Gesellschaftsbilder - Martin Kuhlmann - E-Book

Gesellschaftsbilder E-Book

Martin Kuhlmann

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Beschreibung

In Zeiten tiefgreifender gesellschaftlicher Veränderungen sind Gewerkschaften zentrale Akteure der Entwicklung des Arbeits- und Soziallebens. Der Kern einer aktiven Gewerkschaftsbasis sind Vertrauensleute und Betriebsrät:innen. Sie verschaffen den Interessen von Belegschaften und Gewerkschaften in den Betrieben Gehör und Geltung, sie gestalten Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen mit. Auf der Basis einer umfangreichen Empirie verdeutlicht diese Studie, mit welchen Motivationen, Vorstellungen und Zukunftserwartungen sich Vertrauensleute und Betriebsrät:innen engagieren; sie richtet den Blick dabei auch auf das private und soziale Umfeld und auf die Bewertung der gesellschaftlichen Verhältnisse durch diese heterogene Gruppe.

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Cover for EPUB

Martin Kuhlmann, Milena Prekodravac, Stefan Rüb, Berthold Vogel

Gesellschaftsbilder

Die Zukunft gewerkschaftlichen Engagements

Unter Mitarbeit von Marliese Weißmann

Campus VerlagFrankfurt/New York

Über das Buch

In Zeiten tiefgreifender gesellschaftlicher Veränderungen sind Gewerkschaften zentrale Akteure der Entwicklung des Arbeits- und Soziallebens. Der Kern einer aktiven Gewerkschaftsbasis sind Vertrauensleute und Betriebsrät:innen. Sie verschaffen den Interessen von Belegschaften und Gewerkschaften in den Betrieben Gehör und Geltung, sie gestalten Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen mit. Auf der Basis einer umfangreichen Empirie verdeutlicht diese Studie, mit welchen Motivationen, Vorstellungen und Zukunftserwartungen sich Vertrauensleute und Betriebsrät:innen engagieren; sie richtet den Blick dabei auch auf das private und soziale Umfeld und auf die Bewertung der gesellschaftlichen Verhältnisse durch diese heterogene Gruppe.

Vita

Dr. Martin Kuhlmann ist Arbeitssoziologe und Direktor des Soziologischen Forschungsinstituts Göttingen (SOFI).

Dr. Milena Prekodravac ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen (SOFI).

Dr. Stefan Rüb ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen (SOFI).

Prof. Dr. Berthold Vogel ist geschäftsführender Direktor des Soziologischen Forschungsinstituts Göttingen (SOFI) und unterrichtet Soziologie an den Universitäten Göttingen, Kassel und Sankt Gallen.

Übersicht

Cover

Titel

Über das Buch

Vita

Inhalt

Impressum

Inhalt

Geleitwort der IG Metall

Vorwort

I.

Einleitung

1.

Ausgangsüberlegungen

1.1

Betriebsrät:innen und Vertrauensleute im Blick der Sozialforschung

1.2

Die Frage der Gesellschaftsbilder

2.

Gesellschaftsbilder-Ansatz

2.1

Forschung zu Gesellschaftsbildern

2.2

Eigener Ansatz

II.

Vorgehensweise und Methoden

1.

Exploration

1.1

Zugang zum empirischen Feld

1.2

Gruppen- und Einzelgespräche in Geschäftsstellen der IG Metall

1.3

Gruppengespräche in IG Metall-Bildungszentren

1.4

Praktische Modifikationen im Zuge der »Corona«-Pandemie

1.5

Sozialstruktur des Samples

1.6

Auswertung: Identifikation von Haltungen

2.

Intensiverhebung

2.1

Sampling

2.2

Samplebeschreibung

Lebensphase, Alter und Geschlecht

Wohnort und räumliche Mobilität

Qualifikation

Branche, Tarif und Mitgliedschaftsdauer

Betrieblicher und gewerkschaftlicher Hintergrund

Freistellung

2.3.

Biografisch-narratives Interview: der Lebensweg im Mittelpunkt

Ablauf

Auswertung: Rekonstruktion und Vergleich der Fälle

2.4

Fokussiertes Interview: Gewerkschaft und Gesellschaft im Mittelpunkt

3.

Repräsentativbefragung

3.1

Fragebogenentwicklung

3.2.

Operative Umsetzung

4.

Dialog und Reflexion

III.

Gesellschaftsbilder der Ehrenamtlichen

1.

Vier Gesellschaftsbilder

Gesellschaft als verinseltes Nebeneinander – fragmental

Gesellschaft als durch gemeinsame Werte verbundenes Füreinander – subsidiär

Gesellschaft als ständig auszuhandelndes Miteinander – equilibrisch

Gesellschaft als sich bekämpfendes Gegeneinander – dichotom

2.

Gesellschaftsbilder und Gewerkschaftsverständnisse

3.

Bezugnahmen der Ehrenamtlichen auf die vier Gesellschaftsbilder

IV.

Zwischen Betrieb und sozialem Alltag – Fallgeschichten

1.

Gerechtigkeit (wieder) herstellen (Bettina)

Wie blickt sie auf die Gesellschaft?

Wie steht sie zur IG Metall?

2.

Seinen Platz einnehmen (Dennis)

Wie blickt er auf die Gesellschaft?

Wie steht er zur IG Metall?

3.

Anderen mit Respekt begegnen (Alexander)

Wie blickt er auf die Gesellschaft?

Wie steht er zur IG Metall?

4.

Recht zur Geltung bringen (Richard)

Wie blickt er auf die Gesellschaft?

Wie steht er zur IG Metall?

5.

Weiter kämpfen (Chloe)

Wie blickt sie auf die Gesellschaft?

Wie steht sie zur IG Metall?

6.

Seinen Beitrag leisten (Reinhold)

Wie blickt er auf die Gesellschaft?

Wie steht er zur IG Metall?

7.

Unterstützen und unterstützt werden (Tom)

Wie blickt er auf Gesellschaft?

Wie steht er zur IG Metall?

8.

Sich einbringen (Ingrid)

Wie blickt sie auf die Gesellschaft?

Wie steht sie zur IG Metall?

9.

Für Überzeugungen eintreten (Jens)

Wie blickt er auf die Gesellschaft?

Wie steht er zur IG Metall?

10.

Sich nicht verlieren (Kim)

Wie blickt sie auf die Gesellschaft?

Wie steht sie zur IG Metall?

11.

Krisen etwas entgegensetzen (Ralf)

Wie blickt er auf die Gesellschaft?

Wie steht er zur IG Metall?

12.

Sich der Gewerkschaftsarbeit hingeben (Erik)

Wie blickt er auf die Gesellschaft?

Wie steht er zur IG Metall?

13.

Resümee

V.

Ergebnisse der Repräsentativbefragung

1.

Wer sind die Ehrenamtlichen?

2.

Gründe für das Engagement

2.1

Ehrenamtliches Engagement im Betrieb

2.2

Ehrenamtliches Engagement über den Betrieb hinaus

3.

Gewerkschaftliche Bindung

3.1

Bedeutung des sozialen Nahumfelds

3.2

Bedeutung von gewerkschaftlicher Mitgliederwerbung

4.

Arbeitserfahrungen und Wohnumfeld

4.1

Arbeitserfahrungen der Ehrenamtlichen

4.2

Beurteilungen des Wohnumfeldes

5.

Gesellschaftsbezogene Wahrnehmungen und Orientierungen

5.1

Sozialer Ausgleich und Aufstiegsmöglichkeiten

5.2

Respekt und Wertschätzung

5.3

Vertrauen in demokratische Partizipation

5.4

Solidarität vs. Vereinzelung und Konkurrenz

5.5

Wunsch: mehr demokratische Mitsprache und soziale Bewegung

6.

Zukunftserwartungen

7.

Einschätzungen zur Gewerkschaft

8.

Resümee

VI.

Der Blick der Ehrenamtlichen auf die Gesellschaft

1.

Die Praxis der Demokratie

1.1

Vertrauen in demokratische Institutionen und Demokratie als Mitmachgesellschaft

1.2

Demokratie als zu verteidigendes Gut

1.3

Demokratie in der Arbeitswelt

2.

Macht in Gesellschaft und Betrieb

2.1

Ökonomische Ungleichheit als Machtfrage

2.2

Orte und Grenzen eigener Handlungsmacht

2.3

Die IG Metall als machtvolle Organisation

3.

Die Praxis der Solidarität

3.1

Solidarität als Lebensform – zwischen alltäglicher und universeller Solidarität

3.2

Gewerkschaftliche Solidarität und die Schwierigkeit, diese zu organisieren

3.3

Schwindende Solidarität

3.4

IG Metall als Solidargemeinschaft

4.

Gesellschaftliche Verortungen: in der Mitte der Gesellschaft

4.1

Vom Schwinden der Arbeiterklasse

4.2

Diesseits und jenseits kultureller und politischer Milieus

4.3

Aufstiegserfahrungen als Basis der Mitte-Verortung

5.

Die Zukunft der Gesellschaft

5.1

Keine Resignation, aber Skeptizismus

5.2

Ökonomische Krisen, betriebliche Unsicherheiten und Grenzen des Wachstums

6.

