Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Fatal wäre es, Drachen zu unterschätzen!Wer glaubt, genug über sie zu wissen, hat schon verloren.Diese 23 meisterlichen Geschichten aus verschiedenen literarischen Genres belegen, dass das Thema aktuell, überraschend und packend ist – und gelegentlich fies!Die Print Ausgabe umfasst 352 Buchseiten.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 411
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Drachen! Drachen!
Frank G. Gerigk &Petra Hartmann (Hrsg.)
DRACHEN! DRACHEN!
© 2012 BLITZ-Verlag
Redaktion: Jörg Kaegelmann
Titelbildgestaltung: Mark Freier
Satz: Winfried Brand
Alle Rechte vorbehalten
www.BLITZ-Verlag.de
ISBN 978-3-95719-317-9
VORWORT
Rainer Schorm
SANGUIS DRACONIS
(Phantastik)
Achim Mehnert
IM BANNE QUETZALCOATLS
(Mythic Crossover)
Andrea Tillmanns
DER MECHANISCHE DRACHE
(Kunstmärchen)
Malte S. Sembten
DRACHENFUTTER
(Heroic Fantasy)
Frank G. Gerigk
SAMEN
(Science Fiction)
Christel Scheja
NAYAN DIE GOLDENE
(Fantasy)
Fiona Caspari
HAUTNAH
(Psychothriller)
Hendrik Loy
IM GARTEN DES DRACHEN
(Satire)
Christiane Gref
AUFNAHME NUMMER FÜNF
(Mystery)
Linda Budinger
MITTERNACHTS KOMPASS
(Asian Fantasy)
Miriam Pharo
DER VORHANG
(Horror)
Carsten Steenbergen
IM AUFTRAG DER KRONE
(Steampunk)
Rebecca Hohlbein
GRE.EN.
(Urban Fantasy)
Frank G. Gerigk
DRACHENLAND
(Abenteuer)
Frank W. Haubold
DAS SPIEL DES NARREN
(Science Fiction)
Melanie Brosowski
DRACHEN STERBEN NIEMALS AUS
(Fantasy)
Astrid Ann Jabusch
EUSEBIO
(Klassische Phantastik)
Thomas R. P. Mielke
DER DRACHE VOM ZEDERNWALD
(Götter- und Heldensage)
Karsten Kruschel
VOM URSPRUNG DER REGENDRACHEN
(Robinsonade)
Marc A. Herren
Es ist der Drache, nicht die Nachtigall
Wie leicht macht es den Geschichtenerzählern doch der Drache! Und leicht hat er es ihnen immer gemacht, der Drache.
Sind spannende Geschichten zu erzählen, die über das Alltagsgeschehen hinausgehen, treffen Menschen auf Gefahren und Bedrohungen – und werden diese zu immer größeren und noch dramatischeren Höhepunkten getrieben, wird es nicht lange dauern, und ein Drache wird die Bühne betreten. So ist es, seit Menschen Geschichten erzählen, und so ist es in vielen Kulturen. Ein Prototyp mag Beowulf sein, ein Held wohl aus dem 5. Jahrhundert, der sogar gegen den fast unbezwingbaren Grendel siegreich bleibt, jedoch gegen einen Feuer speienden Drachen den Kürzeren zieht; oder Vortigern, dessen Burg ständig von im Bergesinneren kämpfenden Drachen zum Einsturz gebracht wird; zuletzt gar Siegfried der Drachentöter, welcher im Blute des erschlagenen Drachen Fafnir badet. Auch Mythen über mächtige Schlangenwesen gehen mit den Drachenerzählungen parallel: Herkules beispielsweise muss gegen die Hydra bestehen, ein vielköpfiges Schlangenwesen – doch weil ihm sein Neffe Iolaos hilft, zählt dies nicht zu seinen zehn zu lösenden Aufgaben.
In der biblischen Offenbarung des Johannes kämpft der Erzengel Michael gegen einen siebenköpfigen Schlangendrachen; zu den Kreuzzügen entstand die Sage vom heiligen Georg, dem Drachentöter. Sogar Schiller dichtet einen Kampf gegen den Drachen.
Doch selbst heute, im Zeitalter der Computerspiele, die Versatzstücke aus sämtlichen Kulturen egalisierend Effekten unterordnen, sind Drachen so etwas wie die finalen Monster. Sicher, es mag noch mächtigere Wesen geben, aber jene sind dann nicht mehr von dieser Welt. Drachen jedoch sind es, unzweifelhaft.
