Germinal - Émile Zola - E-Book + Hörbuch

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Émile Zola

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Beschreibung

Germinal Das Hauptwerk von Émile Zolas zwanzigbändigem Werk »Das Leben der Familie Rougon-Macquart« beschreibt die unmenschlichen Verhältnisse in französischen Bergwerken des 19. Jahrhunderts. Konflikte, zwischen Reich und Arm, Mann und Frau, Unterdrückern und Unterdrückten brechen sich Bahn. Der Maschinist Etienne Lantier kommt auf der Suche nach Arbeit in die Bergarbeiter-Siedlung des Schachtes »Le Voreux«. Hier findet er bei der Familie Maheu, in deren älteste Tochter Katharina er sich verliebt, Unterkunft und neue Arbeit. Von den unwürdigen Lebensumständen entsetzt und von der Idee des Sozialismus begeistert, stachelt er die Bergarbeiterfamilien zum Aufstand auf. Es kommt zum Streik. Die Lebensbedingungen der Arbeiter verschlechtern sich, da sie nun überhaupt nicht mehr bezahlt werden. Schließlich muss es in einer Gewaltentladung zur Katastrophe kommen, das Militär greift ein. Zola, der Chronist der Französischen Industrialisierung beschreibt detailliert und mit viel schriftstellerischer Liebe zu den Charakteren - den Bösen wie den Guten - Ausbeutung und unmenschliche Lebensumstände: Ganze Arbeitergenerationen erniedrigt und ausgenutzt von den Herrschenden. Der Germinal (deutsch auch »Keimmonat«) ist der siebte Monat des Republikanischen Kalenders der Französischen Revolution. Der Roman wurde mehrfach verfilmt, unter anderem im Jahre 1993 mit Gérard Depardieu Null Papier Verlag

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Émile Zola

Germinal

Émile Zola

Germinal

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected]Übersetzung: Armin Schwarz EV: Universum-Bücherei für Alle, Berlin, 1930 3. Auflage, ISBN 978-3-954182-28-2

null-papier.de/neu

Inhaltsverzeichnis

Au­tor

Ger­mi­nal

Teil 1

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Sechs­tes Ka­pi­tel

Teil 2

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Teil 3

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Teil 4

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Sechs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­tes Ka­pi­tel

Teil 5

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Sechs­tes Ka­pi­tel

Teil 6

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Teil 7

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Sechs­tes Ka­pi­tel

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Autor

Émi­le François Zola (✳ 2. April 1840 in Pa­ris; † 29. Sep­tem­ber 1902 eben­da) war ein fran­zö­si­scher Schrift­stel­ler und Jour­na­list.

Zola gilt als ei­ner der großen fran­zö­si­schen Ro­man­ciers des 19. Jahr­hun­derts und als Leit­fi­gur und Be­grün­der der ge­sam­t­eu­ro­päi­schen li­te­ra­ri­schen Strö­mung des Na­tu­ra­lis­mus. Zu­gleich war er ein sehr ak­ti­ver Jour­na­list, der sich auf ei­ner ge­mä­ßigt lin­ken Po­si­ti­on am po­li­ti­schen Le­ben be­tei­lig­te.

Sein »Ar­ti­kel J’ac­cu­se …!« (Ich kla­ge an …!) an­läss­lich der Drey­fus-Af­fä­re war ein wich­ti­ges Ele­ment bei der schließ­li­chen Re­ha­bi­li­tie­rung des fälsch­lich we­gen Lan­des­ver­rats ver­ur­teil­ten Of­fi­ziers Al­fred Drey­fus.

Émi­le Zola wur­de in Pa­ris als Sohn des ita­lie­nisch-ös­ter­rei­chi­schen Ei­sen­bah­n­in­ge­nieurs Fran­ces­co Zola (eigtl. Zol­la) ge­bo­ren. Sei­ne Mut­ter, Émi­lie Auré­lie Au­bert (1819–1880), war Fran­zö­sin.

Zola wuchs in Aix-en-Pro­vence auf. In Aix war Zola mit dem spä­te­ren großen Ma­ler Paul Cézan­ne und dem spä­te­ren Bild­hau­er Phil­ip­pe So­la­ri be­freun­det.

Sein Durch­bruch wur­de 1867 der Ro­man »Thérè­se Ra­quin«, der eine span­nen­de Hand­lung um die zur Ehe­bre­che­rin und Mör­de­rin wer­den­de Ti­tel­hel­din mit ei­ner un­ge­schön­ten Schil­de­rung des Pa­ri­ser Klein­bür­ger­tums ver­bin­det. Das Vor­wort zur zwei­ten Auf­la­ge 1868, in dem Zola sich ge­gen sei­ne gut­bür­ger­li­chen Kri­ti­ker und ih­ren Vor­wurf der Ge­schmack­lo­sig­keit ver­tei­digt, wur­de zum Ma­ni­fest der jun­gen na­tu­ra­lis­ti­schen Schu­le, zu de­ren Ober­haupt Zola nach und nach avan­cier­te.

Zu Zo­las Leb­zei­ten am er­folg­reichs­ten war »La Débâcle« (Der Zu­sam­men­bruch, 1892), des­sen Hand­lung vor dem Hin­ter­grund des deutsch-fran­zö­si­schen Krie­ges von 1870/71 und der blu­tig un­ter­drück­ten Pa­ri­ser Com­mu­ne spielt.

Heu­te noch ge­le­sen wer­den vor al­lem die bei­den Ro­ma­ne »L’As­som­moir« (Der Tot­schlä­ger, 1877), wo am Schick­sal ei­ner Wä­sche­rin und ih­rer Fa­mi­lie sehr ein­gän­gig die Aus­wir­kun­gen des Al­ko­ho­lis­mus im be­eng­ten und tris­ten Pa­ri­ser Un­ter­schich­ten­mi­lieu be­schrie­ben wer­den, und »Ger­mi­nal« (1885), das die dra­ma­ti­sche Ge­schich­te ei­nes Berg­ar­bei­ter­streiks im Kräf­te­feld der wirt­schaft­li­chen und ideo­lo­gi­schen Ant­ago­nis­men der Zeit dar­stellt.

Meh­re­re der Ro­ma­ne, un­ter an­de­rem »Thérè­se Ra­quin«, »Nana«, »L’As­som­moir« und »Ger­mi­nal«, wur­den bald nach ih­rem Er­schei­nen zu er­folg­rei­chen Thea­ter­stücken ver­ar­bei­tet und spä­ter auch ver­filmt.

Zola starb zu Be­ginn der Heiz­pe­ri­ode im Herbst 1902 durch eine Koh­len­mon­oxid­ver­gif­tung in sei­ner Pa­ri­ser Woh­nung. Je nach po­li­ti­schem Stand­punkt wur­den Gerüch­te über einen Selbst­mord oder Mord ge­schürt. Eine Un­ter­su­chungs­kom­mis­si­on mach­te Ex­pe­ri­men­te mit dem Ofen und kam zu dem Schluss, dass es sich um einen Un­fall han­del­te. 50 Jah­re spä­ter wur­de be­rich­tet, dass ein Schorn­stein­fe­ger, der Mit­glied der na­tio­na­lis­ti­schen »Ligue des Pa­trio­tes« war, ei­nem Gleich­ge­sinn­ten ge­gen­über an­ge­ge­ben habe, den Ka­min ver­stopft zu ha­ben.

Werks­aus­zug

Das Glück der Fa­mi­lie Rou­gon (La for­tu­ne des Rou­gon 1871)

Der Bauch von Pa­ris (Le ven­tre de Pa­ris 1873)

Die Erobe­rung von Plass­ans (La con­quête de Plass­ans 1874)

Sei­ne Ex­zel­lenz Eu­ge­ne Rou­gon (Son ex­cel­lence Eugè­ne Rou­gon 1876)

Der Tot­schlä­ger (L’As­som­moir 1877)

Nana (Nana 1880)

Das Pa­ra­dies der Da­men (Au bon­heur des da­mes 1883)

Ger­mi­nal (Ger­mi­nal 1885)

Die Erde (La terre 1887)

Die Bes­tie im Men­schen / Das Tier im Men­schen (La bête hu­mai­ne 1890)

Der Zu­sam­men­bruch (La débâcle 1892)

Dok­tor Pas­cal (Le doc­teur Pas­cal 1893)

Germinal

Der Ger­mi­nal (deutsch auch »Keim­mo­nat«) ist der sieb­te Mo­nat des Re­pu­bli­ka­ni­schen Ka­len­ders der Fran­zö­si­schen Re­vo­lu­ti­on.

Teil 1

Erstes Kapitel

In ster­nen­lo­ser, fins­te­rer, ra­ben­schwar­zer Nacht schritt ein ein­zel­ner Mann durch die fla­che Ebe­ne auf der Heer­stra­ße da­hin, die von Mar­chi­en­nes nach Mont­sou führt und sich zehn Ki­lo­me­ter lang ge­ra­de­aus durch Rü­ben­fel­der hin­zieht. Er ver­moch­te selbst den schwar­zen Bo­den vor sich nicht zu un­ter­schei­den und hat­te das Ge­fühl des un­ge­heu­ren, fla­chen Ho­ri­zon­tes nur durch das We­hen des Mär­zwin­des, der in brei­ten Stö­ßen ei­sig kalt da­hin­fuhr, nach­dem er mei­len­wei­te Stre­cken von Sümp­fen und kah­len Fel­dern be­stri­chen hat­te. Kein Baum­schat­ten hob sich vom Nacht­him­mel ab; die Stra­ße zog sich mit der Re­gel­mä­ßig­keit ei­nes Dam­mes durch die stock­fins­te­re Nacht hin, in der das Auge wie ge­blen­det war.

Der Mann war ge­gen zwei Uhr von Mar­chi­en­nes auf­ge­bro­chen. Er mach­te lan­ge Schrit­te, denn er frös­tel­te in sei­ner Ja­cke von dün­nem Wol­len­zeug und in sei­nem Bein­kleid von Samt­stoff. Sein Päck­chen, das in ein kar­rier­tes Ta­schen­tuch ge­wi­ckelt war, be­läs­tig­te ihn sehr; er drück­te es bald mit dem einen, bald mit dem an­de­ren El­len­bo­gen an sich, um bei­de Hän­de zu­gleich in die Ta­schen ste­cken zu kön­nen, sei­ne er­starr­ten Hän­de, die der ei­si­ge Ost­wind wund­ge­bla­sen hat­te. Ein ein­zi­ger Ge­dan­ke be­schäf­tig­te sei­nen hoh­len Kopf ei­nes ar­beits- und ob­dach­lo­sen Ar­bei­ters: die Hoff­nung, dass nach Son­nen­auf­gang die Käl­te we­ni­ger emp­find­lich sein wer­de. Er moch­te eine Stun­de so da­hin­ge­schrit­ten sein, als er zur Lin­ken zwei Ki­lo­me­ter von Mont­sou rote Feu­er wahr­nahm, drei Glut­hau­fen im frei­en Fel­de, die gleich­sam in der Luft schweb­ten. Zu­erst zö­ger­te er, von Furcht er­grif­fen; dann konn­te er dem schmerz­li­chen Be­dürf­nis­se nicht wi­der­ste­hen, einen Au­gen­blick sei­ne Hän­de zu wär­men.

Der Mann be­trat einen Hohl­weg, der da­hin führ­te. Al­les um ihn her ver­schwand. Zur Lin­ken hat­te er eine Plan­ken­wand, die einen Schie­nen­weg ab­schloss, wäh­rend rechts eine gras­be­stan­de­ne Bö­schung sich er­hob, ge­krönt von Häu­ser­gie­beln, die in der nächt­li­chen Fins­ter­nis ver­schwam­men; es war das Schat­ten­bild ei­nes Dor­fes mit nied­ri­gen, gleich­för­mi­gen Haus­dä­chern. Er mach­te un­ge­fähr zwei­hun­dert Schrit­te. Plötz­lich tauch­ten bei ei­ner Bie­gung des We­ges die Feu­er ganz nahe wie­der auf, und er be­griff jetzt so we­nig wie frü­her, wie es kom­me, dass sie so hoch un­ter dem to­ten Him­mel brann­ten, rau­chen­den Mon­den glei­chend. Doch am Bo­den zog ein an­de­rer An­blick sei­ne Auf­merk­sam­keit auf sich. Es war dies eine schwer­fäl­li­ge Mas­se, eine Grup­pe nied­ri­ger Ge­bäu­de, aus de­ren Mit­te der Schat­ten­riss ei­nes Fa­brik­schlo­tes auf­stieg; ein Licht­schein drang aus den we­ni­gen schmut­zi­gen Fens­tern her­vor; au­ßen hin­gen am Bal­ken fünf oder sechs trüb­se­li­ge La­ter­nen, de­ren ge­schwärz­te Höl­zer sich zu rie­si­gen Gerüs­ten an­ein­an­der­reih­ten; von die­ser fan­tas­ti­schen, in Nacht und Rauch ge­tauch­ten Er­schei­nung stieg eine ein­zi­ge Stim­me auf: der lau­te und lan­ge Atem ei­ner Dampf­aus­strö­mung, die man nicht sah.

