Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart - Friedrich Albert Lange - E-Book

Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart E-Book

Friedrich Albert Lange

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Beschreibung

In Friedrich Albert Langes Werk 'Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart' wird die Entwicklung des Materialismus von der Antike bis zur Moderne detailliert untersucht. Lange präsentiert eine Zusammenfassung und Kritik der verschiedenen materialistischen Philosophien und deren Auswirkungen auf die Gesellschaft. Sein Stil ist akademisch, aber dennoch zugänglich und gut strukturiert, um auch für Laien verständlich zu sein. Dieses Werk ist ein Meilenstein in der philosophischen Literatur des 19. Jahrhunderts und bleibt bis heute relevant. Lange setzt sich mit den wichtigsten Denkern des Materialismus auseinander und liefert eine fundierte Analyse zu einem kontroversen Thema. Als einflussreicher Philosoph und Sozialreformer war Lange daran interessiert, die sozialen Veränderungen seiner Zeit zu verstehen und zu beeinflussen. Sein persönliches Engagement für progressive Ideen spiegelt sich in diesem Buch wider, da er die Bedeutung des Materialismus für die moderne Welt kritisch hinterfragt und alternative Perspektiven aufzeigt. In Langes Werk findet der Leser eine fesselnde Auseinandersetzung mit den Grundlagen des Materialismus und eine anregende Analyse seiner Relevanz für die Gegenwart. Dieses Buch ist ein Muss für jeden, der an Philosophie, Gesellschaft und die Entwicklung des Denkens interessiert ist.

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Friedrich Albert Lange

Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart

Der Materialismus im Altertum + Das System der Natur + Der Materialismus des siebzehnten Jahrhunderts + Die neuere Philosophie + Der ethische Materialismus und die Religion…

Books

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2017 OK Publishing
ISBN 978-80-272-3757-9

Inhaltsverzeichnis

Erstes Buch. Geschichte des Materialismus bis auf Kant
Vorwort zur zweiten Auflage
Erster Abschnitt Der Materialismus im Altertum
I. Die Periode der älteren Atomistik, insbesondere Demokrit
II. Der Sensualismus der Sophisten und Aristipps ethischer Materialismus
III. Die Reaktion gegen Materialismus und Sensualismus. Sokrates, Plato, Aristoteles
IV. Der Materialismus in Griechenland und Rom nach Aristoteles. Epikur
V. Das Lehrgedicht des Titus Lucretius Carus über die Natur
Zweiter Abschnitt Die Übergangszeit
I. Die monotheistischen Religionen in ihrem Verhältnis zum Materialismus
II. Die Scholastik und die Herrschaft der aristotelischen Begriffe von Stoff und Form
III. Die Wiederkehr materialistischer Anschauungen mit der Regeneration der Wissenschaften
Dritter Abschnitt Der Materialismus des siebzehnten Jahrhunderts
I. Gassendi
II. Hobbes
III. Nachwirkungen des Materialismus in England
Vierter Abschnitt Der Materialismus des achtzehnten Jahrhunderts
I. Der Einfluß des englischen Materialismus auf Frankreich und Deutschland
II. De la Mettrie
III. Das System der Natur
IV. Die Reaktion gegen den Materialismus in Deutschland
Zweites Buch. Geschichte des Materialismus seit Kant
Vorwort zum zweiten Buche
Erster Abschnitt Die neuere Philosophie
I. Kant und der Materialismus
II. Der philosophische Materialismus seit Kant
Zweiter Abschnitt Die Naturwissenschaften
I. Der Materialismus und die exakte Forschung
II. Kraft und Stoff
III. Die naturwissenschaftliche Kosmogonie
IV. Darwinismus und Teleologie
Dritter Abschnitt Die Naturwissenschaften; Fortsetzung: Der Mensch und die Seele
I. Die Stellung des Menschen zur Tierwelt
II. Gehirn und Seele
III. Die naturwissenschaftliche Psychologie
IV. Die Physiologie der Sinnesorgane und die Welt als Vorstellung
Vierter Abschnitt Der ethische Materialismus und die Religion
I. Die Volkswirtschaft und die Dogmatik des Egoismus
II. Das Christentum und die Aufklärung
III. Der theoretische Materialismus in seinem Verhältnis zum Ethischen und zur Religion
IV. Der Standpunkt des Ideals

Erstes Buch. Geschichte des Materialismus bis auf Kant

Vorwort zur zweiten Auflage

Inhaltsverzeichnis

Die veränderte Form, in welcher die Geschichte des Materialismus in dieser zweiten Auflage erscheint, ist teils eine notwendige Folge der ursprünglichen Anlage des Buches, teils dagegen eine Rückwirkung der Aufnahme, welche dasselbe gefunden hat.

Wie ich in der ersten Auflage (S. 241) beiläufig erklärt habe, war meine Absicht auf eine unmittelbare Wirkung gerichtet, und ich wollte mich trösten, wenn mein Buch nach fünf Jahren schon wieder vergessen wäre. Statt dessen bedurfte es trotz einer Reihe sehr wohlwollender Rezensionen fast fünf Jahre, um erst recht bekannt zu werden, und es wurde nie stärker begehrt, als in dem Augenblick, da es vergriffen und, nach meinem Gefühl, auch in manchen Teilen schon veraltet war. Letzteres gilt namentlich vom zweiten Teil des Werkes, der eine mindestens ebenso durchgreifende Umarbeitung erfahren wird, als der vorliegende erste. Die Bücher, die Personen und die speziellen Fragen, um welche der Kampf der Meinungen sich dreht, sind zum Teil andre geworden. Der schnelle Fortschritt der Naturwissenschaften namentlich forderte eine totale Erneuerung des Stoffes einzelner Abschnitte, wenn auch der Gedankengang und die Resultate im wesentlichen unverändert bleiben konnten.

Die erste Auflage war zwar eine Frucht langjähriger Studien, aber der Form nach fast extemporisiert. Manche Mängel dieser Entstehungsweise sind jetzt beseitigt; dafür dürften aber auch einige Vorzüge der ersten Arbeit mit geschwunden sein. Dem höheren Maßstabe, welchen die Leser, gegen meine ursprüngliche Absicht, an das Buch angelegt haben, wollte ich einerseits möglichst gerecht werden, andrerseits konnte doch der ursprüngliche Charakter des Werkes nicht ganz aufgehoben werden. So bin ich denn auch weit entfernt, dem ersten Teile in seiner neuen Form den Charakter einer normalen historischen Monographie zu vindizieren. Ich konnte und wollte das Vorwalten der didaktischen und aufklärenden Tendenz nicht beseitigen, welche von Anfang an auf das Endergebnis des zweiten Teiles hinstrebt und vorbereitet und diesem Streben die ruhige Gleichmäßigkeit einer rein objektiven Behandlung zum Opfer bringt. Allein indem ich allenthalben auf die Quellen zurückging und in den Anmerkungen reichliche Nachweise gab, hoffe ich doch den Mangel einer eigentlichen Monographie zu einem großen Teile ersetzen zu können, ohne den wesentlichen Zweck des Buches aufzuopfern. Derselbe liegt nach meiner Auffassung nach wie vor in der Aufklärung über die Prinzipien, und ich verteidige mich nicht stark, wenn man deshalb den Titel dieses Buches nicht ganz angemessen findet. Dieser hat jetzt ein historisches Recht und mag bleiben. Um aber auch denjenigen Lesern zu genügen, welchen die historische Darstellung, wie mangelhaft sie auch sein mag, die Hauptsache ist, hat der erste Teil seinen besonderen Index erhalten, und beide Teile werden gesondert zu haben sein. Für mich bilden sie nach wie vor eine untrennbare Einheit; aber mein Recht hört auf, wenn ich die Feder absetze, und ich muß zufrieden sein, wenn alle Leser, auch diejenigen, welche für ihren Zweck nur einzelne Teile des Ganzen brauchen können, eine billige Rücksicht auf die Schwierigkeit meiner Aufgabe walten lassen.

Marburg, im Juni 1873.

A. Lange

Erster Abschnitt Der Materialismus im Altertum

I. Die Periode der älteren Atomistik, insbesondere Demokrit

Inhaltsverzeichnis

Der Materialismus ist so alt als die Philosophie, aber nicht älter. Die natürliche Auffassung der Dinge, welche die ältesten Perioden kulturhistorischer Entwicklung beherrscht, bleibt stets in den Widersprüchen des Dualismus und in den Phantasiegebilden der Personifikationen befangen. Die ersten Versuche, sich von diesen Widersprüchen zu befreien, die Welt einheitlich aufzufassen und sich über den gemeinen Sinnenschein zu erheben, führen bereits in das Gebiet der Philosophie, und schon unter den ersten Versuchen hat der Materialismus seine Stelle.1

Mit dem Beginn des konsequenten Denkens ist aber auch ein Kampf gegeben gegen die traditionellen Annahmen der Religion. Diese wurzelt in den ältesten und rohesten, widerspruchsvollen Grundanschauungen, die in unverwüstlicher Kraft von der ungebildeten Menge immer neu wieder erzeugt werden; eine immanente Offenbarung verleiht ihr mehr auf dem Wege der Ahnung als des klaren Bewußtseins einen tiefen Gehalt, während der reiche Schmuck der Mythologie, das ehrwürdige Alter der Überlieferung sie dem Volke teuer machen. Die Kosmogonien des Orients und des griechischen Altertums geben ebensowenig spiritualistische als materialistische Anschauungen; sie versuchen nicht, die Welt aus einem einzigen Prinzip zu erklären, sondern zeigen uns anthropomorphe Göttergestalten, sinnlich-geistige Urwesen, chaotisch waltende Stoffe und Kräfte in bunten, wechselvollen Kämpfen und Arbeiten. Diesem Gewebe der Phantasie gegenüber verlangt der erwachende Gedanke Einheit und Ordnung, und es tritt daher jede Philosophie in einen unvermeidlichen Kampf mit der Theologie ihrer Zeit, der je nach den Verhältnissen erbitterter oder versteckter gespielt wird.

