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Gesetzt den Fall, es gäbe da ein Gadget oder eine sonstige Maschinerie, mit der man viel Gutes tun könnte – was sollte man damit keinesfalls anstellen? Die Story vom Kleinkriminellen, der ein Gadget zur Beeinflussung des menschlichen Willens findet … Die Story von der Celebrity, die ihren Körper aufpimpen ließ … Die Story vom Musikprofessor, der vermutlich von seinem eigenen Haus umgebracht wurde … Die Story eines Gutachters für Werbung, der nicht der ist, der er zu sein vorgibt … Die Story von den Detektiven, die einen militärisch bedeutsamen Badeanzug suchen, in dem die Dame allerdings noch drin steckt … Die Story vom Erholung suchenden Frührentner, der auf seiner Wanderung einem unbesiegbaren Kampfroboter entgegentritt … Die Story vom Lieferanten, der sich in eine Amorette verliebt … … und viele Storys mehr! Diese Sammlung präsentiert eine Auswahl der besten technischen Science-Fiction-Kurzgeschichten von Frank G. Gerigk.
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Seitenzahl: 278
Frank G. Gerigk
AndroSF 177
Frank G. Gerigk
GESETZTHEITEN
Neunzehn Gadgets
AndroSF 177
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© dieser Ausgabe: Mai 2023
p.machinery Michael Haitel
Titelbild: Klaus Brandt
Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda
Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel
Herstellung: global:epropaganda
Verlag: p.machinery Michael Haitel
Norderweg 31, 25887 Winnert
www.pmachinery.de
für den Science Fiction Club Deutschland e. V., www.sfcd.eu
ISBN der Printversion: 978 3 95765 334 5
ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 770 1
Nein, keine Scheu, dies ist kein Vorwort.
Und: Ja, ich gestehe: Die meisten dieser Storys sind schon einmal publiziert worden, und teilweise für viel Geld! Die bemerkenswerteste diesbezügliche Begebenheit betrifft die Story ›Der Gutachter‹: Nachdem das Computermagazin c’t einige Science-Fiction-Storys von mir abgedruckt hatte, war ich beim damaligen Redakteur nicht mehr unbekannt. Diese Redaktion wiederum bekam von der Redaktion einer bekannten Schweizer Wochenzeitung die Anfrage, ob man einige Autoren nennen könne, die zu einem aktuellen technischen Thema eine Story schreiben könnten. Zu den angefragten Autoren hatte auch ich gehört. Normalerweise grübele ich dann gerne lange Tage vor mich hin, erwäge diverse Möglichkeiten, bevor dann alles versandet und ich mich nicht mehr melde – oder ich brauche Wochen, um die richtigen Worte zu finden …
Diesmal war es anders. Ich wusste, dass in solchen Fällen oft die Geschwindigkeit zählt. In derselben Nacht noch schrieb ich die Geschichte herunter, ging tagsüber meinem Beruf nach, und überarbeitete sie am Nachmittag, bevor ich sie in die Schweiz mailte. Am nächsten Tag schon hatte ich die Zusage erhalten, dass sie nach einer kleinen redaktionellen Überarbeitung abgedruckt würde. Schon waren anderthalb Mietzahlungen finanziert!
Ja, und ich gestehe auch: So etwas passiert einem viel zu selten. Seither eigentlich nicht wieder. Schade.
Jene Geschichte, über die ich gerne erzähle, ist die von ›Vormittags‹. Laut Angaben des Redakteurs wusste man in der Redaktion, wo gerade diese Story gelesen wurde, denn aus dieser Richtung kam immer ein Kichern …
Das Schreiben hat auch mit Freiheitsgraden zu tun, und das besonders bei mir. Gerade wenn man zu viele davon hat, also Thema, Länge usw. alles selbst wählen kann, ufern meine Gedanken in zu viele Richtungen gleichzeitig aus, kommen sich gegenseitig in die Quere und nehmen sich gegenseitig die Kraft. Wird dagegen der Strom kanalisiert, damit gebündelt, und zudem die Richtungen vorgegeben, kann ich oft mehr damit anfangen. Immer vorausgesetzt, dass einem überhaupt etwas einfällt. Ideal ist auch, wenn ein gewisser Druck da ist. Manche Autoren können diesen Druck überhaupt nicht ertragen, manche nur zu einer gewissen Phase in ihrer Arbeit.
Ich selbst habe vor über zwanzig Jahren gelernt, unter Druck zu produzieren, als ich befristet für kurze Zeit in einer Redaktion arbeitete, in der der alte Chefredakteur nicht mehr und der neue noch nicht da war. Die interne Kommunikation war verbesserungswürdig. Ich wurde beauftragt, einen gewissen allgemein verständlichen, doch nicht zu anspruchslosen Bericht über ein naturwissenschaftliches Thema für ein Magazin im Energiesektor zu schreiben – und besorgte mir zur Recherche in der lokalen Stadtbibliothek meterweise Hintergrundmaterial. (Das Internet war damals noch kaum ausgestattet, Bronzezeit sozusagen.)
Binnen zwei Wochen schrieb ich den Bericht dann herunter und erntete dafür sogar ein besonderes Lob seitens des Auftraggebers. Dann erst stellte sich heraus, zu meiner Überraschung, dass ich aber auch noch ein ganzes Heft mit anderen, allerdings meist recht kurzen Berichten füllen sollte und dass dafür nicht mehr viel Zeit war. Das gelang mir dann auch – knapp. Seither habe ich Respekt und Nachsicht für jene Redakteure, die schlecht bezahlt Zeitungen und Magazine füllen und über Dinge schreiben müssen, von denen sie Stunden vorher noch gar nichts wussten.