Da er­kann­te der Mann, dass er sich bei ei­nem Berg­werk be­fand. Aber­mals ward er von Scham er­grif­fen: was nütz­te es? Er be­kam doch kei­ne Ar­beit. An­statt sei­ne Schrit­te nach den Ge­bäu­den zu len­ken, ent­schloss er sich end­lich, den Hü­gel zu er­stei­gen, auf dem die drei Koh­len­feu­er in großen, guss­ei­ser­nen Kör­ben brann­ten, um Licht und Wär­me zur Ar­beit zu lie­fern. Die bei dem Ab­bau be­schäf­tig­ten Ar­bei­ter muss­ten bis in die spä­te Nacht am Wer­ke ge­we­sen sein, denn es wur­de noch im­mer Schutt her­aus­ge­führt. Er hör­te jetzt die Ab­füh­rer die Züge über die Gerüs­te schie­ben und un­ter­schied le­ben­de Schat­ten, die bei je­dem Feu­er ihre Hun­de leer­ten.

»Gu­ten Mor­gen«, sag­te er, als er sich ei­nem der Feu­er­kör­be nä­her­te.

Der Kärr­ner stand mit dem Rücken dem Feu­er zu­ge­wen­det; es war ein al­ter Mann in ei­ner Tri­kot­ja­cke von blau­em Wol­len­zeug und mit ei­ner Müt­ze von Ka­nin­chen­fell; sein Pferd, ein großer, gel­ber Gaul, war­te­te un­be­weg­lich, als sei es von Stein, bis man die sechs Kar­ren, die es her­auf­ge­führt, ge­leert hat­te. Der bei der Aus­lee­rungs­vor­rich­tung an­ge­stell­te Hand­lan­ger, ein ro­ter, ma­ge­rer Bur­sche, be­eil­te sich nicht; mit schläf­ri­ger Hand drück­te er auf den He­bel. Da oben weh­te der Wind noch stär­ker, ein ei­si­ger Nord­ost, des­sen brei­te, re­gel­mä­ßi­ge Stö­ße gleich Sen­sen­stri­chen vor­über­zo­gen.

»Gu­ten Mor­gen«, er­wi­der­te der Alte.

Dann trat wie­der Stil­le ein. Der Fremd­ling, der sich mit miss­traui­schen Bli­cken be­trach­tet wuss­te, sag­te so­gleich sei­nen Na­men.

»Ich hei­ße Eti­enne Lan­tier und bin Ma­schi­nist. Gibt es hier kei­ne Ar­beit?«

Die Flam­men be­leuch­te­ten ihn; er moch­te ein­und­zwan­zig Jah­re zäh­len, war sehr braun, ein hüb­scher Mann von kräf­ti­gem Aus­se­hen trotz sei­ner klei­nen Ge­stalt.

Der Kärr­ner schüt­tel­te den Kopf; er schi­en jetzt be­ru­higt.

»Ar­beit für einen Ma­schi­nis­ten?« sag­te er. »Nein, nein … Ges­tern wa­ren auch zwei da. Es gibt kei­ne Ar­beit.«

Ein Wind­stoß schnitt ihm das Wort ab. Dann frag­te Eti­enne, in­dem er auf die dunkle Grup­pe von Ge­bäu­den am Fuße des Hü­gels zeig­te:

»Das ist ein Berg­werk, nicht wahr?«

Der Alte konn­te nicht so­gleich ant­wor­ten. Ein hef­ti­ger Hus­ten­an­fall droh­te ihn zu er­sti­cken. End­lich spie er aus, und sein Spei­chel bil­de­te einen schwar­zen Fleck am ro­ten Erd­bo­den.

»Ja, das Berg­werk le Vo­reux … Der Ort liegt ganz nahe.«

Er wies mit aus­ge­streck­tem Arme nach dem im Dun­kel der Nacht da­lie­gen­den Dor­fe, des­sen Haus­dä­cher der jun­ge Mensch mehr er­ra­ten als ge­se­hen hat­te. Doch die sechs Hun­de wa­ren jetzt leer; der Alte folg­te ih­nen ohne einen Peit­schen­knall mit sei­nen gicht­stei­fen Bei­nen, wäh­rend der große, gel­be Gaul von selbst sei­nen Gang wie­der an­trat und zwi­schen den Schie­nen müh­sam sei­ne Last schlepp­te, von ei­nem neu­en Wind­sto­ße ge­peitscht, der ihm die Haa­re sträub­te.

Die Gru­be le Vo­reux schi­en aus dem Nacht­schla­fe zu er­wa­chen. Eti­enne, der sei­ne ar­men, blu­ten­den Hän­de am Koh­len­feu­er wärm­te, ver­lor sich völ­lig in sei­nen Be­trach­tun­gen und er­kann­te all­mäh­lich sämt­li­che Tei­le des Berg­wer­kes, den ge­teer­ten Schup­pen des Sich­tungs­wer­kes, den Glo­cken­stuhl des Schach­tes, die ge­räu­mi­ge Hal­le der För­der­ma­schi­ne, den vier­e­cki­gen Turm der Schöpf­pum­pe. Die­ses Berg­werk, das in der Tie­fe ei­ner Schlucht lag, schi­en ihm mit sei­nen nied­ri­gen Zie­gel­bau­ten, sei­nem wie ein dro­hen­des Horn in die Höhe ra­gen­den Schlot das un­heil­kün­den­de Aus­se­hen ei­nes gie­ri­gen Raub­tie­res zu ha­ben, das da­hock­te, um die Welt zu ver­schlin­gen. Wäh­rend er es be­trach­te­te, dach­te er an sich selbst, an sein Va­ga­bun­den­le­ben, das er seit acht Ta­gen auf der Su­che nach ei­nem Plat­ze führ­te. Er sah sich in sei­ner Ei­sen­bahn­werk­stät­te wie­der, wo er sei­nen Vor­ge­setz­ten geohr­feigt hat­te, dann aus Lil­le ver­jagt und von über­all ver­trie­ben. Am Sams­tag war er in Mar­chi­en­nes an­ge­kom­men, wo er in den Ei­sen­hüt­ten an­geb­lich Ar­beit fin­den soll­te; aber es war nichts, we­der in den Ei­sen­hüt­ten, noch in den Fa­bri­ken Son­ne­vil­les; er hat­te den Sonn­tag un­ter den Höl­zern ei­ner Wa­gne­rei ver­bor­gen zu­ge­bracht, de­ren Auf­se­her ihn um zwei Uhr nachts weg­ge­jagt hat­te. Er hat­te nichts mehr, kei­nen Sou und kei­nen Bis­sen Brot; was soll­te er an­fan­gen? Zi­el­los irr­te er auf den Heer­stra­ßen und wuss­te nicht, wo­hin vor den Un­bil­den des Wet­ters flüch­ten? Ja, es war ein Berg­werk, die we­ni­gen La­ter­nen be­leuch­te­ten das Pflas­ter des Vor­ho­fes; eine plötz­lich ge­öff­ne­te Tür ge­stat­te­te ihm, die Feue­rung der Damp­fer­zeu­ger in hel­lem Lich­te zu se­hen. Er er­klär­te sich jetzt al­les, selbst die Dampf­aus­strö­mung der Pum­pe, die­ses lau­te, lan­ge, un­abläs­si­ge At­men, das gleich­sam der ver­schleim­te Atem des Un­ge­heu­ers war.

Der Hand­lan­ger bei der Koh­len­lösch­hal­de stand mit ge­krümm­tem Rücken da und warf kei­nen Blick auf Eti­enne. Die­ser woll­te eben sein klei­nes Bün­del vom Bo­den wie­der auf­he­ben, als ein Hus­ten­an­fall die Rück­kehr des Kärr­ners an­kün­dig­te. Man sah ihn lang­sam aus dem Dun­kel auf­tau­chen, ge­folgt von dem gel­ben Gaul, der sechs vol­le Hun­de schlepp­te.

»Gibt es in Mont­sou Fa­bri­ken?« frag­te der jun­ge Mann.

Der Alte warf wie­der schwar­zen Spei­chel aus und er­wi­der­te dann:

»Oh, an Fa­bri­ken ist kein Man­gel. Man müss­te es noch vor drei, vier Jah­ren se­hen! Es summ­te und brumm­te rings­um­her; man konn­te nicht ge­nug Leu­te fin­den; nie hat­te man einen so gu­ten Er­werb. Jetzt aber sind wie­der ma­ge­re Jah­re ge­kom­men. Ein rech­tes Elend ist ins Land ein­ge­zo­gen; man ent­lässt die Leu­te, die Werk­stät­ten wer­den ge­schlos­sen, eine nach der an­de­ren … Es ist viel­leicht nicht die Schuld des Kai­sers; aber warum geht er nach Ame­ri­ka, sich her­um­schla­gen? Dazu kommt noch, dass das Vieh an der Cho­le­ra zu­grun­de geht ge­ra­de­so wie die Men­schen.«

In kur­z­en Sät­zen mit sto­cken­dem Atem be­klag­ten sich die bei­den wei­ter. Eti­enne er­zähl­te, wie er seit ei­ner Wo­che ver­ge­bens Ar­beit su­che. Müs­se man denn wirk­lich vor Hun­ger um­kom­men? Bald wür­den die Land­stra­ßen sich mit Bett­lern fül­len. »Ja, ja,« mein­te der Alte, »das wird bös en­den. Gott kann un­mög­lich wol­len, dass so vie­le Chris­ten­menschen auf die Stra­ße ge­wor­fen wer­den.«

»Man hat nicht alle Tage sei­nen Bis­sen Fleisch.«

»Wenn man nur alle Tage Brot hät­te!«

»Das ist wahr; wenn man nur alle Tage Brot hät­te!«

Ihre Stim­men ver­lo­ren sich; die Wind­stö­ße ent­führ­ten ihre Wor­te mit trü­bem Ge­heul.

»Seht, dort liegt Mont­sou!« sag­te jetzt der Kärr­ner laut und wand­te sich nach Sü­den.

Wie­der streck­te er die Hand aus und zeig­te im Dun­kel auf un­sicht­ba­re Punk­te in dem Maße, wie er sie nann­te. Fau­vel­les Zucker­fa­brik in Mont­sou hal­te sich noch, Ho­tons Zucker­fa­brik je­doch ver­rin­ge­re ihre Ar­bei­ter; nur Du­til­leuls Mül­le­rei und Bleu­zes Sei­le­rei hät­ten noch zu tun. Dann zeig­te er mit ei­ner wei­ten Hand­be­we­gung den hal­b­en Ho­ri­zont im Nor­den; die Bau­werk­stät­ten Son­ne­vil­les hät­ten die­ses Jahr nicht zwei Drit­tel ih­rer sons­ti­gen Auf­trä­ge be­kom­men; von den drei Hochö­fen der Ei­sen­wer­ke zu Mar­chi­en­nes sei­en bloß zwei an­ge­bla­sen; in der Glas­fa­brik Ga­ge­bois end­lich dro­he ein Aus­stand, weil man von ei­ner Her­ab­set­zung der Ar­beits­löh­ne spre­che.

»Ich weiß, ich weiß«, wie­der­hol­te der jun­ge Mann bei je­der die­ser Aus­künf­te. »Ich kom­me von dort.«

»Bei uns ist es bis­her noch er­träg­lich«, füg­te der Kärr­ner hin­zu. »Und doch ha­ben die Koh­len­gru­ben über­all ih­ren Be­trieb ein­ge­schränkt. Da drü­ben auf dem Sie­ges­werk bren­nen auch nur mehr zwei Koksö­fen.«

Er spie und ging wie­der hin­ter sei­nem schlum­mern­den Gaul her, den er von Neu­em vor die lee­ren Hun­de ge­spannt hat­te.

Jetzt konn­te Eti­enne mit sei­nem Blick die gan­ze Ge­gend um­fas­sen. Es herrsch­te noch im­mer eine tie­fe Fins­ter­nis; aber die Hand des Al­ten hat­te sie gleich­sam mit ei­nem großen Elend an­ge­füllt, das der jun­ge Mann jetzt un­will­kür­lich über­all rings­um­her in der gan­zen un­er­mess­li­chen Aus­deh­nung fühl­te. War’s nicht ein Schrei des Hun­gers, den der Mär­zwind durch die­se kah­le Land­schaft trug? Die Wind­stö­ße wa­ren stär­ker ge­wor­den; sie schie­nen den Tod der Ar­beit mit sich zu füh­ren, eine Hun­gers­not, die vie­le Men­schen zu tö­ten droh­te. Sei­ne ir­ren­den Au­gen streng­ten sich an, die Fins­ter­nis zu durch­drin­gen, ge­pei­nigt von dem Ver­lan­gen und der Furcht zu se­hen. Al­les ver­lor sich in der Tie­fe der nächt­li­chen Fins­ter­nis; er sah nichts als in wei­ter Fer­ne die Hochö­fen und die Koksö­fen. Die letz­te­ren, Bat­te­ri­en zu hun­dert schief sit­zen­der Schlo­te, dehn­ten ihre Ram­pen von ro­ten Flam­men da­hin, wäh­rend die bei­den mehr nach links ge­le­ge­nen Hochö­fen un­ter frei­em Him­mel mit blau­en Flam­men brann­ten gleich Rie­sen­fa­ckeln. Es war trau­rig wie auf ei­ner Brand­stät­te; kei­ne an­de­ren Lich­ter wa­ren zu se­hen an die­sem dro­hen­den Ho­ri­zont als die­se nächt­li­chen Feu­er der Ei­sen und Koh­le er­zeu­gen­den Län­der.

