Geschichte der Türkei - Cengiz Günay - E-Book

Geschichte der Türkei E-Book

Cengiz Günay

4,3

Beschreibung

Das Spannungsverhältnis zwischen islamischer Tradition und Modernisierung durch Verwestlichung ist seit mehr als 200 Jahren konstanter Bestandteil gesellschaftlicher, kultureller und politischer Auseinandersetzungen in der Türkei. Das vorliegende Buch liefert einen differenzierten historischen Blick auf die Entwicklungsmuster dieses Landes am Rande Europas. Die Analyse der historischen Umbrüche soll zu einem besseren Verständnis aktueller Fragen und Probleme beitragen.

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Cengiz Günay

Die Geschichte der Türkei

Von den Anfängen der Moderne bis heute

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR · 2012

Dr. Cengiz Günay ist am oiip – dem Österreichischen Institut für Internationale Politik in Wien tätig und unterrichtet an der Universität Wien.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de.

© 2012 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com ?Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig.

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Satz: synpannier. Gestaltung & Wissenschaftskommunikation, Bielefeld

Druck und Bindung: AALEXX Buchproduktion GmbH, Großburgwedel

Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier

Printed in Germany

UTB-Band-Nr. 3301 | ISBN 978-3-8463-3301-3 | ISBN Print 978-3-8252-3301-3

In Liebe für Oya

Sen sen olduğun için

Inhaltsverzeichnis

Cover

Impressum

Einleitung

I.     Das osmanische Reich

Das Entstehen eines Großreiches

Die politische und wirtschaftliche Struktur

Die osmanische Gesellschaft

Staat und Religion

II.     Modernisierung – ein Paradigmenwechsel

Zerfallserscheinungen

Lokale Machtfaktoren

Die ersten Zeichen der Öffnung

Die Neue Ordnung

Der Aufstieg Ägyptens

Die Tanzimat-Ära

Die Jungosmanen

Die erste Verfassungsperiode

Die hamidische Ära (1878 – 1908)

Die Jungtürken

Die zweite Verfassungsperiode

Die Balkankriege – der Anfang vom Ende

Die Geburt des türkischen Nationalismus

III.     Die Republik

Die Lage nach dem Krieg

Mustafa Kemal betritt die Bühne

Der Befreiungskampf

Die Voraussetzungen für einen türkischen Nationalstaat werden geschaffen

Die Situation der Minderheiten

Die Konstruktion der Türk Ulusu

Die Errichtung einer Einparteiendiktatur

Atatürk Inkilaplari – Die kemalistische Kulturrevolution

Der türkische Laizismus

Die Tradition des paternalistischen Staates

Nach Atatürk

Unzufriedenheit mit der Wirtschaftspolitik – der Nährboden für Opposition

IV.     Demokratie entlang gesellschaftlicher Bruchlinien

Übergang zum Mehrparteiensystem

Die Ära der Demokratischen Partei

Die Armee: Wächterin über das Modernisierungsprojekt

Die Rückkehr zur Demokratie

Demirel, ein Ingenieurspolitiker

Urbanisierung und wachsende Fragmentierung

Ethnisch-religiöse Bruchlinien und politisch-ideologische Identitäten

Rechts- und Links-Begriffe im türkischen Kontext

Die Mitterechts: Das Bollwerk gegen den Kommunismus

Das Auseinanderbrechen der Mitterechtskoalition

Die islamistische Bewegung

Die nationalistische Bewegung

Das Militär greift erneut „korrigierend“ ein

Links von der Mitte: Die Staatspartei erfindet sich neu

Die Zypernkrise

Die Nationalistische Frontregierung

V.     Der Sieg der Rechten: Marktwirtschaft und Konservativismus – Die Türkei nach 1980

Der Coup der Generäle

Die Ära des Özalismus

Eine zersplitterte Parteienlandschaft entsteht

Der Kurdenkonflikt

Eine Frau an der Spitze

Der Aufstieg der Islamisten

Die Islamisten an der Macht

Der 28. Februar: ein anti-islamistischer Putsch

Die letzte Ära Ecevit – Das Ende des Projektes Links von der Mitte

Die Parteienlandschaft ordnet sich neu

Die AKP und das Projekt der „Konservativen Demokratie“

Die Ära der AKP

Eine lange und beschwerliche Reise nach Europa

VI.     Schlussfolgerungen

VII.     Bibliographie

Register

Rückumschlag

Einleitung

Die neuere Geschichte der Türkei ist geprägt durch das Streben nach Modernisierung. Modernisierung stellte den Versuch dar, Antworten auf Herausforderungen der westlichen Moderne in der schrittweisen Eingliederung und Anpassung an diese zu finden. Die Moderne umfasst in diesem Zusammenhang kein präzises Konzept. Der Begriff beschreibt vielmehr eine ganze Palette an Phänomenen, die die Verbreitung des Kapitalismus und die Integration immer weiterer Weltregionen in die revolutionären Prozesse, die damit verbunden waren, begleiteten. (Vgl. Zubaida, 2011) Modernität bezeichnet aber nicht nur einen Prozess, sondern auch eine Periode, die Ende des 18. Jahrhunderts begann und sich bis zum heutigen Tag auf verschiedene Arten fortgesetzt hat. (Bayly, 2004: 26) Im Falle der Türkei ging die Modernisierung (modernleşme) von den bürokratischen Eliten im Zentrum aus. Sie betrachteten Modernisierung als einen linearen Entwicklungsprozess. In der Anpassung an westliche Normen, Konzepte, Denk- und Verhaltensweisen sahen sie eine Chance, um den schwachen Staat stärker, zentralisierter und damit widerstandsfähiger gegen die Herausforderungen der westlichen Moderne zu machen. Modernisierung wurde dadurch mehr als in anderen Ländern zu einem durch die Staatseliten vorgegebenen politischen und zivilisatorischen Reformprogramm.

Das Aufeinandertreffen der autochthonen Wirtschaftssysteme und der traditionellen gesellschaftlichen und politischen Strukturen mit der europäischen Moderne erfolgte in den meisten Fällen nicht friedlich. Die Hegemonie der europäischen Moderne war meist mit militärischer Eroberung, zumindest aber mit massiver wirtschaftlicher und kultureller Expansion verbunden.

Im Gegensatz zu anderen Gesellschaften der Peripherie geriet das Osmanische Reich nie unter direkte koloniale Herrschaft. Das

[<<11] Seitenzahl der gedruckten Ausgabe

Aufeinandertreffen mit der westlichen Moderne war daher nicht, wie z. B. in Ägypten oder Indien durch Fremdherrschaft und Unterdrückung geprägt.

Das Osmanische Reich, das an seinem Höhepunkt weite Teile Ost- und Südosteuropas sowie den gesamten Mittelmeerraum beherrschte, war ab dem 17. Jahrhundert zusehends ins Hintertreffen geraten. Seit der misslungenen Belagerung Wiens 1683 befand sich das Reich in einem Prozess des territorialen Rückzugs. Mit dem Ende der Expansion, die ein wichtiger Bestandteil des osmanischen Systems gewesen war, geriet das Reich in eine Krise. Die staatlichen Strukturen, die Wirtschaft und vor allem das Militär befanden sich im Verfall.

Die Geschichte der Modernisierung im Sinne der Anpassung an die westliche Moderne setzte hier an. Ende des 18. Jahrhunderts rief Selim III. ein Reformprogramm mit dem programmatischen Namen „Neue Ordnung“ aus. Vorrangiges Ziel war die Wiederherstellung der geschwächten staatlichen Autorität. Es galt das Reich neu zu ordnen, der Korruption und Misswirtschaft den Garaus zu machen, die Effizienz der Administration zu steigern und die Steuereinnahmen zu erhöhen. Dabei orientierte man sich an den erfolgreichen Erfahrungen in europäischen Staaten wie Frankreich, England und Österreich. Als Vorlage dienten umfassende Berichte osmanischer Diplomaten über die militärischen, administrativen und technischen Entwicklungen und Neuerungen in den jeweiligen europäischen Ländern, in die sie entsandt worden waren.

Die Modernisierung sollte vom Staat und seinen Institutionen ausgehen. Damit versuchte man den Entwicklungsprozess umzukehren. Während in Ländern wie Frankreich, Großbritannien, Österreich und Preußen die Institutionen, die man sich zum Vorbild nahm, als das Ergebnis eines gesellschaftlichen und kulturellen Prozesses entstanden waren, versuchte man diesen im Reich durch die Übernahme dieser Institutionen auszulösen. Gesellschaftliche und soziale Aspekte spielten in den Überlegungen der Reformer kaum eine Rolle. Das vorrangige Ziel war es, den Staat zu stärken und dadurch zu retten. Die Stärkung der staatlichen Institutionen und Strukturen und später die Reform des Rechtswesens sollten den Übergang von einem lose organisierten mittelalterlichen Reich zu einem modernen Konzept des westfälischen Staates

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mit Territorialitätsprinzip, starken zentralstaatlichen Institutionen, einem absoluten Machtmonopol, Steuerhoheit und voller Souveränität nach innen und nach außen gewährleisten.

Die Auseinandersetzung fand zwischen alten und neuen Eliten statt. Im Zuge der Reformen waren Militär- und Verwaltungsakademien gegründet worden, die die Aufgabe hatten, Kader für ein reformiertes modernes Heereswesen bzw. eine effiziente Verwaltung auszubilden. Es sollten diese neuen Kader sein, die die Modernisierungsbewegung tragen und vorantreiben sollten. Sie verdrängten zusehends die traditionellen militärischen Einheiten und drängten den Einfluss der Geistlichen (ulema) zurück. Die Anpassung an die Moderne erfolgte also zu Ungunsten der traditionellen politischen und wirtschaftlichen Strukturen. Sie war begleitet von einer schrittweisen Säkularisierung des Systems. Auch der Absolutismus des Sultans wurde zurückgedrängt, stattdessen gewann die reformorientierte Bürokratie an Einfluss.Angesichts eines nun starken und zentralisierten Staates, dem eine heterogene und nur schwach organisierte Gesellschaft gegenüberstand, kam es zur Errichtung der Despotie der hohen Bürokratie.