Resümee

VII.

Schlussbetrachtungen

1.

Betriebliches und gewerkschaftliches Engagement

1.1

Ehrenamtliches Engagement als praktische Politik und Politisierung der Praxis

1.2

Betriebliches Engagement und Lebenssituation

1.3

Betriebliches Engagement und gewerkschaftliches Handeln

2.

Die Ehrenamtlichen in der Transformation

Abbildungen

Tabellen

Literatur

Geleitwort der IG Metall

Der vorliegende Band Gesellschaftsbilder und betriebliches Engagement basiert auf einer wissenschaftlichen Studie, die die IG Metall 2019 initiierte und mit der Durchführung das Soziologische Forschungsinstitut Göttingen (SOFI) e.V. beauftragte. Die Studie lief ab 2019 über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahren und nimmt das Engagement von Vertrauensleuten und Betriebsrätinnen und Betriebsräten der IG Metall in den Blick.

Hintergrund der Beauftragung war die Diskussion in der IG Metall über die Herausforderungen der Transformation der durch die IG Metall vertretenen Branchen, getrieben durch Digitalisierung, Abkehr von fossilen Energieträgern und neuen geopolitischen Machtverhältnissen. Und dies im Umfeld einer zunehmend ungleichen Gesellschaft und eines gespaltenen Arbeitsmarkts sowie sichtbar wachsender Tendenzen eines rechten Populismus, der die Ängste vor Veränderung für sich instrumentalisiert. Strategisch stellte und stellt sich die Frage, ob es der IG Metall gelingt, die Machtressourcen zu mobilisieren, um gestaltend zu wirken und das emanzipative Potenzial dieser Strukturbrüche für ein Mehr an guter Arbeit zu nutzen.

Zentral für das Gelingen einer solchen Strategie sind die gewerkschaftlich Aktiven in den Betrieben. Deren Blick auf die Transformation und ihre Sichtweise auf die Perspektiven demokratischer Gestaltung wie auch ihre eigene Rolle in diesen Veränderungsprozessen sind daher zentral. Dies gilt besonders für das Gelingen einer arbeits- und gesellschaftspolitischen Strategie, die auf Beteiligung und Mobilisierung für ein Zielbild fairen Wandels setzt, welches die IG Metall auf dem Gewerkschaftstag 2019 mit den Normen sozial, ökologisch und demokratisch umschrieb.

Ausgangspunkt des Auftrags zur Studie waren daher folgende Fragen: Auf Grundlage welcher Erfahrungen mit Gesellschaft und welcher Vorstellungen von Gesellschaft engagieren sich Betriebsrätinnen und Vertrauensleute? Welche Art und welcher Grad gesellschaftlicher Veränderungen (Notwendigkeiten, Möglichkeiten) sind dabei angesprochen? Wie ist es angesichts der derzeitigen gesellschaftlichen Krisenprozesse um den wahrgenommenen Wert der Demokratie und die Bereitschaft bestellt, sich dafür zu engagieren und diese zu verteidigen oder gar in Richtung eines Ausbaus wirtschaftsdemokratischer Elemente weiterzuentwickeln? Wie robust sind Betriebsrätinnen und Vertrauensleute gegenüber rechtspopulistischen Denkmustern?

Die Studie, die Ende 2019 begann, wurde zu Beginn ihrer empirischen Phase von der Corona-Pandemie und dem tiefsten Absturz der deutschen Industrieproduktion in der Nachkriegszeit überrollt. Daraus ergaben sich nicht nur Herausforderungen für die empirische Praxis. Die durchgeführten Interviews und Befragungen waren von der multiplen Krisensituation geprägt, die auch die aktive gewerkschaftliche Arbeit prägte.

Das SOFI nahm dabei den Topos des Gesellschaftsbilds auf, das Heinrich Popitz, Hans Paul Bahrdt, Ernst A. Jüres und Hanno Kesting 1957 in ihrer Studie Das Gesellschaftsbild des Arbeiters entwickelten. Gesellschaftsbilder der Menschen, hier der gewerkschaftlich Aktiven – so die Feststellung –, haben niemals nur eine Quelle, etwa den Arbeitsplatz oder Betrieb. Gesellschaftsbilder setzen sich aus multiplen Erfahrungen zusammen, in die beispielsweise auch das familiäre Umfeld oder Eindrücke aus dem lokalen Umfeld mit eingehen. Gesellschaftsbilder sind aber auch immer normative Orientierungsmarken, die dabei helfen, die Komplexität gesellschaftlicher Prozesse einzuordnen.

Um diese Gesellschaftsbilder herausarbeiten zu können, führte das Team des SOFI mit ausgewählten aktiven Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern, Vertrauensleuten und Betriebsräten Interviews. Zusätzlich suchten die Forscherinnen und Forscher die Ehrenamtlichen an ihren Arbeitsplätzen auf, aber auch in ihren Familien oder an wichtigen Schauplätzen ihres Lebens. Dieser Ansatz stellte sich als sehr gewinnbringend heraus, um die Unterschiedlichkeit von Gesellschaftsbildern verstehen zu können. Arbeit ist zwar ein wesentlicher und prägender Teil des Lebens. Aber er ist nicht der einzige. Ansichten zum Beispiel über Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Infrastrukturen oder Benachteiligung bilden sich nicht nur durch die Arbeit, sondern auch im Zusammenspiel aller Lebensbereiche.

Dieser breite empirische Forschungszugang stellte in Zeiten der Pandemie sowohl Forschende wie auch die beteiligten Aktiven und unterstützenden Geschäftsstellen der IG Metall vor nicht vorgesehene Herausforderungen. Mithilfe von Gruppendiskussionen, persönlichen Gesprächen und einer intensiven Begleitung Einzelner wurden wirkmächtige Gesellschaftsbilder herausgearbeitet. Eine repräsentative Befragung von Aktiven stützte und erweiterte dabei die analytische Arbeit der SOFI-Forscherinnen und -Forscher. Dass diese umfangreiche empirische Arbeit trotz Pandemie dennoch gelang, wäre nicht ohne das große Engagement der Forschenden, aber auch die enorme Bereitschaft der befragten Aktiven und die Unterstützung durch die jeweiligen Geschäftsstellen der IG Metall möglich gewesen.

Die Ergebnisse der Studie sind für die IG Metall bedeutsam und handlungsleitend. Sie fanden Eingang in das Projekt »IG Metall vom Betrieb aus denken«, das eine organisationspolitische Neuorientierung auf den Weg brachte, die die Aktiven in den Betrieben und ihre Unterstützung in den Mittelpunkt stellt. Im Ergebnis führte dies zu einer Verlagerung von Ressourcen und Personal in die Arbeit vor Ort, aber auch zu einer Veränderung der Qualität dieser Arbeit. Mehr Beteiligung, mehr projektbezogenes Arbeiten, Prioritäten setzen, stärker im Team, ein neues Miteinander von Ehren- und Hauptamtlichkeit sind Stichworte der Veränderung gewerkschaftlicher Praxis.

Insoweit erwies sich Forschung als unmittelbar wirkmächtig. Dies wurde dadurch unterstützt, dass Forschungsergebnisse über vielerlei Transferformate im laufenden Forschungsprozess rückgekoppelt wurden. Forschungspraxis als Veränderungspraxis zeichnete auch die Publikationsformate aus. Kurz, lesbar, als Podcast oder Livestream wurde der Erkenntnisstand des Projekts zurückgespiegelt. Insoweit sprengte das Forschungsprojekt in gewinnbringender Weise für alle gleich mehrfach tradierte Wissenschaftspraxis: durchaus eine Blaupause für emanzipatorische Wissenschaft.

Den Forscherinnen und Forschern Martin Kuhlmann, Milena Prekodravac, Stefan Rüb und Berthold Vogel gehört dafür unser Dank!

Als wir 2019 die Idee zu diesem Forschungsprojekt entwickelten, konnten wir nicht ahnen, welche Schwierigkeiten in der Umsetzung durch Pandemie und Krise auf uns zukommen würden. Unser Dank gilt daher auch all den Kolleginnen und Kollegen, die uns bei der Durchführung der Interviews und Befragungen, aber auch den zahlreichen Transferformaten unterstützten.

Berlin und Frankfurt am Main, September 2023

Jörg Hofmann und Tanja Smolenski

Vorwort

Das gewerkschaftliche Entwicklungsprojekt »Die IG Metall vom Betrieb aus denken« provozierte Fragen. Was treibt Mitglieder der IG Metall an, Betriebsrätin oder Betriebsrat zu werden oder als Vertrauensperson die Gewerkschaft im Betrieb sichtbar zu machen? Auf welche Erfahrungen oder gar Traditionen können die Gewerkschaftsaktiven zurückgreifen? Wie schauen sie auf die Gewerkschaft, auf ihren Betrieb, auf die Gesellschaft, die sie umgibt? Kurzum, welche Bilder von Arbeitswelt und sozialen Zusammenhängen haben betrieblich Engagierte?

Diese Fragen machen deutlich, dass es für die Zukunft der Gewerkschaften zentral auf die Menschen in den Betrieben ankommt. Politische Programme und Strategien, Projekte und Kampagnen von Gewerkschaften (und jeder anderen Organisation) werden nur dann wirksam, wenn sie vom Engagement aktiver Personen vor Ort getragen werden.

