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In "Gesammelte autobiografische und politische Schriften" versammelt Leo Tolstoi eine eindrucksvolle Reihe von Texten, die sowohl persönliche Erinnerungen als auch politische Überlegungen umfassen. Die Werke spiegeln Tolstois tiefgreifende Auseinandersetzung mit der menschlichen Natur und der Gesellschaft wider, geprägt von seinem unverwechselbaren literarischen Stil, der klar, präzise und oft philosophisch ist. Diese Sammlung bietet nicht nur einen Einblick in Tolstois Leben, sondern auch in seine moralischen und ethischen Überzeugungen, die ihn zeitlebens beschäftigt haben. Die Texte entführen den Leser in die Gedankenwelt eines der einflussreichsten Denker der modernen Literatur und eröffnen ein tiefes Verständnis für die sozialen und politischen Umstände seiner Zeit. Leo Tolstoi, geboren 1828 in Russland, war ein herausragender Schriftsteller und Philosoph, dessen Werke oft von einem starken moralischen Standpunkt geprägt sind. Sein Kampf mit Fragen der Menschlichkeit, des Glaubens und der sozialen Gerechtigkeit beeinflusste nicht nur seine belletristischen Arbeiten, sondern auch seine Essays und Briefe. Tolstois eigenes Leben, durch Krieg, Reichtum und eine ständige Suche nach Wahrheit geprägt, fließt wesentlich in die vorliegenden Texte ein und legt sein soziales Gewissen offen. Diese Sammlung ist eine unentbehrliche Lektüre für jeden, der sich für die Verbindung von Autobiografie und politischem Denken interessiert. Sie bietet nicht nur intime Einblicke in Tolstois Leben, sondern regt auch zur Reflexion über die grundlegenden Fragen des Daseins an. Die Auseinandersetzung mit den Schriften ist nicht nur für Literaturfreunde von Bedeutung, sondern auch für alle, die sich mit den Herausforderungen der menschlichen Existenz und der gesellschaftlichen Verantwortung beschäftigen.
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Veröffentlichungsjahr: 2023
Inhalt
Von den in den vorliegenden Blättern gesammelten kleinen Schriften Tolstois sind drei, nämlich »Zwei Briefe über Gewissensfragen«, »Eine Schande«, »Brief an einen Polen« schon vor einiger Zeit mir aus dem Hause des Grafen Tolstoi zugekommen mit dem Auftrag von ihm selbst, sie in geeigneter Weise zu veröffentlichen. Diesem Auftrag glaubte ich am besten zu entsprechen, indem ich sie der bewährten Obhut der Verlagsbuchhandlung Otto Janke übergab.
Die übrigen kleinen Schriften in Prosa sind aus den neuesten Bänden der Gesamtausgabe von Tolstois Werken übertragen worden. Die erste Stelle unter denselben gehört ohne Zweifel den »Ersten Erinnerungen«, welche Graf Tolstoi schon 1878 als Anfang einer leider unvollendet gebliebenen Autobiographie niederschrieb.
Diesen Erinnerungen, erlaubte ich mir, die Mitteilungen von Eugen Schyler, früherem amerikanischen Generalkonsul in Odessa, an die Seite zu stellen, welcher mit dem Grafen in persönlichem Verkehr stand. Diese Erinnerungen enthalten so viel Neues und Lesenswertes über den Entwickelungsgang Tolstois, seine Kriegsjahre, sein persönliches Wesen, seine Ansichten und Urteile, seine Schule, Familiengeschichte und manches andere, meist nach mündlichen Mitteilungen des Grafen, und Schuyler hat auf so liebenswürdige Weise dem berühmteren Namen den Vortritt zu lassen verstanden, daß der größere Teil seiner Erinnerungen in den eigenen Worten des Grafen wiedergegeben ist.
Schuylers Mitteilungen erschienen zuerst in Scribners Magazine in New York und die Redaktion der historischen Zeitschrift » Russkaja Stariná« (das russische Altertum) in St. Petersburg fand dieselben so gehaltvoll, daß sie sie in ihrer Zeitschrift vollständig wiedergab.
Das beigegebene satirische Gedicht fand ich gleichfalls in der » Russkaja Stariná«, mitgeteilt von einem Mitkämpfer im Krimkrieg. Die damalige nicht gerade geniale russische Kriegsleitung forderte die Satire im eigenen Lager heraus, und so entstand dieses Gedicht während der Belagerung von Sewastopol in einem heiteren Offtzierskreise unter der Ägide und der eifrigsten Mitarbeit des jungen Stabskapitän Tolstoi, welchem der größere Teil der Verse zugeschrieben wird.
L. A. Hauff.
Meine ersten Eindrücke vermag ich nicht mehr in die richtige Reihenfolge zu bringen. Ich weiß nicht mehr, was früher, was später war, und von einigen weiß ich nicht mehr, ob ich sie geträumt oder in Wirklichkeit empfangen habe.
