11,99 €
Die Frage nach der Gerechtigkeit spielt aktuell eine größere Rolle denn je. Sie betrifft die unterschiedlichsten Bereiche unseres Lebens, ob es nun um globale Themen wie den Klimawandel, Krieg oder Energiesicherheit geht, ob es Fragen der Geschlechtergerechtigkeit, der Tierethik oder der künstlichen Intelligenz berührt. Was heißt Gerechtigkeit? Wie lässt sie sich verwirklichen? Und wann kann Gerechtigkeit in Ungerechtigkeit umschlagen? Mit diesen Fragen setzen sich renommierte Forschende aus Natur- und Geisteswissenschaften der Akademie der Wissenschaften in Hamburgauseinander. Eine Publikation der Akademie der Wissenschaften in Hamburg. www.awhamburg.de
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 85
Veröffentlichungsjahr: 2023
Mojib Latif (Hg.)
Gerechtigkeit im 21. Jahrhundert
Zwischen Klimawandel und Künstlicher Intelligenz
Herausgeber: Prof. Dr. Mojib Latif, für die Akademie der Wissenschaften
in Hamburg
Redaktion: Wolfgang Denzler, Akademie der Wissenschaften in Hamburg
Illustration: Luise Mirdita, https://www.luisemirdita.com
Finanziert aus Mitteln der Freien und Hansestadt Hamburg.
Akademie der Wissenschaften in Hamburg
Edmund-Siemers-Allee 1
20146 Hamburg
Deutschland
https://www.awhamburg.de/essays
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2023
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: Verlag Herder
Umschlagmotiv: © Andriy Onufriyenko, © fhm,
© Guido Dingemans, De Eindredactie, © NikonShutterman,
© Olga Rolenko, © Paul Souders, © photo by Mike Lanzetta,
© Portra Images, © the_burtons, © Westend61/GettyImages,
© photosaint/AdobeStock
E-Book-Konvertierung: Carsten Klein, Torgau
ISBN Print 978-3-451-39584-0
ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-83162-1
ISBN E-Book (PDF) 978-3-451-83163-8
Einleitung
Klimagerechtigkeit
Kumulierte historische CO2-Emissionen haben Erwärmung verursacht
Klimakatastrophe trifft Arme besonders hart
Ungerechte Bürde für kommende Generationen
Drohende Dominanz der Partikularinteressen
Geschlechtergerechtigkeit
Gleichheit als Bedingung von Gerechtigkeit
Gleichberechtigung als Versprechen des Rechts
Die Einlösung des Gleichberechtigungsversprechens
Gerechtigkeit in der Pflege
Pflege in Deutschland
Die Perspektive der Pflegenden
Die Perspektive der Gepflegten
Ein Ausblick auf die globale Perspektive
Wie kann gerechte Pflege aussehen?
Zum russischen Verständnis von Gerechtigkeit
»Pravda« als spezifisch russisches Verständnis von Gerechtigkeit
Die »russische Idee« als Legitimation regionaler Machtansprüche
Sprachliche Identität in der Ukraine und Belarus
Kulturelle Stereotype dienen der Rechtfertigung eines Angriffskriegs
Gerechtigkeit und Frieden
Negativer oder positiver Frieden
Bemühungen um Gerechtigkeit können Kriege verlängern
Kein positiver Frieden ohne Gerechtigkeit
Gerechtigkeit kann Kriegsgefahr mindern
Gerechtigkeit in der Energieversorgung – was bedeutet das heute?
Generationengerechte Energieversorgung als unerfülltes Ziel
Langzeitschäden durch Kohleabbau in West und Ost
Nachhaltige Atomenergie als Irrweg
Klimawandel als große intergenerationelle Ungerechtigkeit
Generationengerechte Energieversorgung technisch möglich
Gerechte Künstliche Intelligenz
Gerechtigkeit als zentraler Aspekt sicherer KI
Vertrauen in KI-Methoden
Sind symbolische KI-Methoden die Lösung?
Automatisierung und Gerechtigkeit
Ist Automatisierung gerecht?
Vernichtet Automatisierung Arbeitsplätze?
Gerechtigkeit schaffen?
Automatisierung erhält unseren Wohlstand
Gerechtigkeit und Tiere
Wer regelt, und wer wird ge(maß)regelt?
