Geschenkokalypse - Andrea Völkner - E-Book

Geschenkokalypse E-Book

Andrea Völkner

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Lebensstil
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

Eigentlich wollte Yadenin nur ein Geburtstagsgeschenk kaufen. Doch dabei löst die Wiesenelfe versehentlich den Weltuntergang aus. Die Schattendimension greift an! Yadenin muss das letzte Fragment der Steinernen Träne finden. Nur mit diesem uralten Relikt kann sie den Angriff aufhalten und die Welt retten. Devisenelfen, Dyklopen, urlaubsreife Unken, Kryptogeologen und Klagemoos – auf ihrer gefährlichen Reise bis in ein versunkenes Schloss trifft Yadenin eine Menge fabelhafter Wesen, bei denen nicht immer klar ist, ob es sich um Freund oder Feind handelt. Wem kann Yadenin vertrauen? Treffen schlimme Hervorsagen genauso sicher ein wie üble Vorhersagen? Und bedeutet der Weltuntergang tatsächlich das Ende? Geschenkokalypse – das unglaubliche Missgeschick einer kleinen Elfe ist spannende und witzige Fantasy-Unterhaltung.

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Seitenzahl: 327

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Andrea Völkner

Geschenkokalypse

-

Das unglaubliche Missgeschick einer kleinen Elfe

Roman

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.dnb.de abrufbar.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß §44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt. Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung. Jegliche Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen sind rein zufällig.

© Copyright 2024 Andrea Völkner

Andrea Völkner

c/o Fakriro GbR / Impressumsservice

Bodenfeldstr. 9

91438 Bad Windsheim

[email protected]

instagram.com/andreavoelkner

Coverillustration: © Frieda Ruh

Lektorat: JE

ISBN Taschenbuch 978-3-7583-6719-9

Das Geburtstagsgeschenk

Yadenin sah in die zornigen, grauen Augen eines Devisenelfen.

„Ist das Ihr Ernst?“, schimpfte er. „Sie verkaufen hier neben Schmuck und Gemälden auch Mirabellenmarmelade aus dem eigenen Garten als ‚Kostbare Antiquität‘?“

Yadenin arbeitete schon einige Jahre im Antiquitätenhandel. Die Wiesenelfe mochte ihre Tätigkeit. Aber manchmal waren die Kunden schwierig. Yadenin versuchte, die wiesenelfische Logik hinter dem Angebot zu erklären.

„Es ist doch relativ, was eine Antiquität ist. Oder kostbar.“

„Bei ihnen stehen überaus teure Gemälde gleich neben selbstgemachtem Aufstrich. Kunst und Konfitüre! Das ist vom Wert her doch gar nicht zu vergleichen!“

„Wahre Bedeutung lässt sich nicht mit Geld messen. Und ist die Schönheit eines Gegenstandes nicht immer wichtiger als sein materieller Wert?“

„Sie glauben das wirklich, nicht wahr?“

Über das graue Gesicht des Devisenelfen lief ein Zucken. Er versuchte zuerst noch, die Fassung zu wahren. Dann bekam er einen Lachkrampf.

„Ich nehme ein Glas Mirabellenmarmelade“, brachte er nur mit Mühe unter lautem Prusten hervor.

Er hielt sich noch immer den Bauch, als Yadenin ihm ein Glas einpackte und abkassierte. Dann verließ er kichernd das Geschäft.

Elymas, der Ladenbesitzer, ein alter Wiesenelf mit weißem Haar, kam in diesem Moment herein. Er lächelte Yadenin freundlich an.

„Ich hätte die wiesenelfische Lebensweisheit nicht besser erklären können. Ebenso wie unser Sortiment! Und jetzt geh und genieße deinen Feierabend!“

Yadenin nickte Elymas dankbar zu, schloss die Kasse und verließ den Laden. Die Wiesenelfe schlenderte unter der milden Herbstsonne an allerlei Ständen und Auslagen vorbei. In der Galitzergasse in Albenhain reihte sich ein Fachwerkhaus an das nächste und in den meisten hatten sich Wiesenelfen ein kleines Antiquitätengeschäft aufgebaut. Bunte Schaufenster und weit geöffnete Türen luden zum Stöbern in Läden ein, die Laternen, Lampions, Bücher, Möbel oder Schmuck anboten. Eifrige Verkäufer und interessierte Kundinnen feilschten um Preise für Perlen, Broschen, Besteck und vieles mehr. Fröhliches Stimmengewirr und die Düfte verschiedenster Leckereien erfüllten die Luft.

Yadenin fragte sich noch immer, was an ihren Worten so lustig gewesen war. Doch im Trubel der Galitzergasse wurde sie schnell von ihren Überlegungen abgelenkt.

„Gute Geschäfte!“, rief Heribert Yadenin zu. Der Wiesenelf mit den dichten, braunen Locken verkaufte vor allem Karten und Globusse.

„Gute Geschäfte!“, erwiderte sie den traditionellen albenhainischen Gruß.

Tatsächlich war Albenhain eine der reichsten Elfenstädte in ganz Falas, einem noch immer nicht vollständig erforschten Kontinent, auf dem eine unbekannte Anzahl Elfen, Menschen und weiterer, teils ein wenig wunderlicher Wesen wohnte. Als Hafenstadt profitierte Albenhain durch seine Lage an der Westsee und der Mündung der Drane vom allgemeinen Handel. Den stets etwas verträumten Wiesenelfen war der wirtschaftliche Aufstieg Albenhains allerdings nicht zu verdanken. Vielmehr war er dem geschäftlichen Geschick der Devisenelfen zuzuschreiben. Devisenelfen schauten auf Wiesenelfen herab. Sie hielten sie für hoffnungslos naiv und geschäftsuntüchtig. Außerdem waren sie ein bis zwei Köpfe größer und hatten auffallend graue Haut. Bis auf die spitzen Ohren hatten Wiesen- und Devisenelfen wenig gemeinsam. Welcher dieser oder der vielen weiteren Elfenkulturen eine Elfe zugehörig war, entschied sich im Verlauf der Kindheit. Manchmal folgten Elfenkinder dem Weg eines ihrer Elternteile. Häufig entdeckten sie sich aber auch in einer anderen Elfenkultur wieder oder sie fanden ihren ganz eigenen Weg – so wie Neri, Nax und Nane, Elymas‘ Enkel, die gerade eilig auf dem Weg zum Spielplatz an Yadenin vorbeihuschten. Neri war vier. Und vor wenigen Wochen waren ihr hübsche, braun gefiederte Flügel gewachsen. Zusammen mit dem Geweih auf Neris Stirn waren ihre Flügel ein untrüglicher Hinweis darauf, dass das Mädchen sich zu einer majestätischen Waldelfe entwickelte. Neri war sehr stolz darauf, dass sie mittlerweile mehr als doppelt so groß war wie ihr älterer Bruder Nax. Nax hatte mit acht Jahren aufgehört zu wachsen. Stattdessen begann er wieder kleiner zu werden. Außerdem war er eines Morgens mit einem schimmernden Paar Libellenflügel erwacht. Offensichtlich wuchs, beziehungsweise schrumpfte, hier ein gesunder Blattelf heran. Neri und Nax stritten ständig mit ihrer Schwester Nane. Nane hatte über Nacht graue Haare bekommen und ein auffallendes Interesse an Bilanzen entwickelt. Sie schien den devisenelfischen Weg einzuschlagen. Devisenelfische Kinder waren nicht unbedingt leicht zugänglich. Dafür legten sie beachtlichen Fleiß an den Tag. Möglicherweise erklärt sich der ungeheure Ehrgeiz, der viele Devisenelfen antreibt, durch ihre geringe Lebenserwartung. Der durchschnittliche Devisenelf lebt nur etwa 150 Jahre. Dagegen soll es Wiesenelfen geben, die ihren 500. Geburtstag gefeiert haben.