»Sind Sie viel­leicht aus Bel­gi­en?« frag­te jetzt hin­ter Eti­enne der Kärr­ner, der zu­rück­ge­kehrt war.

Dies­mal brach­te er nur drei Hun­de; man konn­te sie im­mer­hin aus­lee­ren. Im Auf­zugs­schach­te war eine Schrau­ben­mut­ter ge­bro­chen, und die­ser Un­fall stör­te die Ar­beit eine gute Vier­tel­stun­de. Am Fuße des Hü­gels war es still ge­wor­den. Die Män­ner an der Win­de hat­ten auf­ge­hört, mit ih­rer Ar­beit die Gerüs­te in un­auf­hör­li­cher Er­schüt­te­rung zu er­hal­ten. Nur aus der Gru­be tön­te das fer­ne Geräusch ei­nes Ham­mers her­auf, der auf Blech los­schlug.

»Nein, ich bin aus dem Sü­den«, ant­wor­te­te der jun­ge Mann.

Der Hand­lan­ger hat­te die Hun­de aus­ge­leert und sich dann auf die Erde ge­setzt, ganz froh über den Un­fall, der ihm eine kur­ze Ruhe ge­stat­te­te. Er be­wahr­te sei­ne stil­le Scheu und er­hob die mat­ten Au­gen ganz er­staunt zu dem Kärr­ner, gleich­sam ver­dros­sen über so vie­le Wor­te. Der letz­te­re hat­te in der Tat nicht die Ge­wohn­heit, so viel zu re­den. Das Ge­sicht des Frem­den muss­te ihm ge­fal­len, und er wur­de au­gen­schein­lich von je­nem Drang nach Ver­trau­lich­keit er­fasst, der zu­wei­len be­wirkt, dass alte Leu­te von selbst und ganz laut zu plau­dern be­gin­nen.

»Ich bin von Mont­sou,« sag­te er, »und hei­ße Bon­ne­mort.«1

»Das ist wohl ein Spitz­na­me?« frag­te Eti­enne er­staunt.

Der Alte grins­te ver­gnügt und sag­te, nach dem Vo­reux­schach­te zei­gend:

»Ja, ja … Man hat mich drei­mal in Stücken von dort her­aus­ge­zo­gen. Das ers­te Mal war mir al­les Haar weg­ge­sengt, das zwei­te Mal steck­te ich in der Erde bis an den Kropf; das drit­te Mal war der Bauch von Was­ser an­ge­schwol­len wie der ei­nes Fro­sches … Da sa­hen die Leu­te, dass ich nicht hin wer­den woll­te, und nann­ten mich Bon­ne­mort, frei­lich nur so zum Spaß.«

Er be­gann da­bei zu ki­chern; es klang wie das Krei­schen ei­nes ein­ge­ros­te­ten Brun­nen­schwen­gels und ar­te­te schließ­lich in einen furcht­ba­ren Hus­ten­an­fall aus. Der Feu­er­korb be­leuch­te­te jetzt voll­stän­dig sei­nen di­cken Kopf mit den wei­ßen, schüt­teren Haa­ren und dem fla­chen, blei­chen, bläu­lich ge­fleck­ten Ge­sich­te. Er war klein von Ge­stalt, hat­te einen furcht­bar di­cken Hals, die Wa­den und Fer­sen nach au­ßen ge­kehrt, lan­ge Arme, de­ren vier­schrö­ti­ge Hän­de auf sei­nen Kni­en ruh­ten. Er schi­en üb­ri­gens von Stein zu sein wie sein Pferd, das un­be­weg­lich auf den Bei­nen stand, völ­lig un­be­küm­mert um den Wind; die Käl­te und der Wind, der ihn um die Ohren pfiff, lie­ßen ihn un­be­rührt. Wenn er ge­hus­tet hat­te – wo­bei ein tie­fes Rö­cheln sei­nen Hals zu zer­rei­ßen schi­en – spie er am Fuße des Feu­er­kor­bes aus, und die Erde färb­te sich schwarz.

Eti­enne be­trach­te­te ihn und dann den Bo­den, auf den der Alte in sol­cher Wei­se schwar­ze Fle­cke warf.

»Ist’s schon lan­ge her, dass Ihr in der Gru­be ar­bei­tet?« hub Eti­enne wie­der an.

Bon­ne­mort tat die bei­den Arme weit aus­ein­an­der und er­wi­der­te:

»Lan­ge? Ach, ja … Ich war noch nicht acht Jah­re alt, als ich in den Vo­reux­schacht ein­fuhr; jetzt zäh­le ich achtund­fünf­zig. Rech­nen Sie ein­mal … Ich habe da drin­nen al­les ge­macht, war zu­erst Schlep­per, dann Eg­gen­mann, als ich stark ge­nug dazu war, her­nach Schauf­ler acht­zehn Jah­re lang. Und spä­ter, als die ver­track­ten Bei­ne schlecht wur­den, ta­ten sie mich zum Ab­bau als Fül­ler und Fli­cker bis zu dem Tage, da sie mich her­auf­ho­len muss­ten, weil der Arzt sag­te, dass ich die Kno­chen da las­sen müs­se. Jetzt bin ich Kärr­ner seit fünf Jah­ren schon … Fünf­zig Jah­re Berg­werks­ar­beit, das ist hübsch, wie? Da­von fünf­und­vier­zig in der Gru­be …«

Wäh­rend er so sprach, war­fen ein­zel­ne bren­nen­de Koh­len­stücke, die aus dem Kor­be ge­fal­len wa­ren, einen blut­ro­ten Schein auf sein fah­les Ge­sicht.

»Sie ra­ten mir, in den Ru­he­stand zu ge­hen«, fuhr er fort. »Aber ich will nicht; ich bin nicht so dumm! … Ich wer­de wohl noch zwei Jah­re aus­hal­ten, bis die Sech­zig voll sind, um mei­ne Pen­si­on von hun­dert­acht­zig Fran­ken zu be­kom­men. Wenn ich heu­te mei­nen Ab­schied neh­me, wür­den sie mir nur hun­dert­fünf­zig be­wil­li­gen. Es sind gar pfif­fi­ge Ker­le! … Ich bin üb­ri­gens noch kräf­tig, von den Bei­nen ab­ge­se­hen. Das Was­ser ist mir un­ter die Haut ge­drun­gen, weil ich in den Stol­len gar so sehr nass ge­wor­den bin. Es gibt Tage, an de­nen ich kein Glied rüh­ren kann, ohne vor Schmerz auf­zu­schrei­en.«

Ein Hus­ten­an­fall un­ter­brach ihn wie­der.

»Ihr habt auch den Hus­ten da­von?« frag­te Eti­enne.

Er schüt­tel­te hef­tig den Kopf. Als er wie­der re­den konn­te, sag­te er:

»Nein, nein; ich habe mich im vo­ri­gen Mo­nat er­käl­tet. Nie­mals habe ich ge­hus­tet, jetzt aber kann ich den Hus­ten nicht los wer­den. Und das Ko­mi­sche da­bei ist, dass ich speie …«

Ein Rö­cheln stieg wie­der in sei­ner Keh­le auf, und er spie.

»Ist das Blut?« wag­te Eti­enne end­lich zu fra­gen.

Bon­ne­mort wisch­te sich mit dem Han­drücken lang­sam den Mund ab.

»Das ist Koh­le«, sag­te er. »Ich habe in mei­nem Leich­nam ge­nug da­von, um mich bis an das Ende mei­ner Tage zu wär­men. Und doch habe ich seit fünf Jah­ren kei­nen Fuß mehr in die Gru­ben ge­setzt. Wie es scheint, habe ich die Koh­le auf­ge­spei­chert, ohne es zu wis­sen. Bah! Das hält die Kno­chen zu­sam­men!«

Es trat wie­der ein Schwei­gen ein; der Ham­mer in der Fer­ne führ­te re­gel­mä­ßi­ge Schlä­ge; der Wind fuhr kla­gend da­hin wie ein Schrei des Hun­gers und der Er­mü­dung, der aus den Tie­fen der Nacht ge­kom­men. Vor dem Koh­len­feu­er sit­zend, das im Win­de auf­fla­cker­te, fuhr der Alte mit lei­se­rer Stim­me in sei­nen Erin­ne­run­gen fort. Ach ja, es war lan­ge her, dass er und die Sei­nen in den Mi­nen­gän­gen ar­bei­ten. Die Fa­mi­lie stand im Diens­te der Berg­werks­ge­sell­schaft von Mont­sou seit der Grün­dung des Un­ter­neh­mens. Das war lang her, schon hun­dert Jah­re. Sein Groß­va­ter, Wil­helm Ma­heu, hat­te als fünf­zehn­jäh­ri­ger Bur­sche die Stein­koh­le in Ré­quil­lart ent­deckt; es war die ers­te Gru­be der Ge­sell­schaft; sie liegt dort un­ten in der Nähe der Zucker­fa­brik Fau­vel­le und ist jetzt längst auf­ge­las­sen. So wuss­te es das gan­ze Land; zum Be­wei­se des­sen hieß das ent­deck­te Koh­len­la­ger »Wil­helms­schacht« nach dem Vor­na­men sei­nes Groß­va­ters. Er hat­te ihn nicht ge­kannt; es war, wie man er­zähl­te, ein großer, sehr star­ker Mensch, der mit sech­zig Jah­ren an Al­ters­schwä­che ge­stor­ben war. Sein Va­ter, Ni­ko­laus Ma­heu, ge­nannt der Rote, war mit kaum vier­zig Jah­ren im Vo­reux­schach­te ge­blie­ben, der zu je­ner Zeit ge­gra­ben wur­de; es fand ein Ein­sturz statt, eine voll­stän­di­ge Ver­schüt­tung; die Fel­sen ver­schlan­gen Blut und Kno­chen. Spä­ter hat­ten zwei sei­ner Ohei­me und sei­ne drei Brü­der gleich­falls ihre Haut da­ge­las­sen. Er selbst, Vin­zent Ma­heu, der fast ganz, nur mit ge­schwäch­ten Bei­nen aus der Gru­be her­vor­ge­gan­gen war, galt des­halb für einen Schlau­mei­er. Was war üb­ri­gens zu ma­chen? Man muss­te doch ar­bei­ten und tat es vom Va­ter auf den Sohn, wie man et­was an­de­res ge­tan hät­te. Sein Sohn Tous­saint Ma­heu schund sich jetzt dort ab, und auch sei­ne En­kel, sei­ne gan­ze Fa­mi­lie, die da drü­ben im Dor­fe wohn­te. Hun­dert Jah­re Fro­ne, nach den Al­ten die Jun­gen, im­mer für den näm­li­chen Herrn: ist das schön? Nicht vie­le Spieß­bür­ger könn­ten so leicht ihre Ge­schich­te her­sa­gen.

»Wenn man we­nigs­tens zu es­sen hat«, mur­mel­te Eti­enne wie­der.

»Das sage ich auch; so­la­ri­ge man Brot hat, kann man le­ben.«

Bon­ne­mort schwieg und wand­te die Au­gen nach dem Dor­fe, wo jetzt Lich­ter an­ge­zün­det wur­den, ei­nes nach dem an­de­ren. Im Kirch­turm zu Mont­sou schlug es vier Uhr; die Käl­te wur­de noch emp­find­li­cher.

»Ist eure Ge­sell­schaft reich?« frag­te Eti­enne wei­ter. Der Greis zog die Schul­tern in die Höhe und ließ sie wie­der sin­ken, gleich­sam er­drückt durch einen Berg von Ta­lern.