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wurde Modernisierung immer stärker mit Verwestlichung (batılılaşma) gleichgesetzt. Gemeint war damit nicht nur die Übernahme von Technologie und Institutionen, sondern eine zivilisatorische Transformation, die die bewusste Übernahme von Denk- und Lebensweisen, von Mode, Geschmack und Vergnügen sowie von Verhaltenscodes beinhaltete. Diese starke Ausrichtung nach Europa ging einher mit der Abwertung der eigenen Tradition, Kultur und Geschichte, die oftmals aus einem eurozentristischen Blick heraus als „rückständig“ und „primitiv“ empfunden wurden.

Damit setzten sich jene Kräfte unter den Eliten durch, die die Moderne als ein universelles Gut verstanden, das zwar aus der westlichen Zivilisation erwachsen sei, das aber für die gesamte Menschheit Gültigkeit habe und das es deshalb ohne Wenn und Aber zu übernehmen galt. Dieser Ansatz ließ keine „Vielfalt der Moderne“ (Vgl. Eisenstadt, 2008) zu und schloss lokale Ausformungen, die sich von den Konzepten der westlichen Moderne unterschieden, aus. Die westliche Moderne wurde damit zusehends als eine zivilisatorische Entwicklungsebene betrachtet. Um modern

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und damit zivilisiert zu sein galt es demnach so zu sein wie der Westen. Dieses Paradigma leitete den Transformationsprozess.

Mit Mustafa Kemal Atatürk setzte sich nach dem Ersten Weltkrieg eine radikale Gruppe innerhalb der Modernisierungsbewegung durch. Die Republik, die sie gründeten, sollte eine Abkehr von der osmanisch-islamischen Tradition bedeuten und einen Neuanfang darstellen. Die kemalistischen Reformen hatten das Ausmaß einer von oben verordneten Kulturrevolution. Es galt die Gesellschaft und Kultur aus der islamisch-orientalischen Tradition herauszulösen und eine neue türkische Nation zu konstruieren, die dem westlichen Kultur- und Zivili­sationskreis angehören sollte.

Die kemalistische Kulturrevolution schuf nicht nur das Rahmenwerk für einen staatlichen türkischen Nationalismus, führte zur Adaptierung des gregorianischen Kalenders und zur Einführung des Sonntags als gesetzlicher Feiertag und verfolgte die gesetzliche Gleichstellung von Mann und Frau, sondern sie machte sich auch daran, die Religion zu reformieren. Durch staatliche Hand sollte ein „türkischer“ Islam geschaffen werden, der sich mit dem türkischen Nationalismus und Prinzip des Laizismus, der gesetzlich verankerten Trennung von religiösen und staatlichen Bereichen, vereinbaren ließ. Religion sollte dagegen zur Privat­sache des Einzelnen werden. Zwangsläufig musste dieses Projekt zu Spannungen mit autochthonen und islamischen Traditionen führen. Mit dem Übergang zu einem demokratischen Mehrparteiensystem kamen nicht nur diese Spannungen, die sich aus dem autoritär durchgeführten Transformationsprozess ergeben hatten, an die Oberfläche, sondern es brachen auch gesellschaftliche Bruchlinien entlang ethnisch-religiöser und kultureller Unterschiede auf.

Die türkische Demokratiegeschichte ist damit zu einem hohen Teil geprägt durch die Auseinandersetzung mit dem Modernisierungsprojekt der Eliten. Dabei war auch die Demokratie lange Zeit ein Elitenprojekt. Die Einführung einer Mehrparteiendemokratie war nicht die Folge diesbezüglicher Forderungen, sondern eine Entscheidung der Eliten. Wieder einmal stand nicht das Wohl der Bevölkerung, sondern das des Staates im Vordergrund. Demokratisierung ging daher auch nicht automatisch mit der Liberalisierung des Systems einher. Das System wurde weiterhin

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durch die Vertreter einer städtischen Elitenkultur dominiert. Die Staats­ideologie des Kemalismus setzte der Demokratie die legalen Grenzen. Die Integration der breiteren Bevölkerung in dieses Projekt erfolgte schrittweise und ist durch große Spannungen geprägt. Immer wieder erfolgten aus Angst um die Fortsetzung des Modernisierungsprojektes, aber auch zum Schutz von Privilegien, Interventionen durch die Armee. Seit dem Beginn des Modernisierungsprozesses im 18. Jahrhundert hatte sich die Institution der Armee zu einer Vorkämpferin der Anpassung an die westliche Moderne entwickelt.

Auch wenn es sich um eine von den Staatseliten getragene Bewegung handelt, ist heute die Idee der Modernisierung und des Aufholens gegenüber dem Westen tief in der Seele der Türkei verankert. Das Projekt der Modernisierung hat durch die Demokratisierung zwar an Radikalität eingebüßt, es ist aber heute breiter aufgestellt denn je. Die ­Ausweitung des Elitenprojektes erfolgte durch die staatliche Bildungspolitik, durch die wirtschaftliche Öffnung, die ein privates Unternehmertum ermöglichte, aber mehr noch durch die Integration der verschiedensten gesellschaftlichen Gruppen in das demokratische System. Insbesondere der reformierte Islamismus und seine Integration in das demokratische System scheinen aus internationaler Perspektive ein Erfolg des türkischen Modernisierungsprojektes zu sein. Der Integrationsprozess verschiedener gesellschaftlicher Gruppen in das Projekt der türkischen Moderne ist allerdings noch nicht abgeschlossen. Neben religiös-konservativen Strömungen sind es vor allem Bewegungen, die einen nicht-türkischen ethnischen Nationalismus vertreten, wie z. B. kurdische Gruppierungen, die in einem Dialog mit dem Projekt einer türkischen Moderne stehen und diese herausfordern. Durch diesen Prozess veränderten und verändern sich nicht nur die einzelnen Bewegungen, die nach Inte­gration in das System streben, sondern auch das System verändert sich dadurch wesentlich.

Ausgehend von der Annahme, dass die Auseinandersetzung mit der westlichen Moderne einen der wichtigsten Vektoren in der neueren Geschichte der Türkei darstellt, bezieht sich die Darstellung auf die Geschichte der politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und sozio-ökonomischen Transformation. Aus historischer Perspektive sollen dabei verschiedene Aspekte der Modernisierung selbst, aber vor allem auch

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die dadurch hervorgerufenen Entwicklungen, Spannungen und Wider­sprüche, beleuchtet werden. Das Buch geht dabei der Frage nach, wo die Kontinuitäten liegen und wo sich Brüche auftun. Es zeigt Entwicklungslinien und Muster auf, die trotz oder wegen der Modernisierung Bestand haben und das heutige politische und gesellschaftliche Leben prägen. Der Fokus liegt dabei nicht nur auf dem ausschließlich politischen Bereich, sondern bezieht auch gesellschaftliche, kulturelle und wirtschaftliche Veränderungsprozesse und deren Folgen ein.

Ein Ansinnen war es auch, bewusst die historischen Hintergründe für Themen und Problembereiche, die im aktuellen Diskurs auftauchen, zu beleuchten. Angesichts der Aktualität und des Interesses für Türkei-relevante Themen soll dadurch einer interessierten Leserschaft die Möglichkeit für einen differenzierteren Blick auf das Land, seine Kultur und seine Menschen geboten werden.

Mehr als eine wissenschaftliche Abhandlung der türkischen Geschichte versteht sich das Buch daher als eine Einführung in das Thema. Die Arbeiten von Autoren wie Erik J. Zürcher, Feroz Ahmad, Halil İnalcık, Andrew Mango, Bernard Lewis oder Taner Akçam dienten bei der historischen Annäherung an das Thema als eine wichtige Stütze. Gleichzeitig konnte ich auf meine eigene längere berufliche und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema zurückgreifen. Eine Sammlung verschiedener zur Türkei, ihrem politischen System, der Geschichte des Islamismus, der Rolle der Religion sowie den Entwicklungen in Zusammenhang mit dem EU-Beitrittsprozess verfasster Texte diente als Ausgangspunkt für dieses Überblickswerk.

Das Buch spannt einen historischen Bogen vom Beginn des Aufeinandertreffens mit der westlichen Moderne bis heute. Es ist chronologisch aufgebaut, erhebt allerdings nicht den Anspruch einer lückenlosen Darstellung der türkischen Geschichte. Die Priorisierung von Ereignissen, Entwicklungen, Akteuren und Faktoren geschah vielmehr selektiv in Hinblick auf die Darstellung des Modernisierungs- und Transforma­tionsprozesses und seiner Folgen.

Die thematischen Blöcke, in die das Buch unterteilt ist, richten sich nach der zeitlichen Abfolge. Das Buch gliedert sich dabei in fünf Kapitel und mehrere Unterkapitel. Der Erzählstrang beginnt mit der politischen,

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gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Struktur des Osmanischen ­Reiches, erläutert die Hintergründe für das Entstehen der Reformbewegung, beleuchtet die Widersprüchlichkeiten und setzt diese internen Entwicklungen mit externen Entwicklungen in Verbindung. Zentrale Themenkomplexe drehen sich um die Fragen nach gesellschaftlichen, ethnischen und religiösen Bruchlinien, der Rolle des Nationalismus, der Bedeutung von nationalistischen Narrativen, der Rolle des Kemalismus und Laizismus, Spannungen mit dem Islam sowie um die Rolle der Eliten in einem paternalistischen Staat, die Geschichte der Demokratisierung, die Tradition von politischen Parteien und Ideologien und den Wandel, dem sie ausgesetzt sind. Die Darstellung, Beleuchtung und Analyse der neueren türkischen Geschichte endet mit dem Kapitel über die Beziehungen mit der EU, der langen Reise nach Europa.