Es ist ein Irrtum, wenn man das Vorhandensein, ja das tiefe Eingreifen jenes Kampfes im hellenischen Altertum verkennt; es ist aber leicht zu sehen, wie dieser Irrtum entstand.

Wenn Generationen einer fernen Zukunft unsere ganze heutige Kultur nur nach den Trümmern der Werke eines Goethe und Schelling, eines Herder oder Lessing beurteilen sollten, man würde wohl auch in unserer Zeit die tiefen Klüfte, die scharfen Spannungen entgegengesetzter Tendenzen wenig bemerken. Es ist den grössten Männern aller Zeiten eigen, daß sie die Gegensätze ihrer Epoche in sich zu einer Versöhnung gebracht haben. So stehen im Altertum Plato und Sophokles da, und je der grösste zeigt uns oft in seinen Werken die geringsten Spuren der Kämpfe, welche die Masse zu jener Zeit bewegten, und welche auch er in irgendeiner Form durchlebt haben muß.

Die Mythologie, welche uns in dem heitern und leichten Gewande hellenischer und römischer Dichter erscheint, war weder die Religion des Volkes noch die der wissenschaftlich Gebildeten, sondern ein neutraler Boden, auf dem sich beide Teile begegnen konnten. Das Volk glaubte weit weniger an den ganzen poetisch- bevölkerten Olymp, als vielmehr an die einzelne stadt- und landesübliche Gottheit, deren Bild im Tempel als vorzüglich heilig verehrt wurde. Nicht die schönen Statuen berühmter Künstler fesselten die betende Menge, sondern die alten ehrwürdigen, unförmlich geschnitzten und durch Tradition geheiligten. Es gab auch bei den Griechen eine starre und fanatische Orthodoxie, die sich ebensowohl auf das Interesse einer stolzen Priesterschaft, als auf den Glauben einer heilsbedürftigen Menge stützte.2

Dies würde man vielleicht gänzlich vergessen haben, hätte nicht Sokrates den Giftbecher trinken mussen; aber auch Aristoteles floh von Athen, damit die Stadt sich nicht zum zweiten Male an der Philosophie versündige. Protagoras mußte fliehen, und seine Schrift von den Göttern wurde von Staats wegen verbrannt. Anaxagoras wurde gefangen gesetzt und mußte fliehen. Theodorus der »Atheist« und wahrscheinlich auch Diogenes von Apollonia wurden als Gottesleugner verfolgt. Und alles das geschah in dem humanen Athen.

Vom Standpunkte der Menge aus konnte jeder, auch der idealste Philosoph als Gottesleugner verfolgt werden; denn keiner dachte sich die Götter, wie die priesterliche Tradition es vorschrieb, sie zu denken.

Werfen wir nun einen Blick auf die Küsten Kleinasiens in jenen Jahrhunderten, die der Glanzperlode hellenischen Geisteslebens zunächst vorangehen, so zeichnet sich durch Reichtum und materielle Blüte, durch Kunstsinn und Verfeinerung des Lebens die Kolonie der Jonier aus mit ihren zahlreichen und bedeutenden Städten. Handel und politische Verbindungen und der zunehmende Drang nach Wissen führte die Einwohner von Milet und Ephesus zu weiten Reisen, brachte sie in mannigfache Berührung mit fremden Sitten und Meinungen und beförderte die Erhebung einer freigesinnten Aristokratie über den Standpunkt der beschränkteren Massen. Einer ähnlichen frühen Blüte erfreuten sich die dorischen Kolonien in Sizilien und Unteritalien. Man darf unbedenklich annehmen, daß, längst vor dem Auftreten der Philosophen, unter diesen Verhältnissen eine freiere und aufgeklärte Weltanschauung sich unter den höheren Schichten der Gesellschaft verbreitet hatte.

In diesen Kreisen wohlhabender, angesehener, weltgewandter und vielgereister Männer entstand die Philosophie. Thales, Anaximander, Heraklit und Empedokles nahmen eine hervorragende Stellung unter ihren Mitbürgern ein, und es ist kein Wunder, daß niemand daran dachte, sie wegen ihrer Ansicht zur Rechenschaft zu ziehen. Dies ist freilich noch nachträglich geschehen; denn im vorigen Jahrhundert wurde die Frage, ob Thales ein Gottesleugner gewesen, in eigenen Monographien eifrig abgehandelt.3 Vergleichen wir in dieser Beziehung die ionischen Philosophen des sechsten Jahrhunderts mit den athenischen des fünften und vierten, so werden wir fast an den Gegensatz der englischen Auflklärung des siebenzehnten und der französischen des achtzehnten Jahrhunderts erinnert. Dort dachte niemand daran, das Volk in den Kampf der Meinungen zu ziehen;4 hier war die Aufklärung eine Waffe welcher der Fanatismus entgegengestellt wurde.

Hand in Hand mit der Auflklärung ging bei den Jonieren das Studium der Mathematik und der Naturwissenschaften. Thales, Anaximander und Anaximenes beschäftigten sich mit speziellen Problemen der Astronomie, wie mit der natürlichen Erklärung des Weltganzen; durch Pythagoras von Samos wurde der Sinn für mathematisch-physikalische Forschung in die westlichen Kolonien des dorischen Stammes verpflanzt. - Die Tatsache, daß im Osten der griechischen Welt, wo der Verkehr mit Agypten, Phönizien Persien am lebhaftesten war, die wissenschaftliche Bewegung begann, spricht deutlicher für den Einfluß des Orients auf die griechische Kultur, als die sagenhaften Überlieferungen von den Reisen und Wanderstudien griechischer Philosophen.5 Die Idee einer absoluten Ursprünglichkeit der hellenischen Bildung hat ihre Berechtigung, wenn man darunter die Originalität der Form versteht und aus der Vollendung der Blüte auf den verborgenen Charakter der Wurzel zurückschließt; sie wird aber zum Phantom, wenn man, auf das negative Resultat der Kritik aller speziellen Überlieferungen gestützt, auch Zusammenhänge und Einflüsse leugnet, die sich, wo die gewöhnlichen Quellen der Geschichte schweigen, aus der Betrachtung der natürlichen Verhältnisse von selbst ergeben. Politische Beziehungen und vor allem der Handel mußten mit Notwendigkeit Kenntnisse, Erfindungen und Ideen auf mannigfachen Wegen von Volk zu Volk strömen lassen, und wenn Schillers Wort: »Euch ihr Götter gehöret der Kaufmann« echt menschlich und also für alle Zeiten gültig ist, so wird manche Vermittlung sich später mythisch an einen berühmten Namen geheftet haben, deren wahre Träger auf ewig dem Andenken der Nachwelt entschwunden sind.

Sicher ist, daß der Orient auf dem Gebiete der Astronomie und der Zeitrechnung vor den Griechen im Vorsprung war. Es gab also auch bei den Völkern des Ostens mathematische Kenntnisse und Fertigkeiten zu einer Zeit, wo man in Griechenland noch nicht daran dachte; allein gerade die Mathematik war das wissenschaftliche Gebiet, auf welchem die Griechen allen Völkern des Altertums weit voran eilen sollten.

Mit der Freiheit und Kühnheit des hellenischen Geistes verband sich eine angeborne Gabe, Konsequenzen zu ziehen; allgemeine Sätze scharf und deutlich auszusprechen, die Ausgangspunkte einer Untersuchung zäh und sicher festzuhalten und die Ergebnisse klar und lichtvoll zu ordnen; mit einem Wort: das Talent der wissenschaftlichen Deduktion.

Es ist heutzutage gebräuchlich geworden, namentlich bei den Engländern seit Baco, den Wert der Deduktion zu gering anzuschlagen. Whewell in seiner berühmten Geschichte der induktiven Wissenschaften tut den griechischen Philosophen häufig unrecht; namentlich der aristotelischen Schule. Er bespricht in einem eigenen Kapitel die Ursachen ihres Mißlingens, indem er beständig den Maßstab unserer Zeit und unseres wissenschaftlichen Standpunktes an sie anlegt. Es ist aber festzuhalten, daß eine große Arbeit zu tun war, bevor die kritiklose Anhäufung von Beobachtungen und Überlieferungen in unser folgenreiches Experimentieren übergehen konnte: es war eine Schule strengen Denkens zu geben, bei der es zur Erreichung des nächsten Zweckes auf die Prämissen nicht ankam. Diese Schule begründeten die Hellenen, und sie gaben uns denn auch zuletzt das wesentlichste Fundament deduktiver Natur die Elemente der Mathematik und die Grundlagen der formalen Logik.6 Die scheinbare Umkehrung des natürlichen Ganges, welche darin liegt, daß die Menschheit früher lernte, in richtiger Weise abzuleiten, als richtige Anfänge des Schließens zu finden, kann erst vom psychologischen und kulturgeschichtlichen Standpunkte aus als natürlich erkannt werden.

Freilich vermochte die Spekulation über das Weltganze und seinen Zusammenhang nicht, wie die mathematische Forschung, ein Resultat von bleibendem Werte zu gewinnen; allein zahllose vergebliche Versuche mußten zuerst die Zuversicht erschüttern, mit der man sich auf diesen Ozean hinauswagte, bevor es der philosophischen Kritik gelingen konnte, die Gründe nachzuweisen, warum eine anscheinend gleichartige Methode hier sichern Fortgang, dort blindes Herumtappen mit sich brachte.7 Hat doch auch in den neueren Jahrhunderten nichts so sehr dazu beigetragen, die Philosophie, die eben erst das scholastische Joch abgeschüttelt hatte, zu neuen metaphysischen Abenteuern zu verleiten, als der Rausch, den die staunenswerten Fortschritte in der Mathematik im siebenzehnten Jahrhundert hervorriefen! Auch hier freilich leistete der Irrtum wieder dem Kulturfortschritt Dienste, denn die Systeme eines Descartes, Spinoza und Leibniz brachten nicht nur mannigfache Anregung zum Denken und Forschen mit sich, sondern sie waren es auch, welche die von der Kritik längst gerichtete Scholastik beiseite schoben und damit einer gesunderen Weltanschuung Bahn machten.