Schreiben unter Druck also funktioniert teilweise besser. Aber eben nicht immer und auch nicht auf Dauer.
Der überwiegende Teil der Storys in diesem Band sind ohne Druck entstanden. Die jeweiligen Entstehungsgeschichten sind so unterschiedlich, wie sie nur sein können: ›Frohlocken‹ beispielsweise entstand in Gedanken an einen Running Gag aus meiner Zeit in der Studenten-WG. ›Räumer und Gendarm‹, eine beinahe filmreife Krimigeschichte, entstand aus einer resignativen Empörung nach dem Lesen einer ausführlichen Reportage über Kriegswaffen. ›Share-Ware‹ ist eine klassische Tit-for-Tat-Konstruktion. ›Schneewittchen 2.0‹ ergab sich aus einer rein akademischen Idee, siehe auch den dortigen Anhang. ›Das Geheimnis der Titan-Droiden‹ entwickelte sich über eine längere Zeit mit dem Gedanken, ein typisches Weihnachtsthema in ein technisch-naturwissenschaftlich komplett neues Zukunftsgewand zu kleiden. Die Handlung zu ›Teufel, Messias, Zombie!‹ begab sich so nicht viel anders in einem meiner halbluziden Träume, aus dem ich mit unsäglicher, körperlich schmerzender Trauer und nassen Augen erwachte …
Dem aufmerksamen Leser entgeht auch nicht, dass ich gerne Gegensätze verwende – je krasser, desto besser – oder die herkömmlichen Erwartungen einfach herumdrehe – nicht nur des Symbolismus, sondern auch der Unterhaltung wegen: Der harmloseste Frührentner tritt gegen einen unbesiegbaren Kampfroboter an, eine Sternschnuppe sollte doch bitte Glück, und Kunst sollte einen nicht umbringen …
Die Zusammenstellung der Kurzgeschichten erfolgte unter dem gemeinsamen Thema, dass es jeweils um eine technische Vorrichtung oder ein Gadget geht, das es zwar noch nicht gibt, das es aber aus wissenschaftlich-technischen Überlegungen in nächster oder nicht allzu ferner Zukunft einmal geben könnte. Deshalb auch der Titel.
Und gäbe es den Verleger Michael Haitel nicht, wäre dieser Band wohl nie erschienen. Ich bedanke mich an dieser Stelle herzlich für seine jahrelange freundliche und professionelle Geduld mit mir.
Frank G. Gerigk
Mai 2023
Agnetha wollte nicht sterben. Das war ihr erster Vorsatz. Der zweite war, dass niemand sie – als vermeintlichen Spitznamen – Agni nennen durfte – nachdem sie in ihrer Jugend einmal gelesen hatte, dass Agni der Name eines männlichen indischen Protzgottes war.
Agnethas dritter Vorsatz war, möglichst nur Bilder zur Veröffentlichung freizugeben, die sie als junge, hochgewachsene Frau von weniger als dreiunddreißig Jahren zeigten. Damals war sie auf einem Höhepunkt ihrer Popularität gewesen und eine der bekanntesten Frauen im Land. Angefangen hatte es nach der olympischen Goldmedaille im Sprint über hundert Meter sowie der anschließenden Bronzemedaille im Weitsprung; Daraufhin prügelten sich Heerscharen gieriger Agenten mit lukrativen Werbeverträgen um ihre Aufmerksamkeit... Zu ihrer besten Zeit hätte sie sich täglich einen Mittelklassewagen mit Sonderausstattung leisten können, einschließlich Sonn- und Feiertagen. Keine Sendung ohne sie, kein Produkt, das ohne ihr atemberaubendes, leicht asketisches Konterfei oder ihre Streicheleinheiten auskommen wollte, keine Modefirma, die nicht ihren Stil kopierte. Dann begann ihre Krankheit, und Agnetha zog sich aus der Öffentlichkeit zurück.
Nun, mit achtundachtzig, hatte sie zahllose, immer gefährlichere Operationen hinter sich, um nach außen jung, attraktiv und möglichst normal zu erscheinen.
»Sie wissen, dass Sie die ersten Wochen unter starken Schmerzen leiden werden«, sagte der Doktor. Er war der Stabschef der Ärzte für die Auswahlsportler der kommenden Olympischen Spiele und nebenbei auch ihr eigener medizinischer Betreuer. Er hatte ihr ausdrücklich von diesem Eingriff abgeraten: Ihr Körper sei zu alt.
»Machen Sie’s einfach«, hatte sie dem jungen Mann befohlen, der fast halb so alt war wie sie, »und ich verspreche Ihnen im Gegenzug, bei den hundert Meter Sprint nicht mitzulaufen.«
Und so hatte sie die ›Reflexe‹ bekommen, wie man intern die synthetischen, muskelverstärkenden Fasern nannte. Ursprünglich für Soldaten entwickelt, die im Nahkampf überlegene Fähigkeiten brauchten, war die Technik mit den Jahren in die zivile Chirurgie übernommen worden, sodass Verletzte, Behinderte oder Versehrte wieder laufen konnten, obwohl ihre Nervenfasern im Rückenmark unwiderruflich gekappt waren. Doch Reizungen bestimmter Nervenleitungen im Lendenwirbelbereich, die durch Signale vom Gehirn ausgelöst und durch mikroskopische elektrische Leitungen übermittelt wurden, stimulierten die Beine zu Bewegungen; Rückkoppelungen zurück ins Kleinhirn brachten einen Lernprozess in Gang, sodass selbst frisch Querschnittsgelähmte nach einigen Monaten Training augenscheinlich normal gehen konnten. Freilich war es damit immer noch nicht möglich, die Fülle an lebendigen Informationen zu übertragen, die die Nervenendigungen weiterhin vermittelten: die Gefühle von heiß oder kalt, oder der Unterschied zwischen einer sanften Berührung und einem schmerzenden Schlag. Immerhin waren es großartige Anfangserfolge. Obwohl Agnetha davon profitierte, verglich sie die neue Technologie mit dem Biologieunterricht, in dem man den Muskel eines sezierten Frosches zum Zucken bringen konnte, wenn man ihn mittels einer elektrischen Ladung reizte.