Yadenin war gerade einmal 25 Jahre alt. Mit ihren dunklen Haaren, ihrer kleinen, ein bisschen zu spitzen Nase, ihren zierlichen Lippen und violetten Augen stellte sie eine durchaus hübsche Wiesenelfe dar. Aber Äußerlichkeiten interessierten sie wenig und so waren auch ihr grünes, knielanges Kleid und ihre braunen Stiefel eher praktisch als elegant.

„Gute Geschäfte, liebe Tulip“, begrüßte sie eine Nachbarin und blieb vor deren Auslage mit Schmucksteinen und Kristallen stehen.

„Guten Geschäfte!“, gab die rothaarige Tulip freundlich zurück. „Suchst du etwas Bestimmtes?“

„Ja. Ein Geschenk für Elymas‘ 450. Geburtstag kommende Woche.“

Yadenin freute sich auf die Feier. Sie arbeitete schon zwölf Jahre im Antiquitätengeschäft von Elymas und seiner Frau Nimue. Die freundlichen Wiesenelfen waren für Yadenin, die in einem Waisenheim für Elfenkinder aufgewachsen war, so etwas wie Ersatzeltern geworden.

„Sammelt Elymas nicht Edelsteine?“

„Ja. Er ist ein richtiger Künstler darin, sie zu schleifen und zu fassen.“

Tulip wies mit ihrer reich beringten Hand auf ihre Auslagen.

„Sicher findest du ein schönes Stück, das du ihm schenken kannst.“

„Bestimmt! Darum bin ich hier.“

Yadenin strich ihr Haar hinter ihre Ohrspitzen und betrachtete die Steine, die bunt gemischt in kleinen Messingschalen und Holzkisten vor ihr lagen. Tulip verkaufte die größte Auswahl an Juwelen und Kristallen in der Galitzergasse. Die schönsten Stücke baute sie jeden Tag sorgsam vor ihrem mit Efeu bewachsenen Laden auf. In einer hübsch gemusterten Schale lagen Steine mit eingemeißelter Schrift.

„Das sind antike Orakelsteine“, erklärte Tulip. „Sie stammen von den Druidinnen aus Nordheim. Ihre mit weisen Sprüchen versehenen Orakelsteine haben vor Jahrhunderten die Geschicke des Königreichs Nordheim entschieden.“

Yadenin griff nach einem blauen Stein und las: ‚Gib nicht auf! Oder doch. Egal.‘

Verwundert griff sie nach einem zweiten Stein. Auf ihm stand: ‚Ehrlich jetzt! Entscheide gefälligst selbst!‘

Erstaunt sah Yadenin zu Tulip, die etwas verlegen zu einer Erklärung ansetzte.

„Die Nachfrage nach druidischen Orakeln ist mit der Zeit auch über die Grenzen Nordheims hinaus derart angestiegen, dass die Qualität der Sprüche ein wenig nachgelassen hat. Das hier sind wohl Orakelsteine aus der Phase kurz vor dem endgültigen Untergang der Druidinnenkultur Nordheims.“

„Dann schaue ich mal in den anderen Kästchen weiter“, meinte Yadenin.

Sie strich ihr grünes Kleid glatt und warf einen Blick in eine fein geschnitzte Holzschatulle. Zwischen ein paar bunten Schmucksteinen fiel ihr ein zartes Leuchten auf. Ein weißer Stein, etwa so groß wie ihre Handfläche, lag auf dem Boden der Kiste. Er strahlte aus sich selbst heraus. Während eine Seite halbrund und glatt war, wies die andere eine unregelmäßige Kante auf. Es handelte sich um ein Fragment, das aus einem größeren Ganzen herausgebrochen sein musste. Yadenin nahm das Bruchstück in ihre Hand.

„Was ist das für ein Stein?“

„Ein Unikat von einer fahrenden Händlerin. Aber er ist zerbrochen und nicht besonders schön.“

„Jeder Stein ist schön, wenn jemand ihn schön findet. Es kommt auf den Blick an, nicht den Anblick.“ Yadenin lächelte. „Und was zerbrochen ist, hat bestimmt eine interessante Geschichte! Man soll immer zuerst das Beste von jeder und allem annehmen.“

Wie der Devisenelf ganz richtig erkannt hatte – Yadenin sagte so etwas nicht nur. Sie glaubte es. Und an schönen Tagen wie heute gab sie gern ein paar idealistische Weisheiten zu viel von sich.

Der einzige Sinn, den Devisenelfen in solchen Sätzen erkennen konnten, war, dass sie sich auf Postkarten drucken und verkaufen ließen. Aber für Yadenin waren sie die Pfeiler ihres Weltbildes. Wiesenelfen sahen die Welt gerne so, wie sie sein sollte. Leider übersahen sie dabei oft, wie die Welt wirklich war.

Fröhlich drehte Yadenin den Stein in ihrer Hand hin und her. Sein sanftes Weiß leuchtete zwischen ihren schmalen Fingern hervor. Doch auf einmal spürte sie etwas.

„Der Stein pulsiert. Es fühlt sich an, als würde ich ein kleines Herz in den Fingern halten. Vielleicht ist das hier das Ei einer Steinfee?“

„Diese sagenumwobenen Kreaturen, die von der Größe eines Kieselsteins zu der eines Felsens heranwachsen?“

„Genau die. Wäre es nicht großartig, wenn in diesem kleinen Bruchstück eine Steinfee reifen würde?“

„Für ein Ei ist dieses Fragment aber nicht sehr rund.“

„Wer sagt, dass Eier keine Ecken und Kanten haben dürfen?“

Tulip zog eine Augenbraue nach oben. „Vermutlich alle, die sie legen müssen.“

„Was könnte es denn sonst sein?“

„Vielleicht ist es lebendiges Gestein und es nisten winzige Bergtrolle darin?“

„Oder dies ist einer der legendären Steine des Anfangs, die noch aus den Tagen der Erschaffung der Welt herstammen.“

Tulip lächelte. „Das kann natürlich auch sein.“

„Ich kaufe ihn“, entschied Yadenin.