Im Detail ist das das Buch folgendermaßen gegliedert:

Das erste Kapitel beschäftigt sich mit der gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Struktur des Osmanischen Reiches, das an der Frontlinie mit dem christlichen Byzantinischen Reich entstand. Die islamische Religion und die Mission des Kampfes gegen die Ungläubigen spielten folglich von Beginn an eine wichtige Rolle in der Selbstdefinition der Osmanen. Die Osmanen waren aber nicht auf Zerstörung bestehender gesellschaftlicher Strukturen aus, vielmehr übernahmen sie weitgehend Elemente von Byzantinern, den arabisch-islamischen Großreichen sowie von den türkischen Nomadenstämmen. In der Tradition der islamischen Großreiche, als deren Nachfolger die Osmanen sich betrachteten, gab der Islam den Rahmen für das Rechtssystem vor. Zudem war der Sultan war nicht nur politischer Herrscher, sondern als Kalif zugleich auch Führer der Gemeinschaft der Gläubigen. Territoriale Expansion war nicht nur Bestandteil einer religiösen Mission, die auf die Verbreitung des Islams hinarbeitete, sondern bildete auch einen wichtigen Bestandteil des Wirtschaftssystems. Mit dem Ende der Expansion und dem Ausfall von Beute sowie zusätzlichem Land, das vergeben werden konnte, geriet das gesamte System in Not. Ziel dieses Kapitels ist es, einen Einblick in die Grundzüge des Aufbaus des Reiches und seine Eigenheiten zu geben und damit Entwicklungslinien, die bis heute prägend sind, darzustellen bzw. die Schwächen, die später zu seinem Niedergang beitrugen, aufzuzeigen.

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Kapitel zwei setzt sich mit dem Paradigmenwechsel, der mit der Modernisierungsbewegung eingeleitet wurde, auseinander. In Folge der immer offenkundiger zu Tage tretenden militärischen Niederlagen und der zunehmenden wirtschaftlichen Hegemonie der europäischen Großmächte setzte ein Umdenken der osmanischen Eliten ein. Der Westen, der Jahrhunderte lang als Expansionsgebiet betrachtet worden war, wurde mit einem Schlag zu einer Quelle der Inspiration und zu einem Vorbild. Um das Fortbestehen des Reiches zu sichern, holten sich die Sultane Militärberater ins Land, kopierten erfolgreiche Institutionen und versuchten das gesamte staatliche und rechtliche System umzugestalten.

Die Öffnung zum Westen erfolgte schrittweise und immer im Rahmen des islamischen Systems. Die Reformen brachten aber weitere Reformen hervor. Modernisierung war keine Forderung, die aus der Bevölkerung gestellt wurde, sondern ein Projekt der Eliten, das autoritär von oben her durchgeführt wurde und das den Zweck hatte, den sterbenden Staat zu retten. Der Schwerpunkt des Kapitels liegt dabei auf der Darstellung der Dynamiken und Akteure hinter der Modernisierungsbewegung. Es wird versucht, Machtstrukturen und Grundlagen für politische Konzeptionen, die damals geschaffen wurden und die bis heute Gültigkeit haben, aufzuzeigen.

Kapitel drei behandelt die sogenannte republikanische Ära, die Zeit der Gründung der Republik unter Mustafa Kemal Atatürk. Es stellt die kemalistischen Reformen, die zum Zwecke der Verwestlichung die Dimension einer Kulturrevolution erreichten, dar. Trotz seiner radikalen Reformansätze vor allem im Bereich der Verbannung der Religion aus dem öffentlichen Raum setzte der Kemalismus in weiten Bereichen dennoch Traditionen des Osmanischen Reiches fort. Insbesondere die Rolle des paternalistischen Staates und die Vorherrschaft der städtischen Eliten wurden durch die Zentralisierung und Modernisierung, die der Kemalismus vorantrieb, eher verstärkt als geschwächt. Das Kapitel bezieht sich deshalb auch auf die Frage des Elitismus und die Rolle der Bürokratie.

Kapitel vier behandelt den Übergang zu einem demokratischen System. Die demokratische Transition erfolgte in der Türkei nicht in Folge eines revolutionären Umbruchs und auch nicht in Folge veränderter wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Verhältnisse, sondern war vielmehr eine Entscheidung der Staatseliten, die im Lichte der veränderten

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internationalen Bedingungen getroffen wurde. Folglich kam es auch kaum zu Brüchen mit dem autoritären System, das die Modernisierungsbewegung geschaffen hatte. In der Türkei war also Demokratie nicht die Folge eines sozio-ökonomischen Veränderungsprozesses, sondern löste vielmehr diesen aus. Das Kapitel setzt sich insbesondere mit den gesellschaftlichen, ethnisch-religiösen Bruchlinien und primordialen Verbindungen auseinander, die sich nach dem Übergang zur Demokratie mit politisch-demokratischen Strukturen zu vermischen begannen. Auch die Rolle der Armee und die Folgen ihrer Intervention in den demokratischen Prozess stellen einen zentralen Punkt des Kapitels dar. Der demokratische Transitionsprozess wurde einerseits durch die politische Polarisierung der 1970er Jahre und andererseits durch die anti-demokratischen Interventionen des Militärs in Frage gestellt.

Kapitel fünf beginnt mit dem Putsch der Generäle im Jahr 1980 und zeigt dessen Folgen auf. Der Putsch ermöglichte die reibungslose Einführung der Marktwirtschaft. Es kam zur Zerschlagung der Linken, die von den Eliten als eine Gefahr für die Einheit der Nation betrachtet worden waren. Der Putsch verhalf damit der politischen Rechten zum endgültigen Sieg. Der Islam wurde im Zuge der Einführung der Marktwirtschaft als ein sozialer Dämpfer bewusst durch den Staat eingesetzt. Es sollte zu einer Aussöhnung zwischen kemalistischem Laizismus und Islam kommen. Davon wurden insbesondere konservative Gruppen begünstigt. Mit den 1990er Jahren begann der Aufstieg der Islamisten. Das Kapitel setzt sich näher mit den Hintergründen dieses Aufstiegs auseinander, deutet auf die Rückschläge hin und behandelt die Spaltung der Bewegung und die Gründung einer reformierten islamistischen Kraft. Die Entideologisierung zu Gunsten eines Wertkonservativismus versöhnte die islamistische Bewegung mit der Marktwirtschaft und ermöglichte ihre nachhaltige Integration in das demokratische System. Aufgrund des autoritären Charakters der kemalistischen Institutionen schien die Integration mit Europa für die Islamisten ein Ausweg aus ihrer Diskriminierung. Das konservative-islamische Segment der Gesellschaft, das durch die Hegemonie des kemalistischen Projektes der Verwestlichung von der Mitsprache in Politik und Wirtschaft ausgeschlossen war, konnte durch die AKP zu einem Teil des Systems werden. Dadurch konnte das

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demokratische System gestärkt werden. Gleichzeitig verschob sich aber durch den EU-Beitrittsprozess das Gleichgewicht. Kritiker stellen einen Machtverlust der etablierten kemalistischen Kräfte zu Gunsten der reformierten Islamisten fest.

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I.     Das osmanische Reich

Das Entstehen eines Großreiches

Die Geschichte der osmanischen Dynastie beginnt mit Osman Bey (1258 –1326). Osman Bey erbte von seinem Vater Ertugrul Bey die Herrschaft über ein Gebiet im nordwestlichen Anatolien, in der Umgebung von Sögüt, zwischen Eskisehir im Osten und Bursa im Westen gelegen. Die Dynastie der Osmanen gründete sich auf einem der vielen kleinen Fürstentümer, die nach dem Zerfall des seldschukischen Reiches in Anatolien entstanden waren. Diese türkischen Fürstentümer befanden sich zum Teil im Kampf miteinander, zum Großteil aber in Auseinandersetzung mit dem ehemals mächtigen Byzantinischen Reich (Ost-Rom). Byzanz, das einst über den Bereich des gesamten östlichen Mittelmeeres geherrscht hatte, befand sich in einem Rückzugs- und Zerfallsprozess. Neben Angriffen der Araber, Plünderungen durch die Kreuzritter und Interventionen der Venezianer wurde Byzanz zudem durch interne Streitigkeiten und Instabilität geschwächt.

Osman I. konnte seine Kraft gegen den großen Nachbarn mobilisieren und sein Herrschaftsgebiet auf Kosten der Byzantiner rasch ausweiten. Dadurch war das Osmanische Reich, dessen Gründung von Historikern mit dem Jahr 1299 angesetzt wird, von Anfang an ein multi-kulturelles, multi-ethnisches und vor allem multi-konfessionelles Staatswesen.

Als Osman I. starb, überließ er seinem Sohn Orhan ein Gebiet, das dreimal so groß war wie jenes, das er seinerzeit von seinem Vater geerbt hatte. Expansion sollte zu einem wesentlichen Bestandteil der Identität und noch mehr des ökonomischen Systems des entstehenden Großreiches werden. In kurzer Zeit sollten die Osmanen als Herrscher über das gesamte östliche Mittelmeer und die angrenzenden Regionen das Erbe der arabischen Großreiche, sowie des Byzantinischen Reiches, antreten.

[<<21] Seitenzahl der gedruckten Ausgabe

Die Grenzlage zum Byzantinischen Reich und der Kampf gegen dessen christliche Armee hatte das osmanische Fürstentum zu einem Zentrum des ideologischen Kampfes im Namen des Islams gemacht. Seit den Anfängen im siebenten Jahrhundert befand sich der Islam in Auseinandersetzung mit Byzanz. Schon 624 wird von der ersten militä­rischen Auseinandersetzung arabischer Truppen mit den Byzantinern in Palästina berichtet. Nur zwei Jahrzehnte später beendeten die Araber die byzantinische Vorherrschaft über das östliche Mittelmeer und eine islamische Armee stand zum ersten Mal vor den Mauern Konstantinopels. Insgesamt kam es zu zwölf Expeditionen, um die Stadt zu erobern. Die Eroberung Konstantinopels blieb den arabischen Armeen jedoch verwehrt. Die Stadt wurde dadurch für Muslime sowie Christen zu einem Symbol des Widerstands gegen die Expansion des Islam. (Ahmad, 1993)

Die Osmanen sahen sich als Krieger im Namen des Islam. Die Idee des Dschihad, des Krieges gegen die Ungläubigen, hatten die Osmanen von den Seldschuken übernommen. Das kleine Fürstentum Osmans wurde aufgrund der Grenzlage zum Byzantinischen Reich zu einem Anziehungspunkt für muslimische Kämpfer aus der gesamten Region. Vor allem turkmenische Stammesführer und Krieger, die auf der Flucht vor den aus dem Osten vordringenden Mongolen in Richtung Westen gewandert waren, schlossen sich den Osmanen im Kampf gegen die Byzantiner an.

