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Publius Cornelius Tacitus: Germania - Über Ursprung und Sitten der Germanen | Neuausgabe 2022 | Mit einem Vorwort des Herausgebers, Nachwort des Übersetzers und mehr als 130 erläuternden Fußnoten | Tacitus' »Germania« spielt eine ganz besondere Rolle in der Genese der deutschen Nation, denn sie bildete von Anbeginn das einzige konsistente ethnographische Werk über dieses Volk, das eigentlich keines war. Und sie prägte den Mythos des großen, starken, blonden, blauäugigen und unerschrockenen Germanen: Unverdorben, ehrlich, natürlich und freiheitsliebend. Nur zu gerne bedienten sich Nationalisten durch die Jahrhunderte hinweg dieser Klischees, kulminierend in der Hybris des »Dritten Reichs«. Obwohl es genau das sind: Klischees; und sie waren es bereits zu Tacitus' Zeiten: Denn mit seiner Überhöhung der Germanen kritisiert der römische Staatsmann und Historiker gleichzeitig die Zustände im dekadent und satt gewordenen Rom.
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Seitenzahl: 72
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Vorwort des Herausgebers
GERMANIA
I. Land und Leute Germaniens im Großen und Allgemeinen
1. Grenzen des ganzen Landes
2. Die eigentlichen Germanen sind Urbewohner des Landes und stammen von dem erdgeborenen Gott Tuisco
3. Keine Zuwanderung von Außen
4. Leibesbeshaffenheit der Germanen
5. Beschaffenheit des Landes, Nationalvermögen, Handel
II. Schilderung des öffentlichen Lebens und Treibens der Germanen
6. Allgemein
7. Kriegswesen, Könige und Heerführer, die Frauen im Krieg und die Prophetinnen
8. Die Götter und ihr Kultus
9. Die Wahrsagung
10. Die Volksversammlung und die Hohen
11. Die Gerichte
12. Das Waffenleben und die Gefolgschaften
13. Das Leben und die Haltung der Kriegsmänner und Häuptlinge
III. Schilderung des privaten Lebens der Germanen
14. Wohnsitze und Häuser
15. Kleidung
16. Die Ehe
17. Familie und Familienrecht
18. Blutrache, Fehdewesen, Behandlung der Fremden
19. Charakter der Gastmähler
20. Nahrungsmittel
21. Lustversammlungen, Schwerttanz, Spielsucht
22. Sklaven
23. Ackerbau
24. Tod und Begräbnis
IV. Besonderer völker- schaftlicher Teil
25. Gallier auf der rechten Seite des Rheins und Germanen auf der linken Seite
26. Die nichtsuevischen Völker der Germanen
27. Die suevischen Völker der Germanen
28. Die Aestier und das Bernsteinland
29. Die zweifelhaft germanischen Bastarner und Veneden, nebst den ganz ungermanischen Finnen
Begleitwort des Übersetzers
Kurzbiographie des Tacitus
»DEUTSCH ZU SEIN HEIßT,
SICH ZU FRAGEN, WAS DEUTSCH SEI.«1.
Dieser Satz des deutschen Denkers Friedrich Nietzsche bringt es wohl am knappsten auf den Punkt, was die Deutschen umtreibt, was sie vermissen und was sie suchen: Identität.
Denn wer sind wir? Abkömmlinge der Germanen? Jedoch die Germanen als Volk, viel weniger noch als Nation, gab es nie. Vielmehr war es eine Ansammlung von Sippen und Stämmen, die mehr oder weniger derselben Kultur angehören, mehr oder weniger dieselbe Sprache sprachen, aber darüber hinaus keine überregionale Klammer hatten. – Ein Kontinuum übrigens, das sich bis zur deutschen Kleinstaaterei des frühen 19. Jahrhunderts hinzieht.