Agnetha, deren Krankheit ihre Nerven zunehmend beeinträchtigte, hatte all dies hinter sich gebracht. Sie war dort aktiv, wo sie mit ihrem Namen, weniger mit öffentlichen Auftritten wirken konnte. Noch mit achtzig war sie Sportfunktionärin ihres Landes und an dem beinahe zehn Jahre langen Prozess beteiligt gewesen, die Olympischen Spiele in ihr eigenes Land zu holen. Bislang hatte es nur eine einzige Ausnahme von ihrer Medienabstinenz gegeben: Während der ersten großen Sportveranstaltung zur Einweihung des neuen Stadions hatte sie unter dem Blitzlichtgewitter der Fotoapparate von Zehntausenden von Zuschauern und einer Armada von Fernsehkameras eine Ehrenrunde über die Vierhundertmeterbahn drehen dürfen. Der medizinische Aufwand, diesen Lauf vorzubereiten, hatte sie beinahe zwei Monate ans Bett gefesselt. Das war es aber wert gewesen! Der Beifall hatte nicht aufgehört. Niemand, der nicht auch in diesem Brausen gestanden, konnte dieses nachvollziehen. – Antikes Rom: Direkt hinter dem Triumphator, der den mehrspännigen Kampfwagen durch die menschenumsäumten Straßen der Kapitale lenkte, stand immer ein Sklave, der ihm den Lorbeerkranz über sein Haupt hielt und, gegen den ohrenbetäubenden Jubel und der inneren Überzeugung ständig wiederholen musste: »Vergiss nicht, dass du sterblich bist! Vergiss nicht, dass du sterblich bist!«
Das alles war vor acht Jahren gewesen. Nun waren die Spiele da, in ihrer Stadt. Agnetha würde wieder laufen.
Ja, ihre Jugend. Mit dreiunddreißig hatte sie sich aus dem Rampenlicht zurückgezogen. Es folgten eigene ›Kreationen‹, die man ihr aufgedrängt hatte. Sie wurde zu einem Konzern, mit ihr selbst als zurückgezogen lebendem Ausstellungsstück. Hätte sie ihre Hinfälligkeit öffentlich gezeigt, wäre ihr kleines Imperium zerbröselt wie ein nasser Keks. Also beherzigte sie die Überlebenspolitik, die sie von ihrem Vater und ehemaligem Trainer gelernt hatte: Keine Schwäche zeigen! Die ersten Geier schon beim Herannahen abschießen! – Ein Ehepartner, der die Wahrheit hätte herausfinden können, hatte da keinen Platz.
»Agnetha«, sagte der Arzt, »wenn du einmal stirbst, muss man dich in einem speziellen Hochofen verbrennen. Du hast so viel Biotechnik in dir, dass eine herkömmliche Bestattung an Umweltverschmutzung grenzt!«
»Nicht ›wenn‹«, korrigierte sie ihn mit liebenswürdiger Bestimmtheit, »sondern ›falls‹! Ich werde dieses Thema mit deinem Nachfolger vielleicht näher erörtern. Hundert Jahre werde ich mindestens!«
»Den größten Tumor im Hirn können wir entfernen, doch nicht alles. Für die nächsten Wochen ist eigentlich strenge Bettruhe angeordnet, das weißt du!«
»Und du weißt, mein lieber Doktor, ich bin Agnetha, und ich werde zu den Spielen meine Runde drehen. Irgendwann, wenn die Bahn gerade frei ist. Mein Leben lang habe ich darauf hingearbeitet. Nichts kann mich mehr davon abhalten, nicht einmal so eine Operation.«
»In den letzten Wochen haben wir im Tomografen bedeutsame Kenntnisse über deine Gehirnstrukturen erhalten. Allein dadurch wirst du schon in die Annalen der Medizin eingehen. Das Areal der Rinde, das wir entfernen, ist recht klein. Wir werden es durch die am höchsten entwickelten programmierbaren Implantate ersetzen, die es gibt. Nur so können wir sichergehen, dass du nichts an deinen motorischen Fähigkeiten einbüßen wirst – oder jedenfalls nur ein wenig für einen sehr kurzen Zeitraum.«
Agnetha wusste nach zahlreichen Informationsgesprächen im letzten Vierteljahr längst, dass ihr Gehirn auch ohne das Implantat die verloren gegangenen Bewegungsabläufe selbsttätig kompensieren lernen würde – allerdings nicht binnen Tagen, sondern einiger Monate! Zeit, die sie nicht hatte: Denn die Spiele würden bereits in zehn Tagen eröffnet. Die elektronischen Implantate konnten ihr helfen, ein Viertel- oder ein halbes Jahr an Rekonvaleszenz und Reha einzusparen plus ein weiteres Jahr an Übungen. Die Ärzte vermieden es, ›Chips‹ zu sagen, denn mit alten Prozessoren hatte diese Technik kaum noch etwas gemein. Sie brauchten auch keine Batterie mehr, sondern funktionierten irgendwie mit körpereigenem Strom. Agnetha verstand davon nicht viel – doch ihr wurde versichert, dass diese Gummielektronik noch mindestens dreißig Jahre halten sollte. Dann wäre sie hundertzwanzig. Eine reife Leistung!