Expansion beinhaltete demnach neben einer wirtschaftlichen und machtpolitischen Komponente auch eine religiös-ideologische Mission, vergleichbar mit jener der christlichen Kreuzfahrer. Die osmanischen Krieger galten, falls sie im Krieg fielen, als sehit (Märtyrer) bzw., wenn sie überlebten und heimkehrten, als gazis. Die religiöse Mission förderte zweifelsohne den Kampfgeist der osmanischen Krieger und trug dazu bei, dass sie eine Schlacht nach der anderen erfolgreich schlagen konnten. (Vgl. Ahmad, 1993: 16)

Als Mehmet II. (der Eroberer) (Fatih Sultan Mehmet) 1453 mit seinen Truppen Konstantinopel eroberte, war er davon überzeugt, dass er damit eine göttliche Vorsehung erfüllt habe, nämlich, dass die Stadt für Muslime vorbestimmt war. (Vgl. Inalcik,1998: 249) Die Eroberung Konstantinopels stellte einen Wendepunkt dar. Während die christliche Welt

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den Verlust Ostroms beklagte – allerdings war niemand den Byzantinern zu Hilfe gekommen –, besiegelte die Eroberung Konstantinopels den Aufstieg der Osmanen zu Herrschern über ein Großreich.

Am Höhepunkt seiner Macht sollte es sich über ein Territorium, das vom heutigen Ungarn und Serbien über den gesamten Süd-Balkan und Rumänien, vom Schwarzmeerraum über Anatolien, Syrien, Palästina, den Irak, Kuwait, Jordanien, die arabische Halbinsel, einschließlich der heiligen Stätten (Mekka und Medina), den Jemen über Ägypten, bis an die nordafrikanische Küste an den Ausläufern des Atlasgebirges reichte, erstrecken.

Mit Konstantinopel verleibte sich die auf Expansion ausgerichtete Dynastie eine Stadt mit langer imperialer Tradition ein. Die Osmanen übernahmen in weiten Bereichen nicht nur die byzantinische Tradition der absoluten Herrschaft und des Verwaltungswesens, sondern Mehmet sah sich auch als der Nachfolger des byzantinischen Kaisers. Die Verlegung der osmanischen Hauptstadt und des Sitzes des Sultans von Edirne (Adrianopel) nach Konstantinopel, das er in Istanbul umbenannte, sollte diesen Anspruch bekräftigen.

Der Sultan und sein Hof sollten ähnlich wie der byzantinische Kaiser das absolute Zentrum der staatlichen Macht darstellen. Denn alle Macht ging vom Sultan aus.

Turkmenische Notabeln, die bislang ein politisches Gegengewicht zum Herrscher gebildet hatten und die am ehesten eine Basis für eine vererbbare Aristokratie dargestellt hätten, wurden nach der Eroberung Konstantinopels und der Errichtung der zentralen, absoluten Herrschaft des Sultans ausgeschaltet und ihr Eigentum und Landbesitz konfisziert. (Vgl. Ahmad, 2003: 19)

Die Bevölkerung Konstantinopels war durch Kriege, Bürgerkriege und Hungersnöte stark dezimiert. Mehmet II. siedelte deshalb Menschen aus den umliegenden Regionen in der Hauptstadt an. Er achtete dabei darauf eine türkisch-muslimische Mehrheit zu schaffen, dennoch war die Bevölkerung der neuen Hauptstadt weitgehend kosmopolitisch. Neben Türken zählten vor allem Griechen und Armenier, sowie Angehörige anderer christlicher Gruppen sowie Juden zu den Bewohnern der Hauptstadt. (Vgl. Inalcik, 1998: 253)

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Nicht-muslimische Untertanen wie Christen und Juden unterstanden dem Schutz des Sultans. Sie wurden nicht zum Konvertieren gezwungen, ebensowenig gab es den Versuch der Missionierung. Vielmehr wurde das Weiterbestehen christlicher und jüdischer Gemeinschaften gewährleistet, solange sie die Souveränität des Herrschers und die Vormacht des Islams nicht in Frage stellten. Nicht-Muslime entrichteten gemäß der islamischen Tradition spezielle Abgaben. Im Gegenzug waren sie vom Armeedienst befreit. Die endgültige Islamisierung der eroberten Gebiete wurde zwar nicht aktiv betrieben, blieb aber eine ständige Hoffnung der muslimischen Herrscher.

Die Osmanen wollten bestehende Strukturen nicht zerstören, sondern vielmehr übernehmen und adaptieren. Mehmet ließ zwar als Zeichen seiner Macht einen neuen Palast errichten, der das Zentrum des neuen Imperiums darstellen sollte, er erhielt aber gleichzeitig viele der bestehenden Bauwerke.

Die Stadt sollte aber ein muslimisches Antlitz haben. Die wichtigsten Kirchen der Stadt, darunter die Kathedrale der Hagia Sophia, wurden in Moscheen oder Dervish-Klöster umgewandelt. Nicht-muslimische Gotteshäuser wie Kirchen und Tempel durften zwar weiterhin bestehen, bzw. wurde auch der Bau von neuen zugelassen, sie mussten sich aber dem islamischen Stadtbild unterordneten. Inalcik stellt fest, dass bei dem Ansinnen, Istanbul in eine islamische Metropole zu verwandeln, die Überzeugung, dass eine spirituelle Macht zum Sieg der Osmanen über die christlichen Byzantiner beigetragen habe, eine wichtige Rolle spielte. (Vgl. Inalcik, 1998: 251) Auch wenn mit der Eroberung Kon­stantinopels die Stadt nun zur Hauptstadt eines islamischen Großreiches geworden war, war es gleichzeitig auch weiterhin das kulturelle und spirituelle Zentrum der Orthodoxie. In diesem Sinne hatte das Osmanische Reich sogar dazu beigetragen die griechische Orthodoxie wieder unter einer Herrschaft zu vereinen. Einflussreiche griechische Familien der Stadt, die Phanarioten, sollten im Laufe der osmanischen Geschichte wichtige Posten im Reich besetzen und eine bedeutende Rolle spielen.

Die Eroberung Konstantinopels stillte nicht den Hunger nach weiterer Expansion, vielmehr schien die Erfüllung einer religiösen Vorsehung den

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Drang nach weiterer Expansion größer werden zu lassen. (Vgl. Lapidus, 2002: 253ff.) (Rustow, 1965)

Schon bald konnten die Osmanen ihren Herrschaftsbereich auf das gesamte östliche Mittelmeer, inklusive den Küsten Nordafrikas und des Balkans, ausweiten. Durch die Eroberung des „abbasidischen Kalifats“ in Kairo 1517 und die Eingliederung von Mekka, Medina und Damaskus erlangten die Osmanen die Weltführerschaft über die islamische Welt. Zusätzlich zum Titel eines Gazi, eines „Kämpfers im Namen des Glaubens“ nahmen die osmanischen Herrscher nun auch jene des „Dieners der heiligen Stätten“ und des „Verteidigers der Scharia“ an. Die Osmanen wurden dadurch nicht nur die Kämpfer und Bewahrer eines islamischen Imperiums mit einem Anspruch auf Universalität, sondern ihre Hauptstadt wurde auch zu einem Zentrum für islamische Gelehrte. (Vgl. Lapidus, 2002: 253)

Eine wichtige Rolle bei der Expansion sollte das Infanteriekorps der Janitscharen spielen. Mit der Eroberung der Balkanhalbinsel hatte der Sultan versucht, seine Abhängigkeit von der Unterstützung durch turkme­nische Notabeln durch die Rekrutierung junger Christen aus den eroberten Gebieten zu schwächen. Es wurden die tüchtigsten und talentiertesten Jünglinge aus christlichen Familien ausgewählt und in die Hauptstadt gebracht, wo sie zu Muslimen erzogen, ausgebildet und trainiert wurden. Dieses Umerziehungsprogramm, das bis ins 18. Jahrhundert in dieser Form Bestand hatte, wurde devsirme genannt. Devsirme war keine Erfindung der Osmanen, sondern eine Praxis, die es in allerdings anderer Form zuvor auch schon unter den Byzantinern und Abbasiden gegeben hatte.

Nicht alle Janitscharen wurden nach Beendigung ihrer Ausbildung Krieger, vielmehr ermöglichte die Nähe zum Sultan – das Korps galt als ein Teil des Haushaltes des Sultans und war auch als Elitetruppe im Palast angesiedelt – auch den Aufstieg in wichtige Regierungsämter bzw. in die Verwaltung. Die Janitscharen entwickelten aufgrund ihrer besonderen Ausbildung und Stellung einen Korpsgeist. Sie besetzten wichtige Posten im Reich und konnten unabhängig vom Sultan politische Netzwerke aufbauen. Dadurch wurde das Janitscharenkorps im Laufe der Zeit zu einem bedeutenden politischen Machtfaktor innerhalb des ­osmanischen Herrschaftssystems. Immer wieder intervenierten

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Janitscharen bei Machtkämpfen innerhalb des Palastes und setzten meist blutig den einen oder anderen Sultan, zu Gunsten eines von ihnen favorisierten Thronfolgers, ab. Einfluss und Reichtum waren allerdings das Privileg des Korps und konnten nicht von einzelnen Mitgliedern an ihre Nachkommen vererbt werden. (Vgl. Ahmad, 2003: 19 ff)

Die politische und wirtschaftliche Struktur

Die Eroberung Konstantinopels und der Übergang zu einem islamischen Großreich mit universellem Anspruch legten offen, dass die stammesähnlichen Strukturen des Fürstentums den Erfordernissen eines Imperiums nicht entsprachen.

Mehmet II. versuchte die rechtlichen und politischen ­Bedingungen für ein multi-ethnisches und multi-konfessionelles Großreich zu schaffen. Die von Mehmet erlassenen Gesetze sollten ein rechtliches Rahmen­werk für ein Reich schaffen, das einerseits durch das Streben nach Expansion, Kriegsbeute und religiöse Mission geprägt war und das nun andererseits zu einem kosmopolitischen, multikonfessionellen Staatswesen angewachsen war.

Es galt neue Institutionen zu bilden, Funktionen zu trennen, ein rechtliches Rahmenwerk zu schaffen und eine Staatstradition zu begründen. Um das wachsende Großreich zu bewahren und zu verwalten, sowie um Steuern eintreiben zu können, mussten rechtliche, administrative und finanzielle Funktionen geschaffen werden, die von den militärischen Funktionen getrennt waren. Ebenso musste die Kasse des Sultans von der Staatskasse getrennt werden.