Was es auch für ein Stein war, in jedem Fall stellte er ein außergewöhnliches Geschenk für Elymas dar und für ein paar Kupfermünzen aus ihrer Gürteltasche gehörte er Yadenin.

Die beiden Wiesenelfen bemerkten nicht, dass einer der Orakelsteine zu leuchten begann. Auf ihm stand: ‚Ist ganz egal, was du machst. Am Ende kommt immer das Ende.‘

Die Schattenwelt

„Die Elfe kauft den Stein!“, triumphierte ein Seher. Seine Flügel schlugen aufgeregt.

„Sie nimmt ihn mit“, bestätigte ein anderer und klickte laut mit seinen Kieferzangen.

„Gut für uns!“

„Gut für die Schattenwelt“, zischte ein weiterer.

Die Schattenwelt bestand aus nichts als finsteren Höhlen und Abgründen. Riesige Kreaturen bevölkerten selbst ihre unwirtlichsten Winkel. Aus der Perspektive von Elfen hätten sie ausgesehen wie zusammengesetzt aus Raubtieren, Vögeln und Insekten. Hier gab es Spinnen mit Menschenhänden, Skorpione mit Elfenköpfen, dreiäugige geflügelte Katzen, ganze Schwärme von Harpyien ebenso wie Vögel mit Fledermausflügeln. Dornen statt Haare, Tentakel statt Beine oder auch die enorme Größe von Wesen, die in anderen Welten sehr klein waren – alles war zusammengewürfelt zu einer Menagerie des Grauens. Aus Elfensicht. Aus Schattenweltsicht sah man natürlich ganz normal aus. Außerdem war Aussehen ohnehin nicht so wichtig in einer Welt, in der es ständig dunkel war.

Eine der mächtigsten Gruppen in der Schattenwelt waren die Seher, riesige Käfer mit blinden, weißen Facettenaugen. Obwohl sie blind waren, verfolgten die Seher durch ihre arkanen Sinne das Geschehen in der Lichtwelt. So nannten sie eifersüchtig die helle, weite Welt der Elfen und Menschen. Gerade hatten sich tausende Seher versammelt, um die Ereignisse dort zu beobachten. Sie trafen sich hierfür in der Tausendgrotte, einer riesigen Höhle. Zwar waren die Seher die einzigen blinden Kreaturen in der Schattenwelt. Die Augen der anderen Bewohnerinnen waren die Finsternis ihrer Welt gewohnt. Sie reagierten auf kleinste Unterschiede zwischen Schwarz und Finster. Jedoch besaßen nur die Seher die Gabe, detailreich und tief über ihre eigene Welt hinaus zu spüren. Die Lichtwelt hatten die Seher bei ihren arkanen Erkundungen aus Zufall entdeckt. Vor über hundert Jahren war es in ihr zu einer Explosion mächtigster Energien gekommen, durch die die Seher sie bemerkt hatten. Es war, als wäre eine Fackel in ihr entzündet worden. An ihrer rotgoldenen Flamme hatten die Seher sich von da an orientiert, wann immer sie die Lichtwelt beobachteten. Und eigentlich taten sie das seitdem ständig. Gerade feuerten sie sich an, den mühsam hergestellten Kontakt mit einer kleinen Elfe dort nicht abreißen zu lassen.

„Bleibt bei der Elfe!“

„Wir müssen die Verbindung mit ihr halten!“

„Aber sie darf es nicht merken.“

„Konzentriert euch!“

„Sie hat das Fragment noch immer bei sich.“

„Sie muss jetzt den richtigen Weg nehmen.“

„Sie ist gutgläubig.“

„Ein leichtes Opfer.“

„Aber auch leicht abzulenken.“

„Sie muss jetzt den richtigen Weg nehmen.“

„Das sagtest du schon.“

Die sechsbeinigen, flachen Wesen tauschten sich in ihrer zischenden Sprache aus. Die Flügel, mit denen sie ihre Leiber bedeckten, dienten nicht zum Fliegen, sondern zum Schutz. So aufgeregt wie heute hatten sie seit einer Ewigkeit nicht mehr geschlagen.

„Der Zeitpunkt ist absolut perfekt.“

„Diese Gelegenheit darf nicht verstreichen.“

„Dann bezieht jetzt Aufstellung!“

„Bildet Kreise!“

In das Durcheinander der Seher kam Ordnung. Sie fanden sich in unzähligen kleinen Gruppen zusammen. Manche von ihnen scharten sich auf dem Boden der Höhle umeinander. Andere krabbelten die steinernen Wände und die Decke hoch und bezogen dort Position. Sie formierten sich Fühler an Fühler wie zu lebendigen Ringen aus zehn, zwanzig oder mehr.

„Wir müssen einen bestimmten Gedanken in der Elfe wecken!“

„Sie soll ihn für ihren eigenen Einfall halten!“

„Sie darf nicht merken, dass wir ihn ihr einflüstern.“

„Sie wird tun, was wir möchten, ohne es überhaupt zu bemerken.“

„Haltet euch bereit!“

„Wir fangen an!“

Die blinden Augen tausender Seher begannen in fahlem Weiß zu glühen. Hunderte Ringe aus hellen Punkten glommen nun in der Tausendgrotte am Boden, an den Wänden und an der Decke. Zuerst war ihr Licht noch schwach. Dann wurde es immer heller.

Die Seher spürten, dass etwas, worauf sie einhundert Jahre gewartet hatten, endlich Realität werden konnte. Ein großes Ziel, auf das sie lange und unter enormen Mühen hingearbeitet hatten, würde nun Wirklichkeit werden. Unter Aufbietung aller ihrer gemeinsamen Kräfte war es ihnen möglich, die Gedanken der Wesen der Lichtwelt zu beeinflussen und einen Einfall oder ein Gefühl zu verstärken. Welche Anstrengung es sie auch kostete, sie mussten jetzt eine Idee in der Elfe säen und ihre nächsten Schritte lenken.