Vor diesem Hintergrund trat der Vorstand der IG Metall an uns im SOFI heran. Wir diskutierten gemeinsam Erkenntnisse der bisherigen Betriebsräteforschung, wir blickten auf Konzepte, die uns einen analytischen und begrifflichen Zugang zu den eingangs genannten Fragen verschaffen sollten. In intensiven Diskussionen fanden wir einen Anknüpfungspunkt besonders interessant, der SOFI-Traditionen ins Spiel bringt und die gewerkschaftlichen Herausforderungen der Gegenwart zugleich gut abbildet. Die Rede ist vom Konzept und Begriff der Gesellschaftsbilder.

Hierdurch wurde ein Forschungsprojekt auf den Weg gebracht, das sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln den »Bildern« nähert, die sich ehrenamtlich in den Betrieben aktive IG Metaller:innen von »ihrer« Gesellschaft, die sie in Arbeit, Betrieb und sozialem Alltag umgibt, machen. Das Spektrum unseres Zugangs zu dieser Gruppe reichte von Gesprächen und Diskussionen in Bildungszentren und Geschäftsstellen der IG Metall über mehrmalige und jeweils sehr ausführliche Interviews mit einer ausgewählten Gruppe von Betriebsrät:innen und Vertrauensleuten (inklusive Einblicken in deren betriebliches, nachbarschaftliches und familiäres Umfeld) bis hin zu einer breitflächigen Untersuchung durch eine telefonische Repräsentativbefragung. In Zeiten der Pandemie, in die der Großteil unserer empirischen Erhebungen fiel, waren die Kombination und Realisierung dieser Zugänge kein leichtes Unterfangen, das aber dennoch glückte – auch dank der guten und intensiven Kooperation zwischen Gewerkschaft und Wissenschaft.

Entstanden ist ein Lesebuch, das auf Texten beruht, die zunächst für die gewerkschaftsinterne Arbeit und Diskussion erarbeitet und verfasst wurden. Für die nun vorliegende Buchpublikation haben wir diese Texte überarbeitet, gekürzt und ergänzt. Wir haben Bezüge hergestellt und übergreifende Kapitelverweise eingefügt. Zugleich sprechen die einzelnen Kapitel weiterhin für sich.

In der Einleitung legen wir unsere Überlegungen zu Ausgangspunkten des Forschungsprojekts und unser spezifisches Verständnis von Gesellschaftsbildern und deren Erforschung dar. Kapitel II beleuchtet ausführlich die verschiedenen Bausteine unseres Forschungsprozesses und die Methoden, die dabei zur Anwendung kamen. Dieses Kapitel dürfte vor allem für diejenigen von Interesse sein, die genauer wissen wollen, wie wir im Einzelnen vorgegangen sind und welche Probleme sich uns dabei insbesondere durch die Covid-19-Pandemie gestellt haben. Kapitel III beinhaltet den Kern unseres Gesellschaftsbilderkonzepts: die vier idealtypisch gedachten Gesellschaftsbilder, die wir in der Untersuchungsgruppe gefunden haben, und eine Darstellung, in welcher Weise sich die Sichtweisen und Einschätzungen der von uns befragten ehrenamtlich Aktiven auf diese Gesellschaftsbilder beziehen. Kapitel IV zeigt die vielfältigen gesellschaftlichen und gewerkschaftlichen Zugänge zum ehrenamtlichen Engagement in zwölf Fallgeschichten von Betriebsrät:innen und Vertrauensleuten, mit denen wir in intensivem Kontakt standen und die uns sehr offen Auskunft über ihre Lebensgeschichte und ihre gesellschaftlichen Vorstellungen gaben. Kapitel V enthält die zentralen Ergebnisse einer telefonischen Repräsentativbefragung der in Betrieben ehrenamtlich aktiven IG Metaller:innen. Diese Daten ermöglichen Einblicke in die Zusammensetzung dieser Gruppe, quantifizierende Aussagen zur Verbreitung bestimmter Sichtweisen sowie Einschätzungen zu einigen Einflussfaktoren. Kapitel VI präsentiert Befunde einer inhaltsanalytischen Auswertung unseres qualitativen Interviewmaterials entlang von fünf Untersuchungsdimensionen, die für unseren Gesellschaftsbilder-Ansatz zentral sind: Demokratie, Macht, Solidarität, gesellschaftliche Selbstverortung und Zukunft. Und schließlich werden in den Schlussbetrachtungen des Kapitels VII zwei weiterführende Fragen diskutiert: die Frage des Engagements und die Frage nach der Rolle der Ehrenamtlichen in der Transformation.

Der Begriff des Lesebuchs ist ernst zu nehmen. Interessierte können dieses Buch zur Hand nehmen, darin stöbern und sich von einzelnen Kapiteln inspirieren lassen. Dabei lernen die Leser:innen Betriebsrät:innen und Vertrauensleute in ihrer betrieblichen Praxis und in ihren sozialen Beziehungen kennen. Die Lektüre soll dazu anregen, die vielfältige soziale Wirklichkeit ehrenamtlich aktiver Gewerkschafter:innen wahrzunehmen und dabei Zusammenhänge und Verbindungen herzustellen. Der vorliegende Band hält keine Prognose über die Gegenwart und Zukunft der Betriebsratsarbeit im Besonderen und des gewerkschaftlichen Engagements im Allgemeinen bereit. Es geht um das Sichtbarmachen sozialer Wirklichkeit. Unser Ziel dabei lautet, ein eindrückliches Bild aktiver Gewerkschafter:innen zu zeichnen und deutlich zu machen, dass diese ihre Energie und ihre Überzeugung aus der konkreten betrieblichen Praxis, aber auch aus gesellschaftlichen Erfahrungen gewinnen. Daraus ergeben sich wissenschaftliche und für die Gewerkschaftsarbeit relevante Befunde, Erkenntnisse und Schlussfolgerungen, die sowohl in den einzelnen Kapiteln als auch in deren Zusammenspiel sichtbar werden.

Als Autor:innenteam waren wir von unseren Gesprächspartner:innen in doppelter Hinsicht sehr beeindruckt. Beeindruckend ist erstens, dass und wie sich unsere Befragten in komplizierten Zeiten den komplexen Herausforderungen betrieblicher Interessenvertretung und deren Gestaltung annehmen. Beeindruckend ist zweitens aber auch die normative Grundorientierung, die viele unserer Gespräche prägte. Werte wie soziale Gemeinschaft, Solidarität und Engagement für soziale Gerechtigkeit werden von den allermeisten Befragten sehr hoch gehalten. Zugleich sind viele davon überzeugt, Dinge zum Besseren beeinflussen zu können, und schließlich teilen nahezu alle das Wissen, auf die institutionelle Stärke einer Gewerkschaft zurückgreifen zu können.

Wir schulden der IG Metall großen Dank. Sie ist mit uns das Wagnis eingegangen, ausgehend von einer kleinen Gruppe auf große Fragen der eigenen Organisation zu blicken. Auf Vorstands-, Bezirks- und Geschäftsstellenebene ebenso wie in Bildungszentren wurden uns bereitwillig und unkompliziert Türen geöffnet. Unser Dank gilt den Hauptamtlichen der IG Metall, die sich auf unser Forschungsprojekt einließen und uns willkommen hießen. Tanja Smolenski, Klaus Abel und Jörg Hofmann haben das Projekt von seinem ersten Schritt an mit dem konstruktiv-kritischen Blick von Gewerkschafter:innen begleitet, uns unterstützt und zum Gelingen des Projektes maßgeblich beigetragen. Und: Sie haben Position bezogen, uns aber die Freiheit und den Spielraum belassen, der für wissenschaftliche Forschung unabdingbar ist. Unser Projekt war von einer konstruktiven Spannung von »Engagement und Distanz« (Norbert Elias) getragen – Besseres kann man über das Zusammenwirken von gesellschaftlicher Praxis und wissenschaftlicher Expertise nicht sagen.

Marliese Weißmann hat bis zur Geburt ihres Kindes das Projekt sowohl konzeptionell als auch in seiner praktischen Durchführung wesentlich mit vorangetrieben und wichtige Impulse gegeben. Lena Schulz hat während der Vorbereitung des Projekts einen Literaturbericht geschrieben, der in Teilen in Kapitel I.2 eingegangen ist. Julia Lischewski hat uns bei der Konzeption und Auswertung der Repräsentativbefragung unterstützt. Wir danken ihnen sowie Claudia Bade und Inga Kilian, die in den verschiedenen Phasen der Untersuchung als studentische Mitarbeiterinnen beteiligt waren, und Janina Horchelhahn aus dem Sekretariat des SOFI, die uns bei der Manuskripterstellung unterstützt hat. Unser herzlicher Dank gilt ebenfalls den Kolleg:innen aus dem wissenschaftlichen Beirat, die stets mit konstruktivem Rat dem Projekt zur Seite standen. Nicht zuletzt möchten wir ausdrücklich den Ehrenamtlichen der IG Metall unseren Dank aussprechen, allen voran den Interviewpartner:innen und zahlreichen Diskutant:innen aus den Betrieben, Geschäftsstellen und Bildungszentren, ohne die die Durchführung des Projekts nicht möglich gewesen wäre.