Die Strukturen des politischen Systems, der Verwaltung und der Staatstradition, die mit dem Aufstieg zu einem Imperium geschaffen wurden, waren nicht statisch und unveränderlich. Vielmehr sollte sich das Reich über die Jahrhunderte in einem stetigen Wandlungsprozess befinden. Einige Institutionen sollten im Laufe der Zeit wieder abgeschafft, umgeformt, neu erfunden bzw. von den Europäern übernommen werden.

Die Strukturen, die im Prozess des Übergangs von einem türkisch-islamischen Stammesfürstentum zu einem islamischen Großreich mit

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multi-ethnischer und multi-konfessioneller Bevölkerung geschaffen wurden, waren durch verschiedene Einflüsse geprägt. Zum einen waren die militärische Organisation sowie die bürokratische Struktur durch die Tradition der zentralasiatischen Turkstämme, die Vorfahren der Osmanen, zum anderen durch die Einflüsse der türkischen Nomaden, die auf der Flucht vor den Mongolen nach Anatolien gekommen waren, geprägt.

Eine andere wichtige Quelle der osmanischen Tradition stellte der sunnitische Islam dar. Der durch die Osmanen propagierte orthodoxe sunnitische Islam baute auf die Tradition der klassischen arabisch-­islamischen Großreiche, sowie auf jener der Seldschuken auf. Die Osmanen übernahmen zu einem Großteil das islamische Steuersystem, so wie es in den klassischen arabischen Großreichen angewandt worden war.

Als dritte Quelle für die Struktur des neuen Großreiches gilt neben der islamisch-sunnitischen Tradition und den Traditionen der türkischen Stämme Byzanz. Die Osmanen übernahmen Hofzeremoniell, Verwaltungspraktiken, das Lehenssystem sowie den Absolutismus des Herrschers von den Byzantinern. Auch wenn die Art, Dinge zu erledigen und zu organisieren, von den Byzantinern übernommen wurde, stülpten die Osmanen im Nachhinein den Mantel des Islams darüber. (Vgl. Shaw, 1976: 22 ff.)

An der Spitze des Großreiches stand der Sultan, der absolut regierte. Die Osmanen hatten nicht nur Ansätze einer Aristokratie in den eigenen Reihen ausgeschaltet, sondern eliminierten auch die Aristokratie in den eroberten Ländern. Im Gegensatz zum Westen existierte im osmanischen System damit weder eine erbliche Aristokratie, noch gab es einen vererbbaren Stand von Feudalherren, die als eine politische, wirtschaftliche und rechtliche Zwischenebene zwischen der imperialen Zentralgewalt und der Masse der Untertanen fungieren hätten können. In dem zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert entwickelten osmanischen Staats- und Sozialsystem hingen Macht und Autorität von der persönlichen Delegierung durch den Sultan ab. Der Sultan ermächtigte Mitglieder seines Haushaltes zur Ausübung von Macht in seinem Namen. Durch sie sprach er Recht, verwaltete die Provinzen, rekrutierte Armeen, vergab Land an diese, nahm es nach Belieben wieder weg und trieb durch diese zum Erhalt des Systems Steuern ein. (Vgl. Göcek, 1996: 20)

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Der Sultan wurde in den Provinzen durch einen von ihm ernannten Vali (Gouverneur) vertreten. Die osmanische Verwaltung in den Provinzen war dem Vorbild des Hofes nachempfunden. Der Haushalt der Provinzverwalter spiegelte jenen des Sultans in kleinerem Format wider. Einem starken Zentrum, dem Hof des Sultans, von dem nicht nur Recht, sondern auch wirtschaftliche und religiöse Macht ausging, stand eine relativ schwache physische Präsenz dieses starken Staates in der Peripherie des Reiches gegenüber. Die Präsenz der osmanischen Staatsmacht war vor allem in den entfernten Provinz, in den wenigen städtischen Zentren zu spüren. Während also der osmanische Staat als solcher in den ländlichen Gebieten kaum präsent war, hinterließen die Osmanen in den urbanen Zentren kulturelle und architektonische Spuren ihrer Herrschaft.

Einige Gebiete, die die Osmanen erobert hatten, standen nur formell unter osmanischer Souveränität. Die lokalen Machthaber entrichteten als Zeichen ihrer Unterwerfung Tribut an den Sultan in Istanbul und ­konnten im Gegenzug auf seinen Schutz vor äußeren Bedrohungen hoffen.

Das traditionelle osmanische System war damit zwar absolutistisch, da jegliche Macht vom Sultan ausging, es war aber keineswegs zentralistisch, vielmehr konnten lokale Herrschafts- und Gesellschaftsstrukturen in den eroberten Provinzen, soweit sie sich der osmanischen Vorherrschaft unterwarfen, sich dem Sultan gegenüber Loyal verhielten und regelmäßig Tribut ablieferten, weitgehend autonom leben.

Bis zu den im 19. Jahrhundert einsetzenden Verwaltungsreformen kann das Osmanische Reich, von seinem Staatswesen her, als ein mittelalterliches Imperium mit losen zentralstaatlichen Strukturen charakterisiert werden. Über Jahrhunderte gab es, ähnlich wie in den mittelalterlichen Reichen Europas, weder eine zentralisierte Exekutivgewalt noch ein einheitliches Verwaltungs- oder Postwesen.

Ein wichtiges Element der politischen Macht bildete neben der religiösen Legitimation des Herrschers die absolute Macht über die Landvergabe. Der Großteil des Bodens war in staatlichem Besitz und unterlag der Verfügungsgewalt des Sultans, der die Bewirtschaftung nach Belieben auf beschränkte Zeit vergeben und auch wieder entziehen konnte. Während privater Landbesitz sich nur auf kleine Einheiten, die meist nur zur Selbstversorgung dienten, beschränkte, vergab der Sultan Ländereien

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und die Rechte zur Eintreibung der Gewinne daraus an Angehörige des Hofes bzw. seiner Armee, die sich aufgrund ihrer Dienste dessen würdig erwiesen hatten. Eine Ausnahme bildete privater Landbesitz, der sich im Eigentum von vakif, religiösen Stiftungen, befand. Während vakif ursprünglich dazu dienen sollten, religiöse und soziale Einrichtungen wie Moscheen, Schulen, Spitäler und ähnliches zu finanzieren, war es über die Jahre auch immer üblicher geworden, dass wohlhabende Mitglieder des Hofes ihr Eigentum so vor dem Zugriff des Staates für weitere Generationen bewahrten.

Die Expansion des Reiches durch Eroberungen förderte die absolute Macht des Sultans. Neu erobertes Land fiel an den Sultan, der dieses als ein Lehen auf Lebenszeit an verdienstvolle Soldaten und Beamte verlieh. Dabei ging das Lehen nicht in das Eigentum des Lehensnehmers über, vielmehr wurden ihm die Erträge aus diesem Lehen übertragen, der Boden selbst blieb im Besitz des Staates und fiel nach dem Tod des Lehensnehmers wieder an diesen zurück. Dadurch wurde ein Lehenssystem geschaffen, das im Prinzip nicht auf Abstammung oder vererbten Privilegien, sondern auf Verdienst um das Reich und auf dem Vertrauen des Sultans beruhte.

Je nach Größe des Lehens wurde in Has, Zeamet und Timar unterschieden. Im Laufe der Zeit sollte die Vergabe von Timars, der kleinsten Einheit, zur Entsoldung von verdienstvollen Reitersoldaten, den ­Sipahis, dienen. Das Timar-System war eines der wichtigsten Bausteine des osmanischen Reiches.

Die Lehensnehmer, die sogenannten Timarioten, verpflichteten sich dazu, auf dem ihnen übergebenen Lehen zu leben. Sie waren mit bestimmten öffentlichen Aufgaben wie der Erhaltung der öffentlichen Ordnung und der Förderung der Ernteeinnahmen, sowie mit dem Recht, Steuern von ihrem Timar einzuheben, betraut. Aus Sicht der staatlichen Zentral­gewalt war vor allem die Verpflichtung der Lehensnehmer, in ihren Lehen Soldaten zu rekrutieren, auszubilden und auszurüsten, wichtig. Mitte des 16. Jahrhunderts konnten dadurch ca. 200.000 ausgerüstete Soldaten aufgebracht werden. (Vgl. Inalcik & Seyitdanlioglu, 2006: 18)

Im Gegensatz zu Lehenssystemen im mittelalterlichen Kontinentaleuropa war das Timar-System auf die Lebensdauer des Lehnsherrn

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beschränkt. Das osmanische System sah wie erwähnt nicht die Möglichkeit der Vererbbarkeit eines Lehens vor. Dadurch sollte das Entstehen eines vererblichen Adelsstandes und damit alternativer Macht- und Wirtschaftszentren verhindert werden. Das Timar-System führte dazu, dass die Lehnsherren kaum an einer langfristigen Verbesserung der Produktionsbedingungen oder dafür notwendigen Investitionen interessiert waren. Stattdessen veranlasste sie die beschränkte Dauer des Lehens dazu in der kurzen Zeit die ihnen zur Verfügung stand aus dem ihnen übertragenen Landstrich so viel Ertrag wie möglich zu erwirtschaften.

In wirtschaftlicher Hinsicht war das Osmanische Reich durch Landwirtschaft geprägt. Die landwirtschaftliche Produktion erfolgte hauptsächlich in kleinem Maßstab. Über die Jahrhunderte hatte das Reich keine zusammenhängende Wirtschafts- oder Fiskalpolitik entwickeln können. Vielmehr kann die Wirtschaftsstruktur als vorkapitalistisch bezeichnet werden. Die Wirtschaftspolitik, soweit man diese als solche bezeichnen kann, zielte auf die Versorgung der Bevölkerungszentren sowie das Eintreiben von Steuern ab. Die Unterschiede in der wirtschaftlichen Struktur und der wirtschaftlichen Entwicklung unter den einzelnen Regionen des gewaltigen Reiches waren sehr groß. Dies bedingte unterschiedliche Entwicklungen, die aufgrund der ab dem 17. Jahrhundert immer stärker spürbaren politischen und militärischen Schwäche der osmanischen Zentralgewalt kaum überwunden werden konnten. Die bevölkerungsstarken Provinzen des Balkans verfügten über eine gänzlich andere Wirtschaftsstruktur als z. B. die dünn besiedelten arabischen Provinzen, die von nomadischer Wirtschaft geprägt waren. Der Binnen­handel unter den einzelnen Regionen des Reiches war sehr gering. Es konnte sich dadurch über die Jahrhunderte keine Wirtschaftseinheit bilden. (Vgl. Zürcher, 2004: 9ff).

