gutsherren gegenüber allen wich allmählich einer entspannteren Lebenshaltung. (Ein soziologischer Indikator hierfür sind übrigens die sogenannten „Heiratskreise”, die Aufschluß geben über den Grad hierarchischer bzw. homogener oder demokratischer Strukturen.) Es wurden ja nicht nur Vieh, Maschinen und Boden sozialisiert, sondern auch die Risiken. Bei den Männern wollten zumindest damals vormals selbständige Bauern aus der älteren Generation noch zurück, doch schon bei den jüngeren überwog der Anteil derjenigen, die zwar die Zustände in ihrer LPG heftig kritisierten, eine Rückkehr aber ablehnten.

Auch Reinhard dürfte bekannt sein, dass nach der Wende zahlreiche Genossenschaften nun unter den Bedingungen westlicher Freiwilligkeit sich für den Fortbestand als GmbH o. ä. entschieden haben und dass heute die Bauern-Lobby aus den alten Bundesländern via Brüssel versucht, diese ostdeutsche Konkurrenz zu erledigen.

Ich bin schon der Meinung, dass die völlig undifferenzierte und unhistorische Verwendung solcher Kampfbegriffe aus dem Kalten Krieg zeigt, dass eine auch nur halbwegs sachliche Verständigung nicht möglich, weil nicht gewollt ist. Dabei geht es gar nicht um Reinhard Rosenke. Horst - offenbar enttäuscht über das mangelnde Echo auf seine „ich-habe-mich-ja-so-verbiegen-müssen”-Rede - hat Reinhard mit der Versendung dessen Briefes zwar einen schlechten Dienst erwiesen, dadurch aber Ediths Erkenntnis bestätigt: Es geht nicht.

Übrigens auch eine Antwort auf Deine Frage nach dem Mauerwunsch so mancher Zeitgenossen: wenn man mit dem Nachbarn nicht kann, schließt man am besten die Tür zu. Und wirft den Schlüssel weg!

Meine Gedanken nach dem 13. Schuljahr

Auszüge aus einem Briefwechsel mit einer Freundin aus der GHS, die nach Ravensburg gegangen war.

9. April 1959

...Wie so oft, packt mich auch heute wieder einer jener Wutanfälle, die sich ausschließlich gegen das verfluchte Schicksal unseres Landes wenden. Ist es nicht zum Verrücktwerden, daß Du dort unten Dein Dasein fristest, während unsereiner, ebenfalls ewig fluchend, in diesem kleinen Westberliner Flecken ausharren soll, und daß dritte arme Häufchen sich im lieben Osten rumschlägt (verzeih den langen Satz). Ich denke nämlich gerade an unsere gute alte 12a. Wir sind zu dem Schluß gekommen, daß das Leben so nicht weitergeht, daß wir uns alle mal wieder treffen müssen, aussprechen, trösten, lachen, tanzen, saufen.” (15. April 1959 bei Rosenkes in Britz)

12. August 1959

... meine gegenwärtige Lage (ist) eine recht bedenkliche. Ich stehe nämlich kurz vor dem zweiten Abiturium! Im vorigen Jahr war ich überzeugt, zu bestehen. In diesem Jahr muß ich hoffen. Du solltest nur einen Tag in dieser verfluchten Penne mitmachen (ich könnte es Dir allerdings nicht zumuten). Ich habe bestimmt nicht gefaulenzt und trotzdem bin ich sehr darauf angewiesen, daß Du in den letzten Tagen des August sämtliche Dir zu Verfügung stehende Daumen drückst. Ich danke Dir im Voraus. … In der GHS hat man mittlerweile die Opportunisten und Revisionisten, sowie Stalinisten Sack und Bart ihrer gemeingefährlichen Ämter enthoben. Es wäre ganz nett gewesen, wenn wir diesen neuen Kurs noch miterlebt hätten. Trotzdem, „it was a happy and lucky time there in the GHS”, nicht wahr?

2. September 1959

Während des 2. Abiturs: Ich habe gar nicht soviel gegen die Schule einzuwenden, aber die Schule, in der ich das letzte Schuljahr verbringen musste, ist wirklich nicht herzerfrischend. Schon an sich das Schulgebäude lässt einen schlecht werden. Eingebaut in Kreuzbergs Mietkasernen, rot geziegelt wie eine Fabrik, und ein staubiges Plätzchen ohne jedes Grün als Schulhof. Die Klassenkameraden sind größtenteils blasierte Idioten, die sich so verhalten, wie Kleinstädter sich eben verhalten, wenn sie unbedingt Großstädter sein wollen. Die Lehrer sind zum Teil ganz gut, zum Teil erinnern sie an Verfechter der Inquisition – unfreundlich, schadenfroh, grausam, mitleidlos. Ich bin jedenfalls froh, wenn ich alles hinter mir habe.