Meine frühesten Erinnerungen sind die folgenden: Ich bin gebunden. Ich will die Arme freimachen und kann es nicht. Ich schreie und weine, und mein Geschrei ist mir selbst unangenehm, aber ich kann es nicht zurückhalten. Vor mir steht jemand und bückt sich zu mir herab, aber ich erinnere mich nicht, wer. Es war im Halbdunkel, aber ich erinnere mich, daß es zwei Personen waren. Mein Geschrei wirkt auf sie ein, sie sind in Sorge, binden mich aber nicht los, wie ich wünsche, und ich schreie noch lauter. Sie glauben, es müsse so sein, ich müsse gebunden sein, während ich weiß, daß das nicht nötig ist und ihnen das beweisen will. Und ich breche in lautes Geschrei aus, das mir selbst widerlich, aber nicht zurückzuhalten ist. Ich fühle die Ungerechtigkeit und Grausamkeit des Schicksals, nicht der Menschen, denn sie bedauern mich, sondern des Schicksals, und empfinde Mitleid mit mir selber. Ich weiß nicht und werde es niemals erfahren, was das war, ob man mich eingewickelt hat, als ich noch ein Säugling war, und ob ich dann meine Arme losgerissen habe, oder ob man mich erst in späteren Jahren einwickelte, damit ich mir nicht das Gesicht zerkratze, oder ob ich in dieser einen Erinnerung so viele Eindrücke angesammelt habe, wie das im Schlaf vorkommt, – aber das weiß ich, daß dies mein erster und stärkster Eindruck im Leben war. Ich verlange nach Freiheit, sie stört niemand, aber ich, der Kraft nötig hat, ich bin schwach, und sie sind stark.
Eine andere Erinnerung ist freudiger Art. Ich sitze in einer Wanne und bemerke einen nicht unangenehmen Geruch von etwas Neuem, mit dem man meinen kleinen Körper abreibt. Wahrscheinlich war es Kleie, und wahrscheinlich amüsierte mich die Neuheit der Situation in der Wanne und im Wasser, und ich bemerkte zum ersten Mal mit Wohlgefallen meinen kleinen Körper, die Brust und die darunter sichtbaren Rippen und die glatte, dunkle Wanne, die vertrockneten Hände der Wärterin, das warme, dampfende, plätschernde Wasser und besonders das Gefühl der Glätte der nassen Ränder der Wanne, wenn ich mit den Händchen darüber hinfuhr.
Es ist sonderbar und eigentlich schrecklich zu denken, daß ich in der Zeit von meiner Geburt bis zum dritten Jahr, also in der Zeit, wo ich an der Brust genährt, darauf entwöhnt wurde, wo ich anfing zu kriechen, zu gehen und zu sprechen, nicht eine einzige weitere Erinnerung, außer diesen beiden, finden kann.
Wann begann mein Dasein? Wann begann ich zu leben? Warum macht es mir Vergnügen, mich mir in meinem damaligen Zustand vorzustellen, und warum war es mir schrecklich, wie es jetzt noch vielen schrecklich ist, an den Augenblick zu denken, wo ich wieder in den Zustand des Todes eintrete, aus welchem wir keine in Worten auszudrückende Erinnerung mitbringen?
Habe ich etwa damals nicht gelebt, als ich lernte, zu sehen, zu hören, zu begreifen, zu sprechen, als ich schlief, als ich an der Brust sog, lachend die Brust küßte und das Herz meiner Mutter erfreute? Gewiß habe ich damals gelebt, und es war ein fröhliches Leben! Habe ich etwa nicht damals das alles erworben, wovon ich jetzt lebe, und habe ich nicht so viel und so schnell erworben, daß ich während meines ganzen übrigen Lebens nicht mehr den hundertsten Teil davon erworben habe? Von dem fünfjährigen Kind bis zu mir ist nur ein Schritt. Zwischen dem Neugeborenen und dem Fünfjährigen liegt eine weite Entfernung, zwischen dem Embryo und dem Neugeborenen – ein Abgrund. Zwischen dem Nichtsein und dem Embryo aber liegt nicht nur ein Abgrund, sondern – das Unbegreifliche.
Entfernung, Zeit und Ursache sind Formen der Vorstellung und das Wesen des Lebens liegt außerhalb dieser Formen, unser ganzes Leben aber ist eine immer weiter gehende Unterwerfung unter diese Formen und dann wieder die Befreiung von ihnen.
Meine späteren Erinnerungen beziehen sich auf das vierte und fünfte Jahr, aber ihre Zahl ist auch sehr gering, und keine einzige betrifft das Leben außerhalb der Wände des Hauses. Vor dem fünften Jahr existierte die Natur nicht für mich. Alle Vorgänge, deren ich mich erinnere, erlebte ich in meinem Bettchen, im Zimmer. Weder Gräser, noch Blätter, weder Himmel, noch Sonne gab es für mich. Es kann nicht sein, daß man mich nicht mit Blumen, mit Blättern spielen ließ, daß ich keine Gräser gesehen habe, daß man mich nicht gegen die Sonne schützte, aber bis zum fünften, sechsten Jahr habe ich nicht eine einzige Erinnerung von dem, was man Natur nennt. Wahrscheinlich muß man außerhalb der Natur stehen, um sie zu sehen, ich aber war ein Teil der Natur.