Der Krieg und die territoriale Expansion hatten einen wichtigen Bestandteil des wirtschaftlichen, politischen und militärischen Systems des Reiches dargestellt.

Die Ära unter Suleiman I. dem Prächtigen (Kanuni Sultan Süleyman) (1520 –1566) gilt als der Höhepunkt des Osmanischen Reiches. Während das 16. Jahrhundert noch durch Ausbreitung geprägt war, sollte mit dem 17. Jahrhundert der lange Prozess des Niedergangs beginnen. Von da

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an sollten sich die Bemühungen der Osmanen auf den Erhalt und die Abwendung des Zerfalls konzentrieren.

Die gescheiterte Belagerung Wiens im Jahr 1683 wird von vielen Histo­rikern als der endgültige Wendepunkt und als Beginn des militärischen, wirtschaftlichen und politischen Niedergangs und des damit einhergehenden unaufhaltsamen territorialen Rückzugs des Reiches betrachtet.

Mit dem Ende der Expansion und dem Ausbleiben der damit verbundenen Kriegsbeuten, Tribute und neuen Einnahmequellen geriet das osmanische System in eine Krise. Das Ende des territorialen Wachstums leitete eine Krise des Lehenssystems und damit zusammenhängend auch eine Steuer- und Finanzkrise ein.

Das Timar-System, das einen wichtigen Bestandteil der Belohnung der Reitersoldaten dargestellt hatte, geriet mit dem Ende der territorialen Expansion in Not. Dem Sultan stand für die Belohnung verdienstvoller Krieger und Beamter immer weniger Land zur Verfügung. Dadurch wurden die Lehen, die vergeben wurden, immer kleiner. Da die Lehnsherren immer größere Anforderungen an die Bauern stellten, ging mit dem Ende der Expansion auch eine Verschlechterung der Situation der Bauern einher.

Das Ende der Expansion leitete eine permanente Finanzkrise ein. Um Engpässe zu überwinden, übertrug der Sultan das Recht auf Steuereintreibung an wirtschaftlich potente Privatpersonen. Das sogenannte Steuerpachtsystem (Iltizam) fand ab dem 17. Jahrhundert vermehrt Verbreitung. In den arabischen Provinzen war das Steuerpachtsystem, basierend auf landwirtschaftlichen Einnahmen, bereits in der klassischen Periode des Reiches die Norm. Das Steuerpachtsystem bedeutete, dass das Recht, in einem bestimmten Gebiet Steuern einzuheben, durch den Staat an den Höchstbietenden versteigert wurde. Der Staat hatte dabei den Vorteil, dass er einen fixen Betrag an Steuern vorfinanziert bekam und dabei nicht von den Erträgen der Landwirtschaft abhängig war. Für die Bauern hatte die Steuerpacht fatale Folgen, weil die Steuerpächter ihre finanziellen Investitionen ohne Rücksicht auf Missernten oder ähnlich bedingte Ertragseinbußen einzutreiben versuchten. Angesichts des Umstandes, dass das Osmanische Reich zum Großteil agrarisch geprägt war, sollte sich die Verschlechterung der Situation der Bauern auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung fatal auswirken. (Vgl. Zürcher, 2004: 17)

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Die osmanische Gesellschaft

Die osmanische Gesellschaft unterteilte sich grob in zwei Klassen. Die Staatsklasse, askeri, wörtlich das Militär, sowie die Klasse der Untertanen, reaya.

Die Staatsklasse (askeri) umfasste all jene Personen, die durch den Sultan mit exekutiver oder religiöser Macht betraut wurden. Die askeri unterteilte sich wiederum in drei unterschiedliche Gruppen, die nach ihren staatlichen Funktionen unterschieden wurden: Die Vertreter der hohen Verwaltung (kalimiye), die militärische Spitze (seyfiye) und die hohe Geistlichkeit (ulema). Während die Verwaltung mit administrativen Aufgaben betraut war, sprach die ulema (die hohe Geistlichkeit) Recht und überwachte rechtliche und finanzielle Angelegenheiten. Beide dieser Arme des Staatsapparates unterstanden der Zentralgewalt, waren aber unabhängig voneinander. So konnte ein vom Sultan ernannter Vali (Gouverneur) z. B. dem lokalen Kadi (Richter) keine Anweisungen geben. (Vgl. Inalcik, 1995: 124) Die ulema wiederum wurde in drei Gruppen von Funktionen unterteilt: Die Kadis (die Rechtsverwalter), die muftis (die Gelehrten und Interpreten des Rechts) und die imame (die Prediger). (Vgl. Ubicini, 1853: 82)

Die osmanische Staatselite hob sich von der breiten Masse der Bevölkerung durch Sprache, Kleidung, Speisen sowie eine osmanische höfische Kultur ab. All diese Eigenschaften der Elite konnten durch Bildung erworben werden. Der Umstand, dass es im Reich keine erbliche Aristokratie gab, förderte eine gewisse soziale Mobilität. Der Aufstieg in die Staatsklasse war nicht abhängig von familiärer, regionaler oder ethnischer Herkunft, sondern beruhte vielmehr auf persönlichem Ehrgeiz, Tüchtigkeit, Verdienste um den Staat und die Gunst des Sultans. Dies ermöglichte es auch Angehörigen unterer sozialer Schichten sowie Vertretern nicht-türkischer Volksgruppen, in hohe Staatsämter aufzusteigen. Ein wichtiges Kriterium war dabei die Angehörigkeit zur islamischen Religion. Wenn auch historisch belegt ist, dass es durchaus auch Beispiele von Nicht-Muslimen gab, die in die Staatsklasse aufgestiegen waren, waren es meist Konvertiten, die im Staatsdienst standen. Der Islam fungierte als eine Art Förderband an die Spitze. (Vgl. Rodrigue, 1996)

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In der klassischen Periode setzte sich die osmanische Herrschaftselite sogar zum Großteil aus christlichen Konvertiten, die aus den Balkanländern stammten, zusammen. Die herrschende Klasse verdankte ihren Status, ihre politische Macht und ihren wirtschaftlichen Wohlstand zur Gänze dem Staat. Dies schuf ein besonderes Loyalitätsverhältnis zu diesem. Die zentrale Stellung von Hof und Staat und die Abhängigkeit der Staatsklasse von den Zuwendungen, wie z. B. Landvergabe, durch den Sultan bedingten eine gewisse Distanz zur Bevölkerung. Der Staat als Wahrer des Rechtes, der Ordnung und nicht zuletzt der Religion galt als das wichtigste Gut, das es zu schützen, bewahren und, wenn notwendig, zu verteidigen galt.

Traditionell hegten die türkischen Staatseliten gegenüber individuellen und sozialen Bewegungen Misstrauen, da sie darin eine Gefahr für die Stabilität und Einheit des Staates sahen.

Die Staatselite fühlte sich einer über den regionalen und ethnischen Unterschieden stehenden osmanischen Hochkultur verpflichtet, die sich aus einem bestimmten Verhaltenscode, Werten, Bildung, Geschmack und dem Bewusstsein der Verantwortung gegenüber dem Staat und seinem Wesen zusammensetzte. Die Elite übte demnach nicht nur Macht aus, sondern sie war auch die Bewahrerin einer klassischen Zivilisation, einer großen Tradition, die einerseits auf den schriftlichen Quellen des Islams und andererseits auf adab, einem angemessenen Verhalten basierte. Während ersteres durch die ulema, die Gelehrten des Islams in den religiösen Schulen, den medresse weitergegeben wurde, wurde adab informell durch Ausbildung und Training den osmanischen Eliten weitergegeben. Die Hochkultur der osmanischen Staatseliten bildete ein wichtiges integratives Element in einem Reich, das durch so viele unterschiedliche ethnische Gruppen geprägt war. (Vgl. Zürcher, 2004)

Der Staatsklasse stand die Gruppe der Untertanen (reaya) gegenüber. Diese Klasse umfasste alle Subjekte des Sultans, die auf osmanischem Terri­torium lebten, Steuern zahlten und nicht Teil der herrschenden Klasse (askeri) waren. In der großen Gruppe der Untertanen (reaya) wurde zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen, Stadtbewohnern, Bauern, sowie Sesshaften und Nomaden unterschieden. Je nach Zugehörigkeit zu der einen oder anderen Kategorie unterschieden sich Status und die daraus resultierenden Steuerpflichten. (Inalcik, 1995: 124ff.)

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Das Osmanische Reich war wie weiter oben erwähnt agrarisch geprägt. Der Großteil der Bevölkerung lebte in ländlichen Gebieten. Die einzelnen konfessionellen und ethnischen Gruppen lebten meist isoliert voneinander in getrennten Dörfern. Die relativ wenigen Städte des Reiches hingegen, vor allem jene, die in den levantinischen Küstengebieten lagen, waren meist kosmopolitisch geprägt. Allerdings waren auch hier die Wohnorte von Griechen, Armeniern, Juden und Muslimen getrennt. Vor allem zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen herrschte nur eingeschränkt Austausch. Während Nicht-Muslime über eine gewisse Autonomie verfügten, hierzu weiter unten, galten Muslime allein aufgrund des islamischen Charakters des Reiches als den Nicht-Muslimen übergeordnet.