Die Idee

Yadenin schlenderte zum Marktplatz. Sie wollte zu ‚Eldarins Blumenhandel‘, der größten devisenelfischen Gärtnerei in Albenhain, um einen Geburtstagsstrauß für Elymas zu kaufen. Der Weg dorthin führte sie durch einen Stadtteil, den sie besonders mochte: das grünelfische Viertel. Die Architektur der Grünelfen erinnerte Yadenin an Bäume. Ihre hohen, hellbraunen Holzhäuser rankten sich wie eckige Stämme über mehrere Etagen in die Höhe. Manchmal wickelten sich zwei oder mehr Gebäude umeinander und stützten sich gegenseitig. Gewagt war aber nicht nur die Bauweise der Grünelfen, sondern auch die Farbkombination ihrer spitzen Holzdächer. Orange, rote, pinke und blaue Dachlatten prangten fröhlich nebeneinander. Noch dazu waren die Wände ihrer Häuser mit weißen Mustern verziert. Dort erstrahlten unzählige Spiralen und Blumen. Außerdem fanden sich an ihnen allerlei Aushänge.

‚Nur wer den Witz versteht, kann auch darüber lachen – Humor und Intellekt in der hochelfischen Dichtkunst. Lesung im Bunten Salon.‘

‚Die Symphonie des Geldes – eine musikalische Reise durch die devisenelfische Oper.‘

‚Lina und die lustigen Leierkastenspieler. Ein Liederabend am Lido.‘

Grünelfen liebten Kunst und Kultur. Sie stellten ihre Fassaden gern als Werbefläche für Veranstaltungen zur Verfügung. Wo sie lebten, prangte bunt durcheinander ein Plakat neben dem anderen. Unordnung störte Grünelfen nicht. Sie waren ebenso hilfsbereit und naturverbunden wie chaotisch. Diese zumeist ein wenig schlaksigen, langhaarigen Elfen hatten stets Wichtigeres zu tun als aufzuräumen, sei es soziale Fragen zu diskutieren, mit ihren Kindern zu spielen oder Bäume zu gießen.

„Lange nicht gesehen! Wie geht es dir?“

Yadenin hörte eine melodiöse Stimme direkt hinter sich, die ihr nur allzu bekannt war. Sie drehte sich um.

„Gut! Und dir? Was macht dein Studium?“

„Ich lerne für meine Prüfung in Numismantik. Die Professorinnen an der Albenhainer Universität sind ziemlich streng.“

„Dann wünsche ich dir viel Erfolg!“

„Danke!“

Tefi, eine junge Grünelfe, winkte Yadenin noch einmal zu. Dann verschwand sie in einer Seitengasse. Viele Studierende wohnten im grünelfischen Viertel. Grünelfen vermieteten nämlich günstig. Das lag an ihrem guten Herz, aber auch an den schiefen Böden und schrägen Wänden ihrer Gebäude. Yadenin und Tefi waren kurz liiert gewesen. Sie hatten sich bei einer Wohnungsauflösung kennengelernt. Wiesenelfen entrümpelten gegen wenig Geld Haushalte und verkauften die Einrichtung als Antiquitäten. Tefi hatte ihren eigenen Haushalt aufgelöst. Sie wollte ein Zeichen setzen gegen das devisenelfische Besitzstreben. Zwar lebte Tefi weiter in ihrer alten Wohnung, doch ihre Einrichtung bestand lediglich aus zwei Tassen, einem Löffel und einem Stuhl. Das war nicht viel. Doch immerhin war es bei ihr nun stets perfekt aufgeräumt. Yadenin war begeistert gewesen von Tefis tiefblauen Augen, ihren langen, braunen Haaren und den festen Überzeugungen, die die Grünelfe vertrat. Tefi wiederum faszinierte die Leichtigkeit, mit der Yadenin durchs Leben ging. Bereits nach drei Monaten trennten sie sich wieder. Sie passten einfach nicht zusammen.

Doch nach der Begegnung mit der Studentin fiel Yadenin auf einmal auf, wie sehr die Universität den Stadtbezirk prägte. Sie bemerkte plötzlich, auf wie vielen Plakaten die Universität im grünelfischen Viertel für öffentliche Veranstaltungen warb. Bunte Symbole, geheimnisvolle Formeln und Bilder der Forschenden sollten Interesse für das akademische Treiben wecken.

‚Arkane Permutation – die Zukunft der Alchemie?‘

‚Hochenergetische, magische Resonanzforschung - eine kritische Würdigung.‘

‚Kryptogeologie – was Steine über Zeit und Unzeit verraten.‘

Kryptogeologie – natürlich! Yadenin schoss eine Idee durch den Kopf. An der Universität gab es sicher jemanden, der ihr sagen konnte, um was für einen Stein es sich handelte. Warum nicht einfach hingehen und fragen? Elymas würde sich freuen, wenn Yadenin ihm mehr zu ihrem ungewöhnlichen Geschenk sagen konnte. Also doch nicht zu ‚Eldarins Blumenhandel‘! Die Elfe verließ das grünelfische Viertel und machte sich anstelle des Marktplatzes auf den Weg in Richtung Universität.

Isvingar

Isvingar, die Königin der Schattenwelt, horchte auf. Um ihre sechs Beine herum wanden sich Larven, die jüngsten ihrer Tausenden von Kindern. Doch zwischen dem Zirpen und Krabbeln ihres Nachwuchses und dem Pochen unzähliger Eier an den Wänden nahm sie ein weiteres Geräusch wahr. Ein Bote eilte in die Grotte, in der ihre Brut heranwuchs. Er kam durch einen der dunklen Tunnel, die die unzähligen Höhlen der Schattenwelt miteinander verbanden. Die Gottesanbeterin hörte das Kratzen seiner Gliedmaßen auf felsigem Boden näherkommen.

Sie bewohnte ein ganzes System aus Höhlen und hatte die Tunnel darin mit schallverstärkendem Steinbelag auslegen lassen. Niemand sollte sich unbemerkt anschleichen können, ob sie nun in der mit Kristallen ausgeschmückten Funkelgrotte Untergebene empfing, in der Kaverne des Grauens Feinde folterte, in der Schlafgrotte ruhte oder in der Kommandohöhle, in deren Wände unzählige Chroniken und Karten geritzt waren, Pläne schmiedete. Nur durch permanente Wachsamkeit hatte sie es mit über einhundert Jahren auf eine der längsten Regierungszeiten aller bisherigen Königinnen der Schattenwelt gebracht.

Länger regiert hatte nur Melis, die Fünfhundertjährige. Sie starb an einer verschluckten Klaue, die ihr in den falschen Hals geraten war, als sie gerade eine besiegte Feindin verspeiste. Sie war die einzige Königin der Schattenwelt, die an so etwas Ähnlichem wie einer natürlichen Todesursache gestorben war. (Bei Königin Nyras vierhundertjähriger Regierungszeit wiederum bestand der Verdacht, dass gar nicht sie, sondern ihr Beraterinnenstab regiert hatte. Jedenfalls legte das ihr plötzliches Verschwinden nach nur fünf Jahren auf dem Thron nahe, ebenso wie die immer unglaubwürdiger werdenden Ausreden ihre Beraterinnen für das Fernbleiben der Königin von öffentlichen Auftritten: ‚Sie hat gesagt, ich soll die Rede für sie halten. Wirklich, das hat sie gesagt!‘, ‚Sie lebt nicht mehr … äh … hier, sondern an einem besseren Ort‘, ‚Sie ist einem Überfall zum … ach nein, ich wollte sagen, sie überfällt gerade jemanden‘.)