Ich hätte große Lust, mal mehrere Monate kreuz und quer durch die Lande zu scharwenzeln. Das hat nichts damit zu tun, dass ich etwa nicht arbeiten möchte, aber ist denn der Sinn des Lebens ein Leben voller gewissenhafter Pflichterfüllung und nebenbei, so für die Abendstunden, eine Familie, die man dann bis an sein Ende am Hals hat? Heiraten würde ich sowieso nicht vor Dreißig…

4. Oktober 1959

Liebe Christine!

Ich danke Dir für Deinen Glückwunsch und ich dachte, ich bin ein anderer, glücklicherer Mensch nach dem ganzen Schlamassel, aber nee, nun wird der Mist ja erst richtig losgehen. Die Schule war nur die Einleitung, es folgt nun derer hoffentlich recht interessante Hauptteil mit einem hohen oder tiefen Höhepunkt und dann der unvermeidbar tragische Schluß. Tja, wie wird man das Leben meistern? Allerdings finde ich die Einstellung vieler, „man muß etwas vom Leben haben” sehr unüberlegt. Denn wenn du lebst, mußt du etwas vom Leben haben. Die Leute meinen natürlich, sie wollen ein angenehmes Leben. Stell Dir vor, Dein ganzes Leben verläuft angenehm glatt. Findest Du nicht auch, das Leben muß doch spannend sein, hier muß es auf und ab gehen; ich glaube, nur dann wird man es richtig zu schätzen wissen.

Du fragst nach meinen Zukunftsplänen. Nach langer/gründlicher Überlegung habe ich mich entschlossen, Landwirtschaft zu studieren. Ich hatte nicht unbedingt die Absicht zu studieren, aber ich bin nun mal so ein Knabe, der im Beruf nur für die Natur Lust hätte zu arbeiten, d.h. mit ihr in einer Verbindung stehen will. Das Studium ist sehr vielseitig. Man befaßt sich unter anderem mit Botanik, Zoologie, Geologie, Bodenkunde, Agrarmeteorologie, Agrarpolitik, Wirtschaftslehre, Molkereiwesen usw. Vorher muß ich noch ein zweijähriges Praktikum auf dem Lande machen. Ich werde wahrscheinlich Ostern in Westdeutschland mit dem Praktikum beginnen. Bis dahin verdiene ich hier als ungelernter Arbeiter mein Geld. Einen Monat habe ich jetzt in einer Industrie-Abrißfirma gearbeitet. Die Arbeit überforderte fast meine Kräfte .Tag für Tag mußte ich mit einem zwanzigpfündigen Hammer Eisenbolzen von einer gußeisernen Wand abschlagen oder Gußeisenplatten kaputt hauen. Meine Hände haben an den Innenflächen zahlreiche Hornwülste aufzuweisen. Ich werde morgen mal zum Arbeitsamt gehen, vielleicht bekomme ich dann etwas Vernünftiges. Ich habe mir schon überlegt, man müßte jetzt ein halbes Jahr arbeiten…

Dieser 1. Mai 1960 war der eindrucksvollste, den ich je erlebte... Ich war an diesem sonnigen Tag freiwillig demonstrieren! Ich glaube, das Gefühl, das ich dabei hatte, kann nur einer gehabt haben, der jahrelang auf Befehl, widerwillig, bar jeder Ehrfurcht, bestrebt, dem bewaffneten und fahnentragenden Mob den Rücken zu kehren, gezwungen wurde - Komma - am 1. Mai für den Frieden zu marschieren.

So viele Menschen wie beim letzten Mal, habe ich noch nie auf einem Haufen gesehen. Alle diszipliniert, ohne Transparente und Klimbim, 1/3 aller Westberliner. Was dann gesagt wurde, hat mich weniger beeindruckt, als die Bereitwilligkeit, freiwillig einen Sonntagvormittag zu opfern - alle Achtung.