Der Historiker Aron Rodrigue meint in diesem Zusammenhang, dass es völlig falsch ist, in der vormodernen Periode des Osmanischen Reiches in diesem Zusammenhang Begriffe wie Mehrheit und Minderheit anzuwenden. Diese Kategorien hatten in der damaligen Epoche nicht dasselbe Gewicht in politischen Beziehungen wie heute. Zwar bildeten bestimmte Gruppen oder Bevölkerungsgruppen in manchen Regionen des Reiches eine Mehrheit, und auch die Osmanen waren sich laut ­Rodrigue durchaus der Bevölkerungsverteilung in den einzelnen Regionen des Reiches bewusst. Zu diesem Zweck benutzten sie auch das Mittel der Verbannung, bei dem einzelne Gruppen von einem Ort im Reich an einen anderen ins Exil gehen mussten; allerdings spielte Mehrheit dahingehend keine Rolle, als die Osmanen ihre Herrschaft nicht durch eine demographische Mehrheit legitimierten. (Vgl. Rodrigue, 1996)

Rodrigue weist zudem darauf hin, dass fälschlicherweise Historiker immer wieder über das Osmanische Reich so schreiben, als ob es sich um einen Nationalstaat, in dem eine Mehrheit von Türken über Minderheiten herrschte, handelte. Stattdessen umfasste das System eine Vielfalt unterschiedlicher Gruppen, die alle als „unterschiedlich“ anerkannt wurden. Unterschiede wurden nicht horizontal aufgehoben, sondern vertikal in das politische System integriert. Zwar hatten dadurch manche Gruppen leichteren Zugang zur Macht als andere, aber auch die übrigen Gruppen waren nicht zur Gänze aus dem System ausgeschlossen. Auf diese oder jene Weise verfügten die unterschiedlichen Gruppen im Reich über Verbindungen zur politischen Hierarchie des Systems, entweder

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indirekt über Vermittler bei Hofe oder aufgrund ihrer wirtschaftlichen Position direkt, wie z. B. die griechischen Phanarioten. Dabei handelte es sich nicht um Gleichheit, ein Konzept, das laut Rodrigue in dieser Organisationsform irrelevant war, vielmehr war der Unterschied etwas Vorbestimmtes und Normatives. Dies war allerdings auch kein Pluralismus, so Rodrigue, da Unterschiede nämlich nicht auf der Basis von Rechten artikuliert wurden. (Vgl. Rodrigue, 1996)

Während dieses sozio-politische System in der vormodernen Epoche Gültigkeit hatte, sollte mit der Modernisierungsbewegung zusehends das Konzept eines von der westlichen Aufklärung inspirierten wertneutralen universalistischen öffentlichen Raumes Anwendung finden, das in Opposition zur „Unterschiedlichkeit“ stand und darauf abzielte, die bestehenden Unterschiede weitgehend auszulöschen. (ebda)

Der Großteil der muslimischen Bevölkerung der Städte setzte sich entweder aus Angehörigen des Haushalts des Sultans zusammen oder gehörte dem Haushalt eines seiner Beauftragten, wie z. B. Valis an, oder es handelte sich um Gewerbetreibende wie Handwerker oder Kleinproduzenten. Traditionell gewährten die Osmanen Vertretern des Gewerbes einen besonderen Status. Handwerker und Gewerbetreibende waren meist in Handwerksgilden (ahi) organisiert, die nicht nur den Zugang zu bestimmten Berufsgruppen regelten, sondern ihren Mitgliedern auch einen gewissen Schutz boten. Die Gilden vertraten die Anliegen ihrer Vertreter gegenüber den Behörden. Diese Netzwerke stellten angesichts eines mächtigen Staates, der den Einwohnern gegenüberstand, eine frühe Form einer Interessensvertretung bzw. Zivilgesellschaft dar.

Nicht-muslimische Einwohner wie Griechen, Juden oder Armenier betätigten sich vornehmlich als Händler. Diese Gruppe der nicht-muslimischen Kaufleute sollte im Laufe des 19. Jahrhunderts die einzige soziale Schicht darstellen, die in Ansätzen einem städtischen Bürgertum nahe kam. Allerdings waren die armenischen, jüdischen und griechischen Kaufmannsfamilien aufgrund ihrer konfessionellen Zugehörigkeit Muslimen in Rechten und Pflichten nicht gleichgestellt und kulturell weitgehend von diesen isoliert.

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Staat und Religion

Das Osmanische Reich galt als dar-ül Islam, das Haus des Islam. Damit galt das Reich als islamisches Reich, in dem der Islam den kulturellen, formellen und legalen Rahmen bildete und islamisches Recht galt. Damit waren sämtliche Bereiche des politischen und sozialen Lebens den Regeln des Islams unterworfen. Die Idee des dar-ül Islam verlieh dem Herrscher und seinen Untertanen die Aufgabe, die islamische Gemeinschaft nach außen hin zu verteidigen und innerhalb der Gemeinschaft für Recht und Ordnung zu sorgen. Die Übernahme der Funktion des Kalifats durch die Osmanen im Jahr 1517 hatte eine weitere Aufwertung des islamischen Charakters des Reiches bedeutet. Der Sultan bekleidete in Personalunion das Amt des Kalifats. Er war damit nicht nur Herrscher über das Reich, sondern auch Führer der umma, der islamischen Gemeinschaft.1 Damit stand er an der Spitze der weltlichen sowie der geistlichen Hierarchie. Während für weltliche Belange ihm der Großwesir unterstand, folgte in der geistlichen Hierarchie des Staates dem Kalifen der Seyh ül-islam. Der Seyh ül-islam war damit der oberste Würdenträger der religiösen Verwaltung und war verantwortlich für das Religions-, Rechts- und Erziehungswesen.

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Die Aufrechterhaltung von Gerechtigkeit und Ordnung waren zentrale Elemente des osmanischen Staatsverständnisses. Die ulema, die Geistlichkeit, spielte dabei eine wichtige Rolle. Sie war ein integrierter Teil des Systems. Die ulema interpretierte die Scharia – das islamische Recht. Trotz der theoretischen Vorherrschaft der Religion verfügte die Geistlichkeit aber über keinen eigenständigen organisatorischen Körper, vielmehr war sie in Bezug auf Ernennungen, Beförderungen und Bezahlungen vom Staat abhängig. Man kann sogar feststellen, dass die ulema als Diener des islamischen Staates galt. Obwohl die ulema theoretisch damit befasst war, das islamische Recht zu interpretieren und anzuwenden, war sie damit in ihrem Handeln weitgehend den weltlichen Interessen des Staates unterworfen. Die enge Verknüpfung der religiösen Autoritäten mit der weltlichen Macht hatte sich unweigerlich zu Ungunsten religiöser und spiritueller Anliegen und zu Gunsten der Vorherrschaft weltlicher, politischer Interessen ausgewirkt. Die Integration der Geistlichkeit in den Staatsapparat bewirkte langfristig, dass die ulema religiöse und juristische Entscheidungen oft den politischen Bedürfnissen der staatlichen Autorität unterordnete.

Auch wenn in der Theorie ausschließlich die Scharia galt, so hatte sich doch früh gezeigt, dass die Scharia keinesfalls sämtliche Aspekte des politischen und sozialen Lebens abdecken konnte. Das öffentliche Recht und vor allem aber die Fragen des Kriminalrechts wurden durch säkulare Verordnungen, die auf der weltlichen Macht des Sultans beruhten, die sogenannten Örf und Kanun, geregelt. Um die Beziehungen zwischen dem Staat und seinen Untertanen näher festzulegen, sowie um Kleidungsvorschriften, Pflichten und Verpflichtungen festzuschreiben, konnte der Sultan sogenannte Fermans (Verordnungen) erlassen. Diese wurden dann in Rechtskodizes, den sogenannten Kanun, gesammelt. Die Kanun stellten eine Art säkularer und administrativer Gesetze dar, zu deren Erlass der Herrscher aufgrund seiner Berechtigung, im Namen der Gemeinschaft Recht zu sprechen, befähigt war. (Vgl. Lapidus, 1999: 260ff.) Das muslimische Rechtssystem des Reiches war damit ein kompliziertes Netzwerk, bestehend aus der Scharia, ihrer Interpretation und einer Reihe säkularer Gesetze, die in das islamische Rahmenwerk integriert wurden. (Vgl. Rodrigue, 1996) Die Gesetze, die durch die weltliche Macht erlassen

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wurden, mussten durch den Seyh ül-islam auf ihre Übereinstimmung mit der Scharia überprüft werden.

Sami Zubaida stellt fest, dass, auch wenn die Religion im osmanischen Staat eine besondere Rolle spielte, das Reich aufgrund der Einschränkungen der geistlichen Vormacht durch Verordnungen des Sultans und die Unterordnung des Islams unter die Interessen des Staates dennoch so islamisch war, wie die europäischen Pendants des Osmanischen Reiches zu jener Zeit christlich waren. (Vgl. Zubaida, 1989: 42) Der Fortbestand des Staates und die Aufrechterhaltung von Ordnung und Recht waren Güter, denen es die Religion unterzuordnen galt bzw. denen die Religion diente. Es herrschte die Überzeugung, dass ohne den Staat auch der Islam nicht leben könne.

Während die ulema vornehmlich mit Fragen der Rechtsprechung, der Interpretation der heiligen Schrift, der Überprüfung von Gesetzen auf deren Übereinstimmung mit der Scharia und ähnlichen Fragestellungen des staatlichen und rechtlichen islamischen Systems beschäftigt war, sozusagen den staatlichen Islam vertrat, wurden Riten, Zeremonien, individuelle Zugänge zu Gott sowie Regeln und Gebote im Bereich der Ernährung, Reinlichkeit und der Lebensweise wesentlich durch reli­giöse Scheichs, Orden und Bruderschaften des mystischen Islams – des Sufismus – geprägt.

Schon zu Zeiten des Propheten versuchten Mystiker eine direkte und persönliche Erfahrung von Gottes Existenz zu machen. Der Sufismus spielte in Anatolien seit Beginn der Islamisierung eine Rolle. Sufis hatten türkische Stämme auf deren Wanderung oft angeführt und auch eine wesentliche Rolle in der Sesshaftwerdung gespielt. Sie bauten Hospize und Mühlen, unterhielten Schulen und vermittelten zwischen verschiedenen Stämmen. Sufis im ländlichen Bereich entwickelten oft eine tolerante Haltung gegenüber Christen und erleichterten so deren Übertritt zum Islam. (Vgl. Lapidus, 2002: 249) Viele Praktiken des mystischen Islams spiegeln teilweise lokale vor-islamische Riten wider, enthalten aber oft auch Rituale, Ansätze und Muster, die dem Schamanismus oder Buddhis­mus entlehnt sind. Der Sufismus als eine Bewegung im Islam bietet dem Einzelnen verschiedene Möglichkeiten, in direkte Verbindung mit Gott zu treten. Dabei stehen manche dieser Praktiken in Gegensatz

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zu einer orthodoxen Auslegung des von der höheren ulema vertretenen sunnitischen Islams.