Aber wie schwer macht es ihnen der Drache! Gerade den Geschichtenerzählern.
Denn jede Kultur hat ihre eigenen Kreise und Regeln. Jede hat ihren Drachen. Jeder Drache ist anders. Es scheint unzählige Arten von Drachen zu geben. Selbst in den deutschsprachigen Landen hat fast jede Region einen Drachen nach ihrer eigenen Prägung: Man sehe sich beispielsweise die Gestaltung der Stadtwappen verschiedener Städte an: Surava (Schweiz): eine geflügelte Schlange mit Krokodilskopf; Wurmannsquick (Niederbayern): ein zweibeiniges Schlangenwesen, das Feuer speit; Klagenfurt (Österreich): eine zweibeinige, geflügelte Schlange mit Ohren; Wurmlingen (bei Tuttlingen): ein vierbeiniger, Feuer speiender Löwe mit Echsenschwanz; Bad Goisern (Österreich): eine vierbeinige Echse mit Flügeln …
Es sind also zahlreiche Formen zu finden, allein was die Zahl und Ausprägung der Gliedmaßen anbelangt. Nur ein paar Regionen weiter, und wieder gibt es Varianten: In Brontallo (Tessin) ist es eine vierbeinige Echse ohne Flügel; in Tarascon (Südfrankreich) ist der Drache sechsbeinig, und ebenso flügellos. Das Banner des vietnamesischen Königshauses wird gelegentlich von zwei jeweils vierbeinigen Drachen begleitet, die Ansätze von Flügeln sowohl an den Schultern als auch am Becken zeigen. Im Wappen des FC Metz (Frankreich) ist der Drache eine zweibeinige Schlange.
Nimmt man auch noch die mythologischen Beschreibungen hinzu, steigern sich gar die Anzahl seiner Köpfe und Schwänze ins Unübersichtliche; hinzu kommen die abenteuerlichsten Verschmelzungen mit anderen tatsächlichen oder fiktiven Lebewesen oder deren Bestandteilen, sonderliche Fähigkeiten und Eigenschaften, und gelegentlich ist es sehr wichtig zu wissen, ob ein Drache rot, weiß oder goldfarben ist oder drei, vier oder fünf Krallen an den Klauen hat.
Und die Größen! Misst ein jugendlicher alpiner Tatzelwurm kaum einen halben Meter, entstammt Fafnir dem Leib eines Riesen; der Leviathan wird so groß wie ein Wal, die Midgard-Schlange hingegen lebt im Meer und umspannt gleich die gesamte Welt.
Eine auch nur annähernd umfassende taxonomische Beschreibung des Drachen scheint also nur in den Wahnsinn zu führen. Zumal er sich, obwohl bis in die frühe Neuzeit als diesweltliches Lebewesen charakterisiert, als dennoch reines Fabeltier standhaft jeglicher biologischer Untersuchung entzieht.
Sezieren wir ihn also zunächst einmal sehr grob. Schneiden wir alles von ihm ab, was biologisch erscheint. Kochen wir die Essenz aus dem Drachen heraus. Dringen wir dorthin vor, wo der Ursprung der Drachen ist. Zurück in die Vergangenheit unserer Völker, dorthin, wo die Begrifflichkeiten entstanden, die Wurzeln unseres Denkens. Knapp oberhalb des Stammhirns.
Uns zutiefst erschütternd bleibt ein Schlund übrig, der unseren Mut in sich hinabschlingt, ein schwarzes Loch, das Hoffnung und Zuversicht in kleinste Fetzen zerreißt und uns nackt und kreischend einem Schicksal vor die Füße schmettert, von dessen Ungeheuerlichkeit man nur kleinste Teile ahnen muss, um bereits vor Entsetzen den Verstand zu verlieren, hinab von den brüchigen Klippen des Seins in die brüllende Verdammnis, in das Verderben, …
Halt, langsam! Verdünnen wir die Essenz auf ein erträgliches Maß.
Wir erkennen in den Drachen unsere Ängste. Sie sind Symbole übergeordneter, unverstandener Mächte, des Unerklärlichen. Sie sind jene Gefahr, vor denen selbst unsere ärgsten und mächtigsten Feinde zittern und klagen. Die Drachen personifizierten tiefste Furcht und Naturkräfte. In ihnen wurden übergeordnete Kräfte gebannt – und somit begreifbar im besten Sinne des Wortes. Schon in der Antike wurde der Drache in Bannern und Standarten als Zeichen der Verheerung geführt, als Zeugnis eigener Stärke und der drohenden Niederwerfung des Gegners; von den Thrakern und Sarmaten ging das Bildnis zu den Griechen und Römern, ebenso von Babylon über die Levante, hernach zu Slawen, Germanen und Kelten.