Göttingen, Oktober 2023

Martin Kuhlmann, Milena Prekodravac, Stefan Rüb und Berthold Vogel

I.Einleitung

1.Ausgangsüberlegungen

Die IG Metall wird vor Ort und im Betrieb von ihren in Betriebsräten und Vertrauenskörpern ehrenamtlich aktiven Mitgliedern getragen. Doch inwieweit verstehen sich die Ehrenamtlichen als Repräsentant:innen ihrer Gewerkschaft? Wo verorten sie sich selbst in Gesellschaft, Gewerkschaft und Betrieb? Welche Handlungsmacht schreiben sie sich, aber auch der Gewerkschaft dabei jeweils zu? Was zeichnet ihr soziales und politisches Selbstverständnis aus? Welche Vorstellungen haben sie, wie sich Gesellschaft, Gewerkschaft und Betrieb entwickeln und verändern? Mit welcher Haltung und auf der Grundlage welcher Werte formulieren sie Ziele und Perspektiven von Wandel und Veränderung? Kurz: Wer sind diejenigen, die die IG Metall jetzt und in der Zukunft in Betrieb und gesellschaftlichem Alltag repräsentieren?

Das Forschungsprojekt, das wir, ein Team von Forschenden des Soziologischen Forschungsinstituts (SOFI) Göttingen, von 2020 bis 2022 im Auftrag der IG Metall durchführten, zielte darauf, diese Fragen systematisch anzugehen. Denn vieles spricht dafür, dass in Zeiten weitreichender Transformationen von Erwerbsarbeit und Betrieb, die überdies von neuen »autoritären Versuchungen« (Heitmeyer 2018) politisch begleitet werden, den Betriebsrät:innen und Vertrauensleuten eine zentrale Gestaltungsfunktion mit Blick auf die Zukunft der IG Metall zukommt.

Die Studie adressierte zugleich grundsätzliche gesellschaftspolitische und -diagnostische Aspekte der Repräsentation, des Institutionenvertrauens und der inneren Verfasstheit von politischen Organisationen. Gerade in der heutigen Zeit, in der demokratische Institutionen vermehrt angezweifelt und auch angegriffen werden, ist es wichtig, nach den Stabilitätsbedingungen gewerkschaftlichen Handelns zu fragen. Und diese Stabilitätsbedingungen hängen wesentlich von den Träger:innen der Gewerkschaftsarbeit im Betrieb ab. Es waren daher die Gesellschaftsbilder dieser Trägergruppen, die das Projekt interessierten.

Forschung, die auf die Erfassung und Rekonstruktion von Gesellschaftsbildern zielt, erfordert vor allen Dingen eine offene Herangehensweise. Deshalb haben wir die Gesellschaftsbilder von Betriebsrät:innen und Vertrauensleuten in ihrer betrieblichen, lebensweltlichen und biografischen Grundlegung primär mithilfe eines qualitativen Forschungsdesigns untersucht. Zugleich wurden diese qualitativen Befragungen und Beobachtungen durch eine standardisierte Erhebung begleitet und ergänzt.

1.1Betriebsrät:innen und Vertrauensleute im Blick der Sozialforschung

Das Projekt konzentrierte sich auf Mitglieder der IG Metall, die in den Betrieben Wahlämter übernommen haben und hierdurch ehrenamtlich aktiv sind. Dies können gewerkschaftliche Funktionen als betriebliche Vertrauensleute sein, aber auch Ämter im Rahmen gesetzlicher Regelungen: im Betriebsrat, mitunter auch in der Jugend- und Auszubildendenvertretung oder als Schwerbehindertenvertreter:innen. Diese ehrenamtlich in den Betrieben aktiven IG Metaller:innen zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich in dem Dreieck Gesellschaft–Gewerkschaft–Betrieb bewegen und darin positionieren müssen. Sie sind Mandatsträger:innen im Betrieb sowie Funktionsträger:innen und zugleich Repräsentant:innen der IG Metall – aber eben auch eingebunden in weitere arbeits- und lebensweltliche Kreise. Sie agieren in familiären, freundschaftlichen und nachbarschaftlichen Nahbeziehungen, engagieren sich in Vereinen oder zivilgesellschaftlichen Organisationen und nehmen in vielfältiger Weise am lokalen und regionalen Leben teil. Sie beobachten und bewerten dies etwa durch die Nutzung verschiedener Medien, aber auch durch Gespräche im privaten oder betrieblichen Umfeld. Kurzum, die ehrenamtlich aktiven Gewerkschafter:innen haben eine Position in ihrem Betrieb, entwickeln eine Haltung zu ihrer Funktion und machen sich ein Bild von der Gesellschaft, in der sie sich bewegen. Um Gesellschaftsbilder, ihre Entstehung, Entwicklung und Verfestigung, zu untersuchen, war es für das Projekt zentral, Betriebsrät:innen und Vertrauensleute innerhalb des beschriebenen Dreiecks in den Blick zu nehmen.

Seit einigen Jahren erlebt die arbeitssoziologische Bewusstseinsforschung einen Aufschwung. Richtete sich das Forschungsinteresse noch in den 1970er-Jahren auf ein generelles Arbeiterbewusstsein und deren Prägung durch Arbeitserfahrungen, zeigt sich heute ein breiteres Verständnis von Zusammenhängen zwischen Arbeitserfahrungen, Lebensweisen und Orientierungen von Arbeitnehmer:innen im Rahmen sozioökonomischer Veränderungen (Splett 2023; Grimm u.a. 2022; WSI-Mitteilungen 2016). Der Fokus der Bewusstseinsforschung ist universaler und zugleich unspezifischer geworden. Es geht um ein allgemeines Krisenbewusstsein oder um die Frage, ob Prekarität eine sich ausbreitende Erfahrung ist, die sich nicht nur an den »Rändern der Gesellschaft«, sondern ebenso in deren »Mitte« findet. Auch der Rechtsruck, der Wahl für Wahl zum Ausdruck kommt, provoziert die Frage nach Mentalitäts- und Bewusstseinsverschiebungen – nicht zuletzt der Arbeitnehmer:innen. Bei der Renaissance der Bewusstseinsforschung spielen allerdings betriebliche Konstellationen (von Ausnahmen wie Kratzer u.a. 2015 abgesehen) oder betriebliche Gruppen wie Betriebsrät:innen und Vertrauensleute keine zentrale Rolle. Wenn nach gesellschaftlichem Bewusstsein gefragt wird, dann geschieht dies entweder allgemein für die Gruppe der Lohnabhängigen (vgl. Dörre u.a. 2013) oder mit einem engeren Blick auf spezifische politische Orientierungen, wie dies bei neueren Studien zum Rechtspopulismus der Fall ist (vgl. Sauer u.a. 2018; Lütten/Köster 2019).

Wir sind einen anderen Weg gegangen. Um zu verstehen, wie Betriebsrät:innen und Vertrauensleute sich in ihrem betrieblichen und gesellschaftlichen Umfeld sehen und warum sie handeln, wie sie handeln, braucht es einen Zugang, der Betrieb und Büro genauso in den Blick nimmt wie das außerbetriebliche Umfeld und der die Aufmerksamkeit nicht ausschließlich auf gewerkschaftlich-institutionelle Zusammenhänge richtet. Die Erkenntnisse der Gesellschaftsbildforschung von Heinrich Popitz, Hans Paul Bahrdt, Ernst August Jüres und Hanno Kesting in den 1950er-Jahren weisen zum einen mit Nachdruck darauf hin, dass sich die politische Vorstellungswelt nicht allein im Betrieb entwickelt, sondern auch (und möglicherweise stärker als vermutet) in vor- und außerbetrieblichen Erfahrungsräumen (Familie, Schule, Freundeskreise, Medien etc.). Und zum anderen stehen betriebliches und außerbetriebliches politisches Denken und Handeln, also das Engagement, stets in einer Wechselwirkung: etwa in Bezug darauf, inwieweit betriebs- und gewerkschaftspolitisches Engagement im familiären oder freundschaftlichen Umfeld unterstützt und anerkannt, als selbstverständlich wahrgenommen und gefordert oder aber eher abgelehnt wird.

Das Forschungsinteresse der Studie richtete sich daher auf die Situationsdeutungen und auf das (gewerkschafts-)politische Handeln im Betrieb, zugleich aber auch auf das biografische Gewordensein und das Eingebettetsein in familiäre, nachbarschaftliche oder vereinsbezogene Kontexte. Betriebsrät:innen und Vertrauensleute sind nicht nur betriebliche Funktionsträger:innen; sie leben zugleich in einer Familie, in Nachbarschaften, Freundschaften und lokalen Bezügen. Diese Perspektive findet nicht nur in der Forschung wenig Beachtung, sondern kommt auch in gewerkschaftlichen Debatten oftmals zu kurz.