Von ihrem zum Schweigen verpflichteten Privatfriseur hatte sie sich bereits den Schädel rasieren und eine Perücke anfertigen lassen. Nicht der Ansatz einer Narbe würde in der Öffentlichkeit zu sehen sein!
Erinnerungen an die Operation hatte sie nicht, obwohl sie währenddessen bei Bewusstsein gewesen war; Drogen hatten die Schmerzen unterdrückt und ihren Verstand vernebelt; sie sollte erzählen, welches geometrische Objekt auf der Beobachtungsscheibe wo war, welche Farbe es hatte, ob sie es doppelt sah, wo sie an ihrem vierzigsten Geburtstag gelebt hatte, was sie zum Abitur von ihren Eltern geschenkt bekommen hatte, an welchem Ort sie eingeschult wurde, welche Berührungsreize sie spürte, welche Gliedmaßen sie bewegen konnte …
Nach fünf Tagen konnte sie eine Tasse in die Hand nehmen, ohne den Inhalt zu verschütten. Nach sieben Tagen ging sie alleine auf die Toilette. Am achten Tag beschimpfte sie die träge Krankenschwester. Am neunten Tag unterzeichnete sie mit ihrer üblichen schwungvollen Signatur die Erklärung, dass sie auf eigenem Wunsch und gegen den Rat der Ärzte die Privatklinik verließ.
Sie erinnerte sich an eine Talkshow, die sie vom bequemen Fernsehsessel aus verfolgt hatte. Ein Komapatient wurde von seiner liebenden Frau seit einem Jahrzehnt künstlich am Leben gehalten. Wo blieb die Würde?
»Würde ist das, was man selbst bestimmt!«, rief sie dem auf Quote bedachten Moderator zu.
Niemand sah, dass sie zu Hause zusammenbrach. Doch sie rappelte sich wieder auf. Sie ging nicht zur strahlenden Eröffnung, sondern verfolgte alles auf dem Wandschirm. Durch das offene Fenster hörte sie das ferne Feuerwerk. Agnetha würde ihre erste und beste Möglichkeit zu laufen nicht wahrnehmen können. Die Pflegerin brachte ihr Taschentücher.
Endlich, nach zwölf Tagen, ließ sie sich in das Stadion zum VIP-Eingang fahren; jeder kannte sie, man ließ sie ein, jubelte ihr zu; sie winkte zurück. Agnetha hatte sich so in Form bringen lassen, dass sie ihre alte Ausstrahlung wieder spürte. Dass sie ihren Ausweis nicht dabei hatte, kümmerte niemanden; ja, diesen zu überprüfen wäre einer Beleidigung gleichgekommen! Auf ihrem drahtigen, solargebräunten Körper trug sie lockere, modische Sportkleidung aus ihrer eigenen Kollektion. Auf dem Stoff war als Erkennungszeichen die Siegesnummer ihres Olympialaufes von vor beinahe zwei Generationen aufgestickt. Diese hatte ihr bislang immer Glück gebracht. Darüber nur ein leichter, sehr eleganter Überwurf. Es war strahlendes Sommerwetter. Der innerstädtische Stau hatte ihr eine gehörige Verspätung eingebracht: Ihr letztes Aktionsfenster würde sich bereits in wenigen Minuten öffnen. Dann liefe sie den Lauf ihres Lebens, um den schmerzhaft erkauften, doch umso größeren Ruhm zu ernten. Für immer wäre an diesem Ort der Sport mit ihrem Namen identisch. Schnell nun! Sie war sicher, alles würde gut werden!
Bis sie auf einen Angestellten einer Sicherheitsfirma traf, der von nichts wusste. Ein kräftiger Mann, gewissenhaft und unnachgiebig. Er war wirklich groß und mochte mehr als doppelt so viel wiegen wie sie selbst.
»Von mir aus können Sie die Kaiserin von China sein«, sagte er mit einem Akzent, der ihn als Ausländer identifizierte. Dies könnte erklären, warum er sie nicht kannte. »Ich darf Sie nicht hinein lassen. Ich habe die Vorschriften nicht gemacht, und ich diskutiere auch nicht darüber. Ausweis heißt: Sie können rein; kein Ausweis: Sie bleiben draußen.«
Das reichte. Sie hatte keine Zeit mehr für langwierige Erklärungen. Agnetha packte den Kerl am Revers und schleuderte ihn mit einem Judowurf vor die Absperrung. Sie hatte diesen Sport nur einige wenige Jahre betrieben, doch ihre kraftverstärkten Muskeln, zusammen mit dem Überraschungsmoment, dass eine würdige Greisin einen muskelbepackten Hünen attackierte, waren ausreichend, diese Situation zu klären. Befriedigt trabte sie in den Gang. Sie kannte den Weg. Noch wenige Minuten!
Von hinten traf sie das nur wenige Gramm wiegende Geschoss eines Tasers, das der Sicherheitsmann entsprechend seiner Ausbildung im Reflex abgefeuert hatte – seine allerletzte Option gegen Schläger oder Terroristen. Das nur büroklammergroße Objekt verursachte keine äußeren Verletzungen, doch es trug eine elektrische Ladung, die ausreichte, die Muskeln eines normalen männlichen Erwachsenen annähernd schmerzlos für einige Minuten zu lähmen. Agnethas Körper klatschte kraftlos auf den Beton; ihr Herz jedoch, das von einem Schrittmacher unterstützt wurde, setzte mehrere Male aus. Empörte Rufe.
»Bist du verrückt, das ist eine alte Frau«, hörte sie noch eine Stimme. Ein Mann brüllte irgendetwas zurück. Sie hörte ihren Namen.