Isvingar war daher stets wachsam. Die Schritte näherten sich schnell und schon bald erkannte sie die Umrisse eines flachen Leibes in der Dunkelheit unter sich. Es war einer der Seher, der in die Brutgrotte gekrabbelt war. Wenn er sie hier aufsuchte und nicht wartete, bis sie in eine ihrer repräsentativeren Höhlen zurückgekehrt war, hatte er zweifelsfrei Wichtiges zu berichten. Die Seher wussten, dass sie die Aufzucht ihrer Larven überwiegend Drohnen überließ. Den Hauptteil ihrer Zeit nahm das politische Geschäft ein. Aber auch ihre Erziehungspflichten nahm sie sehr ernst. Sie sah regelmäßig nach ihren Kindern, um ihnen Angst zu machen. Manchmal erzählte sie ihnen eine altersunangemessene, gruselige Geschichte, oft aus ihrem eigenen Leben, und häufig fraß sie ein paar ihrer Larven vor den Augen der anderen. Noch gefährlicher als angstfreie Untertanen waren ihrer Ansicht nach nur angstfreie Kinder, vor allem, wenn es die eigenen waren. Die Seher kannten ihre Ansichten und respektierten sie. Umso neugieriger war die Königin, worüber der Bote mit ihr sprechen wollte.

„Herrscherin Isvingar, mächtige und hochverehrte Gebieterin!“, grüßte der Seher sie.

Er senkte seinen runden Kopf und schloss seine blinden Facettenaugen. Er überkreuzte die vorderen seiner sechs Beine und legte die Flügel demütig an.

Die Fühler der Königin zitterten ebenso angespannt wie die Zangen an ihrem Kiefer. Sie neigte ihren langen Hals zum Boten der Seher hinab.

„Sprich!“

„Unsere sorgsame Beobachtung und Manipulation der Lichtwelt war erfolgreich.“

„Was ist passiert?“

„Das zweite Fragment ist von einer Elfe gefunden worden.“

„Wo?“

„In der Elfenstadt.“

„Das ist ausgesprochen günstig! Und weiter?“

„Wir sind zuversichtlich, dass wir die Elfe dazu bewegen können, das Fragment an den von uns gewünschten Ort zu bringen. Die Elfe hat sich bereits auf den entsprechenden Weg begeben.“

Die Mantis richtete sich zu ihrer vollen Größe auf, wodurch sie den Seher um mehrere Längen überragte.

„Die gesamte Armee soll mobil gemacht werden!“

„Alle Kriegerinnen und Krieger?“

„Ja! Das gesamte Heer! Alle Bodentruppen! Alle Luftstreitkräfte! Und die Truppenunterhaltung!“

Die Truppenunterhaltung bestand in der Hauptsache aus atonal auf Blechblasinstrumenten musizierenden Spinnen sowie Schildkröten, die Stand-up-Comedy machten. Sie war derart verstörend, dass die Truppen lieber in den Kampf zogen, als sich weiter unterhalten zu lassen. Damit erfüllte sie ihren Zweck in ganz hervorragender Weise.

„Sehr wohl!“

Der Seher überkreuzte noch einmal die vorderen seiner Beine und neigte seinen Kopf. Dann verließ er die Höhle der Königin.

Isvingar blieb mit ihren Larven zurück. Voller Anspannung wiegte die Gottesanbeterin sich hin und her. Mit den Klauen ihrer Fangarme spießte sie ein paar der schwächeren Larven auf und verspeiste sie. Dieses Mal war sie vorbereitet. Sie würde die Erinnerung an die einzige Niederlage ihres Lebens durch den größten Triumph ersetzen, den je eine Herrscherin der Schattenwelt errungen hatte. Nicht nur Albenhain würde fallen, sondern die gesamte Lichtwelt.

Das Finsterfragment

„Die Kryptogeologie“, so erläuterte Professor Humbert von Hachel zwei Studierenden im ersten Semester, „untersucht nicht nur die Zusammensetzung und Entstehung der falasischen Erdoberfläche, sondern auch deren arkane Konsistenz.“

„Neben Erosion, Druck und Temperatur prägen sich in Falas auch geschichtliche Ereignisse und starke Emotionen in Stein, Erde, Pflanzen und sogar Luft ein“, ergänzte einer der Studenten, ein junger Grünelf. Er war sichtlich darum bemüht, einen guten Eindruck auf den Professor zu machen und zitierte offensichtlich einen auswendig gelernten Satz. Jedoch konnte sich Humbert von Hachel ebenso wenig an den Namen dieses Studenten wie an den des Waldelfen neben ihm erinnern.

„In der Tat. Geschichtliche Ereignisse hinterlassen arkane Abdrücke, die noch Jahrhunderte später wirksam werden“, bestätigte der Professor. „Aber Sie sind ja nicht in meine Sprechstunde gekommen, um die Grundlagen der Kryptogeologie zu besprechen, sondern um die Themen Ihrer Hausarbeiten festzulegen. Worüber möchten Sie denn schreiben?“

Hoffentlich ist das Gespräch schnell vorbei, dachte der Zwerg. Für lange Diskussionen über bedeutungslose Seminarleistungen fehlte ihm gerade die Zeit. Ihn erwarteten dringende und gefährliche Forschungsangelegenheiten.

„Ich dachte an eine Arbeit über die Weinewolken in Mimimi“, erklärte der Grünelf. „Ich habe gehört, dass die Alchemistinnen dort in der Lage waren, Mitleid zu verflüssigen und in Dosen abzufüllen. Der Verkauf machte sie reich. Doch eines Tages gerieten ein paar Krokodilstränen zu viel in die Mixtur. Sie sprengten das Labor der Alchemistinnen. Eine riesige Menge Trauer wurde in der Luft geschleudert und geriet in die Wolken.“

„Das ist jetzt fünfhundert Jahre her. Damals regnete es dort und hat seitdem nie wieder aufgehört. Sie können gerne darüber schreiben. Beachten Sie dabei bitte die Monografie ‚Die Wolken regnen, weil sie so traurig sind‘ von Luna Cummulus, ein wissenschaftliches Standardwerk zu diesem Thema.“

Eilig wandte von Hachel sich dem Waldelf zu. „Und welches Fachgebiet interessiert Sie?“

„Kryptogeologisch aktive Erde. Daher würde ich gern eine Arbeit über den Immeraner Friedhof verfassen.“