Der östliche Kulturkreis erkannte diese Kräfte auch gleichermaßen als Heil bringend, da die Fruchtbarkeit mit den jahreszeitlich wechselnden Winden kam und kommt. Der Drache des Ostens, mit einer Vielzahl körperlicher Attribute der Hässlichkeit versehen, bleibt demgemäß ein ambivalentes Wesen mit dennoch größtenteils positiven Eigenschaften, welche kaiserlichen Insignien zugeordnet wurden.
So steht der Drache für die einzelnen Elemente der Antike: Erde, Luft, Wasser, Feuer, und auch die Metamorphose derselben. Das Thema der Verwandlung, der Transmutation, gehört zum Drachen einfach dazu.
Als Personifikation eben jener Elemente, geboren aus dem Wasser, Feuer speiend und die Welt abwechselnd vernichtend und rettend, scheint der japanische Godzilla, die Verkörperung der Angst vor der Radioaktivität, die logischste Fortführung dieser Gedanken zu sein.
Fast alle Leser dieses Buches werden dem westlichen Kulturkreis entstammen – einer Welt, die sehr tief und sogar mehr als zunächst vermutet christlich geprägt ist. Älter als der christliche Glaube und damit in ihrem Verständnis automatisch in Gegnerschaft zur christlichen Kirche ausgerichtet, durfte und konnte der Drache hier nur noch die Rolle des Bösen einnehmen – als tierhaftes, erdgebundenes Pendant zum Teufel. Weit vorchristliche Überlieferungen schlagen Opfer zur Besänftigung vor, die in mittelalterlichen Erzählungen als Gold oder Jungfrauen formalisiert wurden. Allein das Wort Lindwurm zeigt die Verschmelzung nordischer und christlicher Kultur und Religion. In zahlreichen Sagen diente der Drachen in einer seiner Formen lediglich als Allegorie, einer Personifizierung einer – oft rein psychologischen – Zwangslage, die allein durch den Glauben an Gott gelöst werden konnte.
Dieser Symbolismus und das in der Gesellschaft allgemein vorhandene Verständnis desselben löste sich mit Veränderungen in der Gesellschaft auf; letztlich verkam er zu einem Klischee, dem anfangs Rittersagen und heutzutage Hollywood, Computer- oder Rollenspiele, gar Hersteller von Gummifiguren huldigten und frönen.
Zusammenfassend: Aus der mühsamen Personifizierung von Urängsten mittels ethnischer Psychoanalyse … wurde ein Plüschtier, ein Schmunzelmonster oder Möchtegern-Feuerwehrmann.
Diesen Weg durften unsere Autoren, obwohl dem westlichen Kulturkreis entstammend, allerdings nicht gehen. Sie wurden eingeladen, sich dieser Problematik auf anderen Wegen zu nähern – und dabei möglichst fiese.
Die Herausgeber griffen zu einer bewährten Methode: Sie schrieben genau jene Autoren an, die versprachen, aus ihrem jeweiligen Genre und Metier ein Filetstückchen zu besorgen. Dabei sollte der Mix möglichst bunt und knackig sein, mal mit mehr Fleisch, dort mit kräftigem Schmalz und Sud und Würzelchen, mal ein Zwischengang, alles geistig nahrhaft und dennoch mit einer Würze versehen, die tiefer dringt als ein Blättchen eines Buches.
Wir glauben, dass uns das gelungen ist. Das Spektrum reicht von der ältesten aufgezeichneten Geschichte der Menschheit über eine parallele Gegenwart bis in die ferne Zukunft, von realen Lebewesen über symbolhafte Bildnisse bis zu immateriellen Manifestationen, vom Tête-à-tête in einer Höhle bis zu fremden Welten in der Galaxis, von der Technik bis in die menschliche Seele.
Genre: Phantastik
Dort, wo die uns geltenden Gesetze der Realität für einen Deut zu Gunsten des Wunderbaren verletzt werden, mag die Phantastik beginnen. Wo ginge das besser als in Prag, der Stadt des Golems, der Stadt Kafkas und der Heimat so vieler düsterer, unheimlicher Geschichten? Sie ist der Schauplatz dieser Story über eine besondere Essenz. Mit einer kleinen Apotheke in einer dunklen Gasse lässt Rainer Schorm alles beginnen – und dort enden, wohin menschliche Gier und Hybris fast immer hinführen.