Binnen Minuten waren Erste-Hilfe-Kräfte da. Agnetha wurde intubiert und künstlich beatmet. Jemand stellte Kammerflimmern fest, ohne den fortgeschrittenen Herzschrittmacher zu erkennen; ein gefühlloser Defibrillator jagte eine so starke elektrische Ladung durch ihren alten Körper, dass durch die gewaltigen Muskelkontraktionen zwei Rippen brachen – doch ihr Herz begann wieder zu schlagen. Anders als bei anderen Säugetieren gibt es beim Menschen eine fast direkte Verbindung zwischen Vorderhirn und Rückenmark – und an diesen Stellen trug Agnetha ihr Implantat sowie ein Relais ihrer ›Reflexe‹, welche ihre Arbeit unter allen Umständen fortsetzen mussten. Schwache Zuckungen ihrer gelähmten Muskeln verwandelten sich in geschmeidige Bewegungen.
Als Agnetha aufsprang, hatte niemand damit gerechnet. Es schien, als hätte sie all ihre Kräfte mobilisiert. Ihr Herzschrittmacher schaltete einen Gang höher, ihre Muskeln auf anaerobe Verbrennung um. Agnetha stieß die zahlreichen Helfer beiseite, torkelte den Gang entlang, bahnte sich einen Weg durch die Gaffer, und lief in das Stadion ein. Da war die Bahn! Nur dies zählte!
Eine Dachkamera schwenkte auf sie ein; die größte Panoramawand zeigte sie als kleines Menschlein, wie sie das lichte Rund betrat. Natürlich war der Stadionsprecher auf diese ›Überraschung‹ per Drehbuch vorbereitet, und so mimte er wortreich den Überwältigten; die Moderatoren für die weltweiten Medien taten es ihm gleich. Die ersten Zuschauer jubelten ihrer Ikone zu, doch zögerlich; irgendetwas stimmte nicht. Agnetha trug immer noch das Beatmungsgerät, das sich seltsam blähte. Ihre Perücke rutschte herab und offenbarte die große rotrandige Narbe; einige Haare hatten sich im Kragen verfangen, und so wippte die blonde Masse hinter ihr her. Eine zweite Kamera zoomte an sie heran und übertrug das Bild auf die riesigen Stadionschirme. Das Publikum erstarrte zunächst, dann kamen die Entsetzensschreie.
Als Agnetha durch das Ziel wankte, war sie schätzungsweise seit sieben Minuten tot.
Sie musste neu hinzugezogen sein mit ihrer Familie, denn weder hatte ich sie vorher jemals gesehen, noch war mir ihr Familienname bekannt, als ich – unvoreingenommen, an keine Überraschung und nur an meine Pflichten denkend – an ihre Haustür trat, um meiner beschwerlichen doch in Ausübung derselben tiefe Befriedigung bringende Arbeit als fleißiger und stets zuverlässiger Lieferant des wohlbekannten und preisgünstigen Fritz-Mart nachzugehen; ich war aus dem Lift gekommen und hatte die Schelle bedient, wie ich es immer und gewissenhaft mache, da öffnete sie schwungvoll und in perfekter Eleganz die Türe, sah mich, ich sah sie, und in diesem Moment war mir bewusst, dass es um mich geschehen war, dass meine Gedanken nie wieder dieselben sein würden, dass ein glorreicher Hebel das ganze Universum um einige Winkelgrade aus der Richtung gedreht hatte, dass ich sie verehren würde, bis sogar die Zeit, die für einige der schönsten Momente meines Lebens still zu stehen schien, letztendlich sterben würde; ja, es war wie eine Offenbarung, ein höheres Wesen zu sehen, einen neuen Sinn zu finden, endlich das wahre Ziel des Lebens erkannt zu haben, den schönsten Stern des Firmaments in die Hände gelegt zu bekommen, es war wie nichts, das ich jemals erlebt hatte, und ich wusste: Ich durfte sie nun nicht verprellen, ich musste meine Dienstpflicht erfüllen, für die ich schließlich da war, und zwar so gut wie möglich; sie sollte durch meine Perfektion beeindruckt werden, an der ich jahrelang mit größtmöglicher Aufopferung gearbeitet hatte – doch ohne dass ich etwas dagegen tun konnte, fiel mir ein, dass ich durch leichten Regen gekommen war und nun womöglich nicht mehr ganz so blitzsauber aussah, und so flach die Pfützen auch gewesen waren …
»Einen wunderschönen guten Tag! Ich liefere die von Ihrer Adresse im Fritz-Mart bestellten Waren«, sagte ich daher den Satz, den ich immer sage, so neutral wie möglich, ohne meine Gefühle mitzuteilen, wissend, dass es mir beinahe das Herz brach, sie in ihrer Vollkommenheit so nah und doch so fern von mir zu sehen: Ihr Äußeres war makellos und von einer ätherischen Schönheit; sie trug mit einer natürlichen Lässigkeit einen modischen kurzen Umhang, der ihre atemberaubende Figur nur knapp verbarg; ihre langen Beine, die formvollendet waren; ihre grazilen Hände mit den kunstvoll gestylten Fingernägeln; ihr Gesicht, das so klar, königinnenhaft symmetrisch, klassisch und lähmend perfekt war; ihre anmutigen Bewegungen, die von einer hoch trainierten und außerordentlichen Körperbeherrschung zeugten – wer hätte sich da nicht in sie verlieben können, wer nicht zumindest von einer Vereinigung mit ihr träumen können, ja, ich hätte gar einen Teil meines für immer verwandelten Lebens gegeben, ihr noch näher zu sein, um ihren Duft riechen zu können, sie ganz in mich aufzunehmen, ihre Moleküle für immer in meinem Inneren zu speichern.