In Griechenland aber galt es, zunächst überhaupt einmal den Blick vom Nebel des Wunders zu befreien und die Weltbetrachtung aus der bunten Fabelwelt der religiösen und dichterischen Vorstellungen in das Gebiet des Verstandes und der nüchternen Anschauung hinüberzuführen. Dies konnte aber zunächst nur in materialistischer Weise geschehen; denn die Außendinge liegen dem natürlichen Bewußtsein näher als das »Ich« und selbst das Ich haftet in der Vorstellungsweise der Naturvölker mehr am Körper als an dem schattenhaften, halb geträumten, halb gedichteten Seelenwesen, das sie dem Körper beiwohnen ließen.8

Der Satz, welchen Voltaire, sonst ein hitziger Gegner des Materialismus, gelten ließ: »Ich bin Körper und ich denke,« hätte wohl auch die Zustimmung der älteren griechischen Philosophen gefunden. Als man begann, die Zweckmäßigkeit des Weltganzen und seiner Teile, zumal der Organismen, zu bewundern, war es ein Epigone der ionischen Naturphilosophie, Diogenes von Apollonia, der die weltordnende Vernunft mit dem Urstoff, der Luft, identifizierte.

Wäre dieser Stoff bloß ein empfindender, dessen Empfindungsfunktionen mit der immer mannigfacheren Gliederung und Bewegung des Stoffes zu Gedanken werden, so hätte sich auf diesem Wege auch ein strenger Materialismus entwickeln lassen; vielleicht haltbarer als der atomistische; aber der Vernunftstoff des Diogenes ist allwissend. Damit ist das letzte Rätsel der Erscheinungswelt wieder in den ersten Anfang zurückverlegt.9

Die Atomistiker durchbrachen den Kreis dieser petitio principii, indem sie das Wesen der Materie fixierten. Unter allen Eigenschaften der Dinge legten sie dem Stoff nur die einfachsten, zur Vorstellung eines in Raum und Zeit erscheinenden Etwas unentbehrlichsten bei und suchten aus diesen allein die Gesamtheit der Erscheinungen zu entwickeln. Die Eleaten mögen ihnen darin vorgearbeitet haben, daß sie das allein wahrhaft Seiende vom trügerischen Wechsel der Sinneserscheinungen unterschieden, durch die Pythagoreer, welche das Wesen der Dinge in der Zahl, d. h. ursprünglich in den numerisch bestimmbaren Formverhältnissen der Körper erkannten, mag die Zurückführung aller Sinnesqualitäten auf die Form der Atomverbindung vorbereitet sein: immerhin gaben die Atomistiker den ersten völlig klaren Begriff dessen, was unter dem Stoff als Grundlage aller Erscheinungen zu verstehen sei. Mit der Aufstellung dieses Begriffes war der Materialismus als erste völlig klare und konsequente Theorie aller Erscheinungen vollendet.

Dieser Schritt war ebenso kühn und grossartig, als methodisch richtig; denn solange man überhaupt von den äußeren Objekten der Erscheinungswelt ausging, konnte man auf keinem andern Wege dazu gelangen, das Rätselhafte aus dem Offenbaren, das Verwickelte aus dem Einfachen, das Unbekannte aus dem Bekannten zu erklären. Selbst die Unzulänglichkeit jeder mechanischen Welterklärung konnte schließlich nur auf diesem Wege zum Vorschein kommen, weil dies der einzige Weg einer gründlichen Erklärung überhaupt war.

Wenigen großen Männern des Altertums mag die Geschichte so übel mitgespielt haben als Demokrit. In dem großen Zerrbild unwissentschaftlicher Überlieferung erscheint von ihm schließlich fast nichts als der Name des »lachenden Philosophen«, während Gestalten von ungleich geringerer Bedeutung sich in voller Breite ausdehnen. Um so mehr ist der Takt zu bewundern, mit welchem Bacon von Verulam, sonst eben kein Held in Geschichtskenntnis, ihn gerade aus allen Philosophen des Altertums herausgriff und ihm den Preis wahrer Forschung zuerkannte, während ihm Aristoteles, der philosophische Abgott des Mittelalters, nur als Urheber eines schädlichen Scheinwissens und leerer Wortweisheit erscheint. Bacon vermochte Aristoteles nicht gerecht zu werden, weil ihm jener historische Sinn fehlte, der auch in großen Irrtümern den unvermeidlichen Durchgangspunkt zu einer tieferen Erfassung der Wahrheit erkennt. In Demokrit fand er einen verwandten Geist und beurteilte ihn über die Kluft zweier Jahrtausende hinüber fast wie einen Mann seines Zeitalters. In der Tat wurde schon bald nach Bacon die Atomistik, und zwar vorläufig in der Gestalt, welche Epikur ihr gegeben hatte, zur Grundlage der modernen Naturwissenschaft erhoben.

Demokrit war ein Bürger der ionischen Kolonie Abdera an der thrazischen Küste. Die »Abderiten« hatten sich damals noch nicht den Ruf der »Schildbürger « erworben, dessen sie sich im späteren Altertum erfreuten. Die blühende Handelsstadt war wohlhabend und gebildet; Demokrits Vater war ein Mann von ungewöhnlichem Reichtum, und es ist kaum zu bezweifeln, daß der hochbegabte Sohn eine vorzügliche Erziehung genoß, wenn auch die Sage, daß er von persischen Magiern unterrichtet worden sei, keinen historischen Grund hat.10

Sein ganzes Erbteil soll Demokrit auf die großen Reisen verwandt haben, zu denen sein Wissensdrang ihn leitete. Arm zurückgekehrt, wurde er von seinem Bruder unterstützt, aber bald kam er in den Ruf eines weisen, von den Göttern begeisterten Mannes durch eingetroffene Vorhersagungen naturhistorischer Art. Endlich schrieb er sein großes Werk Diakosmos, dessen öffentliche Vorlesung seine Vaterstadt mit hundert, nach andern mit fünfhundert Talenten und mit der Errichtung von Ehrensäulen belohnt haben soll. Das Todesjahr des Demokrit ist ungewiß, aber allgemein die Annahme, daß er ein sehr hohes Alter erreicht habe und heiter und schmerzlos vom Leben geschieden sei.

Eine reiche Fülle von Sagen und Anekdoten heftet sich an seinen Namen, allein die meisten derselben sind nicht einmal bezeichnend für das Wesen des Mannes, dem sie gelten; am wenigsten diejenigen, welche ihn schlechthin als den »lachenden« Philosophen mit Heraklit als dem »weinenden« in Parallele stellen, indem sie in ihm nichts erblicken als den heiteren Spötter über die Torheiten der Welt und den Träger einer Philosophie, die, ohne sich in die Tiefe zu verlieren, alles von der guten Seite nimmt. Ebensowenig paßt alles, was ihn als bloßen Polyhistor oder gar als den Besitzer mystischer Geheimlehren erscheinen lässt. Was im Gewirr widerspruchsvoller Nachrichten von seiner Person am sichersten feststeht, ist dies, daß sein ganzes Leben einer ebenso ernsten und rationellen als ausgedehnten wissenschaftlichen Forschung gewidmet war. Der Sammler der spärlichen Fragmente, welche uns aus der großen Zahl seiner Werke geblieben sind, stellt ihn unter allen Philosophen vor Aristoteles an Geist und Wissen am höchsten und spricht sogar die Vermutung aus, daß der Stagirite die Fülle des Wissens, die man an ihm bewundert, zu einem bedeutenden Teil dem Studium der Werke Demokrits zu verdanken habe.11

Es ist bezeichnend, daß ein Mann von so ausgedehntem Wissen den Ausspruch getan hat: »nicht nach Fülle des Wissens soll man streben, sondern nach Fülle des Verstandes«;12 und wo er mit verzeihlichem Selbstgefühl von seinen Leistungen spricht, da verweilt er nicht bei der Zahl und Mannigfaltigkeit seiner Schriften, sondern er rühmt sich der Autopsie, des Verkehrs mit andern Gelehrten und der mathematischen Methode. »Unter allen meinen Zeitgenossen,« sagt er, »habe ich das grösste Stück der Erde durchschweift, nach dem Entlegensten forschend, und die meisten Himmelsstriche und Länder gesehen, die meisten denkenden Männer gehört und in der geometrischen Konstruktion und Beweisführung hat mich niemand übertroffen; nicht einmal die Geometer der Ägypter, bei denen ich im ganzen fünf Jahre als Fremdling verweilt habe.«13

Unter den Umständen, welche bewirkt haben, daß Demokrit in Vergessenheit geriet, darf man seinen Mangel an Ehrgeiz und dialektischer Streitsucht nicht unerwähnt lassen. Er soll in Athen gewesen sein, ohne sich einem der dortigen Philosophen zu erkennen zu geben. Unter seinen moralischen Aussprüchen findet sich folgender: »Wer gern widerspricht und viel Worte macht, ist unfähig, etwas Rechtes zu lernen.«

Eine solche Gesinnung passte nicht in die Stadt der Sophisten und vollends nicht zum Verkehr mit einem Sokrates und Plato, deren ganze Philosophie sich am dialektischen Wortkampf entwickelte. - Demokrit gründete keine Schule. Seine Werke wurden, wie es scheint, eifriger ausgeschrieben, als abgeschrieben. Seine ganze Philosophie wurde schließlich von Epikur absorbiert. Artstoteles nennt ihn oft und mit Achtung, aber er zitiert ihn meist nur, wo er ihn bekämpft, und dies geschieht keineswegs immer mit der gehörigen Objektivität und Billigkeit.14 Wie viel er von ihm entlehnt hat, ohne ihn zu nennen, wissen wir nicht. Plato erwähnt ihn nirgends, man streitet sich, ob an einigen Stellen ohne Nennung des Namens gegen ihn polemisiert werde. Daher entstand dann wohl die Sage, daß Plato in fanatischem Eifer alle Werke des Demokrit habe ankaufen und verbrennen wollen.15

In neuerer Zeit hat Ritter in seiner Geschichte der Philosophie ein volles Gewicht antimaterialistischen Grolles auf Demokrits Andenken gehäuft, um so mehr können wir uns an der ruhigen Anerkennung eines Brandis und der glänzenden und überzeugenden Verteidigung Zellers erfreuen; denn Demokrit darf in der Tat unter den großen Denkern des Altertums zu den größten gezählt werden.