Rainer Schorm
Prag, Drazického, 25. April 2012
Als der Mann Hirnbeins Apotheke verließ, schwankte er. Sein Gang war breitbeinig, langsam und unsicher. Er versuchte, sich an einem Laternenpfahl festzuhalten, griff daneben und wäre ums Haar gestürzt. Eine alte Dame, die neben einem Mops auf dem Arm eine breite Nerzstola um den Hals trug, schüttelte indigniert den Kopf; zweifellos hielt sie ihn für betrunken.
Das rote Haar hing ihm in die schweißnasse Stirn. Es würde nicht mehr lange dauern, kein Arzt konnte ihm mehr helfen. Dazu war es längst zu spät und er war sich dessen bewusst. Apathie hatte die Todesangst verdrängt, doch ganz unvermittelt brach eine krankhafte Erregung durch. »Isínowksí! … Ich …«, brüllte er plötzlich und schüttelte die Fäuste, als die Stimme versagte.
Etwas später lehnte er, sich nur mühsam aufrecht haltend, an eine Mauer. Speichel lief aus seinem Mundwinkel. Er wischte ihn mit einer Bewegung fort, der man ansah, dass sie längst zur Gewohnheit geworden war. Sie verlief sich in einem kräftigen Zittern. Er blickte zurück.
Amadeus Hirnbein stand auf einem Schild unter dem Apothekensymbol, und auch wenn die Beschriftung völlig normal wirkte, so hatte doch das gesamte Gebäude eine Aura hohen Alters.
»Du mörderischer Hurensohn!«, murmelte der Mann undeutlich. Er hatte Schwierigkeiten beim Sprechen. »… reingelegt!«, nuschelte er.
Dann riss er sich zusammen, soweit ihm dies noch möglich war, strich sich die roten Haare aus der Stirn, und wankte weiter, die Seitenstraße entlang Richtung Hradschin, hinein in die Abenddämmerung.
Er wollte zu Hause sterben.
Prag, Havelská, 27. April 2011
»Was ist denn das für’n Zeug, verdammt noch mal?«
Kommissar Wronzek war völlig aus dem Häuschen. Dazu gehörte unter normalen Umständen nicht viel. Er galt als Choleriker, der seinem Temperament gerne und häufig freien Lauf ließ. Doch in diesem Fall gab es niemanden, der sich darüber mokiert hätte. Tatsächlich war die kleine Wohnung von Wládislaw Isínowksí das reinste Kuriositätenkabinett. Sie war vollgestopft mit merkwürdigen, altertümlichen Apparaturen, Glaskolben und Gefäßen, in denen Dinge lagerten, von denen Frantizéc lieber gar nicht wissen wollte, was sie waren.
»Sieht aus, als sei der gute Isínowksí ein bisschen verrückt gewesen, oder was meinen Sie, Georg?«
Frantizéc nickte. »Sieht nach Alchemie aus, wenn Sie mich fragen.«
»Wunderbar!«, schnaubte Wronzek und verzog das Gesicht zu einer Grimasse des Missfallens.
Frantizéc grinste verhalten. Der Kommissar war überzeugter Realist und Pragmatiker. Themen wie Esoterik, Magie, Religion – das Übernatürliche schlechthin – betrachtete er schon beinahe mit Abscheu. Und davon, jemand, der sich mit diesen Themen beschäftigte, ernst zu nehmen, konnte schon gar keine Rede sein. An einem guten Tag hielt Wronzek solche Menschen für verrückt. An schlechten Tagen … Frantizéc neigte dazu, zu glauben, dass vielleicht ein Körnchen Wahrheit darin stecken mochte. Doch die Umgebung hier verriet, dass der verstorbene Wládislaw Isínowksí in dieser archaischen Welt zu Hause gewesen war.