Der Zeitfaden zwischen den alten Germanen und den heutigen Deutschen ist zerrissen, selbst der Name ›Germanen‹ verschwand im vierten nachchristlichen Jahrhundert vorübergehend wieder aus der Geschichte. Und nicht einmal, woher die Volksbezeichnung ›Germanen‹ kommt, weiß man.2
Wer war dann aber Arminius (später germanisiert zu Hermann), der germanische Held, der im Jahre 9 n. Chr. in der Varusschlacht den Römern Einhalt gebot? Der die Südländer derart hart traf, dass diese von einer völligen Besatzung Germaniens (vorerst) absahen3? Nun, er hätte sich wohl kaum als Germane bezeichnet, wohl kannte er dieses Wort als Bezeichnung eines ›Volkes‹ nicht einmal. Er war Cherusker, Fürst einer jener zahlreicher ostrheinischer Stämme, die den Römern feindselig und widerspenstig gegenüberstanden. Erst die geistige Zusammenbindung all jener ferner Widersacher durch die Römer – allen voran durch Caesar, der in seiner Schrift über den gallischen Krieg erstmals die Germanen klar von den verwandten Galliern unterschied – erschuf die Germanen4. Und genau so sehen es heute viele Historiker: Ohne den Bezug zum Römerreich sind die ›Germanen‹ kaum denkbar.
Germanen, Deutsche – es gab sie also lange nicht. Jedenfalls nicht zweifelsfrei abgegrenzt von anderen Volksgruppen. Jedoch seit der Post-Renaissance beim deutschsprachigen Bürgertum in dem starken Wunsch, sich zu erfinden und als Volk zu spezifizieren. Die Suche nach ›Urhelden‹, die einen Nationalmythos begründen konnten, begann. Tacitus ›Germania‹ lieferte dafür die Blaupause, und der germanische Feldherr Arminius den Urhelden.5
Das Germanische, das Deutsche, es war somit für lange Zeit mehr ein Mythos als eine Tatsache. Und erst Bismarck schuf schließlich 1871 ein tatsächlich verbrieft existierendes erstes Deutsches Reich6. Bevor sich der Norddeutsche Bund und die süddeutschen Staaten im Jahr 1871 zusammentaten, um dieses ›Deutschland‹ zu bilden, hatte es keinen deutschen Nationalstaat gegeben.7
So ist der Deutsche in der Tat ein merkwürdiges Geschöpf: das keine rechte Wurzeln hat, die es doch so gerne hätte, schwankend zwischen Unsicherheit und Hybris – eine Hybris, die schließlich im ›Dritten Reich‹ kulminierte.8
Tacitus’ ›Germania‹: sie spielt eine ganz besondere Rolle in dieser Genese einer Nation, denn sie bildete von Anbeginn das einzige konsistente ethnographische Werk über dieses Volk, das eigentlich keines war. Und sie prägte von Anfang an den Mythos des großen, starken, blonden, blauäugigen und unerschrockenen Germanen. Unverdorben, ehrlich, rein9, natürlich und freiheitsliebend.10
Nur zu gerne bedienten sich Nationalisten durch die Jahrhunderte hinweg dieser Klischees, obwohl es genau das sind: Klischees; und sie waren es bereits zu Tacitus’ Zeiten: Denn mit seiner Überhöhung der Germanen kritisiert der römische Staatsmann und Historiker gleichzeitig die Zustände im dekadent und satt gewordenen, korrupten Rom.
So ist die ›Germania‹ im Lauf der Jahrhunderte seit ihrer Wiederentdeckung im Jahr 145511 von einem harmlosen politisch gefärbten ethnographischen Bericht zu einem ›gefährlichen Buch‹12 geworden.
© Armin Fischer, 2022
Mehr über den Autor Publius Cornelius Tacitus und die Rezeptionsgeschichte der Germania im Begleitwort von Paul Stefan.
1 Friedrich Nietzsche, in: ›Jenseits von Gut und Böse‹, Leipzig 1886
2 »Kommt die Begrifflichkeit ›Germanen‹ aus dem Lateinischen – und ist sie ein Kürzel von ›verum germen nobilitatis‹? ›Wahrer Kern der Vortrefflichkeit‹, wie die wörtliche Übersetzung heißt? Oder steckt in ihr, [...] der Name Ger? Jene kurze Lanze germanischer Soldaten [...]? Stammt der Name etwa aus dem Keltischen, dem Hebräischen, dem Illyrischen, dem Ligurischen? [...] Niemand weiß es.« – So der Journalist und Autor Georg Bönisch im Buch ›Die Germanen – Geschichte und Mythos‹, Deutsche Verlags-Anstalt, München 2013
3 Tacitus nannte Arminius »ohne Zweifel den Befreier Germaniens«. Rückblickend ist das historisch nicht korrekt, denn die Römer planten nicht lange nach der Varusschlacht die vollständige Eroberung Germaniens, die dann jedoch aus anderen Gründen nicht umgesetzt wurde.