Gerechtigkeit in Raum und Zeit
Von Mäusen und Menschen
Anthropozentrik im Anthropozän?
Öko-Gerechtigkeit, Öko-Rassismus und epistemische Ungerechtigkeit
Öko-Gerechtigkeit
Öko-Rassismus
Epistemische Ungerechtigkeit
Ein »Haus der Gerechtigkeit« für Iran – Die Verfassungsrevolution von 1906–11 im Zeichen der Gerechtigkeit
Gerechtigkeit als Pflicht der Herrschenden
Der »Zirkel der Gerechtigkeit«
Jedem das Seine, aber nicht allen das Gleiche
Gerechtigkeit im Ungefähren
Gerechtigkeit
Die Beitragenden
Zur Akademie der Wissenschaften in Hamburg
Gerechtigkeit ist die zentrale Frage des 21. Jahrhunderts. Wir leben in einer Welt, in der Gerechtigkeitsaspekte eine fundamentale Rolle spielen. Doch wie definieren wir Gerechtigkeit? Wer oder was soll Gerechtigkeit erfahren? Das Thema Gerechtigkeit hat viele Facetten. Auf jeden Fall betrifft Gerechtigkeit uns alle, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht. Schon kleine Kinder zeigen einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit. Allerdings bezieht sich dieser hauptsächlich auf die Forderung nach gleichem Anteil, etwa, dass jeder ein gleich großes Stück vom Kuchen abbekommt und somit gleichbehandelt wird. Das Bedürfnis nach Gerechtigkeit ist tief in der menschlichen Natur verankert und spielt in zwischenmenschlichen wie auch zwischenstaatlichen Beziehungen eine wichtige Rolle. Es ist ein Grundbedürfnis von uns Menschen, in einer Gemeinschaft zu leben, in der Gerechtigkeit herrscht oder in der wir zumindest auf gerechtere Zustände hoffen dürfen.
In Zeiten multipler Krisen, die uns in unseren Grundfesten erschüttern, wird die Bedeutung von Gerechtigkeit als elementarer Wert von Gesellschaften immer deutlicher. Die Klimakrise bedroht nicht nur unsere Umwelt, sondern auch die Grundlagen unseres Zusammenlebens. Diskriminierungen zwischen Ethnien, Geschlechtern, Alters- und Einkommensgruppen vertiefen soziale Gräben und führen zur Spaltung der Gesellschaft. Populistische Tendenzen und die zunehmende Schwächung demokratischer Systeme in vielen Ländern auf der Welt untergraben unsere Freiheit und unseren Zusammenhalt. Pandemien, Kriege und Engpässe in Lieferketten haben gezeigt, dass die Menschen auf allen Kontinenten in großer, aber fragiler Abhängigkeit miteinander verbunden sind und dass internationale Kooperation unerlässlich ist. In dieser turbulenten Zeit müssen wir uns auf die Grundwerte besinnen, zu denen zweifelsohne Gerechtigkeit zählt. Und wir müssen unsere Bemühungen um Gerechtigkeit verstärken, um eine Zukunft zu gestalten, die für alle Menschen eine nachhaltige Entwicklung ermöglicht.
Der vorliegende Band ist der Auftakt einer neuen Buchreihe der Akademie der Wissenschaften in Hamburg, in der sich Forschende verschiedener Fachrichtungen in Essays einem gesellschaftlich relevanten Thema widmen. Der Akademie gehören namhafte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie junge Forschende aus dem norddeutschen Raum an. In Arbeits- und Projektgruppen entwickeln ihre Mitglieder interdisziplinäre Forschungsvorhaben, die sich mit gesellschaftlich bedeutsamen Zukunftsfragen und wissenschaftlichen Grundlagenproblemen befassen. Außerdem macht es sich die Akademie zu ihrer besonderen Aufgabe, das Gespräch zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit über diese Themen anzuregen.
In zwölf Essays nähern wir uns der Idee der Gerechtigkeit aus verschiedenen Richtungen und versuchen, Antworten auf die Frage zu finden, wie wir im 21. Jahrhundert eine gerechtere Gesellschaft erreichen können.