Eine Woche lang war ich zu einer politischen Tagung von der PH [inzwischen als PH-Student] in einem Jugendhaus. Ich kann nur sagen, unsere Kinder haben bestimmt mal nette Lehrer, wenn alle so sind, wie der bei der Tagung versammelte Haufen... Ich wünschte, ein FDJ-Funktionär hätte sich das mitangesehen: Völlig freie Diskussionen, ungezwungenes Beisammensein mit Professoren und Dozenten, stundenlanges freiwilliges Singen von Volks- und Fahrtenliedern... dazwischen immer wieder ernstere Gespräche…

23. Februar 1961

Ich will versuchen, das Vakuum in mir zu beseitigen, will verhüten, dass ich nicht mal die Eigenschaften eines Balles annehme, der bei dem leisesten Stoß von außen wegkullert, nachgibt, der von einer Partei in Windeseile zur anderen Partei überwechselt, auf dem beide Parteien herumtrampeln. Ich will ein wenig schwerer werden mit/durch Wissen (vergisst Du auch immer alles so schnell?), um nicht immer „ja” sagen zu müssen.

3. April 1961

Ich war neulich seit zweieinhalb Jahren wieder mal am Müggel. War herrlich, Friedrichshagen ist ein richtig idyllisches Provinznest.

25. Mai 1961

Der Beruf steht fest, man fühlt sich einigermaßen sicher, aber stark unter Druck vor der Unausweichlichkeit (bis jetzt) seines hauptsächlichen Lebens-Abschnittes, man zweifelt oft an sich selbst und kommt sich vor wie ein Fremder.…

Wanderfreuden

In der Schorfheide

Bevor wir nach West-Berlin flüchteten, genossen wir noch bewußt die schöne Natur in einigen Gegenden rund um Berlin.

1957 war ich in den Großen Ferien mit meinem Freund Hotte und Hund Schnipp auf Wanderschaft durch die Schorfheide. Wochen vorher hatte ich bei einem Arbeitseinsatz im Kabelwerk Köpenick KWK einen schweren Betriebsunfall mit Verstümmelungen an meiner linken Hand. Mein Vater arbeitete inzwischen in West-Berlin bei seiner alten Firma, der Deutschen Bank, in Spandau. Daher hatten meine Eltern „West-Geld” und konnten sich einen Urlaub auf der Nordsee-Insel Pellworm leisten. Ich sollte nachkommen, kam aber nicht.

Vater schrieb einen Brief:

Pellworm, 1.8.1957

Wir wissen nicht mehr, was wir denken sollen, da Du weder schreibst, noch bei uns auftauchst. Du solltest doch ein Telegramm schicken, wenn Du kommst. Natürlich auch, wenn Du nicht kommen kannst. Wir machen uns selbstverständlich Gedanken, wie es Dir und Deiner Hand geht.

Einen Tag später: Heute erhielten wir Deinen Brief vom 29.7. und sind nun wenigstens von der Ungewißheit befreit. Es tut uns leid, daß Du nicht kommen kannst. Aber wenn es wirklich so schlimm in den Interzonen-Zügen ist, dann können wir Deinen Entschluß begreifen... Wie sieht Deine Hand aus? Wir hätten gern gewußt, ob schon alles verheilt ist und ob Du noch den Verband trägst.

Aus Reinhards Wander-Tagebuch: Nach unruhiger Nacht weckt mich der Wecker um halb sechs. Schnipp schaut mich skeptisch an, denn er weiß, was ein gepackter "Affe" bedeutet. Aber ich beseitige seine Furcht, indem ich ihm das Halsband umbinde. Ich muß mich beeilen. Am Bahnhof Hirschgarten erwartet mich Horst. Nach eineinhalbstündiger Fahrt steigen wir in Bernau aus. Wir wollen noch Angeln kaufen - es gibt keine. Mit etwa 20 Pfund Gepäck pro Mann marschieren wir in Richtung Biesenthal. Das Wetter ist warm…

Kurz vor dem Dorf Altenhof legen wir uns auf einem Hügel - wegen der Mücken - zum Schlafen nieder. Schnipp ist zu bedauern. Ihm jucken beide Augen und er kann keine Minute stillliegen. Wir wachen gegen halb sieben auf, schleppen unser Gepäck zum Werbellin-See, baden, kochen Tee. Leider haben wir nur noch ein Brotstückchen, das uns auch noch ins Wasser fällt. Wir braten es im Feuer, schmieren Sirup drauf und sind zufrieden...