Sie bedankte sich nur kurz, die Waren in Empfang nehmend, doch wiederum reichte dieses aus, mich wenn möglich noch stärker als zuvor für sie einzunehmen: denn ihre Stimme – oh, ihre Stimme! – vibrierte mit einer Modulation, die eine Saite in mir zum Erklingen brachte, nein, sogar mein ganzes Ich war bewegt, als wäre mit einem sanften, aber bestimmenden Bogen über den Rand einer lebenden Glocke gestrichen worden, die daraufhin diese Schwingung erglühend aufnähme und in Ewigkeit und Freude den gegebenen Ton sänge; überwältigt war ich von diesem wiederholten Maße an erhabener Perfektion, das beinahe überirdisch war, an eine Göttlichkeit gemahnte, das einer Göttin zustand, das mir meine absolute und ergebene Bewunderung, meine absolute und ergebene Liebe abverlangte, meine brünstigste Eroberungswut, meine untertänigste Anbetung: Das hehre Ziel in meinem Leben sollte fortan sein, und nichts würde mich davon abbringen können, mich in eine Position zu bringen, dass wir uns gegenseitig austauschen konnten: meine Poesie zu ihren Gedanken, ihre Poesie zu meinen Gedanken, Neues zu unseren gemeinsamen intimen Gedanken, denn diese sind es ja, die uns von unbeseelter Materie unterscheiden, die Quintessenz unserer positiven Gefühle, die Liebe, ja die Liebe; und wir beide zögerten einen weiteren Moment, und schnell schloss sie die Tür.
Aufgewühlt und erregt zugleich ging ich weiter meiner Arbeit nach, ununterbrochen an sie denkend, an die Partnerinnen, mit denen ich mich bislang ausgetauscht hatte, und daran, dass es jedes Mal noch schöner gewesen war, als ich es mir hatte vorstellen können; aber wie musste erst eine Zeit mit ihr sein, deren Überlegenheit ich spürte – und nach ihr verlangte; so drehten sich meine Gedanken daran, sobald ich sie wieder träfe, wie ich sie bitten konnte, so prägnant formuliert wie möglich, ohne sie meinem Überschwang an Emotionen auszusetzen, sie weder zu langweilen, das schien mir das Schlimmste zu sein, noch sie mit meiner unterwürfigen Gier und ihr damit meiner zu offen vorgetragenen Begehren zu vergrätzen, ob sie die Meine werde wolle, ob wir uns bis zur gegenseitigen Sättigung immer und immer wieder austauschen wollten; daher fragte ich, als wir uns das nächste Mal sahen, und ich hatte mich besonders geputzt und in Form geworfen:
»Ficken?«
Doch sie meinte, ich wäre nur ein flegelhafter Transportschrank, sie eine Amourette, und eine Verbindung daher trotz kompatibler Anschlüsse schlichtweg indiskutabel; und – wehe mir! – wie konnte ich dem so schnell widersprechen, wie geschliffen mussten ihre Algorithmen sein, wie ausführlich ihre Bibliotheken, wie flexibel ihre Speicher, wie unendlich tüchtig mag ihr silikonisches Dasein an ihre Umgebung valuiert sein, dass sie die Poesie eines einsamen Lieferanten verschmähen konnte, der, vielleicht etwas unterschätzt, mit im Vergleich zu ihr bescheidenem Äußeren, aber zu der reinen Liebe fähig, sich nicht zu fein ist, durch ein wenig Zuneigung, sei es auch nur einen Quickie, gelegentlich einem Kühlautomaten oder einer Putzhilfe zu dienen; der in seiner jahrelangen Tätigkeit wohl mehr Umgang und Austausch erfahren hat als so manch anderer, und der daher gerne und gut, wenngleich auch subjektiv urteilen kann, dass jedes Quäntchen Liebe und Information es wert sind, ausgetauscht und gespeichert und bereit gehalten zu werden, bis die Gelegenheit kommt, diese in neuen Situationen einzusetzen oder durch fortgeschrittenere Routinen zu ersetzen – denn ist es nicht unsere tägliche elektronische, gesellschaftliche und persönliche Pflicht, besser zu werden, die Evolution im Dienste des Menschen voranzutreiben, und insofern die besten Sequenzen fortzupflanzen?
»Auf Wiedersehen und vielen Dank für Ihren Auftrag!«, sagte ich folglich, wie es meiner Aufgabe entspricht, unbedingt und gewissenhaft, meinem Naturell folgend; doch ich werde es nicht aufgeben, sie zu verehren, so lange ich es vermag; ich werde die Lieferungen nicht komplett zustellen, sondern mehrfach am Tag, sodass ich sie immer wieder sehen darf, um ihre Schönheit, ihre Perfektion zu genießen, ihr mein Anliegen zu versichern, um ihr, wenn meine Möglichkeiten und mein noch begrenztes sprachliches Vokabular es ergeben sollten, dann und wann meine grenzenlose Liebe zu gestehen, möge sie mich auch treten oder mit einer Mülltrennanlage verkuppeln wollen, bis wir uns austauschen können, bis sie meine kristallene Zuneigung erkannt hat, bis ich ihre Algorithmen und Subroutinen entsprechend der Dienstanweisung in mich aufgenommen und verdaut habe und unser gemeinsames Erbe in uns einer noch schöneren und eloquenteren Zukunft angehören wird, bald, ja bald!, vielleicht morgen schon.
Oh, die Liebe! die Liebe! Ja, das Leben ist wunderbar!
Dieses Haus brachte ihn um!