Über Demokrits Lehre sind wir bei alledem besser unterrichtet als über die Ansichten manches Philosophen, von dem uns mehr erhalten ist. Wir dürfen dies der Klarheit und Folgerichtigkeit seiner Weltanschauung zuschreiben, die uns gestattet, auch das kleinste Bruchstück mit Leichtigkeit dem Ganzen einzufügen. Den Kern derselben bildet die Atomistik, die allerdings nicht von ihm erfunden, ohne Zweifel aber erst durch ihn zu ihrer vollen Bedeutung gelangt ist. Wir werden im Verlauf unserer Geschichte des Materialismus zeigen, daß die moderne Atomenlehre durch schrittweise Umwandlung aus der Atomistik Demokrits hervorgegangen ist. - Als die wesentliche Grundlage der Metaphysik Demokrits dürfen wir folgende Sätze betrachten:

1. Aus Nichts wird Nichts; nichts, was ist, kann vernichtet werden. Alle Veränderung ist nur Verbindung und Trennung von Teilen.16 Dieser Satz, der im Prinzip schon die beiden großen Lehrsätze der neueren Physik enthält, den Satz von der Unzerstörbarkeit des Stoffes und den von der Erhaltung der Kraft, erscheint seinem Wesen nach bei Kant als die erste »Analogie der Erfahrung«: »Bei allem Wechsel der Erscheinungen beharret die Substanz, und das Quantum derselben wird in der Natur weder vermehrt noch vermindert.« - Kant findet, daß zu allen Zeiten nicht bloß der Philosoph, sondern selbst der gemeine Verstand die Beharrlichkeit der Substanz vorausgesetzt habe. Der Satz beansprucht axiomatische Bedeutung als notwendige Vorbedingung einer geregelten Erfahrung überhaupt, und doch hat er seine Geschichte! In Wirklichkeit ist dem Naturmenschen, bei welchem die Phantasie noch das logische Denken überwiegt, nichts geläufiger als die Vorstellung des Entstehens und Vergehens, und die Schöpfung »aus Nichts« im christlichen Dogma ist schwerlich der erste Stein des Anstoßes für die erwachende Kritik gewesen.

Mit der Philosophie kommt freilich auch sofort das Axiom von der Beharrlichkeit der Substanz zum Vorschein, wenn auch anfangs etwas verhüllt. Das »Unendliche « (apeirou) Anaximanders, aus welchem Alles hervorgeht, das göttliche Urfeuer Heraklits, in welchem sich die wechselnden Welten verzehren, um neu aus ihm hervorzugehen, sind Verkörperungen der beharrenden Substanz. Parmenides aus Elea leugnete zuerst alles Werden und Vergehen. Das wahrhaft Seiende ist dem Eleaten das einige All, eine vollkommen gerundete Kugel, in der keinerlei Wandel noch Bewegung ist. Alle Veränderung ist nur Schein! Aber hier ergab sich ein Widerspruch zwischen Schein und Sein, bei dem die Philosophie nicht beharren konnte. Die einseitige Behauptung des einen Axioms verletzte ein anderes: »nichts ohne Grund!« Woher sollte denn auch aus einem solchen umwandelbaren Sein der Schein entstehen? Dazu kam die Widersinnigkeit der Leugnung der Bewegung, welche freilich unzählige Wortgefechte herbeigeführt und dadurch die Entstehung der Dialektik gefördert hat. Empedokles und Anaxagoras beseitigen diese Widersinnigkeit, indem sie alles Entstehen nd Vergehen auf Mischung und Trennung zurückführen, allein erst durch die Atomistik wurde dieser Gedanke in eine vollkommen anschauliche Form gebracht und zum Eckstein einer streng mechanischen Weltanschauung erhoben. Dazu war die Verbindung mit dem Axiom der Notwendigkeit alles Geschehenen erforderlich.

2. Nichts geschieht zufällig, sondern alles aus einem Grunde und mit Notwendigkeit.17

Dieser Satz, den eine zweifelhafte Überlieferung schon dem Leukippos zuschreibt, ist als entschiedene Zurückweisung aller Teleologie aufzufassen, denn der »Grund« (logos) ist nichts als das mathematisch- mechanische Gesetz, welchem die Atome in ihrer Bewegung mit unbedingter Notwendigkeit folgen. Aristoteles beklagt sich daher auch wiederholt, daß Demokrit mit Beiseitelassung der Zweckursachen alles aus der Naturnotwendigkeit erklärt habe. Eben dies rührt Bacon von Verulam, und zwar schon in seiner Schrift über die Erweiterung der Wissenschaften, in welcher er sonst seinen Unwillen über das aristotelische System noch klug zu bemeistern weiß (I. III, c. 4).

Diese echt materialistische Leugnung der Zweckursachen hat denn auch schon bei Demokrit zu denselben Mißverständnissen geführt, die noch heute den Materialisten gegenüber fast allgemein herrschen: zu dem Vorwurf, als walte bei ihm ein blinder Zufall. Nichts widerspricht sich vollständiger als Zufall und Notwendigkeit, und dennoch wird nichts häufiger verwechselt. Der Grund hierfür liegt darin, dass der Begriff der Notwendigkeit ein vollkommen klarer und fester, der des Zufalls ein sehr schwankender und relativer ist.

Wenn einem Menschen ein Ziegel auf den Kopf fällt, während er gerade über die Straße geht, so sieht man das als Zufall an, und doch zweifelt niemand, daß der Luftdruck des Windes, das Gesetz der Schwere und andere natürliche Umstände den Vorgang vollständig bestimmten, so daß er mit Naturnotwendigkeit erfolgte und auch mit Naturnotwendigkeit gerade den in diesem Zeitmoment auf dieser bestimmten Stelle befindlichen Kopf treffen mußte.

Man sieht an diesem Beispiele leicht, daß die Annahme des Zufalls lediglich eine partielle Negation des Zweckes ist. Das Fallen des Steines konnte nach unserer Ansicht keinen vernünftigen Zweck haben, wenn wir es zufällig nennen.

Nimmt man aber nun mit der christlichen Religionsphilosophie absolute Zweckbestimmung an, so hat man den Zufall ebenso vollständig ausgeschlossen, als bei Annahme absoluter Kausalität. In diesem Punkte decken sich die beiden konsequentesten Weltanschauungen vollständig, und beide lassen dem Begriff des Zufalls nur noch einen willkürlichen und uneigentlichen praktischen Gebrauch zu. Wir nennen zufällig entweder das, dessen Zweck oder Grund wir nicht durchschauen, lediglich der Kürze wegen, also ganz unphilosophisch, oder wir gehen von einem einseitigen Standpunkt aus, wir behaupten dem Teleologen gegenüber die Zufälligkeit des Geschehens, um nur die Zwecke los zu werden, während wir dieselbe Zufälligkeit wieder aufgeben, sobald vom Satze des zureichenden Grundes die Rede ist.

Und mit Recht, so weit es sich um Naturforschung oder um strenge Wissenschaft überhaupt handelt; denn nur von der Seite der wirkenden Ursachen ist die Erscheinungswelt der Forschung überhaupt zugänglich und jede Einmischung von Zweckursachen, welche man ergänzend neben oder über die mit Notwendigkeit, d. h. mit strenger Allgemeinheit der erkannten Regel wirkenden Naturkräfte stellt, hat überhaupt keine Bedeutung, als die einer partiellen Negation der Wissenschaft, einer willkürlichen Absperrung eines noch nicht durchforschten Gebietes.18

Absolute Teleologie aber hielt schon Bacon für zulässig, wiewohl er ihren Begriff noch nicht scharf genug faßte. Dieser Begriff einer Zweckmässigkeit in der Totalität der Natur, die uns im einzelnen nur nach wirkenden Ursachen schrittweise verständlich wird, führt freilich auf keine schlechthin menschliche, daher auch auf keine dem Menschen im einzelnen verständliche Zweckmässigkeit. Und doch bedürfen die Religionen gerade eines anthropomorphen Zwecks. Dieser widerspricht der Naturforschung, wie die Dichtung der historischen Wahrheit und vermag daher auch nur, wie die Dichtung, in einer idealen Betrachtung der Dinge sein Recht zu behaupten.

Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit einer strengen Beseitigung aller Zweckursachen, bevor Wissenschaft überhaupt entstehen kann. Fragt man aber, ob dies Motiv auch für Demokrit wirklich schon das treibende war, als er die strenge Notwendigkeit zur Grundlage aller Naturbetrachtung machte, so muß man dabei wohl von einem Überblick über den ganzen hier angedeuteten Zusammenhang absehen; allein daran kann kein Zweifel sein, daß die Hauptsache vorhanden war: ein klarer Einblick in das Postulat der Naturnotwendigkeit überhaupt als Bedingung jeder rationellen Naturerkenntnis. Der Ursprung dieser Einsicht ist aber in nichts zu suchen als im Studium der Mathematik, dessen Einfluß auch in der neueren Zeit in diesem Sinne entscheidend gewirkt hat.