„Nun, wer sich dort bestatten lässt, möchte im Gedächtnis bleiben. Unbedingt!“

„Die Erde speichert nicht nur die Erinnerungen der Personen, die dort bestattet werden“, schwärmte der Waldelf, „sondern sie überträgt sie auch.“

„Auf einem gewöhnlichen Friedhof muss man sich aus den Daten auf den Grabsteinen selbst eine Vorstellung vom Leben der Verstorbenen machen“, ergänzte der Zwerg. „Steht auf einem Grabstein ‚Merla Flinkfuß. Ihr Leben war Arbeit und Mühe‘, so stimmt das vielleicht und Merla Flinkfuß hat ein außergewöhnlich arbeitsames Leben geführt. Vielleicht ist die Grabinschrift aber auch bloße Behauptung, denn in Wahrheit ist Merla Flinkfuß stinkfaul gewesen, mochte aber nicht dazu stehen und hat daher noch vor ihrem Ableben einen irreführenden Grabstein in Auftrag gegeben. Wer den Immeraner Friedhof besucht, braucht sich nicht mit derartigen Vermutungen zufrieden zu geben. Wer mehr über eine Person wissen möchte, muss einfach nur an die Erde herantreten, in der die Verstorbene ruht. Schon bietet sich ihr Leben im eigenen Kopfe dar.“

„Man erlebt vielleicht das Erwachen einer Steinfee aus ihrem hundertjährigen Schlaf mit, überfliegt mit einer waldelfischen Expedition die Hochheimer Gipfel oder trifft in der Rolle eines bergelfischen Botschafters auf die Vertreterin der feindlich gesinnten Eistrolle.“

„Manchmal wartet man natürlich auch stundenlang auf einen wichtigen Zahnarzttermin oder, schlimmer noch, wird gerade ins Behandlungszimmer gerufen“, ergänzte der Professor.

Als er das bestürzte Gesicht des Waldelfen sah, redete er schnell weiter. „Nichtsdestotrotz ist der Immeraner Friedhof eine weithin bekannte Attraktion. Besucher müssen sogar Eintritt bezahlen, um den Friedhof betreten zu dürfen, und der Zugang ist – völlig zu Recht – altersbeschränkt.“

„Ich habe gehört, die Besuchenden müssen eine Klausel unterschreiben, dass bei eventuellen Folgeschäden wie Herzinfarkt oder Liebeskummer weder der Friedhof noch die Nachfahren der Verstorbenen haftbar sind.“

Humbert von Hachel nickte. Kryptogeologie konnte sehr lustig sein. Und sehr gefährlich. Das wusste der Zwerg aus eigener Anschauung. Und darum musste er diese jungen Studierenden jetzt auch vor die Tür setzen.

„Schreiben Sie gern über die von Ihnen gewählten Themen und nun wünsche ich Ihnen einen guten Tag“, verabschiedete er sie betont deutlich.

Er atmete noch einmal tief durch und wartete, bis die Elfen sein Büro verlassen hatten. Dann stand er auf und wandte sich der Tafel hinter seinem Schreibtisch zu.

„Ist das wirklich möglich?“, murmelte er beunruhigt in seinen Bart, während er komplexe Berechnungen zu arkanen Resonanzen, memoneutischen Verfallsraten und geostatischen Erinnerungsgleichgewichten anstellte. Die Kreide in den dicken Fingern des Zwerges flog geradezu über die schwarze Schiefertafel, als er Kolonnen um Kolonnen von Gleichungen und alten hochelfischen Schriftzeichen malte.

Erst gestern war er mit seinem neuesten Fund von einer Reise aus dem Alten Ahngebirge zurückgekehrt. Zwischen Pergament, Federn und Tintenfässchen lag ein dunkles Fragment auf seinem Schreibtisch. Es war etwas kleiner als eine Zwergenfaust und so schwarz, dass es wie ein Loch im Raum wirkte. Seine genaue Form entzog sich den Augen. In unregelmäßigen Abständen pulsierte es und schien Finsternis auszustrahlen. Humbert von Hachel unterbrach seine Berechnungen und schaute seinen Fund einen Moment lang konzentriert an.

„Du bist es wirklich. Ich habe dich gefunden“, murmelte er in Richtung des Fragments. Diese Entdeckung versprach eine wissenschaftliche Sensation zu werden. Oder das Ende der Welt. Vielleicht auch beides. Nervös fuhr er durch sein braunes Haar und zog sein Wams zurecht.

„Seitdem ich dich nach Albenhain gebracht habe, hat sich die Frequenz deiner Finsternisse um ein Vielfaches erhöht“, stellte er zum Artefakt gewandt fest.

Es war klar, was das bedeutete. Das Relikt spürte die Nähe von mindestens einem seiner anderen Fragmente.

Nicht auszudenken, was passieren würde, kämen beide oder gar alle drei zusammen!

Der Professor tastete vorsichtig nach seinem Fund. Stechender Schmerz durchflutete seine Hand. Das Relikt war brennend heiß. Dennoch gab es keine Hitze in die Luft ab. Es war, als strahle es seine Energie in eine andere Dimension. In welche, darüber konnte kein Zweifel bestehen, ebenso wenig wie daran, dass es die anderen Fragmente in Falas auf eine heimtückische Art anziehen würde. Ob er das Artefakt durch Zufall gefunden und in die Fakultät gebracht hatte, ließ sich unmöglich sagen. Vielleicht war er selbst von Kräften dieser anderen Dimension beeinflusst worden. Die Zunahme der Finsternisse ließ ihn das Schlimmste befürchten.

Humbert von Hachel strich über seinen sorgsam gepflegten Spitzbart und ließ seinen Blick unruhig über die Bücherregale an der gegenüber liegenden Zimmerseite schweifen. Vielleicht war es an der Zeit, für eine Sicherungsverwahrung des Artefakts in gehärtetem Adamantit zu sorgen. Wenn sie die Anwesenheit des Fragments bereits spürten oder tatsächlich hinter seiner Entdeckung standen… Er sollte besser keine Zeit verlieren.

Zwar war seine Sprechstunde für Studierende noch nicht vorbei. Doch das ließ sich regeln. Die Studentinnen und Studenten auf dem Gang zuckten merklich zusammen, als Professor Humbert von Hachel durch die Tür trat. Er mochte klein sein, doch seine beeindruckende Breite glich die ihm fehlende Höhe ohne Weiteres aus. Zudem wusste er seinen akademischen Stand dadurch zu unterstreichen, dass er stets tadellos gekleidet war, zumeist in den edlen und robusten Wollstoffen uralter, hochelfischer Webkunst. In einem Tonfall, der keinen Zweifel daran ließ, dass er Besseres zu tun habe, als jungen Elfen dumme Fragen zu beantworten, erkundigte er sich: „Möchte noch jemand zu mir?“

Trotz seines gemütlichen, runden Gesichts konnte er sehr streng schauen.