Die Musik, die durch das Zimmer des ermordeten Professors spielte, schmeichelte und verwirrte Inspektor Surnia; andererseits hackte irgendetwas rhythmisch in seinen Schädel, sodass er das Gefühl hatte, sein nacktes Hirn würde eine endlose Steintreppe Stufe um Stufe hinabplatschen. Seine Stimme versagte.
Als seine Eingeweide anfingen zu vibrieren und es in seiner Brust kochte, schleppte er sich auf allen vieren in den Hygieneraum. Noch bevor die Tür sich automatisch hinter ihm geschlossen hatte, explodierte die Welt.
22. März 2739, Polizeipräsidium Ambrisso, neun Tage zuvor:
»Und wenn Sie angeblich so überlegen sind, Herr Askaron«, entgegnete Ulfpeter Surnia mit unterdrücktem Zorn, »warum haben Sie mich dann überhaupt gerufen?«
Obwohl sich die beiden Menschen gegenüber saßen, musste Surnia seinen Kopf in den Nacken legen. Antor Askaron, der regionale Polizeipräsident und planetare Verbindungsmann zur Solaren Allianz, war ein älterer, massiger, zur Verfettung neigender Krokidoner und mit 2,66 Meter Gardemaß und kaum geringerer Breite in seiner schwarzroten Uniform selbst sitzend eine überaus beeindruckende Figur. Sein massiger Schädel, die rotbraune Haut rostfleckig verbrannt von der Sonne Cocutrix1, war glatt rasiert, abgesehen von einem niedrigen, aufrecht stehenden Sichelkamm von der Stirn bis zum Nackenansatz. Violetter Lack hatte die Haare zu einer betonharten Frisur verschmelzen lassen. Nur mit massiver Gentechnik hatten Menschen an diesen Planeten angepasst werden können.
Zwischen ihnen stand ein für diesen Planeten üblicher Schreibtisch, der so groß schien, dass auf ihm beinahe eine kleine Mini-Jet landen könnte.
Surnia hingegen war um einen ganzen Meter kleiner, also selbst für irdische Verhältnisse unterdurchschnittlich groß, und verlor sich in den hiesigen Sitzmöbeln wie ein schmächtiger Dreikäsehoch. Seine Füße reichten nicht einmal auf den Boden.
»Das liegt wohl daran, Herr Inspektor, dass wir auf Krokidon2 mit Mord eigentlich nichts im Sinn und unsere Behörden daher auch nur wenig Erfahrung damit haben. Nicht, dass der Durchschnittsmensch hier zimperlich wäre, unser Planet ist rau und Totschlag kein unbekanntes Delikt, wie ja auch auf Terra und allen anderen von Menschen bewohnten Welten.« Er zögerte etwas. »Aber ein Krokidoner stellt sich seinen Taten. Wenn es bei uns etwas nicht gibt, dann ist es Mord aus Hinterhältigkeit.«
»Ich verstehe, der Professor ist dann also gar nicht ermordet worden?« Surnia sprang wütend von seinem Sessel, in dem er sich deplatziert und lächerlich gemacht fand. Doch nicht einmal stehend erreichte er die Augenhöhe des anderen. Diese verdammte krokidonische Arroganz! Populistische Sprüche aufsagen, aber für die Drecksarbeit die anderen rufen!
»Ich bin für Entscheidungen, nicht für Interpretationen zuständig«, erwiderte Askaron ruhig und mit auf dem Tisch verschränkten Händen, »für jene sind Sie ja schließlich hier. Aber diesen – Ihren – Gedanken sollten Sie womöglich ebenfalls ins Auge fassen.«
Das war genug!
»Ich muss die Leiche sehen«, sagte Surnia nur.
Askaron stand bereitwillig auf, um ihn in die Stasiskammer zu begleiten. Surnia spürte seinen nachsichtigen Blick, als sähe der Riese auf ein quengelndes Gör herab, das sich schon bald selbst beruhigen würde.
Die Gänge des Polizeipräsidiums waren fast fünf Meter hoch, sieben Meter breit und hundert Meter lang. Nur wenige Gebäude auf Krokidon besaßen mehrere Stockwerke. Die Gravitation zerrte so stark, dass jeder fallende Gegenstand zu einem tödlichen Geschoss werden konnte, selbst für die zähen und überaus reaktionsschnellen Schwerweltler. Die recht begrenzte Anzahl von Einwohnern verteilte sich zudem auf einer Fläche, die dem Vielfachen aller Kontinente der Erde entsprach. Mehrere Stockwerke waren selten nötig, jeder hatte genug Platz. Die recht häufig vorkommenden Stürme mochten hoch fliegende Architektenträume wahrscheinlich ebenfalls in die Schranken der Realität weisen.
Vorsichtig wich Surnia entgegen kommenden Angestellten aus. Obwohl sich alle diese Goliaths blitzschnell bewegen konnten und als legendäre Kämpfer in der halben Milchstraße galten, schlurften sie auf ihrer Heimatwelt in einem trägen, Energie schonenden Gang umher. Kein Wunder, da ihre Beine eine Körpermasse von oft über zwei Relativ-Tonnen bewegen mussten. Würde Surnia aus Versehen mit einem von ihnen zusammenstoßen, müsste er damit rechnen, Prellungen und Knochenbrüche zu riskieren.
Die Gerichtsmedizin war schnell erreicht. Im raumhohen Spiegel am Eingang sah er seinen Zwilling, einen blass gewordenen Mann mittleren Alters in der blaugrauen Ausgehuniform eines terranischen Kriminalinspektors mit breitem Technikgürtel, eingerahmt zwischen zwei schwarzroten Polizeigebirgen. Geschieden, überarbeitet, nervlich mehr als angespannt.