Mir liegt als Thema die bereits erwähnte Klimakrise besonders am Herzen. Die damit verbundenen ökologischen Herausforderungen betreffen uns alle, aber die ärmsten Länder und Menschen sind am stärksten betroffen. Eine gerechte Verteilung der Ressourcen und Maßnahmen zur Verringerung von Treibhausgasemissionen sind notwendig, um eine lebenswerte Zukunft für alle zu sichern. In meinem Essay betone ich daher, dass der Klimaschutz eine Frage der Gerechtigkeit ist, des fairen Ausgleichs zwischen globalem Norden und Süden, zwischen Arm und Reich sowie zwischen den Generationen. (S. 17)
Dana-Sophia Valentiner beschreibt in ihrem Essay, wie fatal sich die Covid-19-Pandemie auf die Geschlechtergerechtigkeit auswirkte. Frauen übernahmen neben Homeoffice auch einen großen Teil der zusätzlichen Pflege- und Betreuungsarbeit wie das Homeschooling. Die Juristin fordert mehr aktive Gleichstellungspolitik vom Staat, zu der ihn die im Grundgesetz verankerte Gleichberechtigung der Geschlechter verpflichtet. (S. 25)
In ihrem Beitrag »Gerechtigkeit in der Pflege« beschäftigt sich Larissa Zwar mit den ungerechten Zuständen im Gesundheitssystem. Dabei liegt ihr besonderer Fokus auf der Pflege durch Angehörige, die sie als den größten Pflegedienst Deutschlands bezeichnet. Die Psychologin betont, dass Gerechtigkeit in der Pflege eng mit Geschlechtergerechtigkeit verknüpft ist, da es vor allem Frauen sind, die intensive Pflege leisten. (S. 33)
Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine ist Anlass für zwei weitere Essays: Ulrike Jekutsch gibt als Expertin für Slawische Literaturwissenschaft einen Einblick in das russische Konzept der »pravda«, das sie als spezifisch russisches Gegenkonzept zu einem westlich-individualistischen Gerechtigkeitsverständnis beschreibt. Sie erklärt, wie dieses Konzept als gemeinsames Gefühl »Recht zu haben« zur Legitimation von hegemonialen Ansprüchen genutzt wird. (S. 45)
Michael Brzoska beschäftigt sich anhand des Kriegs in der Ukraine mit der Frage, ob Versuche, Gerechtigkeit zu schaffen, zu mehr oder weniger Frieden führen. Der Friedens- und Konfliktforscher weist darauf hin, dass Bemühungen um Gerechtigkeit Kriege verlängern und Gewalt ausweiten können. Allerdings zieht er das Fazit, dass die Forderung nach Gerechtigkeit ein wichtiges Instrument zur Beseitigung von gesellschaftlicher, politischer und wirtschaftlicher Ungleichheit ist, das wiederum dazu beitragen kann, Kriege zu verhindern. (S. 53)
Nicht erst infolge des Krieges verbreitet sich in Deutschland die Sorge vor Energieknappheit. Martin Kaltschmitt und Detlef Schulz diskutieren in ihrem Beitrag die Gerechtigkeit in der Energieversorgung. Sie argumentieren, dass die klassischen Ziele der Energieversorgung, nämlich Zuverlässigkeit, Wirtschaftlichkeit und Umweltverträglichkeit, um das Ziel der Generationengerechtigkeit erweitert werden sollten. Die Autoren betonen, dass es wichtig ist, dass die Enkelgeneration keine Altlasten aufgebürdet bekommt, und lehnen daher Atomenergie als Irrweg ab. (S. 61)
Als Risikotechnologie wird von manchen inzwischen auch die sich rasant entwickelnde Künstliche Intelligenz (KI) beschrieben. Alexander Steen erörtert in seinem Essay die Frage, ob KI-Systeme gerechte Entscheidungen treffen können. Der Informatiker erläutert, dass autonome Systeme, insbesondere basierend auf KI-Methoden, bereits viele Bereiche des täglichen Lebens bestimmen. Ein Beispiel dafür sind automatisierte Entscheidungen über Kreditvergaben. Steen glaubt, dass der Weg zu nachhaltig vertrauenswürdigen KI-Systemen noch weit ist. (S. 71)