Ein vielversprechender junger Student begriff die versteckte Aufforderung.

„Äh. Nein.“

„Gut“, brummte von Hachel und schloss die Tür seines Büros.

Er warf noch einen Blick auf das Relikt und beschloss, keine Zeit mehr zu verlieren. Er musste sofort ein strahlungsresistentes Sicherungsgehäuse aus Adamantit besorgen. Er warf sich seinen grauen Wollmantel über und machte sich auf den Weg zur Gasse der Arkanen Handwerker.

Der Anfang vom Ende

Yadenin lief über den weitläufigen, gepflasterten Vorplatz der Albenhainer Universität. Die Universität hatte sich seit der Einwanderung der fleißigen und erfindungsreichen Zwerge vor einigen Jahren in außergewöhnlichem Tempo zu einem der bedeutendsten Forschungsstandorte der bekannten Welt entwickelt. Das Universitätsgelände war von Bauten aus dem für die devisenelfische Architektur typischen, grauen Sandstein mit Stuck und Gesims geprägt. Der riesige Vorplatz wurde gesäumt von den Statuen bedeutender Entdeckerinnen und Forscher, wie Professorin Quia von Xanthen, der bekannten Astronomin, deren Statue visionär in den Himmel blickte, und Professorin Fenja Latull, der bekannten devisenelfischen Ökonomin. Das frisch verdiente Geld, das sie in der einen Hand hielt, nahm und investierte sie mit der anderen Hand bereits wieder.

Auf dem Vorplatz tummelten sich hunderte Studierende. Sie diskutierten lebhaft den Inhalt der eben besuchten Veranstaltung, oder, und das war ebenso häufig der Fall, sie wachten gerade wieder auf und planten das Wochenende.

„Die Bibliothek sollte mehr Literatur in passender Größe auch für kleine Elfen anschaffen. Ich wäre heute fast als Illustration in einem Buch geendet“, beklagte sich eine Blattelfe, die so winzig war wie Yadenins Fingerspitze und gemeinsam mit einer riesigen Waldelfe an Yadenin vorbei schwirrte.

„Warst du heute auch in der Vorlesung zu Arkaner Mechanik?“

„Nein, ich habe ein Seminar in Alchemischen Studien besucht. Aber das ist immer nur Tränke mischen. Vielleicht hätte ich besser Feenkunde oder Orthozoologie belegen sollen“, unterhielten sich zwei Grünelfen, die in einer größeren Gruppe Studierender standen.

„Schreibt euch doch für Falasische Frühgeschichte“, empfahl ihnen eine Bergelfe.

„Wenn ich daran denke, dass man hier noch vor zwölf Jahren nur Wirtschaftswissenschaften studieren konnte…“, erinnerte ein Devisenelf sich wehmütig zurück.

„Entschuldigt, dass ich euch unterbreche. Aber wo finde ich die Fakultät für Kryptogeologie?“, fragte Yadenin die Elfen.

„Dort drüben, im linken Flügel des Hauptgebäudes. Der große, graue Bau da mit dem Stuck!“, erklärte der Devisenelf ihr freundlich.

Yadenin bedankte sich und lief auf das Gebäude zu. Sie betrat die geräumige Empfangshalle der Kryptogeologischen Fakultät und erklomm die marmornen Stufen eines Treppenhauses, das geschmückt war mit detailreichen Karten der bekannten Welt, kryptogeologischen Zeittafeln und Abbildern von Sedimentgestein und Mineralien. Nach vielen Stufen gelangte sie zum Flur mit den Büros der Lehrenden. So ein Glück! Wie ein kleines Messingschild verriet, hatte gerade Professor Dr. Dr. Dr. h.c. mult. Humbert von Hachel Sprechstunde. Vorsichtig klopfte Yadenin an seine Tür.

„Professor, darf ich hereinkommen?“

Als keine Antwort kam, drückte sie die Türklinke herunter. Vielleicht hatte der Professor sie nicht gehört. Die Tür schwang auf und Yadenin machte ein paar vorsichtige Schritte in das leere Büro.

„Hallo? Ist hier jemand?“

Die Wiesenelfe bekam keine Antwort. Sie sah sich im Büro des Professors um. Doch da war keiner. Sie war allein. Durch die Fenster gegenüber der Tür fiel das Licht der Nachmittagssonne in den geräumigen, hohen Raum. Zu ihrer Linken standen Regale voller Bücher, ein kleiner runder Tisch mit mehreren, halbleeren Teetassen und Stühle.

„Zwergengröße“, lächelte Yadenin, als sie die niedrigen Möbel sah. Zwerge waren etwa einen Kopf kleiner als Wiesenelfen.

Zu ihrer Rechten entdeckte Yadenin eine riesige Schiefertafel, übersät mit eilig hingekritzelten Gleichungen und Worten einer alten Sprache, die sie nicht lesen konnte, sicherlich bedeutsame Forschung.

„Was steht da? Threne? Portahl? Ynderghang?“, überlegte sie. Doch sie konnte kein Wort entziffern.

Auf dem Schreibtisch dicht vor der Tafel lag zwischen Pergamentseiten, Tinte und Federn ein schwarzes Artefakt. Die genaue Form des kantigen Relikts konnten ihre Augen nicht erfassen. Doch kaum hatte sie das Fragment entdeckt, konnte sie ihren Blick nicht mehr davon lösen. Das schwarze Fragment zog sie wie magisch an. Wegen ihm war sie hergekommen! Oder? Nein, eigentlich war sie doch wegen des weißen Fragments hier. Ja! Das weiße Fragment! Das musste sie nun hervorholen! Ohne zu verstehen, was sie da tat und wieso sie es machte, holte Yadenin den weißen Stein aus ihrer Gürteltasche und ging zum Schreibtisch. Sie griff nach dem dunklen Fragment. Es fühlte sich auffallend warm an und schien plötzlich Kontur anzunehmen. Die Farben der Bruchstücke in ihren Händen, schwarz und weiß, waren so gegensätzlich wie nur möglich. Doch ihre Kanten, so bemerkte Yadenin jetzt erstaunt, passten exakt aneinander.

„Was ist das?“, stammelte sie auf einmal.

Eine unsichtbare Kraft schien ihre Hände zu greifen und zusammen zu führen. Die zwei Fragmente zogen sich an wie Magnete. Als sie aufeinander trafen, spürte Yadenin einen Schlag. Er lief so heftig durch ihren Körper, dass er sie beinahe umgeworfen hätte. Mit einem Mal schien das dunkle Fragment kühler zu werden und das helle wärmer. Wo eben noch unregelmäßige, raue Ränder gewesen waren, verschmolzen beide Fragmente zu einer Einheit. Für einen Moment fühlte der Stein sich nicht mehr hart an, sondern weich und flüssig.