3. »Nichts existiert, als die Atome und der leere Raum, alles andre ist Meinung«.19

Hier haben wir gleich die starke und die schwache Seite aller Atomistik in einem einzigen Satze zusammen. Die Grundlage aller rationellen Naturerklärung, aller großen Entdeckungen der Neuzeit ist die Auflösung der Erscheinungen in die Bewegung kleinster Teilchen geworden, und ohne Zweifel hätte schon das klassische Altertum auf diesem Wege zu bedeutenden Resultaten gelangen können, wenn nicht die von Athen ausgegangene Reaktion gegen die naturwissenschaftliche Richtung der Philosophie in so entscheidendem Maße die Überhand gewonnen hätte. Aus der Atomistik erklären wir heute die Gesetze des Schalls, des Lichts, der Wärme, der chemischen und physikalischen Veränderungen in den Dingen im weitesten Umfange, und doch vermag die Atomistik heute so wenig wie zu Demokrits Zeiten, auch nur die einfachste Empfindung von Schall, Licht, Wärme, Geschmack usw. zu erklären. Bei allen Fortschritten der Wissenschaft, bei allen Umbildungen des Atombegriffs ist diese Kluft gleich groß geblieben und sie wird sich um nichts verringern, wenn es gelingt, eine vollständige Theorie der Gehirnfunktionen aufzustellen und die mechanischen Bewegungen samt ihrem Ursprung und ihrer Fortsetzung genau nachzuweisen, welche der Empfindung entsprechen, oder anders ausgedrückt, welche die Empfindung bewirken. Die Wissenschaft darf nicht daran verzweifeln, mittelst dieser gewaltigen Waffe dahin zu gelangen, selbst die verwickeltsten Handlungen und die bedeutungsvollsten Bewegungen eines lebenden Menschen nach dem Gesetze der Erhaltung der Kraft aus den in seinem Gehirn unter Einwirkung der Nervenreize frei werdenden Spannkräften abzuleiten, allein es ist ihr auf ewig verschlossen, eine Brücke zu finden, zwischen dem, was der einfachste Klang als Empfindung eines Subjektes, als meine Empfindung ist und den Zerstreuungsprozessen im Gehirn, welche die Wissenschaft annehmen muß, um diese nämliche Schallempfindung als einen Vorgang in der Welt der Objekte zu erklären.

In der Art, wie Demokrit diesen gordischen Knoten zerhieb, ist vielleicht noch die Nachwirkung der eleatischen Schule zu spüren. Diese erklärte Bewegung und Veränderung überhaupt für Schein, und zwar für nichtigen Schein schlechthin. Demokrit beschränkte dies verwerfende Urteil auf die Sinnesqualitäten. »Nur in der Meinung besteht das Süße, das Kalte, die Farbe, in Wahrheit besteht nichts als die Atome und der leere Raum.«20

Da ihm sonach das unmittelbare Gegebene, die Empfindung etwas Trügerisches hatte, so ist leicht begreiflich, daß er klagte, die Wahrheit liege tief verborgen, und daß er dem Nachdenken ein größeres Gewicht für die Erkenntnis beilegte, als der unmittelbaren Wahrnehmung. Sein Nachdenken bewegte sich in Begriffen, die mit Anschauung verbunden und eben deshalb zur Naturerklärung überhaupt tauglich waren. Diese beständige Zurückführung aller Hypothesen auf die Anschauung im Bilde der Atombewegungen schützte Demokrit vor den Folgen einer einseitigen Deduktion aus Begriffen.

4. Die Atome sind unendlich an Zahl und von unendlicher Verschiedenheit der Form. In ewiger Fallbewegung durch den unendlichen Raum prallen die größeren, welche schneller fallen, auf die kleineren; die dadurch entstehenden Seitenbewegungen und Wirbel sind der Anfang der Weltbildung. Unzählige Welten bilden sich und vergehen wieder nebeneinander wie nacheinander.21

Die Großartigkeit dieser Vorstellung ist im Altertum oft schlechthin als ungeheuerlich betrachtet worden und doch steht sie unsern gegenwärtigen Anschauungen näher als die Ansicht des Aristoteles, der a priori bewies, daß es außer seiner in sich geschlossenen Welt keine zweite geben könne. Wir kommen bei Epikur und Lucrez, wo wir vollständiger unterrichtet sind, auf den Zusammenhang dieser Weltanschauung zurück; hier sei nur erwähnt, daß wir allen Grund haben, anzunehmen, daß sämtliche Züge der epikurischen Atomistik, von denen wir nicht ausdrücklich das Gegenteil wissen, von Demokrit herstammen. Epikur wollte, daß die Atome zwar unendlich an Zahl, aber nicht unendlich verschieden an Formen seien. Wichtiger ist seine Neuerung in Beziehung auf den Ursprung der Seitenbewegung.

Hier gibt uns Demokrit eine durchaus konsequente Darstellung, die zwar vor der heutigen Physik nicht standhält, aber doch zeigt, daß der griechische Denker seine Spekulationen, so gut es damals möglich war, nach streng physikalischen Grundsätzen ausbildete. Von der irrigen Ansicht ausgehend, daß größere Massen (gleiche Dichtigkeit vorausgesetzt) schneller fallen als kleine, ließ er die größeren Atome in ihrem Falle die kleineren einholen und anstoßen. Da nun die Atome verschiedenartige Gestalt haben und der Stoß in der Regel kein zentraler sein wird, so müssen hieraus auch nach unserer heutigen Mechanik Drehungen der Atome um ihre Achse und Seitenbewegungen hervorgehen. Einmal gegeben, müssen sich die Seitenbewegungen notwendig immer verwickelter gestalten, und da der Aufprall immer neuer Atome auf eine bereits in Seitenbewegung befindliche Schicht stets neue lebende Kraft gibt, so kann man annehmen, die Bewegung werde immer heftiger. Aus den Seitenbewegungen ergeben sich dann in Verbindung mit der Rotation der Atome mit Leichtigkeit auch Fälle rückläufiger Bewegung. Wenn nun in einer so durcheinandergerüttelten Schicht die schwereren (d. h. größeren) Atome beständig einen stärkeren Zug nach unten behalten, so werden sie sich schließlich im unteren, die leichteren dagegen im oberen Teile der Schicht zusammenfinden.22

Die Basis dieser ganzen Theorie, die Lehre vom schnelleren Fall der größeren Atome, griff nun aber Aristoteles an, und es scheint, daß Epikur sich dadurch bestimmen ließ, unter Beibehaltung des ganzen übrigen Gebäudes seine unmotivierten Abweichungen der Atome von der graden Linie zu erfinden. Aristoteles nämlich lehrte, wenn es einen leeren Raum geben könnte, was er für unmöglich hält, so müßten in demselben alle Körper gleich schnell fallen, da der Unterschied in der Schnelligkeit des Fallens durch die verschiedene Dichtigkeit des Mediums, wie z. B. Wasser und Luft bedingt werde. Der leere Raum habe gar kein Medium, also gebe es in ihm auch kein Verhältnis im Fall der Körper. Aristoteles traf hier, wie auch in seiner Lehre von der Gravitation nach der Mitte des Universums, im Resultat mit der heutigen Naturwissenschaft zusammen. Seine Deduktion ist aber nur stellenweise rationell und mit Spitzfindigkeiten gemischt von ganz gleicher Art wie diejenigen, durch welche er die Unmöglichkeit aller Bewegung im leeren Raume darzutun sucht. Epikur machte die Sache kürzer und schließt einfach: weil im leeren Raume gar kein Widerstand ist, so müssen alle Körper gleich schnell fallen; scheinbar völlig übereinstimmend mit der heutigen Physik, aber auch nur scheinbar, denn die richtige Vorstellung vom Wesen der Gravitation und des Falles fehlte den Alten gänzlich.

Immerhin ist es nicht uninteressant zu vergleichen, wie Galilei, sobald er nach mühsamem Suchen auf das wahre Fallgesetz gelangt war, alsbald a priori den Schluß wagte, daß im leeren Raum alle Körper gleich schnell fallen werden; geraume Zeit bevor dies mittelst der Luftpumpe als Tatsache erwiesen werden konnte. Es wäre noch zu untersuchen, ob bei diesem Schluß Galileis nicht Reminiszenzen aus dem Aristoteles oder aus Lucrez mitgewirkt haben!23

5. Die Verschiedenheit aller Dinge rührt her von der Verschiedenheit ihrer Atome an Zahl, Größe, Gestalt und Ordnung;eine qualitative Verschiedenheit der Atome findet nicht statt. Die Atome haben keine »inneren Zustände«; sie wirken aufeinander nur durch Druck und Stoß.24

Wir haben beim dritten Satz gesehen, daß Demokrit die Sinnesqualitäten, wie Farbe, Schall, Wärme usw. als bloß täuschenden Schein auffaßte, was nichts anderes sagen will, als daß er die subjektive Seite der Erscheinungen, die doch einzig unmittelbar gegeben ist, gänzlich aufopferte, um eine objektive Erklärung derselben um so konsequenter durchführen zu können. So befaßte sich denn auch Demokrit in der Tat höchst eingehend mit Untersuchungen über dasjenige, was im Objekt den Empfindungsqualitäten zugrunde liegen müsse. Nach der Verschiedenheit der Zusammenstellung der Atome in einem »Schema«, das uns an die Schemata unsrer Chemiker erinnern kann, richten sich unsre subjektiven Eindrücke.25

Aristoteles tadelt, daß Demokrit alle Arten von Empfindung auf eine Art von Tastempfindung zurückgeführt habe, ein Vorwurf, der sich in unseren Augen eher zu einem Lobe gestalten wird. Der dunkle Punkt liegt dann aber eben in der Tastempfindung selbst. Wir können uns recht wohl zu dem Standpunkt erheben, sämtliche Empfindungen als modifizierte Tastempfindung zu betrachten; liegen doch auch für uns hier noch ungelöste Rätsel genug! Aber wir können nicht mehr so naiv über die Frage hinweggehen, wie sich die einfachste und elementarste aller Empfindungen zu dem Druck oder Stoß verhält, der sie veranlaßt. Die Empfindung ist nicht in dem einzelnen Atom und noch weniger in einer Summe; denn wie könnte sie durch den leeren Raum hindurch in Eins zusammenfließen? Sie wird in ihrer Bestimmtheit hervorgebracht durch eine Form, in welcher die Atome zusammenwirken. Der Materialismus streift hier an Formalismus, was Aristoteles nicht vergessen hat hervorzuheben. 26 Während dieser aber die Formen in transzendenter Weise zu Ursachen der Bewegung erhob und damit jede Naturforschung in der Wurzel verdarb, hütete sich Demokrit, die in die Tiefe der Metaphysik führende formalistische Seite seiner eigenen Anschauung weiter zu verfolgen. Hier bedurfte es erst der Kantschen Vernunftkritik, um einen ersten schwachen Lichtstrahl in den Abgrund eines Geheimnisses zu werfen, das nach allen Fortschritten der Naturerkenntnis doch heute noch so groß ist wie zu den Zeiten Demokrits.