»O ja, o ja … Vi­el­leicht nicht so reich wie ihre Nach­ba­rin, die Ge­sell­schaft von An­zin. Aber doch Mil­lio­nen und Mil­lio­nen; es ist gar nicht zu zäh­len … Neun­zehn Schäch­te, da­von drei­zehn zur Aus­beu­tung, le Vo­reux, der Sie­ges­schacht, Crè­ve­coeur, Mi­rou, Sankt-Tho­mas, der Mag­da­le­nen­schacht, Feu­try-Can­tel und noch an­de­re; sechs für die För­de­rung und die Lüf­tung, wie Ré­quil­lart … Zehn­tau­send Ar­bei­ter; Bo­den­rech­te, die sich auf sie­ben­und­sech­zig Ge­mein­den er­stre­cken, eine För­de­rung von täg­lich fünf­tau­send Ton­nen; eine Ei­sen­bahn, die sämt­li­che Gru­ben ver­bin­det; und Werk­stät­ten und Fa­bri­ken! … O ja, Geld ist da! …«

Ein Rol­len von Hun­den über die Gerüs­te ließ den großen, gel­ben Gaul die Ohren spit­zen. Der Auf­zugs­kas­ten un­ten schi­en in­zwi­schen aus­ge­bes­sert zu sein; die Män­ner an der Win­de hat­ten ihre Ar­beit wie­der­auf­ge­nom­men. Wäh­rend der Kärr­ner sei­nen Gaul an­spann­te, um wie­der hin­ab­zu­fah­ren, sag­te er zu dem Tie­re in sanf­tem Tone:

»Ver­track­ter Faul­pelz, du sollst dich nicht ans Schwat­zen ge­wöh­nen! … Wenn Herr Hen­ne­beau wüss­te, wie du die Zeit ver­geu­dest!«

Eti­enne schau­te nach­denk­lich in die Nacht hin­aus und frag­te:

»Das Berg­werk ge­hört also Herrn Hen­ne­beau?«

»Nein,« er­klär­te der Alte, »Herr Hen­ne­beau ist nur der Ge­ne­ral­di­rek­tor; er wird eben­so be­zahlt wie wir.«

Der jun­ge Mann wies mit ei­ner Hand­be­we­gung in die un­er­mess­li­che, dunkle Fer­ne hin­aus und frag­te wei­ter:

»Wem ge­hört denn all dies?«

Doch Bon­ne­mort ward jetzt von ei­nem neu­en, der­ma­ßen hef­ti­gen An­fall er­grif­fen, dass er nicht zu Atem kom­men konn­te. Als er end­lich aus­ge­spien und den schwar­zen Schaum von sei­nen Lip­pen weg­ge­wischt hat­te, sprach er in den wie­der schär­fer ge­wor­de­nen Wind hin­aus:

»Wie? Wem all dies ge­hört? Man weiß es nicht; es ge­hört Leu­ten.«

Er wies in der Dun­kel­heit nach ei­nem un­be­stimm­ten Punk­te, nach ei­nem un­be­kann­ten, fer­nen Orte, be­völ­kert von den Leu­ten, für wel­che die Ma­heu seit hun­dert Jah­ren in den Berg­wer­ken ar­bei­te­ten. Sei­ne Stim­me hat­te eine an­däch­ti­ge Scheu an­ge­nom­men; es war, als spre­che er von ei­nem un­nah­ba­ren Hei­lig­tum, wo der ge­sät­tig­te Gott im Ver­bor­ge­nen weil­te, dem sie Leib und Le­ben hin­ga­ben, und den sie noch nie­mals ge­se­hen hat­ten.

»Wenn man sich doch we­nigs­tens mit Brot sat­tes­sen könn­te«, sag­te Eti­enne zum drit­ten Male, ohne schein­ba­ren Über­gang.

»Ach ja, wenn man im­mer Brot zu es­sen hät­te, es wäre zu schön! …«

Das Pferd hat­te sich in Gang ge­setzt, auch der Kärr­ner ver­schwand mit dem schlep­pen­den Gang ei­nes In­va­li­den. Der Hand­lan­ger bei der Ent­lee­rungs­vor­rich­tung hat­te sich nicht ge­rührt; er saß zu ei­ner Ku­gel zu­sam­men­ge­rollt da, das Kinn zwi­schen den Kni­en, und starr­te mit den großen, mat­ten Au­gen ins Lee­re.

Eti­enne hat­te sein Bün­del wie­der an sich ge­nom­men, ent­fern­te sich aber noch nicht. Er fühl­te, wie ihm der Rücken in dem ei­si­gen Win­de er­starr­te, wäh­rend sei­ne Brust vor dem großen Koh­len­feu­er briet. Vi­el­leicht wür­de er doch gut tun, sich an die Berg­werks­ver­wal­tung zu wen­den; der Alte war viel­leicht nicht recht un­ter­rich­tet; über­dies füg­te er sich in sein Schick­sal und war be­reit, jeg­li­che Ar­beit an­zu­neh­men. Wo­hin soll­te er ge­hen, und was soll­te aus ihm wer­den in die­ser durch den Ar­beits­man­gel aus­ge­hun­ger­ten Ge­gend? Soll­te er hin­ter ei­ner Mau­er ver­re­cken wie ein ver­lau­fe­ner Hund? Doch, hielt ein Zö­gern ihn zu­rück, eine Angst vor dem Vo­reux­schach­te in­mit­ten die­ser kah­len, in tie­fe Nacht ge­tauch­ten Ebe­ne. Der Wind schi­en mit je­dem Sto­ße stär­ker zu wer­den, als bla­se er von ei­nem im­mer mehr sich er­wei­tern­den Ho­ri­zon­te her. An dem nacht­to­ten Him­mel woll­te noch im­mer kein Mor­gen­däm­mer sich zei­gen; nur die Hochö­fen und die Koksö­fen flamm­ten in der Fins­ter­nis mit blut­ro­tem Schein, ohne die Fer­ne zu er­hel­len. Der Vo­reux­schacht, in sei­nem Lo­che hockend wie ein bös­ar­ti­ges Tier, duck­te sich noch mehr und at­me­te tiefer und län­ger, gleich­sam be­drückt durch sei­ne müh­sa­me Ver­dau­ung von Men­schen­fleisch.

Gu­ter­tod  <<<

Zweites Kapitel

In­mit­ten der Ge­trei­de- und Rü­ben­fel­der schlief das Gru­ben­dorf der Zwei­hun­dert­und­vier­zig in der fins­te­ren Nacht. Man un­ter­schied nur un­deut­lich die vier Blö­cke von klei­nen, Rücken an Rücken ste­hen­den Häu­schen, gleich den Ka­ser­nen oder Spi­tä­lern geo­me­trisch ge­nau und par­al­lel an­ge­leg­te Blö­cke, durch drei brei­te Zwi­schen­räu­me ge­trennt, die in gleich große Gärt­chen ab­ge­teilt wa­ren. Auf der ver­las­se­nen Ho­chebe­ne hör­te man nichts als das Heu­len des Win­des, der in den ab­ge­ris­se­nen Dräh­ten der Ein­frie­di­gun­gen sich ver­fing.

In der Fa­mi­lie Ma­heu, die das Häu­schen Num­mer 16 im zwei­ten Block be­wohn­te, rühr­te sich noch nichts. Die ein­zi­ge Stu­be des ers­ten Stock­wer­kes lag in tie­fe Fins­ter­nis gehüllt, die gleich­sam mit ih­rem Ge­wich­te den Schlaf der We­sen nie­der­hielt, die man zu­hauf, of­fe­nen Mun­des, von Mü­dig­keit er­drückt mein­te da­lie­gen zu se­hen. Trotz der schnei­den­den Käl­te, die drau­ßen herrsch­te, lag hier in der schwe­ren Luft eine le­ben­di­ge Wär­me, jene er­sti­cken­de Schwü­le, die man selbst in den sorg­fäl­tigst ge­rei­nig­ten Stu­ben an­trifft, wenn sie nach Men­schen­fleisch rie­chen.

Auf der Kuckucks­uhr der im Erd­ge­schoss ge­le­ge­nen Wohn­stu­be schlug es die vier­te Mor­gen­stun­de. Nichts rühr­te sich noch, man konn­te zar­tes Atem­ho­len ver­neh­men, be­glei­tet von dem ge­räusch­vol­le­ren Atem­ho­len zwei­er Schnar­cher. Plötz­lich rich­te­te Ka­tha­ri­na sich auf. In ih­rer Schlaf­trun­ken­heit hat­te sie gleich­sam aus Ge­wohn­heit die durch den Fuß­bo­den her­auf­tö­nen­den vier Schlä­ge der Uhr ge­zählt, ohne die Kraft zu fin­den, vollends zu er­wa­chen. Dann zog sie die Bei­ne un­ter der Bett­de­cke her­vor, tas­te­te einen Au­gen­blick her­um, rieb end­lich, ein Zünd­hölz­chen an und mach­te Licht. Doch blieb sie sit­zen; ihr Kopf war so schwer, dass er zwi­schen den Schul­tern zu­rück­fiel in ei­nem un­über­wind­li­chen Be­dürf­nis­se, den Schlaf fort­zu­set­zen.

Jetzt be­leuch­te­te die Ker­ze die vier­e­cki­ge, mit zwei Fens­tern ver­se­he­ne Stu­be, die von drei Bet­ton fast ganz an­ge­füllt war. Es stan­den da au­ßer­dem ein Spind, ein Tisch und zwei Stüh­le von al­tem Nuss­holz, de­ren dunk­ler, an­ge­rauch­ter Ton sich scharf von den hell­gelb ge­tünch­ten Mau­ern ab­hob. Kein wei­te­res Ein­rich­tungs­stück; die Klei­der hin­gen an Nä­geln. Auf den Flie­sen stand ein Krug ne­ben ei­ner ro­ten ir­de­nen Schüs­sel, die als Wasch­be­cken diente. In dem Bet­te zur Lin­ken schlief Za­cha­ri­as, der äl­tes­te Sohn, ein Bur­sche von ein­und­zwan­zig Jah­ren, mit sei­nem Bru­der Jo­han­nes, der eben sein elf­tes Jahr vollen­de­te. In dem Bet­te zur Rech­ten schlie­fen zwei klei­ne­re Kin­der, Leo­no­re und Hein­rich, die ers­te­re sechs, der letz­te­re vier Jah­re alt; ein­an­der in den Ar­men hal­tend, la­gen sie da. Ka­tha­ri­na teil­te das drit­te Bett mit ih­rer Schwes­ter Al­zi­re, die für ihre neun Jah­re so schwäch­lich war, dass Ka­the­ri­na sie ne­ben sich kaum ge­fühlt hät­te, wäre nicht der Hö­cker der Klei­nen ge­we­sen, den die­se ihr in die Sei­te stieß. Die mit Glas­schei­ben ver­se­he­ne Tür stand of­fen; man be­merk­te den Flur­gang, eine Art Schlauch, wo Va­ter und Mut­ter ein vier­tes Bett ein­nah­men, vor dem die Wie­ge der jüngs­ten Toch­ter stand, die Estel­le hieß und erst drei Mo­na­te zähl­te.

Ka­tha­ri­na mach­te in­zwi­schen eine ver­zwei­fel­te An­stren­gung. Sie streck­te sich und krümm­te bei­de Hän­de in ih­ren ro­ten Haa­ren, die strup­pig auf ihre Stirn und ih­ren Na­cken nie­der­fie­len. Schmäch­tig für ihre fünf­zehn Jah­re, zeig­te sie von ih­ren Glie­dern au­ßer­halb der en­gen Hül­le, die ihr Hemd bil­de­te, nur bläu­li­che Füße, die von der Koh­le gleich­sam tä­to­wiert wa­ren, und zar­te Arme, de­ren Milch­wei­ße sich leb­haft von der blei­chen Far­be des Ge­sich­tes ab­hob, das von dem fort­wäh­ren­den Wa­schen mit schwar­zer Sei­fe schon ver­dor­ben war. Ein letz­tes Gäh­nen öff­ne­te ih­ren et­was groß ge­ra­te­nen Mund mit präch­ti­gen Zäh­nen, die in ei­nem blut­leer blei­chen Zahn­fleische sa­ßen; in ih­ren grau­en Au­gen lag noch der ver­hal­te­ne Schlaf, und sie zeig­te einen Aus­druck des Schmer­zes und der Er­schöp­fung, der ihre gan­ze nack­te Ge­stalt zu schwel­len schi­en.

Doch jetzt ward ein Ge­brum­me aus dem Flur hör­bar; Ma­heu stam­mel­te mit mü­der Stim­me:

»Alle Wet­ter, es ist Zeit auf­zu­ste­hen! … Hast du Licht ge­macht, Ka­tha­ri­na?«

»Ja, Va­ter; es hat un­ten vier Uhr ge­schla­gen.«

»Spu­te dich doch, Nichts­nutz! Hät­test du ges­tern am Sonn­tag we­ni­ger ge­tanzt, dann hät­test du uns frü­her we­cken kön­nen. Ist das ein Fau­len­zer­le­ben!«

Er brumm­te wei­ter; doch der Schlaf über­mann­te ihn; sei­ne Vor­wür­fe ver­wirr­ten sich und gin­gen schließ­lich in ei­nem neu­en Schnar­chen un­ter.

Im Hem­de und mit nack­ten Fü­ßen ging das Mäd­chen in der Stu­be hin und her. Als sie am Bet­te Hein­richs und Leo­no­res vor­bei­kam, warf sie die her­ab­ge­glit­te­ne De­cke über sie; sie er­wach­ten nicht aus ih­rem fes­ten Kin­der­schla­fe. Al­zi­re, die mit of­fe­nen Au­gen dalag, hat­te sich wort­los um­ge­wen­det, um den noch war­men Platz ih­rer äl­te­ren Schwes­ter ein­zu­neh­men.