Dabei werden das private und öffentliche Lebensumfeld der gewerkschaftlichen Repräsentant:innen ebenso wie die Erwerbsarbeit selbst durch Prozesse des demografischen, digitalen und sozial-ökologischen Wandels herausgefordert. Generationenbeziehungen und Geschlechterverhältnisse verändern sich. Das Leben in Kleinstädten und Dörfern erhält neue Konturen. Wohnen und Pendeln werden ebenso zu einem übergeordneten Thema wie Pflege und Gesundheit. Fragen der Migration bestimmen das gesellschaftliche Klima. Die Unsicherheit über die Folgen von Digitalisierung, Krieg und multiplen Krisen ist groß – man denke nur an die Klimakrise, den Ausstieg aus fossilen Energieträgern, die zunehmenden geopolitischen Unsicherheiten und Migrationsbewegungen, aber auch die anhaltenden Folgen der Transnationalisierung industrieller Produktion. Kurzum, eine Organisation wie die IG Metall, die betrieblich und gesellschaftlich mit einem starken Gestaltungsanspruch auftritt, ist mit einer Vielzahl von Transformationsfeldern konfrontiert. In diesen Feldern muss sich auch die aktive Gewerkschaftsbasis lokal wie betrieblich bewegen und positionieren.

1.2Die Frage der Gesellschaftsbilder

Mit Bezug auf Popitz u.a. (2018 [1957]) sind Gesellschaftsbilder nicht als isolierte Vorstellungen von Gesellschaft zu verstehen, sondern zusammen mit einer Selbstverortung in der Gesellschaft zu konzipieren. Gesellschaftsbilder haben insofern eine sozialstrukturelle und positionsbezogene Komponente. Dabei geht es darum zu verstehen, wie Gesellschaft geordnet und welche Bilder von Gesellschaft gezeichnet werden. Dies können beispielsweise hierarchische Bilder von Klassen und Schichtungen im Sinne von oben, Mitte und unten sein oder auch Bilder von Innen und Außen, die Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit zum Beispiel in betrieblichen Bezügen unterscheiden. Damit verbunden ist dann die Frage: Was ist mein Standort in den Hierarchien und Machtstrukturen, in den Konfliktfeldern und Interessengruppierungen der Gesellschaft? Sich ein Bild von der Gesellschaft zu machen heißt, sich zuzuordnen und abzugrenzen. In welchen Raumdimensionen wird gedacht: betrieblich, lokal, national, transnational? Wer gehört zu »uns«, wer nicht? Was sind Identifikationsgruppen? Welche und wessen Meinungen sind diskutabel, welche nicht? Mit Gesellschaftsbildern ist zudem die Frage nach der subjektiven Handlungsmacht, nach subjektiv wahrgenommenen Handlungs- und Gestaltungsspielräumen in Gewerkschaft, Betrieb, Gesellschaft verknüpft: Was wird als veränderbar begriffen und was nicht (Technik, Markt/Wettbewerb, staatliches Handeln etc.)? Was ist die Griffhöhe gedachter Veränderungen? Wodurch sind gesellschaftliche Entwicklungen gekennzeichnet?

Das Projekt beabsichtigte, Antworten auf die Fragen zu geben, die aktuell innergewerkschaftliche Debatten antreiben, aber auch mit Blick auf die Außenperspektive auf Gewerkschaften von hoher Relevanz sind. Welche Vorstellungen haben Betriebsrät:innen und Vertrauensleute im Hinblick darauf, wie sich Gesellschaft, Gewerkschaft und Betrieb entwickeln und verändern? Verbinden sie mit ihrer Tätigkeit spezifische gesellschaftspolitische Ziele, oder konzentrieren sie sich auf Fragen der Interessenvertretung im Betrieb? Denken sie im Sinne eines erweiterten Mandats gewerkschaftlicher Tätigkeiten, wie es etwa Oskar Negt (2004) beschrieben und den Gewerkschaften empfohlen hat? Welche Rolle spielen Überlegungen zu Macht und Solidarität? Wie verorten sie sich in Gesellschaft, Gewerkschaft und im betriebspolitischen Handlungsraum? Welche Handlungsmacht schreiben sie sich, aber auch ihrer Gruppe oder Organisation (Betriebsrat, Vertrauenskörper, IG Metall) jeweils zu?

Die Fragen zeigen, dass es bei der Erforschung von Gesellschaftsbildern um weit mehr geht als um die Darstellung von Meinungen oder Ansichten. In ihnen manifestiert sich eine verortete und verzeitlichte Sicht auf die eigene und die allgemeine Arbeits- und Lebenswelt. In Gesellschaftsbildern spiegeln sich Orte, an denen Menschen leben und arbeiten. Gesellschaftsbilder haben eine lokale und sozialräumliche Komponente, sie sind geprägt von den Milieus, in und zwischen denen sich Menschen bewegen. Es geht um Zeitpunkte und zeitliche Kontexte, an und in denen Erfahrungen gemacht werden. Gesellschaftsbilder haben eine temporale Komponente, die sich als Generationenerfahrungen manifestiert. Zugleich fließen in Gesellschaftsbilder Deutungen und Erwartungen ein, die Menschen an ihre Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft haben. Darauf beziehen sich beispielsweise Abstiegsängste, aber eben auch Hoffnungen, die Gesellschaft mitgestalten und verbessern zu können. Insofern spielen auch normative Vorstellungen und Handlungsorientierungen eine Rolle. Die biografische Grundlegung von Gesellschaftsbildern ist hier ebenfalls von Bedeutung. Sie sind familiengeschichtlich und herkunftsbezogen aufgeschichtet. Die biografischen Erfahrungen, aber auch die derzeitige Lebenssituation prägen die Bilder, die sich jede:r einzelne von der sozialen Umwelt macht. Gerade deshalb bedarf es intensiver Fallstudien mit starken biografisch-narrativen Interviewanteilen.

Das Forschungsprojekt war als explorative Mixed-Methods-Studie angelegt, die nach Gesellschaftsbildern von Betriebsrät:innen und Vertrauensleuten fragt und deren Entstehen auch in lebensweltliche Kontexte stellt. Es kombinierte Methoden der qualitativen und quantitativen Sozialforschung mit dem Ziel, den Anforderungen an Breite und Tiefe der Erhebung unter Beachtung verfügbarer Ressourcen Rechnung zu tragen. Das Untersuchungsdesign bestand aus vier Elementen. Einem breiten explorierenden Einstieg mit Interviews und Gruppendiskussionen (1) folgte eine auf eine gut ausgewählte, kleine Zahl an Befragten fokussierte Intensiverhebung (2), die mittels einer Repräsentativbefragung (3) geöffnet und von einem Prozess der Rückkopplung, Reflexion und Diskussion zentraler Befunde in der IG Metall (4) begleitet wurde (vgl. hierzu im Einzelnen Kapitel II).

2.Gesellschaftsbilder-Ansatz

2.1Forschung zu Gesellschaftsbildern

Die Forschung zu Gesellschaftsbildern ist mehrdeutig und verfügt nicht über einen klar definierten Forschungsansatz. Methodisch nähert sie sich dem Gesellschaftsbild klassischerweise mithilfe von qualitativ-interpretativen Verfahren. Das Ziel ist die Rekonstruktion von Typen. Für Johann-Ulrich Sandberger (1983) haben Gesellschaftsbilder drei Funktionen: Sie ergänzen Erfahrungen, sie kanalisieren Informationen und Wahrnehmungen und sie steuern Handeln. Um die Primärerfahrungen zu ergänzen, werden Vorstellungen über Phänomene und Sachverhalte entwickelt, die nicht durch eigene Erfahrungen auf ihren Realitätsgehalt geprüft werden können. Gesellschaftsbilder bieten demnach Orientierung in der komplexen sozialen Wirklichkeit, die nicht durch die Erfahrungen eines Einzelnen erfasst werden kann. Die zweite Funktion von Gesellschaftsbildern liegt in der Selektion von Wahrnehmungen und Vorstellungen, die nicht mit dem bisher Erlebten übereinstimmen. Kommt es zu einer erhöhten Diskrepanz zwischen Erfahrungen und Vorstellungen, wird das Gesellschaftsbild überarbeitet oder durch ein anderes ersetzt. Gesellschaftsbilder dienen zudem drittens der Orientierung und Steuerung bewussten Handelns.

Gesellschaftsbilder unterscheiden sich im Hinblick auf ihre Reichweite, Kohärenz und Widerspruchsfreiheit, aber auch hinsichtlich ihres Realitätsgehalts, ihrer Affekt‑ und Wertbesetzung sowie des Grads ihrer Interessenbindung (Sandberger 1983). So differenzieren beispielsweise Jürgen Habermas, Ludwig von Friedeburg, Christoph Oehler und Friedrich Weltz (1961) in ihrer Studie zum politischen Bewusstsein von Frankfurter Studierenden je nach Geschlossenheit und Reichweite der zugrundeliegenden Bewusstseinsformen zwischen autochthonen, modifizierten und realistischen Gesellschaftsbildern.