6. Die Seele besteht aus feinen, glatten und runden Atomen, gleich denen des Feuers. Diese Atome sind die beweglichsten, und durch ihre Bewegung, die den ganzen Körper durchdringt, werden die Lebenserscheinungen hervorgebracht.27

Also auch hier ist die Seele, wie bei Diogenes von Apollonia, ein besonderer Stoff; auch nach Demokrit ist dieser Stoff durch das ganze Weltall verteilt, überall die Erscheinungen der Wärme und des Lebens hervorrufend. Demokrit kennt daher einen Unterschied zwischen Seele und Körper, der den Materialisten unsrer Zeit sehr wenig munden würde, und er weiß diesen Unterschied ganz wie es sonst die Dualisten tun, für die Ethik auszubeuten. Die Seele ist das wesentliche am Menschen; der Körper ist nur das Gefäß der Seele; für diese müssen wir in erster Linie sorgen. Das Glück wohnt in der Seele; körperliche Schönheit ohne Verstand ist etwas Tierisches. Man hat sogar Demokrit die Lehre von einer göttlichen Weltseele zugeschrieben, allein er meint damit nichts als die allgemeine Verbreitung jenes beweglichen Stoffs, den er bildlich sehr wohl als das Göttliche in der Welt bezeichnen konnte, ohne ihm andre als materielle Eigenschaften und mechanisch bedingte Bewegungen zuzuschreiben.

Aristoteles persifliert die Ansicht des Demokrit von der Art, wie die Seele den Körper bewegt, mit einem Vergleich. Dädalos sollte ein bewegliches Bild der Aphrodite gemacht haben; dies erklärte der Schauspieler Philippos dadurch, daß Dädalos wahrscheinlich in das Innere des Holzbildes Quecksilber gegossen habe. Gerade so, meint Aristoteles, lasse Demokrit den Menschen durch die beweglichen Atome in seinem Innern bewegt werden. Der Vergleich hinkt bedeutend,28 aber er kann doch dienen, um zwei grundverschiedene Prinzipien der Naturbetrachtung zu erklären. Aristoteles meint, nicht also, sondern durch Wählen und Denken bewegt die Seele den Menschen. Als ob dies nicht schon dem Wilden klar wäre, längst bevor die Wissenschaft auch nur in den leisesten Anfängen vorhanden ist! Unser ganzes »Begreifen « ist ein Zurückführen des Besondern in der Erscheinung auf die allgemeinen Gesetze der Erscheinungswelt. Die letzte Konsequenz dieses Strebens ist die Einreihung der vernünftigen Handlungen in diese Kette. Demokrit zog diese Konsequenz; Aristoteles verkannte ihre Bedeutung.

Die Lehre vom Geist, sagt Zeller (I. 725), sei bei Demokrit nicht aus dem allgemeinen Bedürfnis eines »tieferen Prinzips« für die Naturerklärung hervorgegangen. Demokrit habe den Geist nicht als »die weltbildende Kraft«, sondern nur als einen Stoff neben andern betrachtet. Selbst Empedokles habe doch noch die Vernünftigkeit als eine innere Eigenschaft der Elemente angesehen, Demokrit dagegen nur als eine »aus der mathematischen Beschaffenheit gewisser Atome in ihrem Verhältnis zu den andern sich ergebende Erscheinung «. Genau dies ist Demokrits Vorzug; denn jede Philosophie, welche mit dem Verhältnis der phänomenalen Welt Ernst machen will, muß auf diesen Punkt zurückkehren. Der Spezialfall der Bewegungen, die wir vernünftige nennen, muß aus den allgemeinen Gesetzen aller Bewegung erklärt werden, oder es ist überhaupt nichts erklärt. Der Mangel alles Materialismus besteht darin, daß er mit dieser Erklärung abschließt, wo die höchsten Probleme der Philosophie erst beginnen. Wer aber mit vermeintlichen Vernunfterkenntnissen, die keine anschaulich- verständige Auffassung mehr zulassen, in die Erklärung der äußeren Natur, den vernünftig handelnden Menschen inbegriffen, hineinpfuscht, der verdirbt die ganze Basis der Wissenschaft, heiße er gleich Aristoteles oder Hegel.

Der alte Kant würde sich hier unzweifelhaft im Prinzip für Demokrit und gegen Aristoteles und Zeller entscheiden. Er erklärt den Empirismus für durchaus berechtigt, soweit er nicht dogmatisch wird, sondern nur dem »Vorwitz und der Vermessenheit der ihre wahre Bestimmung verkennenden Vernunft« entgegentritt, welche »mit Einsicht und Wissen groß tut, da wo eigentlich Einsicht und Wissen aufhören«, welche die praktischen und theoretischen Interessen verwechselt, »um, wo es ihrer Gemächlichkeit zuträglich ist, den Faden physischer Untersuchungen abzureißen.« 29 Dieser Vorwitz der Vernunft gegenüber der Erfahrung, dieses unberechtigte Abreißen des Fadens physischer Untersuchungen spielt heute seine Rolle so gut wie im hellenischen Altertum. Wir werden noch genug davon zu reden haben. Es ist allemal der Punkt, wo eine gefundene Philosophie den Materialismus nicht scharf und energisch genug in Schutz nehmen kann.

Demokrits Ethik ist bei aller Erhebung des Geistes über den Körper doch im Grunde eine Glückseligkeitslehre, die ganz mit der materialistischen Weltanschauungslehre im Einklang steht. Unter seinen moralischen Aussprüchen, die uns in ungleich größerer Zahl erhalten sind als die Bruchstücke seiner Naturlehre, finden sich gewiß viele uralte Lehren der Weisheit, welche in die verschiedensten Systeme passen und die Demokrit, verbunden mit Klugheitsregeln aus seiner subjektiven Lebenserfahrung, mehr in populär- praktischem Sinne vertrat, als daß sie unterscheidende Merkmale seines Systems gebildet hätten; allein wir können doch alles in eine feste Gedankenfolge einfügen, die auf wenigen und einfachen Grundsätzen beruht.

Die Glückseligkeit besteht in der heitern Ruhe des Gemüts, die der Mensch nur durch Herrschaft über seine Begierden erlangen kann. Mäßigkeit und Reinheit des Herzens verbunden mit Bildung des Geistes und Entwicklung der Intelligenz geben jedem Menschen die Mittel, trotz aller Wechselfälle des Lebens dies Ziel zu erreichen. Die Sinnenlust gewährt nur eine kurze Befriedigung, und nur wer das Gute, ohne durch Furcht und Hoffnung bewegt zu sein, um seines inneren Wertes willen tut, ist des innern Lohnes sicher.

Eine solche Ethik ist allerdings weit entfernt von der Hedonik Epikurs oder von der Ethik eines verfeinerten Egoismus, die wir im 18. Jahrhundert mit dem Materialismus verbunden sehen; allein es fehlt ihr doch das Kriterium jeder idealistischen Moral: ein direkt aus dem Bewußtsein genommenes und unabhängig von aller Erfahrung aufgestelltes Prinzip unsrer Handlungen. Was gut und böse, recht und unrecht sei, scheint Demokrit ohne weitere Untersuchung als bekannt vorauszusetzen; daß die heitre Gemütsruhe das dauerhafteste Gut ist und daß sie durch rechtschaffenes Denken und Handeln allein erzielt werden kann, sind Erfahrungssätze, und der Grund, warum jener harmonische Zustand unsres Innern erstrebt wird, liegt allein im Glück des Individuums.

Unter den großen Grundsätzen, auf welche der Materialismus unserer Zeit sich stützt, fehlt nur ein einziger bei Demokrit; es ist die Aufhebung jeder Teleologie durch ein Naturprinzip für die Entwicklung des Zweckmäßigen aus dem Unzweckmäßigen. In der Tat darf ein solches Prinzip nicht fehlen, sobald mit der Durchführung einer einzigen Art von Kausalität, derjenigen des mechanischen Stoffes der Atome, Ernst gemacht werden soll. Es genügt nicht, zu zeigen, daß es die feinsten, beweglichsten und glattesten Atome sind, welche die Erscheinungen der organischen Welt hervorbringen; es muß auch gezeigt werden, warum mit Hilfe dieser Atome statt beliebiger zweckloser Gebilde die fein gegliederten Körper der Pflanzen und Tiere mit all ihren Organen zur Erhaltung des Individuums und der Arten zustande kommen. Erst wenn hierfür eine Möglichkeit gezeigt wird, kann auch im vollen Sinne des Wortes die vernünftige Bewegung als ein Spezialfall der allgemeinen Bewegung begriffen werden.

Demokrit pries die Zweckmäßigkeit der organischen Gebilde, vorab des menschlichen Leibes, mit der Bewunderung eines denkenden Naturforschers. Wir finden bei ihm keine Spur jener falschen Teleologie, die man als den Erbfeind aller Naturforschung bezeichnen kann, aber wir finden auch nirgend einen Versuch, die Entstehung des Zweckmäßigen aus dem blinden Walten der Naturnotwendigkeit zu erklären. Ob dies eine Lücke in seinem System oder nur eine Lücke in der Überlieferung ist, wissen wir nicht; wir wissen aber, daß auch dieser letzte Fundamentalsatz alles Materialismus, zwar in roher Form, aber in voller begrifflicher Schärfe, dem philosophischen Denken der Hellenen entsprungen ist. Was Darwin, gestützt auf eine große Fülle positiver Kenntnisse, für die Gegenwart geleistet hat, das bot den Denkern des Altertums Empedokles; den einfachen und durchschlagenden Gedanken: das Zweckmäßige ist deshalb im Übergewichte vorhanden, weil es in seinem Wesen liegt, sich zu erhalten, während das Unzwechmäßige längst vergangen ist.