»Los, Za­cha­ri­as! Und du auch, Jo­han­nes!« rief Ka­tha­ri­na und blieb vor ih­ren Brü­dern ste­hen, die mit der Nase im Kopf­kis­sen wei­ter schlie­fen.

Sie muss­te den Gro­ßen bei der Schul­ter fas­sen und schüt­teln; als er vor sich hin fluch­te, ent­schloss sie sich, ih­nen die De­cke weg­zu­zie­hen. Sie fand es drol­lig und be­gann zu la­chen, als sie die bei­den Jun­gen mit den nack­ten Bei­nen stram­peln sah.

»Das ist blöd, lass mich in Frie­den!« brumm­te Za­cha­ri­as mür­risch, nach­dem er sich auf­ge­setzt hat­te. »Ich mag mag sol­che Spa­ße nicht … Herr­gott, dass man schon wie­der auf­ste­hen soll.«

Er war ein ma­ge­rer, schlot­te­ri­ger Kerl mit ei­nem lan­gen Ge­sich­te, in dem ei­ni­ge spär­li­che Bart­stop­peln sa­ßen, und hat­te die gel­ben Haa­re und die blut­lee­re Bläs­se, die der gan­zen Fa­mi­lie ei­gen wa­ren. Sein Hemd hat­te sich bis zum Bau­che hin­auf ver­scho­ben, er zog es her­ab nicht aus Scham­haf­tig­keit, son­dern weil er fror.

»Es hat un­ten vier Uhr ge­schla­gen«, wie­der­hol­te Ka­tha­ri­na. »Auf, auf! Der Va­ter wird bös.«

»Scher’ dich zum Teu­fel! Ich will schla­fen«, sag­te Jo­han­nes, zog die Bei­ne an und schloss die Au­gen.

Sie lach­te wie­der gut­mü­tig. Er war so klein und sei­ne Glie­der so schwäch­lich mit ih­ren von den Skro­feln an­ge­schwol­le­nen Ge­len­ken, dass sie ihn mit leich­ter Mühe in ihre Arme nahm. Al­lein er zap­pel­te mit den Bei­nen; sei­ne blei­che, fal­ti­ge Af­fen­frat­ze mit den grü­nen Au­gen, die durch sei­ne großen Ohren noch brei­ter wur­de, ward ganz bleich in ohn­mäch­ti­ger Wut. Er sag­te nichts, biss sie aber in die rech­te Brust.

»Bö­ser Bube!« brumm­te sie, einen Schrei un­ter­drückend und den Jun­gen auf die Erde set­zend.

Al­zi­re war nicht wie­der ein­ge­schla­fen; sie hat­te die De­cke bis zum Kinn hin­auf­ge­zo­gen und lag still­schwei­gend da. Mit den klu­gen Au­gen ei­nes Krüp­pels folg­te sie den Be­we­gun­gen ih­rer Schwes­ter und ih­rer Brü­der, die sich an­klei­de­ten. Doch jetzt brach, ein neu­er Streit an der Wasch­schüs­sel aus; die Jun­gen stie­ßen das Mäd­chen weg, weil sie sich zu lan­ge wusch. Die Hem­den flo­gen über die Köp­fe, wäh­rend sie noch schlaf­trun­ken sich wu­schen, ohne jede Scham, mit dem ru­hi­gen Be­ha­gen ei­ner Tracht jun­ger Hun­de, die zu­sam­men auf­wach­sen. Ka­tha­ri­na war üb­ri­gens zu­erst fer­tig. Sie schlüpf­te in die Berg­manns­ho­se, leg­te die Lein­wand­ja­cke an, knüpf­te die blaue Hau­be um den Haar­kno­ten und glich in die­ser sau­be­ren Werk­tags­ge­wan­dung ei­nem klei­nen Mann. Nichts war von ih­rem Ge­schlecht üb­rig­ge­blie­ben, als ein leich­tes Wie­gen der Hüf­ten.

»Wenn der Alte heim­kommt, wird er sich freu­en, wenn er das Bett so zer­wor­fen an­trifft«, sag­te Za­cha­ri­as bos­haft. »Ich wer­de ihm er­zäh­len, dass du es ge­tan hast.«

Der Alte war der Groß­va­ter, Bon­ne­mort, der bei Nacht ar­bei­te­te und bei Tage schlief. Das Bett kühl­te denn auch nie aus; es schlief im­mer je­mand dar­in.

Ohne zu ant­wor­ten, hat­te sich Ka­tha­ri­na dar­an ge­macht, das Bett in Ord­nung zu brin­gen. Doch seit ei­ner Wei­le wur­den hin­ter der Mau­er aus der Nach­bar­schaft Geräusche ver­nehm­bar. Die­se Zie­gel­bau­ten, von der Ge­sell­schaft aufs spar­sams­te her­ge­stellt, wa­ren so dünn, dass man je­den Laut hin­durch hör­te. Man leb­te eng zu­sam­men­ge­drängt von ei­nem Ende des Or­tes bis zum an­de­ren; nichts von dem in­ti­men Le­ben blieb ver­bor­gen, selbst vor den Kin­dern nicht. Ein schwe­rer Tritt hat­te eine Trep­pe in Er­schüt­te­rung ge­bracht; dann hör­te man einen wei­chen Fall, dem ein Seuf­zer der Er­leich­te­rung folg­te.

»Schön«, sag­te Ka­tha­ri­na. »Le­vaque geht zur Gru­be, und Bou­te­loup geht zur Frau Le­vaque.«

Jo­han­nes ki­cher­te, und auch Al­zi­res Au­gen fun­kel­ten leb­haf­ter. Je­den Mor­gen be­lus­tig­ten sie sich in die­ser Wei­se über die be­nach­bar­te Ehe zu drei­en; es war ein Häu­er, der ei­nem Erd­ar­bei­ter Un­ter­kunft gab; in die­ser Wei­se hat­te die Frau zwei Män­ner, den einen bei Nacht, den än­dern bei Tag.

»Phi­lo­me­ne hus­tet«, be­gann Ka­tha­ri­na wie­der und spitz­te die Ohren.

Sie sprach von der Äl­tes­ten der Ehe­leu­te Le­vaque, ei­nem großen Mäd­chen von neun­zehn Jah­ren, der Ge­lieb­ten Za­cha­rias’, von dem sie schon zwei Kin­der hat­te. Sie war üb­ri­gens so schwach auf der Brust, dass man sie am Sich­tungs­werk be­schäf­tig­te, weil sie zur Ar­beit in der Gru­be nicht taug­te.

»Frei­lich, Phi­lo­me­ne!« ant­wor­te­te Za­cha­ri­as. »Die schläft jetzt. Es ist doch eine Schwei­ne­rei, bis sechs Uhr zu schla­fen.«

Er schlüpf­te in sei­ne Hose; da schi­en ihm ein Ein­fall zu kom­men, und er öff­ne­te ein Fens­ter. Drau­ßen herrsch­te noch im­mer tie­fe Dun­kel­heit, und das Dorf er­wach­te all­mäh­lich; zwi­schen den Brett­chen der Rol­la­den sah man nach­ein­an­der die Lich­ter auf­blit­zen. Da gab es einen neu­en Zank; Za­cha­ri­as neig­te sich hin­aus, um zu spä­hen, ob er nicht aus dem ge­gen­über­ge­le­ge­nen Hau­se der Ehe­leu­te Pier­ron den Obe­r­auf­se­her des Vo­reux­schach­tes weg­ge­hen sehe, den man im Ver­dach­te hat­te, dass er bei der Frau Pier­ron schla­fe; wäh­rend Ka­tha­ri­na ihm zu­rief, dass der Mann ges­tern sei­nen Ta­ges­dienst in der Gru­be ge­habt habe, und dass folg­lich Herr Dan­saert die­se Nacht nicht da ge­schla­fen ha­ben kön­ne. Die Luft drang eis­kalt her­ein; die bei­den er­ei­fer­ten sich; je­der trat für die Rich­tig­keit sei­ner Er­kun­di­gun­gen ein, als plötz­lich ein hef­ti­ges Wei­nen los­brach. Es war Estel­le, die in ih­rer Wie­ge fror.

Ma­heu er­wach­te au­gen­blick­lich wie­der. Was hat­te er denn in den Kno­chen, dass er wie­der ein­ge­schla­fen war wie ein Tau­ge­nichts? Er fluch­te so wild, dass die Kin­der ne­ben­an kei­nen Laut mehr wag­ten. Za­cha­ri­as und Jo­han­nes be­en­de­ten mit mü­den Hän­den das Wa­schen. Al­zi­re schau­te noch im­mer mit weit of­fe­nen Au­gen. Die bei­den Klei­nen, Leo­no­re und Hein­rich, hat­ten trotz des Lär­mens sich nicht ge­rührt, son­dern schlie­fen, ein­an­der in den Ar­men lie­gend, mit dem­sel­ben lei­sen Atem wei­ter.

»Ka­tha­ri­na, gib mir die Ker­ze!« rief Ma­heu.

Sie war eben mit dem Zu­knöp­fen ih­rer Ja­cke fer­tig ge­wor­den und trug die Ker­ze nach dem Flur, wäh­rend ihre Brü­der bei dem we­ni­gen Lich­te, das durch die Glas­tür fiel, ihre Klei­der zu­sam­men­such­ten. Ihr Va­ter stieg aus dem Bet­te. Doch sie hielt sich nicht län­ger auf; mit di­cken Woll­st­rümp­fen an den Fü­ßen stieg sie tas­tend hin­un­ter, um den Kaf­fee zu be­rei­ten. Die Holz­schu­he der gan­zen Fa­mi­lie stan­den dort un­ter dem Ess­schrank.

»Wirst du schwei­gen, elen­der Wurm?« rief Ma­heu, den das fort­wäh­ren­de Ge­schrei Estel­les er­bit­ter­te.

Er war klein wie der alte Bon­ne­mort und glich ihm ins Fet­te über­tra­gen mit sei­nem star­ken Kop­fe, sei­nem plat­ten und fah­len Ge­sich­te un­ter gel­ben, kurz­ge­schnit­te­nen Haa­ren. Das Kind heul­te jetzt noch är­ger, er­schreckt durch die großen, kräf­ti­gen Arme, die über sei­nem Kop­fe fuch­tel­ten.

»Lass sie in Frie­den; du weißt doch, dass sie nicht still sein will«, sag­te sei­ne Frau und streck­te sich mit­ten im Bet­te aus.

Auch sie war eben er­wacht und be­klag­te sich; es sei doch zu dumm, dass man nie­mals die vol­le Nacht durch­schla­fen kön­ne. Konn­ten sie denn nicht mit we­ni­ger Geräusch weg­ge­hen? In die Bett­de­cke ein­ge­wi­ckelt, zeig­te sie nichts als ihr lan­ges Ge­sicht mit den gro­ben Zü­gen ei­ner et­was schwer­fäl­li­gen Schön­heit, mit neun­und­drei­ßig Jah­ren schon ver­un­stal­tet durch ihr Le­ben voll Müh’ und Not und durch die sie­ben Kin­der, die sie ge­bo­ren. Die Au­gen auf die Zim­mer­de­cke ge­rich­tet, sprach sie mit ge­dehn­ter Stim­me, wäh­rend ihr Mann sich an­klei­de­te. We­der er noch sie ach­te­te auf die Klei­ne, die sich schier den Hals aus­schrie.