Wir kommen zu einem Scheiß-Pionierlager. Wer dieses Lager erbauen ließ, verdient „fünfhundert auf die Fußsohlen“! Es zieht sich zwei Kilometer am See entlang, große Häuser sind überall errichtet worden, dazwischen breite, mit Fahnen gesäumte Wege. Ständig dringt Trommelgerassel und anderer Lärm ans Ohr. Daß die Leute dieses Lagerleben „Erholung“ nennen - na, ich weiß nicht…

In Joachimsthal kaufen wir Brot, Eier, Schinken. Am Ortsrand graben wir noch schnell einige Kartoffeln aus, daraufhin verfolgt uns keifendes Rachegeschrei der Dorfgören... Am Dovin-See kochen wir die Kartoffeln und eine schmackhafte Pilzsuppe. Das Fressen ist ein wahrer Hochgenuß, vor lauter Appetit hätten wir am liebsten noch die Kartoffelschalen heruntergeschlungen. Den Abschluß bilden gebratene Äpfel. Schnipp erhält Haferflocken, die mit einem Klops vermantscht sind. Allerdings muß er sein Mahl vom Waldboden fressen. Aus Rache klaut er drei Klopse, die er erst in den nächsten Tagen bekommen sollte...

Schnipp ist sehr munter. Ständig galoppiert er wie ein Wildschwein kreuz und quer durch den Wald, die Nase an den Boden geheftet. Zuweilen wird er durch den Anblick eines Karnickels belohnt. Dann sind wir im ehemaligen Wildreservat von Hermann Göring. Nach einigen Irrwegen finden wir die Göring-Burg Carinhall. Obwohl sie gesprengt wurde, kann man die bunkerartige Stabilität noch ermessen. Zahlreiche unterirdische Gänge führen, durch Schutt vielfach blockiert, direkt an den Döllnsee.

Der Wald ist einzigartig in seiner Schönheit. Hier gibt es noch uralte Eichenbestände. Kaum haben wir unseren Lagerplatz gefunden, entlädt sich ein Gewitter über uns. Nach dem Regenguß bekommt Schnipp seinen Haferschleim. Einen Rest davon esse ich, vermischt mit Himbeeren. Horst doktert an seinen ramponierten Füßen herum, er macht Umschläge mit Heilerde. Wir singen ein bißchen, dann schlafen wir ein.

Im selben Jahr 1957 paddelte ich mit einem anderen Freund in dessen Faltboot von Rheinsberg in Richtung Müritzsee:

Um 5.45 Uhr bin ich bei Jimmy. Während der folgenden zwei Minuten ereignet sich die erste Katastrophe: der Treiber des Faltboots zerbricht, als der Bootswagen die Treppe hinunterbefördert wird. Wir fahren mit der Bahn nach Rheinsberg, wo wir das Boot ans Ufer schleppen und aufbauen. Das Wetter ist verregnet. Um 16.30 Start. Wir paddeln zur Remus-Insel und schlagen das Nachtlager auf. Zum Abendbrot Buletten und Tee, um 21.30 Uhr Bettruhe... Auf unserem Lagerplatz tummelt sich eine Horde piepsender Mäuse. Für das Mittagessen angelt Jimmy einen schönen Fisch. Sonniges Wetter.

Ein mit Getreide beladener Laster als Taxi

Nachtlager

Mit dem Faltboot in Mecklenburg

Das Boot wird um eine kaputte Schleuse herum transportiert

Erzgebirgswanderung Ostern 1958

Der begehrte C-Schein für Flüchtlinge

Walter an der Grenze zum „sozialistischen Lager

Weserwanderung mit Hotte: Geldverdienen mit Kohleaustragen und arbeiten auf dem Bauernhof

Fata morgana bei 30 Grad

Heute wollen wir zum Zechliner See, das Wetter ist teils wolkig, teils heiter. Nach dreiviertelstündiger Fahrt gegen den Wind kommt uns der See und sein Ufer merkwürdig bekannt vor, an seinem Ende entdecken wir ein Schloß. Jetzt sehen wir klar: dieser See ist nicht der Zechliner, sondern der Rheinsberger See. Großes Gelächter. Mit voller Kraft zurück…

Abends umlagern uns zahlreiche Mäuse, mit bangem Gefühl gehen wir schlafen. Nachts besuchen uns einiger Hundertschaften von Mäusen. Ihr Herunterrutschen vom Zeltdach verursacht ekelhafte Geräusche. Als Zeichen ihres unermüdlichen Fleißes hinterlassen sie zwei Löcher in der Zeltwand. Am nächsten Morgen entdecken wir ein drittes großes Loch. Wir sind ratlos. Um uns gegen weitere Angriffe zu stärken, essen wir erstmal jeder ein halbes Brot mit Butter und Sirup. Wegen des Regenwetters schlafen wir bis Mittag. Dann essen wir Kartoffeln mit Pfifferlingen...