In Sizilien und Unteritalien gelangte das hellenische Geistesleben nicht viel später zu einer regen Blüte, als an den Küsten Kleinasiens. Auch »Großgriechenland « mit seinen reichen und stolzen Städten eilte dem Mutterlande weit voran, bis sich endlich die Strahlen der Philosophie in Athen, wie in einem Brennpunkte, wieder sammelten. Es muß wohl bei der rapiden Entwicklung dieser Kolonien ein Element mitgewirkt haben, wie das, welches Goethe zu dem Stoßseufzer brachte: »Amerika, du hast es besser, Als unser Kontinent, der alte, Hast keine verfallenen Schlösser Und keine Basalte.« Die größere Freiheit von der Tradition, die Entfernung von den Jahrhunderte alten Kultusstätten und aus dem Bereich der herrschsüchtigen Priesterfamilien mit ihrer tief gewurzelten Autorität scheint namentlich den Übergang von der Befangenheit im religiösen Glauben zur wissenschaftlichen Forschung und zum philosophischen Denken sehr begünstigt zu haben. Der pythagoreische Bund war bei all seiner Strenge doch zugleich eine religiöse Neuerung von ziemlich radikalem Charakter und unter den geistig hervorragenden Gliedern dieses Bundes entwickelte sich das erfolgreichste Studium der Mathematik und der Naturwissenschaften, welches Griechenland bis zu den alexandrinischen Zeiten gekannt hat. Xenophanes, der aus Kleinasien nach Unteritalien übersiedelte und dort die Schule von Elea stiftete, ist ein eifriger Aufklärer. Er bekämpft die mythischen Vorstellungen vom Wesen der Götter und setzt einen philosophischen Begriff an die Stelle.

Empedokles von Agrigent darf nicht als Materialist bezeichnet werden, weil bei ihm Kraft und Stoff noch grundsätzlich getrennt sind. Er war vermutlich der erste in Griechenland, der den Stoff in vier Elemente schied, welche durch Aristoteles ein so zähes Dasein erhielten, daß wir noch heute in der Wissenschaft auf manchen Punkten ihre Spuren entdecken. Neben ihnen nahm Empedokles zwei Grundkräfte an, die Liebe und den Haß, welche in der Bildung und Zerstörung der Welt das Geschäft der Anziehung und Abstoßung übernahmen. Hätte Empedokles diese Kräfte als Eigenschaften der Elemente erscheinen lassen, so dürften wir ihn ruhig den Materialisten zuzählen, denn die bilderreiche Sprache seiner philosophischen Gedichte entnahm ihre Bezeichnungen nicht nur den Gefühlen des menschlichen Herzens, sondern er setzte den ganzen Olymp und die Unterwelt in Bewegung, um seinen Begriffen ein lebenswarmes Gepräge zu geben und mit dem Verstand zugleich die Phantasie zu beschäftigen. Allein seine Grundkräfte sind vom Stoff unabhängig. In unermeßlichen Perioden überwiegt bald die eine, bald die andere. Wenn die »Liebe« zur völligen Oberherrschaft gelangt ist, ruhen alle Stoffe in glückseligem Frieden vereint in einer großen Kugel. Wenn der »Haß« die Höhe seiner Macht erreicht hat, ist alles zerstreut und zersprengt. In beiden Fällen existieren keine Einzeldinge. Alles Erdenleben ist an die Übergangszustände gebunden, die von der einheitlichen Weltkugel durch zunehmende Macht des Hasses zur absoluten Zerstreuung führen, oder durch zunehmende Macht der Liebe den umgekehrten Weg. Dieser letztere ist der unsrer Weltperiode, in welcher wir, wie aus den Grundgedanken des Systems zu entnehmen ist, schon eine ungeheure Zeitdauer hinter uns haben müssen. Das Spezielle seiner Kosmogonie interessiert uns hier nur, soweit es sich um die Entstehung der Organismen handelt, denn hier begegnet uns jener Gedanke, der durch Vermittlung von Epikur und Lucrez eine so nachhaltige Wirkung geübt hat.

»Haß« und »Liebe« wirken nicht nach einem Plane, wenigstens nach keinem andern Plane, als nach dem der allgemeinen Trennung und Vereinigung. Die Organismen werden durch das zufällige Spiel der Elemente und Grundkräfte. Zuerst bildeten sich Pflanzen, dann Tiere. Die tierischen Organe brachte die Natur zuerst einzeln hervor: Augen ohne Gesichter, Arme ohne Körper usw. Dann kam im Fortschritt des Verbindungstriebes ein wirres Spiel von Körpern, bald so, bald anders zusammengefügt, zustande. Die Natur probierte gleichsam alle Kombinationen durch, bis ein lebensfähiges und endlich auch ein fortpflanzungsfähiges Geschöpf zustande kam. Sobald dies vorhanden ist, erhält es sich von selbst, während jene früheren Bildungen untergingen, wie sie entstanden. Überweg bemerkt zu dieser Lehre (Gesch. der Phil. I, 4. Aufl. S. 66), sie könne mit der Schelling-Okenschen Naturphilosophie mit der Lamarck- Darwinschen Deszendenztheorie verglichen werden, doch finde diese den Grund des Fortschritts mehr in sukzessiver Differenzierung einfacherer Formen, die empedokleische Doktrin dagegen mehr in der Verbindung heterogener miteinander. Die Bemerkung ist ganz richtig, und man könnte hinzufügen, daß die neuere Deszendenztheorie von den Tatsachen unterstützt wird, während die Lehre des Empedokles, vom heutigen Standpunkt der Wissenschaft beurteilt, absurd und abenteuerlich erscheint. Es verdient aber auch hervorgehoben zu werden, was beide Lehren und zwar im bestimmtesten gemeinsamen Gegensatz gegen die Schelling-Okensche Naturphilosophie verbindet; es ist das rein mechanische Zustandekommen des Zweckmäßigen durch das endlos wiederholte Spiel von Zeugung und Vernichtung, wobei schließlich das allein übrig bleibt, was die Bürgschaft der Dauer in seiner relativ zufälligen Beschaffenheit trägt. Und wenn bei Empedokles noch ein kritischer Zweifel gerechtfertigt bleibt, ob er die Sache wirklich so verstanden, so steht es doch völlig fest, daß Epikur der empedokleischen Lehre diesen Sinn beigelegt und sie so mit der Atomistik und mit seiner Lehre von der Wirklichkeit aller Möglichkeiten verschmolzen hat.

Wie um Demokrit, so hat sich auch um den Namen des Empedokles eine Fülle von Sagen und Fabeln gesammelt, von denen viele sich auf eine seinen Zeitgenossen wunderbar erscheinende Beherrschung der Naturkräfte zurückführen lassen; allein während Demokrit diesen Ruf bei nüchternster Einfachheit und Offenheit in Lehre und Leben ausschließlich positiven Leistungen verdankt haben muß, scheint Empedokles die mystische Strahlenkrone des Wundertäters geliebt und zu seinen reformatorischen Zwecken benutzt zu haben. Auch er suchte reinere Vorstellungen von den Göttern zu verbreiten, wenn auch nicht mit dem Rationalismus eines Xenophanes, der jeden Anthropomorphismus verwarf. Empedokles glaubte an die Seelenwanderung; er verbot Schlachtopfer samt dem Genuß des Fleisches. Seine ernste Haltung, seine feurige Beredsamkeit, der Ruf seiner Taten imponierten dem Volk, das ihn wie einen Gott verehrte. Politisch war er ein eifriger Anhänger der Demokratie, der er in seiner Vaterstadt zum Siege verhalf. Gleichwohl mußte er auch den Wechsel der Volksgunst erfahren; er starb im Peloponnes, wahrscheinlich als Verbannter. - Wie sich seine religiösen Lehren mit seiner Naturphilosophie vereinigen mochten, wissen wir nicht. »Wie viele theologische Lehren«, bemerkt Zeller, »sind nicht von christlichen Philosophen geglaubt worden, deren philosophische Konsequenz diesen Lehren durchaus widersprechen würde.«

1Der bisweilen mißverstandene Eröffnungssatz: »Der Materialismus ist so alt als die Philosophie, aber nicht älter« wendet sich einerseits gegen die Verächter des Materialismus, welche in dieser Weltanschanung einen Gegensatz gegen das philosophische Denken schlechthin finden und ihm jede wissenschafdiche Bedeutung absprechen, anderseits gegen diejenigen Materialisten, welche ihrerseits alle Philosophie verachten und sich einbilden, ihre Weltanschauung sei überhaupt nicht das Ergebnis philosophischer Spekulation, sondern ein lauteres Erzeugnis der Erfahrung, des gesunden Menschenverstandes und der Naturwissenschaften. Es hätte vielleicht einfacher behauptet werden können, der erste Versuch einer Philosophie überhaupt, bei den ionischen Naturphilosophen, sei Materialismus gewesen, allein die Zusammenfassung einer längeren Entwicklungsperiode von den ersten schwankenden und unvollständigen Systemen bis zu dem mit voller Konsequenz und klarem Bewußtsein durchgeführten Materialismus Demokrits mußte dazu führen, den Materialismus nur »unter den ersten« Versuchen erscheinen zu lassen. In der Tat ist der Materialismus, wenn man ihn nicht von vornherein mit Hylozoismus und Pantheismus ineinander fließen lassen will, erst da vollendet, wo die Materie auch rein materiell aufgefaßt wird, d. h. wo ihre Bestandteile nicht etwa ein an sich denkender Stoff sind, sondern Körper, die sich nach rein körperlichen Prinzipien bewegen, und an sich empfindungslos durch gewisse Formen ihres Zusammentreffens Empfindung und Denken erzeugen. Eben deshalb scheint auch durchgeführter Materialismus stets notwendig Atomismus zu sein, da es schwerlich eine andere Weise gibt, alles Geschehene anschaulich und ohne Beimischung übersinnlicher Eigenschaften und Kräfte aus dem Stoff abzuleiten, als wenn man diesen in kleine Körperchen und leeren Raum für die Bewegung derselben auflöst. In der Tat ist der Unterschied zwischen den Seelenatomen Demokrits und der warmen Luft des Diogenes von Apollonia bei aller oberflächlichen Ähnlichkeit von ganz durchgreifender prinzipieller Bedeutung. Die letztere ist Vernunftstoff schlechthin; sie ist an sich der Empfindung fähig und bewegt sich, wie sie sich bewegt, kraft ihrer Vernünftigkeit; Demokrits Seelenatome bewegen sich, gleich allen anderen Atomen, nach rein mechanischen Prinzipien und bringen nur in einem mechanisch zustande gekommenen Spezialfall die Erscheinung denkender Wesen hervor. So harmoniert auch der »beseelte Magnet« des Thales trefflich mit dem Ausspruch »panta plêrê theôn«, ist aber von der Art, wie die Atomistiker sich die Anziehung des Eisens durch den Magneten zu erklären versuchen, gewiß grundverschieden.