Ebenso wie Steen hinterfragt auch Kerstin Thurow die Gerechtigkeit von technologischen Entwicklungen. Die Ingenieurwissenschaftlerin behandelt die Auswirkungen der Automatisierung auf die Gesellschaft. Thurow beschreibt, dass die Umstellung einstmals manueller Tätigkeiten auf maschinelle und digitalisierte Verfahren Vorteile wie beispielsweise eine höhere Produktivität und mehr Zeit für kreative Aufgaben bringen, aber auch mögliche Nachteile, wie Arbeitsplatzverluste und Ungleichheit drohen. (S. 81)
Colin von Negenborn schreibt aus der Sicht der praktischen Philosophie über Tierrechte. Er hinterfragt, ob in Gerechtigkeitsfragen allein der Mensch im Mittelpunkt stehen und als Maßstab für alles genommen werden sollte. Er plädiert dafür, den Gerechtigkeitsbegriff auf die nichtmenschliche Natur auszuweiten, und diskutiert moralisch relevante Unterschiede der Spezies. (S. 91)
Anna Margaretha Horatschek geht in ihrem Beitrag auf die Ungleichheit bei der Verteilung von Umweltressourcen ein. Sie betont, dass die unterschiedliche Betroffenheit durch Umweltkatastrophen auch durch rassistisch geprägte Ungleichheit bedingt wird. Horatschek beschreibt dies in ihrem literaturwissenschaftlichen Essay als Öko-Rassismus. Sie erläutert das Konzept anhand des Romans »The Hungry Tide« von Amitav Ghosh. (S. 99)
Anja Pistor-Hatam beschreibt in ihrem Essay, wie während der iranischen Verfassungsrevolution von 1906–1911 die Protestierenden das Ende der Willkürherrschaft und die Einführung einer Verfassung basierend auf dem Konzept von Gerechtigkeit forderten. Die Islamwissenschaftlerin betont die besondere Bedeutung der Gerechtigkeit im muslimischen Glauben. (S. 109)
Eine christliche Perspektive auf Gerechtigkeit nimmt Johannes Schilling ein. Er mahnt, dass in der Geschichte alle Versuche, Gerechtigkeit zu erreichen, in totalitären Systemen ihr Ende gefunden hätten. Der Kirchenhistoriker argumentiert mit Bezug auf Martin Luther, dass es unter den Bedingungen der Welt und ihrer Menschen gar keine Gerechtigkeit geben könnte, es sei denn, sie ginge von Gott aus. (S. 117)
Die Essays stammen alle aus dem Jahr 2022. An Aktualität haben sie nicht verloren.
Eine anregende und erkenntnisreiche Lektüre wünscht Ihnen
Prof. Dr. Mojib Latif
Präsident der Akademie der Wissenschaften in Hamburg
Von Mojib Latif
Der Klimawandel wirkt generationen- und grenzübergreifend. Klimaschutz ist eine Frage der Gerechtigkeit zwischen globalem Norden und Süden – zwischen Arm und Reich ebenso wie zwischen Generationen. Zielführender Klimaschutz erfordert einen Wertewandel.
Das Klima der Erde verändert sich seit Beginn der Industrialisierung mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit, und die Menschen sind die Ursache. Sie stoßen gewaltige Mengen Treibhausgase aus, vor allem das Kohlendioxid (CO2), weswegen sich die Erde erwärmt. Wetterextreme nehmen zu und intensivieren sich, die Festlandeismassen schmelzen, und die Meeresspiegel erhöhen sich. Bereits jetzt sind Millionen von Menschen auf der Welt direkt oder indirekt vom Klimawandel betroffen, darunter auch schon viele Menschen in Deutschland. Es besteht kein Zweifel darüber, weder in der Wissenschaft noch in weiten Teilen der Politik, dass wir die Erwärmung des Planeten auf das im Pariser Klimaabkommen festgelegte Maß begrenzen müssen – auf deutlich unter 2 Grad Celsius, vorzugsweise auf 1,5 Grad Celsius, gegenüber der vorindustriellen Zeit, um unsere Lebensgrundlagen nicht zu gefährden. Noch jedoch steigen die weltweiten Emissionen.
Abb. 1: Die kumulierten historischen CO2