»Also, Georg, seh’n Sie nach, was diesen Spinner umgebracht hat! Ich glaube nicht, dass er dazu fremde Hilfe nötig hatte.«
Frantizéc runzelte die hohe Stirn. »Selbstmord, denken Sie?«
Kommissar Wronzek wedelte mit der rechten Hand, als wolle er den Rauch eines unsichtbaren Feuers vertreiben. »Schauen Sie sich doch um. Ein Mann, der im 21. Jahrhundert Schwarze Magie praktiziert, ist geistig eindeutig neben der Spur; der muss labil sein. Spuren eines Einbruchs oder einer Auseinandersetzung sind nicht zu erkennen. Ich glaube auch nicht, dass die Spurensicherung hier noch etwas Interessantes findet.«
Der Rechtsmediziner untersuchte die Leiche. Routiniert. Mit der Erfahrung langer Jahre. Keine Abwehrverletzungen, keine Hämatome oder Einblutungen. Nichts an diesem Toten wies auf einen unnatürlichen Tod hin – zunächst! Am Hals war eine große Tätowierung zu sehen, die sich wahrscheinlich über den Rücken nach unten zog. Ein Drache vielleicht. Eine aufwendige Arbeit, recht neu. Und noch etwas war ungewöhnlich. Gaumen und Rachenraum wiesen eine brandrote, lackartige Verfärbung auf.
»Was gefunden?«, erklang Wronzeks Stimme hinter ihm.
Frantizéc zog die Handschuhe aus. Er drehte sich um. »Ja. Ich denke schon. Genaueres kann ich Ihnen natürlich erst nach der Autopsie sagen, aber ich gehe von einer Intoxikation aus! Schwermetalle vielleicht …«
Wronzek zog die dichten, schwarzen Augenbrauen zusammen. »Eine Vergiftung? Also doch Mord?«
Frantizéc schüttelte den Kopf. »Nicht unbedingt. Ich sehe dort einen Mörser und etliche Reste von diesem roten Pulver. Ich vermute, er hat das Zeug verräuchert. Sobald wir wissen, was er da verbrannt hat, sind wir vielleicht einen Schritt weiter.«
Er griff nach seiner Tasche. »Schicken Sie ihn mir so schnell wie möglich in die Pathologie. Die Toxikologie wird uns verraten, was hier geschehen ist.«
Wronzek nickte. Er warf einen letzten Blick auf die ungewöhnliche Umgebung, dann sah er dem Gerichtsmediziner nach, als dieser den Tatort verließ.
»Ich hatte recht«, meinte Frantizéc und nahm ächzend auf dem unbequemen Bürostuhl Platz. Wronzek sah ihn schweigend an.
»Eine Vergiftung. Wahrscheinlich chronisch. Die finale Todesursache war ein vollständiges Versagen der Nieren und anderer Organe.«
»Womit hat er sich vergiftet?« Wronzek nahm eine Zigarette und begann, verbissen darauf herumzukauen.
»Arsen und Quecksilber. Die Symptome waren deutlich ausgeprägt. Die Quecksilbervergiftung zeigte sich am Quecksilbersaum an den Zahnhälsen und am Lackrachen. Das Arsen verursachte eine akute Zyanose und eine Polyglobulie! Die chemische Analyse hat das bestätigt.«
Wronzek schnaufte. »Doktor! Bitte! Sie wissen, dass ich von Ihrem medizinischen Kauderwelsch kein Wort verstehe.«
Der Pathologe lächelte. »Entschuldigung.« Er beugte sich nach vorn. »Also. Typisch sind ein grauer Belag an den Zahnhälsen und eine brandrote Verfärbung im Gaumen- und Rachenbereich … Zeichen für eine chronische Quecksilbervergiftung.«
»Und das Arsen?«
»Hauptsächlich eine kräftige Vermehrung der roten Blutkörperchen. Typisch für Arsen.«
»Aha. Und wie hat er das Zeug zu sich genommen?«
»Eingeatmet, denke ich. Quecksilberdämpfe sind sehr gefährlich.« Er lehnte sich wieder zurück, wirkte aber nach wie vor angespannt.
»Ich verstehe nur nicht, warum er das getan hat.«
»Die Tätowierung?«
»Aufwendig und tatsächlich ziemlich neu. Vergiftete Farben wären auch eine Option gewesen, aber Fehlanzeige. Sie zeigt einen Drachen, wie ich schon vermutet hatte.«
»Einen Drachen?«
Frantizéc nickte. »Ich hab’ nachgeschaut. Isínowksí wurde am 21. Dezember 1940 geboren, nicht?«
Der Kommissar zog die Akte zu sich heran und sah hinein. »Stimmt.«
»Das ist das Jahr des Drachen!«
Wronzeks Laune wurde deutlich schlechter. »Und was, bitteschön, bedeutet das nun?«
Der Pathologe zuckte ratlos mit den Schultern. »Ich hab’ nicht die geringste Ahnung«, murmelte er.