2Gegenüber der ganz entgegengesetzt lautenden Ausführung Zellers (Phil. d. Griechen 1, S. 44 ff. 3. Aufl.) mag die Bemerkung am Platze sein, daß wir den Satz: »Die Griechen hatten keine Hierarchie und keine unantastbare Dogmatik« zugeben können, ohne uns zu einer Änderung der obigen Darstellung veranlaßt zu finden. »Die Griechen« bildeten vor allen Dingen keine politische Einheit, in welcher sich dergleichen hätte ausbilden können; ihr Glaubenswesen bildete sich mit noch größerer Mannigfaltigkeit aus als das Verfassungswesen der einzelnen Städte und Landschaften. Natürlich mußte der durchaus lokale Charakter des Kultus bei zunehmenden friedlichem Verkehr zu einer Toleranz und Freiheit führen, welche bei intensiv gläubigen und dabei zentralisierten Völkern undenkbar war. Dennoch waren unter allen Einheitsbestrebungen in Griechenland vielleicht die hierarchisch- theokratischen die bedeutendsten, und man kann z. B. die Stellung der Priesterschaft von Delphi gewiß nicht als bedeutungslose Ausnahme von der Regel betrachten, daß das Priestertum »ungleich mehr Ehre als Macht« verliehen habe. (Vgl. Curtius, griech. Gesch. 1, p. 451, in Verbindung mit den von Gerhard, Stephani, Welcker u. a. gegebenen Aufschlüssen über den Anteil der delphischen Theologen an der Ausbreitung des Bacchusdienstes und der Mysterien.) Gab es in Griechenland keine Priesterkaste und keinen geschlossenen Priesterstand, so gab es dafür Priesterfamilien, deren erbliche Rechte vom unverbrüchlichen Legitimismus gewahrt wurden und die in der Regel der höchsten Aristokratie angehörten und ihre Stellung Jahrhunderte hindurch zu behaupten wußten. Welche Bedeutung hatten nicht für Athen die eleusinischen Mysterien und wie eng waren diese mit den Familien der Eumolpiden, der Keryken, der Phylliden u. a. verbunden! (Vgl. Hermann, gottesd. Altert. § 31, A. 21. - Schömann, griech. Altert. II, S. 340 u. f. 2. Aufl.) Über den politischen Einfluß dieser Geschlechter gibt der Sturz des Alcibiades den deutlichsten Aufschluß, wiewohl bei Aktionen, welche hochkirchlich- aristokratische Einflüsse in Verbindung mit dem glaubenseifrigen Pöbel ins Werk setzen, die einzelnen Fäden des Netzes sich der Beobachtung zu entziehen pflegen. Was die »Orthodoxie« betrifft, so ist diese allerdings nicht auf ein scholastisch gegliedertes System von Lehren zu beziehen. Ein solches hätte vielleicht entstehen können, wenn nicht die Theokratie der delphischen Theologen und der Mysterien zu spät gekommen wäre, um die Ausbreitung der philosophischen Aufklärung in der Aristokratie und den gebildeten Kreisen hemmen zu können. So blieb man bei den mystischen Kultusformen stehen, unter denen sich im weiteren jeder denken mochte, was er wollte. Um so unverbrüchlicher blieb die allgemeine Lehre von der Heiligkeit und Bedeutung dieser bestimmten Götter, dieser Kultusformen, dieser bestimmten heiligen Worte und Bräuche, so daß hier nichts der Subjektivität überlassen blieb und jeder Zweifel, jeder Versuch unbefugter Neuerungen, jede leichtfertige Besprechung verpönt blieb. Ohne Zweifel fand aber auch hinsichtlich der mythischen Überlieferungen ein großer Unterschied statt zwischen der Freiheit der Dichter und der Gebundenheit der lokalen, unmittelbar mit dem Kultus verbundenen Priestertradition. Ein Volk, welches in jeder Stadt andere Götter, andere Attribute derselben und andere Genealogie und Mythologie vorfand, ohne sich dadurch im Glauben an die eigene heilige Überlieferung irre machen zu lassen, mußte verhältnismäßig leicht den Dichtern gestatten, mit dem allgemeinen mythischen Stoff der Nationalliteratur nach Willkür zu schalten; schien aber in solchen Freiheiten auch nur im geringsten ein direkter oder indirekter Angriff gegen die Überlieferung von den Lokalgottheiten zu liegen, so drohte dem Dichter wie dem Philosophen Gefahr. - Die Reihe der im Text genannten allein in Athen verfolgten Philosophen ließe sich leicht noch vermehren, z. B. durch Stilpon und Theophrast (Meier und Schömann, att. Prozeß, S. 303 u. f.); dazu kommen Dichter, wie Diagoras von Melos, auf dessen Kopf ein Preis gesetzt wurde, Aeschylus, der wegen angeblicher Entweihung der Mysterien in Lebensgefahr geriet und nur mit Rücksicht auf seine großen Verdienste von den Areopagiten freigesprochen wurde; Euripides, dem eine Anklage wegen Gottlosigkeit drohte, u. a. - Wie sich Toleranz und Intoleranz im athenischen Bewußtsein gegeneinander abgrenzten, zeigt am besten eine Stelle aus der Rede gegen Andocides (die nach Blaß, att. Beredsamkeit, S. 566 ff. zwar nicht von Lysias, wohl aber eine echte Anklagerede aus jenem Prozesse ist). Da heißt es, Diagoras von Melos habe doch nur (als Ausländer) an fremdem Gottesdienst gefrevelt, Andocides aber an Heiligtümern seiner eigenen Stadt. Auf Einheimische aber müsse man mehr zürnen als auf Fremde, weil letztere sich doch nicht an den eigenen Göttern vergingen. Diese subjektive Entschuldigung mußte wohl zu einer objektiven Entlastung werden, wenn der Frevel sich nicht speziell auf athenische, sondern auf fremde Heiligtümer bezog. Aus der gleichen Rede sehen wir auch, daß die Familie der Eumolpiden befugt war, unter Umständen gegen Frevler am Heiligen Recht zu sprechen nach geheimen Gesetzen, deren Urheber man nicht einmal kannte (daß dies unter dem Vorsitz des Archont Königs geschah, vgl. Meier und Schömann S. 117 u. f., ist für unsere Frage unerheblich). Daß der grundkonservative Aristophanes die Götter humoristisch behandeln, neu einreißenden Aberglauben sogar mit bitterm Spott verfolgen durfte, liegt auf einem ganz anderen Boden, und daß Epikur unverfolgt blieb, erklärt wohl einfach sein entschiedener Anschluß an das ganze äußere Kultuswesen. Die politische Tendenz mancher dieser Anklagen hebt die Basis des Religionsfanatismus nicht auf, sondern bestätigt sie. Wenn der Vorwurf der asebeia als eins der sichersten Mittel galt, selbst populäre Staatsmänner zu stürzen, so mußte offenbar nicht nur der Buchstabe des Gesetzes, sondern auch der leidenschaftliche Religionseifer der Massen gegeben sein. Hiernach müssen wir sowohl die Darstellung des Verhältnisses von Kirche und Staat bei Schömann (griech. Altert. I, S. 117, 3. Aufl.) für einseitig halten, als auch manche Züge der erwähnten Zellerschen Erörterung. Daß sich die Verfolgungen nicht immer zunächst auf den Kultus, sondern oft auch direkt auf die Lehre und den Glauben bezogen, scheint gerade die Mehrzahl der Anklagen gegen die Philosophen ganz klar zu beweisen. Bedenkt man aber die für eine einzige Stadt und für einen verhältnismäßig kurzen Zeitraum gar nicht geringfügige Zahl der zu unserer Kenntnis gekommenen Prozesse dieser Art und die hohe Gefahr, die mit ihnen verbunden war, so wird es schwerlich richtig sein, daß die Philosophie »nur in einigen ihrer Vertreter « betroffen wurde. Vielmehr bleibt hier, wie auch für die neuere Philosophie des 17., 18. (und 19.) Jahrhunderts noch ernstlich zu untersuchen, wie weit der Einfluß bewußter oder unbewußter Akkomodation an den Volksglauben unter dem Druck der drohenden Verfolgung bis in die Systeme selbst eingedrungen ist.

3Vgl. Zeller I, 3. Aufl., S. 176, Anm. 2 und die bei Marbach, Gesch. d. Ph., S. 53 zitierten Schriften, welche, wohl nicht zufällig, in der Zeit des Materialismus- Streites des vorigen Jahrhunderts erschienen. Zur Sache selbst sei mit Beziehung auf die Darstellung Zellers, der mir Thales zu tief zu stellen scheint, bemerkt, daß die Stelle bei Cicero de nat. deorum I, 10, 23, aus welcher man früher den Theismus des Thales ableitete, doch offenbar mit echt ciceronianischer Oberflächlichkeit in dem Ausdruck »fingere ex« den außerhalb des Weltstoffes stehenden Werkmeister bezeichnet, während Gott als »Weltvernunft«, zumal im Sinne der Stoiker, doch nur auf einen immanenten, nicht anthropomorph, also auch nicht persönlich zu denkenden Gott deutet. Die stoische Überlieferung mag auf bloßer Deutung einer älteren Überlieferung im Sinne des eigenen Systems beruhen, so folgt daraus noch nicht, daß diese Deutung (von der Echtheit der Worte abgesehen) auch falsch sei. Dem Zusammenhang nach dürfte die wahrscheinlich echte Äußerung, daß alles voll von Göttern sei, die Grundlage bilden, eine Äußerung, welche auch Aristoteles de an I, 5, 17 offenbar als symbolisch auffaßt, so daß der durch isôs