»Ich muss dir sa­gen, dass ich kei­nen Sou im Hau­se habe, und es ist heut’ erst Mon­tag; sechs Tage dau­ert es noch bis zum Fünf­zehn­ten des Mo­nats. Ich weiß nicht, wie wir uns durch­schla­gen sol­len. Ihr bringt alle mit­ein­an­der neun Fran­ken; wie soll ich da aus­kom­men? Wir sind un­ser zehn im Hau­se.«

»Oho, neun Fran­ken?« wand­te Ma­heu ein. »Ich und Za­cha­ri­as je drei, das macht sechs; Ka­tha­ri­na und der Va­ter je zwei, das macht vier; sechs und vier sind zehn; Jo­han­nes bringt einen, macht elf Fran­ken.«

»Ja, elf; aber du rech­nest die Sonn­ta­ge nicht und die Tage, an de­nen es kei­ne Ar­beit gibt. Nie mehr als neun, hörst du?«

Er such­te sei­nen Le­der­gurt am Bo­den und schwieg. Dann rich­te­te er sich auf und sag­te:

»Be­kla­ge dich nicht, Weib; ich bin noch stark ge­nug. Schon mehr als ei­ner muss­te mit zwei­und­vier­zig Jah­ren schon aus der Gru­be her­auf.«

»Das ist mög­lich, Al­ter, aber da­mit ha­ben wir noch kein Brot. Was fan­ge ich an? Hast du nichts?«

»Ich habe zwei Sous.«

»Be­hal­te sie, um einen Schop­pen zu trin­ken … Mein Gott, was fan­ge ich an? Sechs Tage, eine Ewig­keit! … Wir schul­den Mai­grat sech­zig Fran­ken; er hat mir vor­ges­tern die Tür ge­wie­sen. Das soll mich aber nicht hin­dern, wie­der zu ihm zu ge­hen. Wenn er sich je­doch wei­gert, uns zu pum­pen …«

So fuhr die Ma­heu fort mit be­küm­mer­ter Stim­me und un­be­weg­li­chem Kop­fe; vor dem schwa­chen Lich­te der Ker­ze schloss sie von Zeit zu Zeit die Au­gen. Der Schrank sei leer, sag­te sie, und die Klei­nen ver­lang­ten Brot­schnit­ten zum Kaf­fee, der eben­falls aus­ge­gan­gen. Das lee­re Was­ser ma­che nur Bauch­zwi­cken. Dann er­zähl­te sie von den lan­gen Ta­gen, die man da­mit zu­brin­ge, dass man mit ge­koch­ten Kohl­blät­tern den Hun­ger täu­sche. All­mäh­lich hat­te sie die Stim­me er­hö­hen müs­sen, weil Estel­les Ge­heul ihre Wor­te über­tön­te. Das Ge­schrei der Klei­nen ward un­er­träg­lich. Ma­heu schi­en es plötz­lich zu hö­ren; au­ßer sich vor Wut nahm er das Kind aus der Wie­ge und schleu­der­te es auf das Bett der Mut­ter mit den Wor­ten:

»Da, nimm sie, denn ich wür­de sie zer­tre­ten … Don­ner Got­tes über den Balg! Das sauft an der Mut­ter­brust, dem geht nichts ab, und es gröhlt är­ger als die an­de­ren!«

Estel­le hat­te in der Tat zu sau­gen be­gon­nen; sie war un­ter der De­cke ver­schwun­den und in der Bett­wär­me still ge­wor­den; man hör­te nichts mehr als das gie­ri­ge Lut­schen ih­rer Lip­pen.

»Ha­ben die Bür­gers­leu­te von Pio­lai­ne dir nicht ge­sagt, dass du sie be­su­chen sollst?« frag­te der Mann nach ei­ner Wei­le.

Die Frau spitz­te die Lip­pen mit ei­ner Mie­ne mut­lo­sen Zwei­fels.

»Ja, sie sind mir be­geg­net«, ant­wor­te­te sie. »Sie brin­gen den ar­men Kin­dern Klei­der … Ich wer­de heut’ mor­gen Leo­no­re und Hein­rich hin­füh­ren. Vi­el­leicht ge­ben sie mir hun­dert Sous.«

Wie­der trat ein Schwei­gen ein. Ma­heu war fer­tig. Er blieb einen Au­gen­blick un­be­weg­lich, dann schloss er mit sei­ner dump­fen Stim­me:

»Was willst du? Es ist ein­mal so: brin­ge, wie du kannst, die Abend­sup­pe fer­tig. Das Schwat­zen führt zu nichts; es wird bes­ser sein, wenn ich zur Ar­beit gehe.«

»Ge­wiss«, sag­te die Ma­heu. »Bla­se das Licht aus; ich kann mir auch, im Fins­tern den Kopf zer­bre­chen.« Er blies die Ker­ze aus. Za­cha­ri­as und Jo­han­nes stie­gen schon hin­un­ter, er folg­te ih­nen; die höl­zer­ne Trep­pe krach­te un­ter sei­nen schwe­ren, mit wol­le­nen St­rümp­fen be­klei­de­ten Fü­ßen. Die Stu­be und der Flur­gang hin­ter ih­nen la­gen jetzt wie­der in Fins­ter­nis. Die Kin­der schlie­fen; Auch Al­zi­re hat­te wie­der die Au­gen ge­schlos­sen. Nur die Mut­ter schau­te mit of­fe­nen Au­gen in die Fins­ter­nis, wäh­rend an ih­rer hän­gen­den Brust ei­nes er­schöpf­ten Wei­bes Estel­le brumm­te wie ein jun­ges Kätz­chen.

In der Wohn­stu­be im Erd­ge­schoss be­schäf­tig­te sich Ka­tha­ri­na zu­nächst mit dem Feu­er. Es stand ein Ka­min aus Guß­ei­sen da mit ei­nem Rost in der Mit­te und ei­nem Back­ofen auf je­der Sei­te. In die­sem Ka­min brann­te un­auf­hör­lich ein Koh­len­feu­er. Die Ge­sell­schaft ver­teil­te mo­nat­lich acht Hek­to­li­ter Ab­fall­koh­le an jede Fa­mi­lie. Die­ser auf den Stra­ßen zu­sam­men­ge­le­se­ne Staub ent­zün­de­te sich nur schwer. Da­rum deck­te das Mäd­chen je­den Abend das Feu­er mit Asche zu; am Mor­gen brauch­te sie nur um­zu­rüh­ren und ei­ni­ge aus dem Schmutz sorg­fäl­tig her­aus­ge­such­te Koh­len­stück­chen auf­zu­le­gen. Dann setz­te sie einen Koch­topf auf den Rost und hock­te vor dem Spei­se­schrank nie­der.

Es war eine ziem­lich ge­räu­mi­ge Stu­be, die das gan­ze Erd­ge­schoss ein­nahm; sie war ap­fel­grün ge­stri­chen und von hol­län­di­scher Sau­ber­keit mit den blank ge­scheu­er­ten und mit fei­nem wei­ßen San­de be­streu­ten Flie­sen. Au­ßer dem Spei­se­schrank von ge­fir­nis­tem Tan­nen­hol­ze be­stand die Ein­rich­tung aus ei­nem Ti­sche und Ses­seln von dem­sel­ben Hol­ze. An den Mau­ern hin­gen grell ge­mal­te Bil­der, von der Ge­sell­schaft ge­schenkt, sie stell­ten den Kai­ser und die Kai­se­rin dar, wei­ter­hin Sol­da­ten und Hei­li­ge in gol­de­nen Ge­wän­dern, die von der hel­len Kahl­heit der Mau­ern ab­sta­chen. An­de­rer Zier­rat fand sich nicht in der Stu­be als eine Schach­tel von ro­sa­far­be­nem Kar­ton­pa­pier auf dem Spei­se­schrank und die Kuckucks­uhr in bunt­be­mal­tem Kas­ten, de­ren hel­les Tick­tack die Lee­re der ho­hen Stu­be aus­zu­fül­len schi­en. Ne­ben der Tür, die sich auf die Trep­pe öff­ne­te, war noch eine zwei­te Tür, die in den Kel­ler führ­te. Trotz der Rein­lich­keit verd­arb ein seit dem Abend ein­ge­schlos­se­ner Ge­ruch von ver­brann­ten Zwie­beln die Luft, die­se hei­ße, schwe­re, stets von ei­nem schar­fen Koh­len­ge­ruch ge­sät­tig­te Luft.

Ka­tha­ri­na hock­te sin­nend vor dem of­fe­nen Spei­se­schrank. Es war nichts ge­blie­ben als ein Stück Brot, wei­ßer Käse zur Ge­nü­ge, aber kaum ein Krüm­chen But­ter; und es galt, vier But­ter­bro­te zu­rechtzu­ma­chen. End­lich ent­schloss sie sich, schnitt die Brot­stücke, be­deck­te ei­nes mit Käse, be­strich ein zwei­tes mit But­ter und leg­te die bei­den zu­sam­men. Das war der »Zie­gel«, die Dop­pel­schnit­te, die je­den Mor­gen in die Gru­be mit­ge­nom­men wur­de. Bald la­gen die vier »Zie­gel« ne­ben­ein­an­der auf dem Ti­sche, mit größ­ter Ge­nau­ig­keit auf­ge­teilt, von dem größ­ten, der für den Va­ter be­stimmt war, bis zu dem kleins­ten, den Jo­han­nes be­kam.

Ka­tha­ri­na, schein­bar ganz bei ih­rer Ar­beit, dach­te über die Ge­schich­ten nach, die Za­cha­ri­as von dem Obe­r­auf­se­her und der Frau Pier­ron er­zähl­te. Sie öff­ne­te die Haus­tür zur Hälf­te und warf einen Blick hin­aus. Der Wind blies noch im­mer; an den nied­ri­gen Häu­ser­rei­hen des Dor­fes flamm­ten im­mer mehr Lich­ter auf, und das un­deut­li­che Ge­tüm­mel der er­wa­chen­den Be­völ­ke­rung mach­te sich ver­nehm­bar. Tü­ren wur­den ge­öff­net und ge­schlos­sen; ein­zel­ne dunkle Rei­hen von Ar­bei­tern zo­gen durch die Nacht da­hin. Sie war doch recht dumm, sich ei­ner Er­käl­tung aus­zu­set­zen, da ja der Häu­er ge­wiss zu Hau­se schlief, bis er um sechs Uhr sei­ne Ar­beit auf­neh­men muss­te. Aber sie ver­harr­te den­noch in ih­rer hocken­den Stel­lung und be­ob­ach­te­te das Haus, das auf der an­de­ren Sei­te hin­ter den Gär­ten lag. Jetzt ging die Türe auf, und ihre Neu­gier­de ward wie­der rege. Doch das konn­te nur Ly­dia sein, die Toch­ter der Pier­ron­schen Ehe­leu­te, die zur Gru­be ging.

Ein zi­schen­des Geräusch ver­an­lass­te sie, den Kopf zu wen­den. Sie schloss die Tür und eil­te zum Her­de: das Was­ser koch­te, floss über und droh­te das Feu­er zu ver­lö­schen.

Es war kein Kaf­fee mehr da: sie muss­te sich be­gnü­gen, Was­ser auf den Satz von ges­tern zu schüt­ten. Dann süß­te sie den In­halt der Kaf­fee­kan­ne mit Fa­rin­zu­cker. Eben ka­men ihr Va­ter und ihre bei­den Brü­der her­un­ter.

»Alle Wet­ter!« sag­te Za­cha­ri­as, als er die Nase in den Napf ge­steckt hat­te, »der Trank wird uns nicht zu Kopf stei­gen.«

Ma­heu zuck­te re­si­gniert die Ach­seln.

»Bah!« sag­te er; »man hat we­nigs­tens et­was War­mes im Lei­be, und das tut wohl.«

Jo­han­nes hat­te die Bro­sa­men ne­ben den Schnit­ten zu­sam­men­ge­scharrt und in sei­nen Napf ge­wor­fen. Nach­dem sie ge­trun­ken, goss Ka­tha­ri­na den Rest des Kaf­fees in die ble­cher­nen Feld­fla­schen. Alle vier stan­den in dem fah­len Lich­te der rau­chi­gen Ker­ze und stürz­ten in al­ler Hast den Trunk hin­un­ter.

»Sind wir end­lich fer­tig?« frag­te der Va­ter. »Man möch­te glau­ben, dass wir von un­se­ren Ren­ten le­ben.«

Doch jetzt wur­de von der Trep­pe her, de­ren Tür sie of­fen ge­las­sen hat­ten, eine Stim­me ver­nehm­bar. Frau Ma­heu rief:

»Nehmt al­les Brot; ich habe noch einen Rest Nu­deln für die Kin­der üb­rig.«

»Ja, ja«, ant­wor­te­te Ka­tha­ri­na.

Sie hat­te das Feu­er wie­der zu­ge­deckt und in ei­ner Ecke des Ros­tes einen Rest Sup­pe warm­ge­stellt, den der Groß­va­ter, der um sechs Uhr kam, vor­fin­den soll­te. Je­der hol­te un­ter dem Ess­schrank sei­ne Holz­schu­he her­vor, häng­te die Feld­fla­sche um und schob die But­ter­schnit­te in den Rücken zwi­schen Hemd und Ja­cke. Dann bra­chen sie auf, die Män­ner vor­aus, das Mäd­chen hin­ter­drein, nach­dem es die Ker­ze aus­ge­löscht und den Schlüs­sel um­ge­dreht. Das Haus ver­fiel wie­der in Stil­le und Dun­kel­heit.

»Wir ge­hen zu­sam­men«, sag­te ein Mann, der die Türe des Nach­bar­hau­ses schloss.