4 Römische Autoren hatten zwar Kenntnis von germanischen Stämmen wie den Goten, den Sueben und den Teutonen, aber die Vorstellung der Germanen als ein Volk gab es vor Caesar nicht. Der britische Autor und Historiker James Hawes formuliert pointiert, Caesar habe die Germanen ›erfunden‹, in: ›Die kürzeste Geschichte Deutschlands‹, Ullstein, Berlin 2021 – Ähnlich Mischa Meier, Professor für Alte Geschichte in einem Interview mit dem Magazin ›Spiegel-Geschichte‹ 2/2013
5 dadurch konnten sich auch die Deutschen das »Adelsprädikat eines Altertums [verleihen], das genauso weit zurückreichte wie das der Nationen, die sich von der lateinischen Antike ableiteten«, so der Sozialgeschichtler Michael Werner in: ›Deutsche Erinnerungsorte‹, Band III, C. H. Beck, 2001
6 das jedoch von Beginn an an mangelndem Zusammenhalt krankte: Hier der römisch geprägte Südwesten, dort der preußisch geprägte Nordosten, mit der Elbe als kultureller Trennlinie – bis heute. Und nach neuesten Erkenntnissen der Evolutionsbiologie sogar als biologische Trennlinie: Denn zwei große Genom-Haplogruppen (vereinfacht: Varianten), die in Europa dominieren, stoßen ziemlich genau dort aneinander.
7 Der Altphilologe Christopher B. Krebs dazu: »Als eine ›imaginierte Gemeinschaft‹ existierte die deutsche Nation unter Intellektuellen 400 Jahre lang in einem paradoxen Zustand des Vorgriffs, ehe sie als Nationalstaat verwirklicht wurde«; genaue Quelle siehe Fußnote 12
8 »Bei der Herausbildung der Kernkonzepte der NS-Ideologie – Rassismus, Ideologie des Volkes und seines Geistes sowie eben dieser Germanenmythos – hat die ›Germania‹ des Tacitus eine bedeutende Rolle gespielt.« (Christopher B. Krebs)
9 nach Tacitus unvermischt mit anderen Völkern
10 Insgesamt galten die Germanen den Römern »als Barbaren, da sie weder über Schrift noch über Städte und geordnete Staatswesen verfügten. Ihre Sitten wurden einerseits als grob und ungehobelt bezeichnet, andererseits als unverdorben und naturnah durch die fehlenden Verführungen des großstädtischen Lebens.« (Aus dem Programmheft der Ringvorlesung ›2000 Jahre Varusschlacht‹, FU Berlin 2009)
11 siehe dazu das Nachwort von Paul Stefan, dort auch mehr zum Autor Tacitus selbst
12 so auch der Titel des bemerkenswerten Buches von Christopher B. Krebs: ›Ein gefährliches Buch – Die Germania des Tacitus und die Erfindung der Deutschen‹, Deutsche Verlags-Anstalt, 2013
GANZ GERMANIEN scheiden die Ströme Rhein und Donau vom gallischen und rätisch-pannonischen Gebiet13; gegen Sarmater wie Daker14 bilden Gebirge oder das Misstrauen hüben und drüben die Grenze. Das übrige umfließt in weiten Buchten der Oceanus, unermessliche Inseln umfangend; dort sind einige Völkerschaften und Herrscher neulich bekannt geworden, die ein Kriegszug erschloss. Der Rhein entspringt einem unzugänglich jähen Hang der Rätischen Alpen, wendet sich in mäßiger Biegung gegen Westen und mündet ins nördliche Meer. Die Donau strömt in dem sanft und gemächlich ansteigenden Gebirgszug Abnoba15 hervor und kommt an mancherlei Völker heran, bis sie ins Pontische Meer in sechs Mündungen durchbricht. Ein siebenter Auslauf verliert sich in Sümpfen.