Die Entstehung von Orden fiel in dieselbe Zeit mit der Entstehung verschiedener islamischer Rechtsschulen. Die mystischen Praktiken und die metaphysischen Ansätze sufistischer Orden wurden zwischen dem 10. und 14. Jahrhundert entwickelt. Die meisten sufistischen Orden in der heutigen Türkei fanden Eingang über den Iran. Mystische Orden und Bruderschaften bildeten sich meist um die Lehre eines religiösen Führers, eines Scheichs. Einzelne Orden und Bruderschaften wie z. B. die Naksibendi blieben nicht nur lokal auf eine Region oder Stadt begrenzt, sondern konnten sich über das gesamte Territorium des Reiches ausbreiten. Es bildeten sich in einzelnen Städten und Regionen Logen, die oft auch mit den dort vorhandenen Handwerksgilden verschmolzen. Während die Naksibendi vor allem unter städtischen Kaufläuten und Handwerkern Zulauf fanden, waren die alevitischen Orden vielmehr im ländlichen Bereich verbreitet.

Die Bektasis hingegen, die ihren Namen von Haci Bektas (verstorben 1297) (Lapidus, 2002: 249) ableiteten und sich auf seine Lehren bezogen, konnten enge Beziehungen zu dem unter Sultan Murat II. ins Leben gerufenen Janitscharenkorps, den Elitetruppen des Reiches, die sich mehrheitlich aus Söhnen christlicher Familien zusammensetzte, aufbauen. Oft setzen sich diese meist undurchsichtigen religiösen Netzwerke, die durchaus auch in Rivalität zueinander standen, über soziale Klassen, ethnische und regionale Unterschiede hinweg. Aufgrund der relativen sozialen Durchlässigkeit des osmanischen Systems gibt es auch Beispiele von Bruderschaften, die ihren Einfluss bis in die höchsten Kreise innerhalb des Hofes ausweiten konnten.

Die große nicht-muslimische Bevölkerung des Reiches hatte den Status der sogenannten dhimmi (Schutzbefohlenen). Demnach galten die Angehörigen der Religionen des Buches, also Christen und Juden, als Schutzbefohlene des islamischen Staates. Im Allgemeinen wurden Christen und Juden nicht zum Konvertieren zum Islam gezwungen, stattdessen erhielten sie, im Gegenzug für die Entrichtung einer Kopfsteuer, das Recht, innerhalb der Grenzen des osmanischen Staates zu leben. Sie waren damit auch vom Militärdienst ausgeschlossen. Die Nicht-Muslime

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waren demnach in der vormodernen Epoche nicht gleichberechtigte Bürger des Staates, sondern geduldete Einwohner in einem Staat, der sich explizit als islamisch definierte. Dies sollte sich allerdings mit den Reformen im 19. Jahrhundert ändern.

Christen und Juden waren nach Konfessionen in sogenannten Millets organisiert. Innerhalb dieser Millets genossen sie eine gewisse Autonomie, die es ihnen erlaubte, ihre rechtlichen Angelegenheiten selbst zu lösen. So waren die religiösen Würdenträger auch für die Gerichtsbarkeit innerhalb der religiösen Gemeinschaft verantwortlich. Ehe- und Erbrechte wurden z. B. von Priestern oder Rabbis abgehandelt. Ebenso repräsentierten die Geistlichen auch die Gemeinschaft nach außen hin gegenüber dem osmanischen Staat.

Erik Zürcher stellt fest, dass lange Zeit die Funktionen des Millet-­Systems fehlinterpretiert wurden. Während man in Anlehnung an offizielle osmanische Dokumente gedacht hatte, dass sich das Millet-­System aus autonomen Körperschaften nach konfessioneller Angehörigkeit zusammensetzte, die für das gesamte staatliche Territorium galten und an deren Spitze das religiöse Oberhaupt der jeweiligen Kirche in Istanbul stand, legten Forschungen im lokalen Bereich dar, dass diese Autonomie vielmehr als eine der lokalen christlichen oder jüdischen Gemeinschaften gegenüber den lokalen staatlichen Autoritäten zu verstehen ist. (Vgl. Zürcher, 2004: 10)

Aron Rodrigue weist darauf hin, dass all diese beschriebenen Bestandteile des vormodernen osmanischen Systems fließend waren, das heißt, dass es einerseits eine Vielzahl von Übergängen zwischen den einzelnen Institutionen gab und zum anderen sich auch das System selbst stetig veränderte. So konnte es durchaus passieren, dass Christen und Juden sich, falls sie es für ihren Vorteil hielten, an muslimische Gerichte wandten. Der muslimische Kadi urteilte dann entweder nach allgemein anerkanntem islamischem Recht oder interpretierte das christliche oder jüdische Recht. Dass umgekehrt ein Muslim sich an ein christliches oder jüdisches Gericht wandte, war allerdings nicht möglich, schließlich bildete der Islam das hegemoniale System. (Vgl. Rodrigue, 1996)

Dadurch, dass sich der rechtliche Status eines Individuums von der Religionszugehörigkeit ableitete und auch als primäre Quelle der Identität

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diente, kam es kaum zu Vermischungen unter den unterschiedlichen konfessionellen Gruppen. Dhimmis wurden durch das islamische Recht nicht gezwungen, in Ghettos zu leben, ebenso wenig gab es explizite Berufsverbote für Nicht-Muslime. Dennoch kam es zu einer weitgehenden räumlichen Trennung. Nicht-Muslime tendierten dazu, sich in bestimmten Stadteilen anzusiedeln und betätigten sich in Berufen, die von Muslimen kaum ausgeübt wurden und nach denen großer Bedarf bestand; dazu zählte unter anderem der Handel mit „Ungläubigen“. (Vgl. Lewis, 1981: 28)

In Bezug auf dhimmis galten allerdings lange Zeit Kleidungs- und Verhaltensregeln, die dazu dienen sollten, sie von den Muslimen zu unterscheiden. So durften Nicht-Muslime Kleidungen, Stoffe und Farben, die Muslimen vorbehalten waren, nicht tragen. Juden und Christen sowie ihr gesamter Haushalt waren dazu angehalten, bestimmte Kopfbedeckungen zu tragen und Stoffe in bestimmten Farben an ihren Oberröcken anzubringen. Diese Praxis, die eine früh-islamische war, war von den Osmanen aus Sicherheitsüberlegungen übernommen worden und sollte dazu dienen, dass sich Muslime, die sich seit der rasanten territorialen Expansion des Reiches zahlenmäßig in der Minderheit befanden, gegenseitig erkennen konnten. Bestimmungen, die dhimmis vorschrieben, auf Eseln zu reiten, das Verbot in Städten zu reiten bzw. seitlich, im Frauensitz, im Sattel zu sitzen, das Verbot Waffen zu tragen und ähnliches dienten dazu, sichtbar zu machen, dass dhimmis nicht der Klasse der Waffenträger angehörten. (Vgl. Lewis, 1981: 36) Die spezifischen Verhaltens- und Kleidungsregeln wurden in verschiedenen Epochen unterschiedlich strikt geahndet. Durch wachsenden westlichen kulturellen Einfluss und das Eindringen der westlichen Moderne hatten sie sich bis ins 19. Jahrhundert fast vollständig aufgelöst.

Dennoch hatte die dhimmi-Tradition bzw. die politische Organisation in millets dazu geführt, dass Nicht-Muslime zwar ihre Traditionen, Sprachen und vor allem religiösen Praktiken trotz jahrhundertelanger isla­mischer Oberherrschaft erhalten konnten, aber im Gegenzug dazu isoliert von der muslimischen Bevölkerung blieben. Daraus ist auch zu erklären, dass sogar mehr als 500 Jahre nach der Eroberung Konstan­tinopels durch die Osmanen, viele Nicht-Muslime in der Stadt der türkischen Sprache kaum oder nur bescheiden mächtig waren, bzw. das Türkische mit einem starken Akzent sprachen.

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1 Das Kalifat als Funktion des Nachfolgers des Propheten und Führers und Herrschers der Gemeinschaft der Muslime verband von Beginn an religiöse und weltliche Funktionen im selben Amt. Der Herrscher über die Gemeinschaft der Muslime und über das islamische Reich bekleidete damit auch eine religiöse Funktion als Führer der Glaubensgemeinschaft. Schon bald war allerdings die spirituelle Bedeutung des Amtes zugunsten der weltlichen Herrschaft in den Hintergrund getreten. Der Titel wurde vermehrt als ein Herrschaftstitel betrachtet und geriet mit dem Niedergang des Abbasidischen Großreiches beinahe zur Gänze in Vergessenheit.

Die Osmanen begannen nach der Übernahme des Kalifats ihre Abstammung zwar auf den Propheten zurückzuführen, aber auch sie machten kaum Gebrauch vom Titel des Kalifen. Vielmehr wurden die osmanischen Sultane als Padischah, als König der Könige, bzw. Kaiser verehrt. Im 19. Jahrhundert sollte Sultan Abdülhamit das Kalifatals ein Mittel zur Mobilisierung der muslimischen Massen für den Kampf gegen den westlichen Imperialismussehen. Hierzu weiter unten.

II.     Modernisierung – ein Paradigmenwechsel

Zerfallserscheinungen

Der Friedensvertrag von Küçük Kaynarca, unterzeichnet 1774 nach der verheerenden Niederlage der Osmanen gegen die russische Armee Katharinas der Großen, leitete eine neue Epoche in der osmanischen Geschichte ein. Der Vertrag beendete die osmanische Kontrolle über das Schwarze Meer, öffnete es für russische Handelsschiffe und zwang den Sultan dazu, die Halbinsel Krim abzutreten. Weiterreichende Folgen sollte vor allem jene Bestimmung des Vertrages haben, die Russland die Funktion einer Schutzmacht über die christlich-orthodoxen Subjekte des Sultans einräumte.

Damit wurde nicht nur die Souveränität des Sultans über einen Teil seiner Untertanen eingeschränkt, sondern zudem einer ausländischen Macht völkerrechtlich die Möglichkeit eingeräumt, zum Wohl der christlich-orthodoxen Gruppen zu intervenieren und damit in die internen Angelegenheiten eines anderen Landes einzugreifen. Der Vertrag von Küçük Kaynarca