Es war Le­vaque mit sei­nem Sohn Be­bert, ei­nem Jun­gen von zwölf Jah­ren, der mit Jo­han­nes eng be­freun­det war. Ka­tha­ri­na war er­staunt, un­ter­drück­te ein Lä­cheln und flüs­ter­te Za­cha­ri­as ins Ohr: »Wie? Bou­te­loup war­te­te nicht ein­mal, bis der Mann fort war?«

Die Lich­ter im Dor­fe er­lo­schen jetzt nach­ein­an­der. Eine letz­te Tür fiel ins Schloss, dann ward al­les wie­der still; die Frau­en und Kin­der setz­ten in den be­que­mer ge­wor­de­nen Bet­ten ih­ren Schlaf fort. Vom Dor­fe bis zu dem pus­ten­den Vo­reux-Schach­te be­weg­te sich ein lang­sa­mer Zug von Schat­ten, es war der Auf­bruch der Koh­len­ar­bei­ter zum Wer­ke, die ihre Schul­tern da­hin­scho­ben und ihre Arme, mit de­nen sie nichts an­zu­fan­gen wuss­ten, über die Brust kreuz­ten, wäh­rend der Brot­vor­rat auf dem Rücken ei­nes je­den einen klei­nen Hö­cker bil­de­te. Bloß mit dün­ner Lein­wand be­klei­det, zit­ter­ten sie in der Käl­te, ohne sich des­halb mehr zu be­ei­len; in re­gel­lo­ser Wei­se zo­gen sie mit dem Ge­trap­pel ei­ner Her­de längs des We­ges hin.

Drittes Kapitel

Eti­enne war von dem Hü­gel end­lich hin­ab­ge­stie­gen und in den Vo­reux­schacht ge­tre­ten. Die Män­ner, an die er sich mit der Fra­ge wand­te, ob es kei­ne Ar­beit gebe, schüt­tel­ten den Kopf und sag­ten ihm alle, er sol­le den Obe­r­auf­se­her ab­war­ten. Man ließ ihm freie Be­we­gung in­mit­ten der schlecht be­leuch­te­ten Ge­bäu­de, die voll fins­te­rer Lö­cher wa­ren und be­ängs­ti­gend wirk­ten mit ih­rem Wirr­sal von Sä­len und Stock­wer­ken. Nach­dem er eine dunkle, halb zer­stör­te Trep­pe em­por­ge­stie­gen, be­fand er sich auf ei­nem schwan­ken­den Brücken­steg; dann durch­schritt er den Schup­pen des Sich­tungs­wer­kes, der in so tiefer Fins­ter­nis lag, dass er mit den Hän­den vor­aus­grei­fen muss­te, um nicht an­zu­sto­ßen. Plötz­lich sah er vor sich zwei rie­si­ge, gel­be Au­gen die Nacht durch­bre­chen. Er be­fand sich un­ter dem Glo­cken­stuhl im Auf­nah­me­saa­le an der Mün­dung des Schach­tes.

Ein Auf­se­her, der Va­ter Ri­chom­me, ein Di­cker mit dem Ge­sich­te ei­nes gut­mü­ti­gen Gen­darmen, das ein grau­er Schnurr­bart zier­te, be­gab sich eben ins Büro des Auf­nah­me­be­am­ten.

»Braucht man hier nicht einen Ar­bei­ter für ir­gend­ei­ne Be­schäf­ti­gung?« frag­te Eti­enne aber­mals.

Ri­chom­me woll­te nein sa­gen; doch er ward an­de­ren Sin­nes und sag­te wie die üb­ri­gen, wäh­rend er sich ent­fern­te:

»Er­war­ten Sie Herrn Dan­saert, den Obe­r­auf­se­her.«

Vier La­ter­nen wa­ren hier an­ge­bracht und die Re­flek­to­ren, die das gan­ze Licht auf den Schacht war­fen, be­leuch­te­ten hell die ei­ser­nen Ge­län­der, die He­bel der Si­gna­le und Ver­schlüs­se, die Pfos­ten der Sei­le, an de­nen die bei­den Auf­stieg­käs­ten hin­ab­glit­ten. Der Rest, der ei­nem Kir­chen­schif­fe glei­chen­de ge­räu­mi­ge Saal, lag im Dun­kel und war mit großen, schwe­ben­den Schat­ten be­völ­kert. Bloß die La­ter­nen­kam­mer flamm­te im Hin­ter­grun­de, wäh­rend das Lämp­chen im Büro des Auf­nah­me­be­am­ten ei­nem er­lö­schen­den Stern glich. Die Koh­len­för­de­rung war wie­der­auf­ge­nom­men wor­den. Es er­tön­te ein un­auf­hör­li­ches Dröh­nen auf den guss­ei­ser­nen Plat­ten, die Koh­len­hun­de roll­ten un­abläs­sig, und man sah die ge­beug­ten Ge­stal­ten der an der Win­de be­schäf­tig­ten Män­ner in­mit­ten des Ge­tüm­mels all die­ser in Be­we­gung be­find­li­chen dunklen und ge­räusch­vol­len Ge­gen­stän­de.

Ei­nen Au­gen­blick stand Eti­enne un­be­weg­lich da, be­täubt und ge­blen­det. Er fror, denn es zog von al­len Sei­ten. Dann trat er ei­ni­ge Schrit­te vor­wärts, an­ge­zo­gen durch die Ma­schi­ne, de­ren stäh­ler­ne und kup­fer­ne Be­stand­tei­le er glän­zen sah. Sie stand etwa fünf­und­zwan­zig Me­ter hin­ter der Schacht­mün­dung in ei­nem hö­her ge­le­ge­nen Saa­le, so fest auf ih­rem Un­ter­bau ge­la­gert, dass sie mit gan­zem Damp­fe ar­bei­te­te, mit ih­ren vol­len vier­hun­dert Pfer­de­kräf­ten, ohne dass die Be­we­gung ih­rer rie­si­gen Treib­stan­ge, die, weil gut ge­ölt, leicht und glatt auf und ab stieg, die Mau­ern im Ge­rings­ten er­schüt­tert hät­te. Der Ma­schi­nist, der am Ver­schluss­kol­ben stand, lausch­te dem Ge­klin­gel der Si­gna­le und wand­te kein Auge von der Nach­weis­ta­fel, auf wel­cher der Schacht mit sei­nen ver­schie­de­nen Stock­wer­ken durch eine senk­rech­te Fuge dar­ge­stellt war, in der an Schnü­ren be­fes­tig­te Blei­stücke, die Auf­zugs­käs­ten dar­stel­lend, auf und nie­der lie­fen. Wenn bei je­dem Ab­stieg die Ma­schi­ne sich in Be­we­gung setz­te, dreh­ten sich die Wel­len, die bei­den Rie­sen­rä­der von fünf Me­ter Durch­mes­ser, auf de­ren Na­hen die Stahl­sei­le sich in ent­ge­gen­ge­setz­ter Rich­tung auf und ab roll­ten, mit sol­cher Schnel­lig­keit, dass sie ei­nem grau­em Stau­be gli­chen.

»Auf­ge­passt!« rie­fen drei Ar­bei­ter, die eine Rie­sen­lei­ter schlepp­ten.

Er fehl­te nicht viel, und Eti­enne wäre von der Lei­ter er­schla­gen wor­den. Sei­ne Au­gen ge­wöhn­ten sich all­mäh­lich an die Dun­kel­heit; er sah das Ge­trie­be der Sei­le in der Luft, mehr als drei­ßig Me­ter stäh­ler­ner Bän­der, die in ei­nem Schwung im Glo­cken­stuh­le em­por­stie­gen, wo sie über Rä­der ge­legt wa­ren, um senk­recht in den Schacht ab­zu­fal­len, wo sie an den Auf­zugs­käs­ten be­fes­tigt wa­ren. Ein ei­ser­nes Gerüst, dem Ge­bälk ei­nes Glock­en­tur­mes glei­chend, trug die Rä­der. Es war wie der Flug ei­nes Vo­gels ohne Geräusch, ohne An­stoß; der rei­ßend schnel­le Lauf, das un­auf­hör­li­che Auf und Nie­der ei­nes Fa­dens von un­ge­heu­rem Ge­wich­te, der zwölf­tau­send Ki­lo­gramm mit ei­ner Ge­schwin­dig­keit von zehn Me­tern in der Se­kun­de zu he­ben ver­moch­te.

»Auf­ge­passt!« rie­fen noch ein­mal die Ar­bei­ter, wel­che die Lei­ter nach der an­de­ren Sei­te schaff­ten, um das links­sei­ti­ge Rad zu un­ter­su­chen.

Eti­enne kehr­te lang­sam in den Auf­nah­me­saal zu­rück. Die­ser Rie­sen­flug über sei­nem Haup­te ver­blüff­te ihn völ­lig. In dem von al­len Sei­ten auf ihn ein­drin­gen­den Luft­zug frös­telnd, be­trach­te­te er die Hand­ha­bung der Scha­len, fast be­täubt durch das Rol­len der Hun­de. Ne­ben dem Schach­te ar­bei­te­te das Si­gnal, ein He­bel­ham­mer, den eine in der Tie­fe an­ge­zo­ge­ne Schnur auf einen Block nie­der­fal­len ließ. Ein Schlag für das An­hal­ten, zwei Schlä­ge für den Ab­stieg, drei Schlä­ge für den Auf­stieg; es war eine un­auf­hör­li­che Fol­ge von Keu­len­schlä­gen, die den Tu­mult be­herrsch­ten, be­glei­tet von ei­nem hel­len Ge­klin­gel, wäh­rend der Ar­bei­ter, der die Vor­rich­tung lei­te­te, das Ge­tö­se noch ver­grö­ßer­te, in­dem er dem Ma­schi­nis­ten durch ein Sprach­rohr Wei­sun­gen zu­rief. In­mit­ten all die­ses Ge­tüm­mels tauch­ten die Scha­len auf und ver­san­ken wie­der, leer­ten sich und füll­ten sich, ohne dass Eti­enne et­was von die­ser kom­pli­zier­ten Ar­beit be­griff.

Er be­griff nur eins: der Schacht ver­schlang Men­schen in Bis­sen zu zwan­zig und drei­ßig und mit ei­nem so leich­ten Schlu­cken, als füh­le er gar nicht ih­ren Durch­gang. Um vier Uhr be­gann der Ab­stieg der Ar­bei­ter. Sie ka­men aus der Ba­ra­cke, bar­fü­ßig, mit der La­ter­ne in der Hand, in klei­nen Grup­pen war­tend, bis sie in ge­nü­gen­der An­zahl wa­ren. Geräusch­los, gleich dem stil­len Auftau­chen ei­nes Nacht­tie­res er­schi­en der Ei­sen­kä­fig aus der fins­te­ren Tie­fe und setz­te sich auf die Rie­gel mit sei­nen vier Stock­wer­ken, de­ren je­des zwei mit Koh­len ge­füll­te Hun­de ent­hielt. Auf den ver­schie­de­nen Ab­sät­zen hol­ten Ar­bei­ter die Hun­de her­aus und er­setz­ten sie durch an­de­re, ent­we­der lee­re oder mit Gru­ben­holz be­la­de­ne. In den lee­ren Hun­den nah­men die Ar­bei­ter Platz zu fünf und fünf bis zu vier­zig auf ein­mal, wenn sie alle Ab­tei­lun­gen ein­nah­men. Eine Wei­sung er­ging durch das Sprach­rohr, dar­auf folg­te ein dump­fes, un­deut­li­ches Brül­len, wäh­rend man vier­mal an dem Seil des un­te­ren Si­gnals zog, um die An­kunft die­ser La­dung von mensch­li­chem Fleisch an­zu­kün­di­gen. Nach ei­nem leich­ten Em­por­schnel­len sank die Scha­le ge­räusch­los hin­ab, fiel wie ein Stein und ließ nichts hin­ter sich zu­rück als den zit­tern­den Lauf des Sei­les.

»Ist es tief?« frag­te Eti­enne einen Gru­ben­ar­bei­ter, der ne­ben ihm stand und mit schläf­ri­ger Mie­ne war­te­te, bis die Rei­he an ihn kam.

»Fünf­hun­dert­vierund­fünf­zig Me­ter«, sag­te der Mann. »Aber es sind vier Ab­sät­ze, den ers­ten in ei­ner Tie­fe von drei­hun­dert­und­zwan­zig Me­ter.«

Bei­de schwie­gen und rich­te­ten die Au­gen auf das Seil, das jetzt em­por­stieg. Eti­enne frag­te wie­der:

»Und wenn es reißt?«

»Wenn es reißt …«

Der Gru­ben­ar­bei­ter be­en­de­te den Satz mit ei­ner Ge­bär­de. Er war an der Rei­he, die Scha­le war mit ih­rer leich­ten, mü­he­lo­sen Be­we­gung wie­der er­schie­nen. Er hock­te dar­in nie­der in Ge­sell­schaft von Ka­me­ra­den, und die Scha­le ver­sank; nach kaum vier Mi­nu­ten tauch­te sie wie­der auf, um eine neue La­dung von Män­nern zu ver­schlin­gen. Eine hal­be Stun­de lang fraß der Schacht in die­ser Wei­se Men­schen mit ei­nem mehr oder min­der gie­ri­gen Sch­lund, je nach der Tie­fe des Ab­sat­zes, wo­hin sie ab­stie­gen, aber un­auf­hör­lich, im­mer hung­rig, ein Rie­sen­darm, der ein Volk zu ver­dau­en ver­moch­te. Es füll­te sich wie­der und im­mer wie­der, und die fins­te­re Tie­fe blieb stumm, die Scha­le stieg mit der näm­li­chen ge­frä­ßi­gen Stil­le aus der Lee­re auf.