In den 1950er-Jahren forschten Popitz, Bahrdt, Jüres und Kesting über viele Monate hinweg in der Hüttenindustrie in Duisburg-Rheinhausen und verfolgten einen für die damalige Zeit innovativen Ansatz. Sie analysierten detailliert die jeweiligen Arbeitsprozesse, lebten vor Ort und befragten 600 männliche Arbeiter mittels offener und geschlossener Fragen zu ihren Arbeitsbiografien und zu ihrer Meinung über die gerade erst wiederbelebte und institutionalisierte Mitbestimmung in Betrieb und Unternehmen. Sie fragten nach persönlichen Wünschen und gesamtgesellschaftlichen Zukunftsvorstellungen, aber auch nach individuellen Ängsten. Damit adressierten die Forscher die Arbeiter sowohl in ihrer Tätigkeit und ihrer gesellschaftlichen und zeithistorischen Positionierung als auch hinsichtlich der Haltungen und subjektiven Einschätzungen.

Das Erkenntnisinteresse lag angesichts des erst wenige Jahre zurückliegenden Nationalsozialismus auf dem »demokratischen Potenzial der Arbeiterschaft«, wie es einleitend Jochen Dreher zu dem 2018 neuaufgelegten Werk Das Gesellschaftsbild des Arbeiters nennt.1 Dort zeigt sich eine »Topik des Sozialen«, die Popitz u.a. in Form von sechs Gesellschaftsbildern darstellen und aus den Gesprächen mit den Arbeitern des untersuchten Betriebs rekonstruieren. Diese sechs Gesellschaftsbilder entsprechen Ordnungsvorstellungen in einer Zeit des institutionellen und sozialen Umbruchs. Sie geben Aufschluss über den einzelnen Menschen in der Gesellschaft sowie seine Bezugnahme auf die Welt, die zugleich seine Sichtweise prägt.

Die Autoren gehen von der Grundannahme aus, dass jeder Mensch zu einem gewissen Grad gezwungen ist, handlungsleitende Vorstellungen zu entwickeln, die nicht unentwegt einer Erfahrungs‑ und Realitätskontrolle unterzogen werden können. In einer extremen Variante kann es so zu einer »doppelten Realität« kommen: auf der einen Seite die Erfahrungswelt, die sich aus real erlebten Ereignissen speist, und auf der anderen Seite eine »soziale Bildwelt«, die eine selbstständige Eigendynamik entwickeln kann und dabei im Extremfall resistent gegenüber Veränderungen des eigenen Erfahrungshorizonts ist. Wie entwickeln sich vor diesem Hintergrund also in sich konsistente Gesellschaftsbilder? Die Autoren greifen hier auf den Begriff der »Verortung« zurück. Demnach verorten sich Menschen in der Gesellschaft, in dem sie die Objektwelt abhängig von ihren jeweils zugesprochenen Bedeutungen in eine Rangordnung bringen. Neben der Strukturierung wohnt der Verortung also auch ein Moment der Bewertung der Objekte sowie der Distanzierung gegenüber Menschen mit unterschiedlichen Tätigkeitsfeldern und Bedeutungszuschreibungen inne. Da Erfahrungen immer nur partiell sind und nie vollständig die gesamtgesellschaftliche Komplexität abbilden, müssen Vorstellungen entwickelt werden, die »über die eigenen unmittelbaren Erfahrungen hinausgehen«. Aus diesen Vorstellungen bildet sich ein Schema, welches der Interpretation und Bewertung von gesellschaftlichen Erfahrungen dient. Dieses Schema, das von den Autoren als Gesellschaftsbild bezeichnet wird, sei nicht statisch, sondern könne auch Reflexionsprozessen unterworfen sein. Nichtsdestotrotz gehen Popitz u.a. davon aus, dass ein Gesellschaftsbild nur dann »funktionieren« kann, wenn es eine gewisse Stabilität sowie Kohärenz besitzt und ein »Mehr« als die eigenen Erfahrungen enthält. Die soziale Verortung und das Gesellschaftsbild bedingen sich folglich wechselseitig: Zur sozialen Verortung bedarf es eines Gesellschaftsbildes und das Gesellschaftsbild konstituiert sich aus Vorstellungen, denen eine bestimmte soziale Verortung anhaftet.

Folglich haben Popitz u.a. zunächst die eigenen Erfahrungen der Befragten untersucht und im nächsten Schritt deren Sichtweisen auf die Gesellschaft ermittelt. Auf Grundlage der skizzierten Konzepte wurde das Gesellschaftsbild des Arbeiters entlang von sechs Typen rekonstruiert.

Bei einem guten Drittel der insgesamt 600 Befragten fanden sich Vorstellungen von der Gesellschaft als statisches oder progressives Ordnungsgefüge. Beim ersten Typus wird die Gesellschaft als statische Ordnung begriffen: Er ist durch eine individuelle Zufriedenheit gekennzeichnet. Die eigene Situation wird hierbei nicht als bedroht oder gefährdet wahrgenommen, wobei die Aufgaben und Interessen, die mit den jeweiligen sozialen Rollen einhergehen, als »sinnvolle und notwendige gesellschaftliche Funktionen hingenommen« werden (Popitz u.a. 2018, 210, Hervorhebung im Original). Demgegenüber betrachtet der zweite Typus das Ordnungsgefüge als progressiv und ist durch sechs Merkmale gekennzeichnet. Zum einen orientiert sich seine Zufriedenheit an einem Entwicklungsstand und nicht wie bei dem ersten Typus an einer Konstante. Zweitens werden aufgrund des technischen Fortschritts weder katastrophale noch bedingungslos optimistische Prognosen erstellt. Drittens ist der zweite Typus eng an die Gewerkschaft gekoppelt und vertritt dementsprechend die Annahme, dass jegliche Initiative von der Arbeiterbewegung ausgehen muss. Der zweite Typus vertritt viertens die Annahme, dass ein Ausgleich der Arbeitgeber‑ und Arbeitnehmerinteressen möglich ist. Des Weiteren ist dieser Typus dadurch gekennzeichnet, dass die Funktion des Arbeitgebers anerkannt und als notwendiger Anreiz für die Arbeit selbst betrachtet wird. Letztlich ist das wichtigste Merkmal dieses Typus die Wandlungs‑ und Entwicklungsfähigkeit des Ordnungsgefüges.

Ebenfalls ein gutes Drittel der Befragten lässt sich dem dritten und vierten Gesellschaftsbildertypus zuordnen. Beide Typen sind dadurch gekennzeichnet, dass die Gesellschaft als unabwendbare Dichotomie von »oben« und »unten« wahrgenommen wird. Während der dritte Typus seine gesellschaftliche Verortung als naturgegebenes kollektives Schicksal wahrnimmt und Arbeitswelt wie Weltpolitik einzig auf Grundlage dieser stereotypen Grundvorstellung interpretiert, ist beim vierten Typus die Oben-unten-Dichotomie Folge individueller Erfahrungen gesellschaftlicher Konflikte und weitgehend erfolgloser sozialer Kämpfe.

Nur ein sehr kleiner Teil der Befragten von nicht einmal fünf Prozent versteht laut dieser Studie die Gesellschaft als Klassengesellschaft im engeren Sinne, wobei auch hier wiederum zwei Typen unterschieden werden.2 Der fünfte Typus sieht die Möglichkeit einer evolutionären Überwindung der Klassengesellschaft durch progressive Reformen. Im Gegensatz dazu geht der sechste Typus, der von Popitz u.a. als »Typus des orthodoxen Marxisten« bezeichnet wird, von der Notwendigkeit der Revolution zur Aufhebung der bestehenden Klassengesellschaft aus.

In den skizzierten sechs Typen von Gesellschaftsbildern lassen sich laut den Autoren zwei Gemeinsamkeiten eines weit verbreiteten, typischen Arbeiterbewusstseins benennen: Zum einen nehmen die Industriearbeiter die Gesellschaft als Dichotomie zwischen den Arbeitern »unten« und den Angestellten »oben« wahr und verorten sich entsprechend. Zum anderen beinhaltet das Arbeiterbewusstsein Elemente eines charakteristischen Leistungsbewusstseins und eines Kollektivbewusstseins. Ein differenziertes Leistungsbewusstsein entlang beispielsweise von Qualifikationsstufen, das, so die Vermutung, eine »Auflösung des Zusammengehörigkeitsgefühls der Arbeiterschaft« zur Folge gehabt haben könnte, zeigt sich der Studie zufolge nicht. Vielmehr entdeckten die Autoren bei allen Befragten Elemente eines arbeiterspezifischen Leistungsbewusstseins, welches den körperlichen, produktiven, primären (d.h. gesellschaftlich grundlegenden) Charakter von Arbeit betont und sich dabei bewusst von der Tätigkeit eines Angestellten distanziert. Aus Sicht der Industriearbeiter fehle bei der Arbeitstätigkeit der Angestellten die unmittelbare Sichtbarkeit und Kontrollierbarkeit, nicht nur aufgrund der häufigen räumlichen Trennung zwischen Produktion und Verwaltung, sondern auch wegen der fehlenden Körperlichkeit der Angestelltenarbeit. Zudem leiste die Arbeiterschaft die wertschaffende Arbeit, auf der der wirtschaftliche Erfolg des Gesamtbetriebes beruht, wohingegen Angestellte lediglich sekundäre, verwaltende und kontrollierende Aufgaben erledigen würden. Das Leistungsbewusstsein ist als Element des Arbeiterbewusstseins also vor allem ein Distanzierungsphänomen, welches durch ein Kollektivbewusstsein ergänzt wird. Denn die Industriearbeiter verstehen sich selbst als ein Teil der Arbeiterschaft. Anstatt den Schwerpunkt auf die individuelle Leistung zu legen, wird zwischen »wir hier unten« und »die dort oben« unterschieden. Weil die soziale Mobilität zwischen den dichotomen Extremen schwierig ist und nur in Einzelfällen gelingt, wird die Arbeiterschaft als sozialer Ort empfunden und dessen Zugehörigkeitsgefühl gestärkt. Angestellte sehen sich, so Popitz u.a., hingegen als Teil einer hierarchisch aufgebauten betrieblichen und gesellschaftlichen Ordnung, in denen ein Oben über ihnen ebenso wie ein Unten unter ihnen existiert, und bilden eine hohe Sensibilität für soziale Statuspositionen und mikropolitische Machtkonstellationen aus.