„Warum ist es immer dunkel! So furchtbar dunkel!“, quetschte Yadenin plötzlich zornig zwischen zusammengepressten Zähnen hervor.

So ein Wutausbruch passte gar nicht zu ihr. Doch sie sah auf einmal nichts als Finsternis um sich herum und sie spürte große Wut, darin gefangen zu sein. So schnell wie das Gefühl über sie gekommen war, so schnell verschwand es aber auch wieder, als das Relikt sich verhärtete.

„Du bist ja wirklich wunderschön, wenn auch ein bisschen unheimlich!“, bestaunte Yadenin den Stein in ihren Händen.

Seine Oberfläche glänzte nun in einem Silber, das das Weiß und das Schwarz der beiden Bruchstücke in sich vereinte. Fremde Schriftzeichen tauchten wie aus dem Nichts auf, leuchtend rot und schimmernd golden. Sie tanzten über die Oberfläche des Artefakts und rahmten eine große, geschwungene Linie, die in ihrer Mitte erschien. Die Schriftzeichen verschwanden wieder. Das unheilvolle, schwarze Zeichen blieb. Es hatte die Form eines Tropfens und erinnerte Yadenin an eine Träne, ebenso wie die gesamte Form des Relikts, auch wenn ihm die Spitze fehlte. Neugierig und erschrocken zugleich sah Yadenin auf den Stein in ihren Händen.

In diesem Moment geschah es.

Das erste Portal

Yadenin taumelte. Die Zahlen und Buchstaben auf der Tafel mit den Gleichungen begannen zu tanzen und in einem Wirbel aus Finsternis zu verschwinden. In der Mitte der Tafel öffnete sich ein schwarzer Schlund, aus dem Finsternis wie Qualm aus einem Feuer stieg. Zunächst war das Loch in der Welt noch winzig. Doch es wuchs schnell. Es verschluckte erst die Tafel und den Schreibtisch, dann die gesamte Wand. Die Fenster neben der Tafel barsten. Teile der Decke stürzten herab und nur durch Glück verfehlten Stein und Gebälk die Wiesenelfe. Yadenin schaute in einen schwarzen Abgrund, der geradeaus ins Nichts zu führen schien. Einen kleinen Moment herrschte gespenstische Stille. Dann schoben sich zwei riesige Fangarme durch den Schlund. Sie waren silbergrau und schwarz gepanzert. Ihnen folgten ein gewaltiger und hoch erhobener, dreieckiger Kopf mit Facettenaugen und ein Leib auf sechs gekrümmten Beinen, dessen Rüstung wie Öl schimmerte.

Königin Isvingar schritt durch das Portal. Das Licht brannte in ihren Augen und ihrem Kopf. Die Welt stellte sich ihr dar als eine Wand aus Weiß und sie konnte keine Einzelheiten erkennen. Das letzte Mal war es ebenso gewesen. Sie musste nur einen Moment aushalten, dann würden ihre Augen sich an das Licht gewöhnen. Isvingar, die Königin der Schattenwelt, schloss ihre Augen nicht, sondern hielt das Brennen hinter ihrer Stirn aus. Dann, langsam, erkannte die Mantis Konturen. Dunkle Schemen tauchten in dem Meer aus Weiß auf. Ihre eigenen, silbernen Gliedmaßen, die sich schwarz gepanzert von all dem Licht dieser Welt abhoben. Der linke Fangarm lang und mit drei spitzen Klauen, der rechte verkürzt mit nur noch einer Klaue, eine alte Kriegsverletzung. Und da war noch mehr, ein Raum, Trümmer und ein winziges zweibeiniges Wesen, eine Elfe. An solche Wesen erinnerte die Königin sich. Sie waren schwach und zerbrechlich. Aber dort, in der Hand der Elfe, lagen die zwei verschmolzenen Fragmente, zum Greifen nah! Wie präzise die Seher in der Tausendgrotte das Portal gestellt hatten! Die Macht des wiedervereinten Relikts hatte es ihnen ermöglicht und unzählige weitere Portale würden dank seiner Verschmelzung nun folgen.

„Gib mir das Artefakt! Es gehört mir!“, befahl die Königin mit strenger, zischender Stimme.

Isvingar schaute drohend aus den riesigen Facettenaugen in ihrem silbrigen, dreieckigen Gesicht auf ihre Beute hinab. Dabei klickte sie warnend mit ihren gewaltigen Beißzangen. Zufrieden bemerkte sie, dass ihr Anblick die Elfe gehörig zu erschrecken schien. Sie stieß drohend auf das kleine Wesen hinab, das sofort zurück wich – aber nicht gehorchte.

„Ich … ich glaube, ich gebe es dir lieber nicht“, antwortete die Elfe mit vor Angst zitternder Stimme.

„Dann hole ich es mir!“

Die Königin schoss auf ihr Opfer zu. Mit einem Schrei, der für die Königin wie das Quieken einer Maus für einen Adler klang, floh die Elfe durch die Tür. Eine Tür, die für Zwerge und Elfen gebaut war – die Königin war für sie zu groß, nicht aber ihre Leibwache.

„Greift die Elfe!“, befahl sie den Kriegerinnen, die ihr folgten.

Die Steinerne Träne

Löcher im Gefüge der Realität! Humbert von Hachel war gerade einmal bis zum Vorplatz der Universität gekommen, als sich zwischen den Statuen von Professorin Weralia Weydenreim und Professor Hinkelbert Halbfuss gewaltige Portale öffneten. Aus ihnen strömten Finsternis und ein alter Feind in die Welt. Das Relikt musste erwacht sein!

Die Elfen um ihn herum gerieten in Panik, als sich immer mehr Portale auftaten. Professor von Hachel kehrte um. Er kämpfte gegen den Strom von Elfen, die aus der Universität flohen.

„Wenn sich weitere Portale bilden, wird die Welt durchlöchert werden wie ein Schweizer Käse“, keuchte er in sich hinein, als er die Stufen der Fakultät hinauf hastete.

Dann fasste er sich verwirrt an den Kopf. Schweizer Käse? Was sollte das sein? Vermutlich drangen bereits Informationen aus weiteren Dimensionen in seinen Kopf, ein Zeichen für die gefährliche Instabilität der zwei Welten, die gerade begannen, sich zu durchdringen. Humbert von Hachel eilte zu seinem Büro, so schnell er nur konnte.

„Professor! Professor!“

Auf einmal hörte er eine feine, verängstigte Stimme. Es war eine Wiesenelfe, die gerade die Treppen herunter hastete.

„Das Finster- und das Lichtfragment der Steinernen Träne sind verschmolzen“, rief Humbert von Hachel entsetzt, als er den Stein in ihren Händen sah.