Eti­enne wur­de schließ­lich von dem­sel­ben Un­be­ha­gen er­grif­fen, das er schon auf dem Hü­gel ge­fühlt hat­te. Was nütz­te sei­ne Hart­nä­ckig­keit? Der Obe­r­auf­se­her ver­ab­schie­de­te ihn eben­so wie die an­de­ren. Eine un­be­stimm­te Angst brach­te ihn plötz­lich zu ei­nem Ent­schlus­se: er ging fort und mach­te drau­ßen erst vor dem Ge­bäu­de der Damp­fer­zeu­ger halt. Das weit of­fe­ne Tor ließ sie­ben Kes­sel mit je zwei Her­den se­hen. In­mit­ten des wei­ßen Duns­tes und des un­ter lau­tem Pfei­fen ent­wei­chen­den Damp­fes war ein Hei­zer da­mit be­schäf­tigt, einen der Feu­er­her­de frisch zu fül­len, des­sen sen­gen­de Glut man bis zur Schwel­le fühl­te. Die­ser Wär­me sich freu­end, trat der jun­ge Mann nä­her, als er ei­nem neu­en Trupp von Koh­len­ar­bei­tern be­geg­ne­te, die eben bei der Gru­be ein­tra­fen. Es wa­ren die Ma­heu und die Le­vaque. Als er an der Spit­ze des Trupps Ka­tha­ri­na mit ih­rem gut­mü­ti­gen Kna­ben­ant­litz er­blick­te, kam ihm der aber­gläu­bi­sche Ge­dan­ke, noch eine letz­te Fra­ge zu wa­gen.

»Sa­gen Sie, Ka­me­rad, braucht man hier nicht einen Ar­bei­ter für ir­gend­wel­che Ar­beit?«

Sie sah ihn über­rascht an, ein we­nig er­schreckt über die­se plötz­lich aus dem Dun­kel auf­tau­chen­de Stim­me. Doch Ma­heu, der hin­ter ihr kam, hat­te die Fra­ge ge­hört und be­ant­wor­te­te sie, in­dem er sich einen Au­gen­blick zum Plau­dern gönn­te. Nein, man be­dür­fe kei­nes Ar­bei­ters, sag­te er. Die­ser arme Teu­fel, die­ser her­u­mir­ren­de Ar­bei­ter in­ter­es­sier­te ihn. Als er ihn ver­ließ, sag­te er zu den an­de­ren:

»Schaut, so könn­te es auch uns er­ge­hen! … Man muss nicht all­zu viel kla­gen. Nicht alle ha­ben Ar­beit bis über den Kopf.«

Der Trupp trat ein und be­gab sich ge­ra­des­wegs zur Ba­ra­cke, ei­nem wei­ten Saal mit gro­bem Kalk­be­wur­fe, rings­um mit Schrän­ken an­ge­füllt, die mit Vor­le­ge­schlös­sern ver­schlos­sen wa­ren. In der Mit­te stand ein ei­ser­ner Ka­min, eine Art Ofen ohne Tür, feu­er­rot, der­ma­ßen voll­ge­stopft mit glü­hen­der Koh­le, dass ein­zel­ne Stücke platz­ten und auf den ge­stampf­ten Bo­den her­aus­fie­len. Der Saal war nur durch die­sen Ofen er­hellt, des­sen blut­ro­ter Wi­der­schein an dem schmut­zi­gen Ge­bäl­ke tanz­te bis hin­auf zu der mit schwar­zem Stau­be be­leg­ten De­cke.

Als die Ma­heu an­ka­men, herrsch­te ein lau­tes Ge­läch­ter in dem hei­ßen Saa­le. Etwa drei­ßig Ar­bei­ter stan­den mit dem Rücken zum Feu­er ge­wandt, mit ei­ner Mie­ne des Be­ha­gens sich rös­tend. Vor dem Ab­stieg ka­men alle hier­her und nah­men in ih­rer Haut ein Stück Wär­me mit, um der Feuch­tig­keit des Schach­tes Trotz bie­ten zu kön­nen. An die­sem Mor­gen gab es einen Spaß; man scherz­te mit der Mou­quet­te, ei­ner Schlep­pe­rin von acht­zehn Jah­ren, ei­ner gut­mü­ti­gen Dir­ne, de­ren rie­si­ger Bu­sen und Hin­ter­teil Ja­cke und Hose zu spren­gen droh­ten. Sie wohn­te zu Re­quil­lart mit ih­rem Va­ter, dem al­ten Mou­que, der als Stall­knecht diente, und ih­rem Bru­der Mou­quet, der bei der Win­de be­schäf­tigt war; da die Ar­beits­stun­den nicht für alle die näm­li­chen wa­ren, ging sie al­lein zur Gru­be. Zur Som­mers­zeit im Ge­trei­de, zur Win­ters­zeit an eine Mau­er ge­lehnt, gab sie sich dem Ver­gnü­gen hin in Ge­sell­schaft des für die Wo­che er­ko­re­nen Schat­zes. Das gan­ze Berg­werk kam an die Rei­he, sämt­li­che Ka­me­ra­den in ei­ner be­stimm­ten Rei­hen­fol­ge, ohne dass die Sa­che wei­te­re Fol­gen hat­te. Als man ei­nes Ta­ges sie mit ei­nem Na­gel­schmied von Mar­chi­en­nes auf­zog, barst sie schier vor Zorn und schrie, dass sie zu viel Selb­st­ach­tung habe und sich einen Arm ab­ha­cken wer­de, wenn je­mand sie mit ei­nem an­de­ren als mit ei­nem Koh­len­ar­bei­ter ge­se­hen habe.

»Ist’s denn nicht mehr der lan­ge Cha­val?« frag­te ein Ar­bei­ter spöt­tisch. »Du hast die­sen Klei­nen ge­nom­men? Aber der braucht ja eine Lei­ter! … Ich sah euch neu­lich hin­ter Ré­quil­lart. Er war auf einen Eck­stein ge­stie­gen …«

»Was wei­ter?« er­wi­der­te die Mou­quet­te wohl­ge­launt. »Was hat es dich zu küm­mern? Man hat dich nicht ge­ru­fen, um nach­zu­hel­fen.«

Die­se gut­mü­ti­ge Derb­heit er­reg­te neue Hei­ter­keits­aus­brü­che der Män­ner, die ihre halb ge­brann­ten Schul­tern bläh­ten, wäh­rend sie selbst vom La­chen ge­schüt­telt in ih­rem scham­lo­sen Ko­stüm un­ter ih­nen her­um­ging, das mit den bis zur Un­ge­sund­heit an­ge­schwol­le­nen Fleisch­klum­pen ko­misch und be­ängs­ti­gend zu­gleich war.

Doch bald ließ die Hei­ter­keit nach. Die Mou­quet­te er­zähl­te Ma­heu, dass die lan­ge Fleu­ran­ce nicht mehr kom­men wer­de; man habe sie ges­tern tot und starr in ih­rem Bet­te ge­fun­den. Die einen re­de­ten von ei­nem Herz­übel, die an­de­ren von ei­ner all­zu has­tig ge­leer­ten Schnaps­fla­sche. Ma­heu war ver­zwei­felt über die­se Nach­richt; es sei nun wie­der ein Un­glück, er ver­lie­re eine sei­ner Hilfs­ar­bei­te­rin­nen, ohne sie so­gleich er­set­zen zu kön­nen. Er ar­bei­te­te im Ak­kord; sie wa­ren ih­rer vier Häu­er in sei­nem Schlag; er, Za­cha­ri­as, Le­vaque und Cha­val; wenn sie nur mehr Ka­tha­ri­na als Schlep­pe­rin hät­ten, wer­de die Ar­beit si­cher­lich lei­den. Plötz­lich rief er aus:

»Halt! Und der Mann, der vor­hin Ar­beit such­te?«

Eben kam Dan­saert an der Ba­ra­cke vor­über. Ma­heu er­zähl­te ihm die Ge­schich­te und bat um die Er­mäch­ti­gung, den Mann an­zu­wer­ben; da­bei be­ton­te er das Be­stre­ben der Ge­sell­schaft, die Hilfs­ar­bei­te­rin­nen durch Bur­schen zu er­set­zen wie in An­zin. Der Obe­r­auf­se­her lä­chel­te zu­erst, denn der Vor­schlag, die Frau­en von der Gru­ben­ar­beit aus­zu­schlie­ßen, miss­fiel ge­wöhn­lich den Berg­leu­ten, die um die An­stel­lung ih­rer Töch­ter be­sorgt wa­ren, we­nig be­rührt durch die Fra­ge der Sitt­lich­keit und der Ge­sund­heit. Nach kur­z­em Zö­gern gab er end­lich sei­ne Ein­wil­li­gung mit dem Vor­be­hal­te, die Ge­neh­mi­gung sei­ner Ent­schei­dung bei Herrn Ne­grel, dem In­ge­nieur, ein­zu­ho­len.

»Der Mann muss schon weit sein, wenn er seit­her im­mer geht«, sag­te Za­cha­ri­as.

»Nein,« sag­te Ka­tha­ri­na, »ich habe ihn bei den Dampf­kes­seln ste­hen blei­ben se­hen.«

»Lauf ihm nach, Maulaf­fe!« rief Ma­heu.

Das Mäd­chen setz­te sich in Lauf, wäh­rend ein Trupp Ar­bei­ter zum Schach­te hin­auf­ging und an­de­ren das Feu­er über­ließ. Auch Jo­han­nes hol­te sei­ne La­ter­ne, ohne den Va­ter ab­zu­war­ten, mit ihm Be­bert, ein di­cker, kind­li­cher Jun­ge, und Ly­dia, ein schwäch­li­ches Mäd­chen von zehn Jah­ren. Die Mou­quet­te, die vor ih­nen auf­ge­bro­chen war, brach in dem dunklen Trep­pen­gang in ein Ge­schrei aus, nann­te sie schmut­zi­ge Ran­gen und droh­te ih­nen mit Maul­schel­len, wenn sie sie wie­der in die Bei­ne knif­fen.

Eti­enne plau­der­te in der Tat bei den Kes­seln mit dem Hei­zer, der die Öfen frisch füll­te. Es über­lief ihn eis­kalt bei dem Ge­dan­ken, dass er wie­der in die fins­te­re Nacht hin­austre­ten sol­le. In­des ent­schloss er sich zum Auf­bruch, als er eine Hand auf sei­ner Schul­ter fühl­te.

»Kommt,« sag­te Ka­tha­ri­na, »es ist et­was da für euch.«

Er be­griff nicht so­gleich; dann wall­te die Freu­de in ihm auf, und er drück­te dem Mäd­chen kräf­tig die Hän­de.

»Dank, Ka­me­rad … Ihr seid ein gu­ter Jun­ge, wahr­haf­tig!«

Sie be­gann zu la­chen, wäh­rend sie ihn in dem ro­ten Lich­te der Feu­er­her­de be­trach­te­te. Es mach­te ihr Spaß, dass er sie für einen Jun­gen hielt, weil sie noch so schmäch­tig und ihr Haar­kno­ten un­ter der Hau­be ver­bor­gen war. Auch er lach­te zu­frie­den, und sie stan­den einen Au­gen­blick mit fro­hen Ge­sich­tern ein­an­der ge­gen­über. Ma­heu hock­te in der Ba­ra­cke vor sei­ner Kis­te und zog sei­ne Holz­schu­he und Woll­st­rümp­fe aus. Als Eti­enne kam, ward al­les in vier Wor­ten ge­re­gelt: drei­ßig Sous Ta­ge­lohn für eine an­stren­gen­de Ar­beit, die er bald er­ler­nen wer­de. Der Häu­er riet ihm, sei­ne Schu­he an den Fü­ßen zu be­hal­ten, und lieh ihm einen al­ten le­der­nen Hut zum Schut­ze für sei­nen Schä­del, eine Vor­sicht, die der Va­ter und sei­ne Kin­der ver­schmäh­ten. Man hol­te das Ar­beits­ge­rät aus ei­ner Kis­te, wo sich zu­fäl­lig auch die Schau­fel der Fleu­ran­ce vor­fand. Als Ma­heu die Holz­schu­he und die St­rümp­fe al­ler, so­wie das Bün­del Eti­en­nes in der Kis­te ver­schlos­sen hat­te, ver­lor er plötz­lich die Ge­duld.

»Was macht denn die­ser Töl­pel von Cha­val?« rief er. »Si­cher hat er wie­der eine Dir­ne auf einen Stein­hau­fen hin­ge­wor­fen. Wir ha­ben uns heu­te um eine hal­be Stun­de ver­spä­tet.«

Za­cha­ri­as und Le­vaque brie­ten sich ru­hig die Schul­tern. Ers­te­rer sag­te schließ­lich:

»Du war­test auf Cha­val? Er ist vor uns ge­kom­men und so­gleich an­ge­fah­ren.«

»Wie, du weißt das und sagst mir nichts da­von? Vor­wärts schnell!«