Laut David Lockwood (1966) ging die Forschung bis dato von zwei Spielarten aus, über die Individuen Vorstellungen gesellschaftlicher Sozialstrukturen bilden: erstens über Fragen der ökonomischen Macht und grundlegender Interessengegensätze, die in gewisser Weise eine Dichotomie voraussetzen (überwiegend vorzufinden in der »Arbeiterklasse«) und zweitens über Fragen des Status und hierarchischer Abstufungen, denen ein relationales Modell zugrunde liegt (überwiegend in der »Mittelschicht« vorkommend). Lockwood fügt dem eine dritte, aus seiner Sicht neu entstehende Denkweise hinzu und identifiziert drei idealtypische »Gesellschaftsbilder von Arbeitern«, die mit unterschiedlichen Formen des sozialen Bewusstseins einhergehen: den Typus des »proletarischen Arbeiters«, dessen Gesellschaftsbild vom Machtmodell geprägt ist; den Typus des »ehrerbietigen Arbeiters«, der über ein hierarchisches Bild von Gesellschaft verfügt; und den Typus des »privatisierten Arbeiters«, der im Gegensatz zu den ersten beiden »traditionellen« Typen weniger durch kollektive Eingebundenheit geprägt ist. Sein soziales Bewusstsein bemisst sich vielmehr am Maßstab des Einkommens sowie an Konsumweisen und beruht auf einem monetären Gesellschaftsbild. Typisch für das Gesellschaftsverständnis dieser von Lockwood auch als »neue Arbeiterklasse« bezeichneten Arbeiterschaft sind (so die in den 1960er-Jahren in England durchgeführten Untersuchungen) die Herauslösung aus festen sozialen Gemeinschaften, eine ausgeprägte Familienorientierung sowie ein instrumentelles, auf einen »cash-nexus« reduziertes Arbeitsverständnis (Goldthorpe u.a. 1967; Goldthorpe u.a. 1970).

Anders als die frühen Gesellschaftsbild-Studien der 1950er- und 1960er-Jahre, die Gesellschaftsbilder in einen engen Zusammenhang zur sozialen Lage stellten, hob Richard Scase in seiner Studie Conceptions of the Class Structure and Political Ideology von 1974 den Einfluss von weiteren Faktoren auf das Gesellschaftsbild hervor. Durch den Vergleich der Vorstellungen über Klassenstrukturen und soziale Mobilität von schwedischen und englischen Arbeitern konnte er zeigen, dass wohlfahrtsstaatliche Institutionen, das Bildungssystem sowie nationale politische Programme Einfluss auf die Vorstellungen über und die Interpretation von Gesellschaftsstrukturen der Arbeiter hatten (Scase 1974, S. 171).

Nachdem das Konzept der Gesellschaftsbilder mehrere Jahrzehnte aus der Forschung zu gesellschaftlichem Bewusstsein von Beschäftigten verschwunden war, hat es in jüngerer Zeit wieder an Popularität gewonnen. Michael Behr, Anja Happ, Klaus Dörre und Margit Elsner unterscheiden auf Basis einer schriftlichen Befragung von 500 Beschäftigten eines ostdeutschen Unternehmens der optischen Industrie vier Gesellschaftsbildtypen (im Sinne von Einstellungstypen zur Gesellschaft): Leistungsindividualisten, liberale Aktivierer, sozialreformorientierte Integrierer und kritische Gesellschaftsdistanzierte (Behr u.a. 2013). Helmut Bremer, Peter Faulstich, Christel Teiwes-Kügler und Jessica Vehse rekonstruierten aus 14 Gruppenwerkstätten mit insgesamt 94 Personen unter dem spezifischen Untersuchungsfokus der Bildungsaspirationen und des Lernhintergrunds sechs Gesellschaftsbilder: Gesellschaft als Meritokratie, als Konkurrenzverhältnis, als Dichotomie, als Statushierarchie, als Maschine und als Solidargemeinschaft (Bremer u.a. 2015).

2.2Eigener Ansatz

Die vorliegende Gesellschaftsbilder-Studie greift die von Popitz u.a. 1957 bearbeitete Forschungsfrage nach den gesellschaftlichen Stabilitätsbedingungen und Veränderungsperspektiven im Zusammenhang mit sozialen Integrations- und Desintegrationserfahrungen auf und rückt sie in einen neuen zeitlichen und sachlichen Zusammenhang. Im Unterschied zu Popitz u.a. sowie späteren Gesellschaftsbilderstudien richten wir unseren Forschungsfokus auf die betrieblich aktive Gewerkschaftsbasis. Wir gehen davon aus, dass das Engagement von gewerkschaftlich organisierten Betriebsrät:innen und Vertrauensleuten in Betrieb, Gesellschaft und Gewerkschaft, in unserem Fall der IG Metall, zur Stabilisierung und Entwicklung gesellschaftlicher Verhältnisse beiträgt. Zugleich prägen, weitergedacht, die Bilder, die sich die betrieblich aktiven Gewerkschafter:innen von der Gesellschaft machen, wiederum die Richtung, Reichweite und Dauerhaftigkeit ihres Engagements – in einer Gewerkschaft, die sich selbst verändert.

Wir schließen an das von Popitz u.a. entwickelte Konzept der Gesellschaftsbilder in zweierlei Hinsicht an. Zum einen gehen wir ebenfalls davon aus, dass die Gesellschaft nicht vollständig erfahrungszugänglich und durchschaubar ist, so dass jede Person gezwungen ist, sich ein Bild von der Gesellschaft zu machen, die hochdifferenziert, komplex und in Bewegung ist. Zum anderen greifen wir die Überlegung auf, dass das Bild, das jemand sich von der Gesellschaft macht, unmittelbar mit der Position, die sich die Person in der Gesellschaft selbst zuschreibt, verbunden ist.

Wir haben das Konzept an die von uns untersuchte Zielgruppe und unseren Untersuchungsfokus insofern angepasst, als wir die in Betrieben ehrenamtlich Aktiven der IG Metall mit ihrem Verständnis und ihrer Praxis des eigenen Engagements zum zentralen Fluchtpunkt unseres Gesellschaftsbilderansatzes gemacht haben. Ein wesentliches Novum unserer Studie betrifft zudem die Ausleuchtung jener Sphären, in der die Gesellschaftsbilder geprägt werden. Nicht nur das betriebliche und gewerkschaftliche Umfeld wurde, wie sonst in der Arbeitsbewusstseins- und Gewerkschaftsforschung üblich, betrachtet, sondern auch das persönliche Nahumfeld und insbesondere die Sozialisation, die über die betrieblichen Erfahrungen hinaus das eigene Bild und die Vorstellungen von Gesellschaft prägen.

Angesichts dieser Ausrichtung haben wir fünf thematische Dimensionen und vier Ebenen der Betrachtung unterschieden, die uns in der Untersuchung der Gesellschaftsbilder leiteten: die Vorstellungen von Macht, Demokratie, Solidarität, den eigenen Platz in der Gesellschaft und die Zukunft gesellschaftlicher Entwicklung einerseits, die Ebenen Betrieb, Gewerkschaft, sozialer Nahraum und Gesellschaft andererseits (siehe Abbildung 1).

Abbildung 1:Untersuchungsdimensionen und Ebenen des Gesellschaftsbilderkonzepts

Vor diesem Hintergrund verstehen wir Gesellschaftsbilder als Vorstellungswelten davon, wie die Gesellschaft entlang von Sozial- und Machtstrukturen, aber auch entlang von gesellschaftlichen Institutionen strukturiert ist, wie sich das soziale Zusammenleben gestaltet, welchen Platz man selbst in der Gesellschaft einnimmt und wie sich die Gesellschaft entwickelt.