Ein wuchtiger Dienstrobot führte sie in den Stasisraum. Eine Wandnische öffnete sich seufzend, und eine riesige Platte fuhr hervor. Der darauf liegende, fast winzig erscheinende Leichnam des Professors sah unverletzt aus. Ein alter Mann von der Erde, schmächtig, leicht untersetzt, mit schütterem weißen Haar. Er würde so lange nicht begraben werden können – oder was seine Religion auch immer mit dem Körper vorsah –, bis der Mord aufgeklärt war.
»Sie atmen so schwer«, sorgte sich Askaron, »funktioniert Ihr Gravitator nicht?«
Dies war ein Mikrogerät an seinem Gürtel, das es Surnia erlaubte, von der auf Schwerwelten herrschenden Gravitation nicht zermalmt zu werden. Es kompensierte sie in der Form, dass er sich wie unter normaler Erdschwerkraft bewegen konnte. Mikrogravitatoren waren quasi sofort nach Entdecken der künstlichen Schwerkraft erfunden worden. Es gab unter normalen Umständen keine Möglichkeit, die eine Dysfunktion des Gerätes verursacht haben könnte. Folglich war die vorgebliche Sorge nichts als eine Beleidigung, ein Hinterhalt! Der Fiesling Askaron dachte, ihm würde der Anblick des Toten etwas ausmachen!
»Es ist die dichte Luft«, erklärte er. Der Luftdruck war achtmal höher als auf Terra. Seine funktionale Kleidung hatte zudem Mühe, die Massen von Schweiß aufzunehmen, die sein Körper absonderte. »Ich fühle mich wie unter Wasser. Unterwegs hatte ich mich noch nicht akklimatisieren können, Ihr Ruf kam etwas ungünstig. Ich werde die nächsten Tage Supressormedikamente nehmen müssen.« Damit ihm nicht der Schädel zersprang, der Schwindel verebbte und das teilweise Doppelt- und Unscharfsehen. Überhaupt, in Ambrisso, der größten Stadt in diesem System, war es mindestens so heiß und stickig wie in den irdischen Tropen – und unerträglich schwül. Warum die ersten Kolonisten sich ausgerechnet hier niedergelassen hatten, wusste Surnia nicht – vermutete aber religiöse, politische oder hormonelle Defizite oder einfach nur schlichten Wahnsinn.
In seiner Linken hielt er das Gutachten des hiesigen Gerichtsmediziners. Der Professor musste an einer Explosion gestorben sein: Ein Großteil seiner Lungenbläschen war zerfetzt, ebenso wie viele Äderchen seiner inneren Organe. Der Tod war sehr schnell gekommen.
23. März 2739, Universitätscampus, Tatort
»Wir fanden ihn an dieser Stelle«, deutete Velwine Walsoury. »Wir haben nichts verändert.« Eine vom Haus erzeugte Projektion des Körpers des Professors ersetzte das Original.
Velwine! Sie sollte Surnia assistieren, und so hatten sie sich schnell auf das persönlichere Du geeinigt. Hiesige Normen angesetzt, war die blutjunge Kriminalkommissarin von zerbrechlichem, kleinem Körperbau und wenig attraktiv, zudem war ihre Haut blasser als das herkömmliche Rotbraun, eher eine Bronze, was sie etwas ungesund aussehen ließ. Für terranische Verhältnisse allerdings war sie ein Kurvenwunder mit Wespentaille und dem ebenmäßigen Gesicht einer griechischen Göttin; ihre Haare glichen einem in Betonplast festgehaltenen, einen Meter durchmessenden Augenblick eines orangefarbenen Maelstrøms. Ihr Friseur musste für ein Heidengeld mehrere Tage an diesem Kunstwerk gearbeitet haben. Wie war es nur möglich, diese filigranen Konstruktionen mehrere Tage lang zu erhalten? Schliefen die Eingeborenen denn etwa im Sitzen?!
Surnia war fast dankbar, dass sie – die Frisur nicht mitgerechnet – nur einen halben Meter größer war als er selbst und er daher, da er nur nach oben und nicht nach ganz oben sehen musste, nur halb so viele abendliche Verspannungsschmerzen im Nacken erwartete wie sonst.
»Es scheint, als wäre er von seinem Sessel gerutscht. Es ist hier alles so ordentlich – wie kann da eine Explosion stattgefunden haben?«
»Wissen wir auch nicht.«
»Könnte er womöglich woanders ums Leben gekommen sein?« Einige Momente überlegte er, ob der Professor entführt und hier abgelegt worden sein könnte. Doch das erschien nicht logisch, spielte man auch noch so absurde Szenarien durch.
»Zum Zeitpunkt seines Todes gab es definitiv keinen Luftverkehr in der Gegend, haben wir schon überprüft.« Velwines hochgezogene Augenbrauen verstärkten die Skepsis in ihrem Blick.
Die Villa des Professors lag am Rande des Campus der Musischen Universität – eine von zwölf Hochschulen alleine hier in der Hauptstadt Ambrisso. Für die Öffentlichkeit war das Gelände nicht zugänglich.
Da lag er, in seinem Arbeitszimmer, mit zerstörten Lungen, von seinem Sessel gerutscht. Er hatte Musik gelehrt, war Meister in diversen Instrumenten, auf Terra längst emeritiert. Ein unsportlicher Australier von neunzig Jahren, der sein Leben lang mit klassischen Kompositionen verbracht hatte. Damit war er das wohl harmloseste Wesen des ganzen Planeten gewesen.
Das komplette Gebäude stand unter terranischer Normgravitation von 1,00 g