Unser Verständnis von Gesellschaftsbildern ähnelt mit der Betonung ihrer normativen und handlungsorientierenden Funktion den Social Imaginaries von Charles Taylor (2004), der mit seinem Konzept historisch situierter normativer Ordnungen (»moral orders«) seinerseits an Edward P. Thompson (1971) anschließt.3 Gesellschaftsbilder verbinden Erfahrungen mit Praktiken und deren Bewertung sowie Bilder von Zukunft und sind prägend dafür, wie Menschen leben: wie sie sich im privaten Lebensumfeld, in der Öffentlichkeit und in ihrem Arbeitsumfeld orientieren und bewegen; wie, wo und wie stark sie sich engagieren; oder auch wie sie sich positionieren und ihre Interessen definieren. Anders als bei Taylor, dem es um die Bestimmung von grundlegenden Merkmalen westlicher moderner Social Imaginaries geht, richtet sich unser Augenmerk dabei auf Unterschiede in den Gesellschaftsbildern der von uns untersuchten IG Metaller:innen, die in Betrieben ehrenamtlich aktiv sind.

Die folgende Tabelle stellt zusammenfassend einige Merkmale des Gesellschaftsbilder-Ansatzes von Popitz u.a. und unseres eigenen Ansatzes vergleichend dar.

Popitz u.a. 1957

eigener Ansatz

Zeitliche

Einordnung

1950er-Jahre

»junge« Demokratie

Mitbestimmung als neue Institution

2020er-Jahre

»reife« Demokratie

Mitbestimmung als etablierte Institution

Unter­suchungs­feld

Hüttenindustrie

ein Betrieb – eine Region

männliche Arbeiterschaft

IG Metall-Branchen

viele Betriebe – verschiedene Regionen

Betriebsrät:innen und Vertrauensleute

Erhebungs­methode

qualitative Einzelinterviews (n=600)

Gruppen- und Einzelgespräche (n=190), Intensiverhebung (n=15), Repräsentativbefragung (n=1.017)

Gesellschafts­bilder

umfassende und wiederkehrende Bilder, Figuren und Vorstellungen, mit denen Menschen sich und Gesellschaft, mehr noch: sich in ihrer Gesellschaft wahrnehmen und beschreiben

sechs Gesellschaftsbilder, denen sich die Mehrheit der Befragten zuordnen ließ

hinter der Praxis liegende, diese motivierende und lenkende theoretisch-konzeptionelle Verständnisse von Gesellschaft in den Dimensionen Macht, Demokratie, Solidarität, gesellschaftlicher Positionierung und Zukunft

vier Gesellschaftsbilder als idealtypische Pole, Bezugnahmen der Befragten auf die Gesellschaftsbilder in unterschiedlicher Weise und Gewichtung

Zeitdiagnosti­sches Erkenntnis­interesse

Welches Gesellschaftsbild hat die (männliche) Industriearbeiterschaft?

Wie ist es um das demokratische Potenzial der jungen Bundesrepublik (besonders in Verbindung mit der Mitbestimmung als neu etabliertes wirtschaftsdemokratisches Element) bestellt?

Inwieweit findet sich bei den Arbeitern ein sozialreformerisches oder sozialrevolutionäres Bewusstsein (mit den damit verbundenen Hoffnungen einer Entwicklung hin zu einer sozialeren und gerechteren Gesellschaft)?

Auf Grundlage welcher Erfahrungen mit Gesellschaft und Vorstellungen von Gesellschaft engagieren sich Betriebsrät:innen und Vertrauensleute?

Welche Art und welcher Grad gesellschaftlicher Veränderungen (Notwendigkeiten, Möglichkeiten) sind adressiert?

Wie ist es angesichts der derzeitigen gesellschaftlichen Krisenprozesse um den wahrgenommenen Wert der Demokratie und die Bereitschaft bestellt, sich dafür zu engagieren und diese zu verteidigen oder gar in Richtung eines Ausbaus wirtschaftsdemokratischer Elemente weiterzuentwickeln?

Wie robust sind Betriebsrät:innen und Vertrauensleute gegenüber rechtspopulistischem Gedankengut?

Tabelle 1:Gesellschaftsbilder-Ansatz im Vergleich

II.Vorgehensweise und Methoden

Der Forschungsprozess, auf dem diese Studie beruht, erstreckte sich auf die Jahre 2020 bis 2022. Er bestand aus vier eigenständigen methodischen Bausteinen, die jeweils unterschiedlichen Phasen zugeordnet werden können. Diese Bausteine und zugleich Schritte unseres Vorgehens sind:

Exploration

Intensiverhebung

Repräsentativbefragung

Dialog und Reflexion

Exploration und Intensiverhebung folgen der Logik qualitativer Sozialforschung und sind durch eine offene und prozessorientierte Herangehensweise geprägt (vgl. Witzel 1985), während bei der repräsentativen telefonischen Befragung geschlossene Fragen zum Einsatz kamen. Schließlich ging es anders als bei den ersten drei Bausteinen in der Phase von Dialog und Reflexion nicht um die Generierung weiterer Daten, sondern um die Erarbeitung von Lesarten des bereits erhobenen Materials der Exploration, der Intensiverhebung und der Repräsentativbefragung sowie um eine interaktive Validierung von Interpretation und Befunden. Der Austausch mit weiteren aktiven Gewerkschafter:innen der IG Metall – obgleich nicht auf diese Phase beschränkt – stand hier im Zentrum. In dieser Phase nahmen wir an zahlreichen gewerkschaftlichen Veranstaltungen teil, stellten interpretative Konzepte und erste Befunde vor und diskutierten intensiv mit Haupt- und Ehrenamtlichen der IG Metall.

Im Verlauf der Untersuchung kam eine Vielzahl von Instrumenten zum Einsatz, die wir im Laufe des Forschungsprozesses jeweils zielgruppen- und forschungsphasenspezifisch entwickelten und in die Erkenntnisse vorangegangener Forschungsphasen eingingen. Diese Instrumente, also Leitfäden, Fragebögen, Moderationskonzepte, Impulse setzende Materialien etc., dienten der Erhebung und Validierung von Daten. Zugleich war ihre Entwicklung auch immer ein Produkt von Interpretationen und damit Bestandteil des Auswertungsprozesses.

1) Die Exploration stand im Zeichen eines breiten Blicks, der es ermöglichte, die Zielgruppe der Betriebsrät:innen und Vertrauensleute kennenzulernen und mit aktuellen Problemlagen in unterschiedlichen Konstellationen vertraut zu werden. Hier wurden vorwiegend Gruppengespräche ausgehend vom betrieblichen und gewerkschaftlichen Umfeld durchgeführt und daraus erste inhaltliche Schneisen geschlagen, die den weiteren Verlauf des Forschungsprozesses mitgestalteten. Im Laufe des Jahres 2020 wurden für die Explorationsphase insgesamt 35 Gruppen- und sieben Einzelgespräche mit 190 betrieblich aktiven IG Metaller:innen geführt.

2) Die Intensiverhebung bildete den eigentlichen Kern des Forschungsprozesses. In dieser Phase, die im Herbst 2020 begann und Ende 2021 ihren Abschluss fand, konzentrierten wir uns auf insgesamt 15 Vertrauensleute und Betriebsrät:innen. Dabei wählten wir diese kleine Gruppe sehr sorgfältig aus dem Kreis derer aus, die wir in den Gruppen- und Einzelgesprächen der Explorationsphase kennengelernt hatten. Im Rahmen der Intensiverhebung führten wir mit diesen 15 Personen noch mindestens zwei sehr ausführliche Gespräche in unterschiedlichen Konstellationen vor Ort (im Betrieb, zuhause oder auch im Café), aber aufgrund der pandemiebedingten Kontaktbeschränkungen zum Teil auch per Videokonferenz. Die kleine Fallzahl korrespondiert mit einer offenen Herangehensweise, die als Sammelbegriff für verschiedene Verfahren der qualitativen Forschung steht. Dabei geht es nicht um Repräsentativität in einem statistischen Sinne. Das Ziel der Auswahl war vielmehr eine möglichst große Spannbreite sowie Differenzierung bei der Auswahl der Gesprächspartner:innen. Im Mittelpunkt der Intensiverhebung standen nicht Einschätzungen zu quantitativen Verteilungen, sondern die Rekonstruktion von sinnverstehenden Mustern, die Gesellschaftsbilder als wiederkehrende, zeitlich gebundene Formationen des Sozialen ausmachen (vgl. Mey/Mruck 2014).4

Mit den 15 Personen, die sich an der Intensiverhebung beteiligten, wurde ein nachhaltiges Arbeitsbündnis geschlossen. In dieser Phase des Forschungsprozesses richtete sich unser Forschungsinteresse darauf, uns intensiv mit den biografischen, lebens- und arbeitsweltlichen Aspekten des Engagements und des gesellschaftlichen wie gewerkschaftlichen Bewusstseins einzelner Betriebsrät:innen und Vertrauensleute zu befassen. Hintergrund dieses Vorgehens war die Annahme, dass sich die Gesellschaftsbilder dieser Gruppe nicht allein aus beruflichen und gewerkschaftlichen Konflikterfahrungen, sondern ebenso aus lebensweltlichen und medial vermittelten Erfahrungen speisen. In diesen Kontexten kommen die fünf von uns als zentral bestimmten Dimensionen Macht, Solidarität, Demokratie sowie Zukunft und gesellschaftliche Positionierung in unterschiedlicher Weise zum Tragen und stehen in je eigener Weise in Beziehung zum Engagement in der und ausgehend von der IG Metall.

3) Die Repräsentativbefragung