Wronzek griff nach links, wo ein niedriger Papierstapel lag. Er nahm einige kleine Blätter zur Hand, bei denen es sich um Rechnungen handelte. »Er hat in einem Mörser eine rote Substanz zerkleinert. Wir haben von dem roten Zeug jede Menge gefunden. Was sagt Ihre Analyse dazu?«
»Organisch. Ein Harz.« Der Pathologe rieb die Hände aneinander. »Aber nur die Proben im Mörser enthalten Quecksilber und Arsen. Die anderen Funde nicht mal in Spuren.«
»Hier steht Drachenblut. Er hat davon eine Menge gekauft. Wir haben auch jede Menge sonderbarer, ziemlich alter Schriftstücke gefunden, viel ausländisches Zeug darunter. Rezepte, oder etwas in der Art, in denen dieses Drachenblut vorkommt. Könnte das wohl dieses … Harz sein?«
Frantizéc überlegte. »Drachenblut … Hm. Der Name sagt mir was. Hab’ ich ganz bestimmt schon mal gehört. Woher stammt es?«
»Er hat es in einer Apotheke in der Drazického gekauft. Das ist auf der Kleinseite, ganz in der Nähe der Karlsbrücke. Der Apotheker heißt … Moment …« Wronzek zog die Lesebrille hervor und näherte sich dem Blatt. »Hirnbein, wenn ich das richtig lese.«
Frantizéc schüttelte den Kopf. »Kenn’ ich nicht.«
»Altmodischer Laden. Kein normaler Kassenzettel, sondern eine handgeschriebene Rechnung. Noch so ein sonderbarer Kauz!« Wronzek wandte sich direkt an Frantizéc. »Ich hätte Sie gerne dabei, wenn ich Herrn … Hirnbein … einen Besuch abstatte.«
Frantizéc nickte nur.
Die alte Apotheke lag versteckt in einer schleifenförmigen Seitenstraße. Das Schild wirkte modern – der Rest allerdings nicht. Im Inneren standen viele alte keramische Flaschen, Glaskolben und Ähnliches herum und erinnerten unangenehm an Isínowksís Wohnung. Daneben allerdings standen moderne Packungen Aspirin neben Paracetamol, und Wronzek erkannte auf einem alten Regal seinen Betablocker und einige Blutdruckmessgeräte.
In diesem Moment betrat eine Gestalt den Verkaufsraum, die die Aufmerksamkeit sofort auf sich zog. Hirnbein, der Apotheker, war uralt, faltig, mit schlohweißem, aber dichtem Haar, einer regelrechten Löwenmähne und er wirkte ein wenig verbogen. Die linke Schulter stand deutlich tiefer, als die rechte. Er schien unter Schuppen zu leiden, denn die Schultern waren damit bedeckt. Die Lippen waren schmal, wie mit dem Messer ins Gesicht geschnitten und sonderbar hornig. Die Augen jedoch, von einem klaren, hellen Wasserblau, wirkten jung, lebendig und musterten die beiden Besucher aufmerksam und ohne jede Scheu.
»Herr … Hirnbein?«
»Das bin ich!« Die Stimme war sanft, beinahe einschmeichelnd … und so hell, dass man sie eher einem jungen Mädchen zugerechnet hätte.
Wronzek zeigte seinen Ausweis. »Ich bin Kommissar Wronzek, das hier ist unser Gerichtsmediziner, Herr Frantizéc.«
Hirnbein schwieg und sah lediglich ein wenig interessiert aus.
»Wir … äh«, das unbeeindruckte Schweigen seines Gegenübers verunsicherte Wronzek durchaus, »sind hier, um Sie im Zusammenhang mit einem … Todesfall zu befragen.«
Leises Interesse glomm in Hirnbeins Augen auf. »Ein Todesfall? Ich trage daran doch wohl hoffentlich keine Schuld?«
»Nein, nein, äh, wahrscheinlich nicht.« Wronzeks übliche Selbstsicherheit ließ auf sich warten. »Es geht um Herrn … Isínowksí. Wládislaw Isínowksí. Sie kennen ihn?«
Hirnbein nickte. »Herr Isínowksí ist … war Kunde bei mir. Das ist richtig. Was ist ihm denn zugestoßen?«
»Er … hat sich wohl vergiftet, wie’s aussieht.«
»Vergiftet?« Eine leichte Unruhe zeigte sich jetzt in Hirnbeins faltigem Gesicht. »Wie konnte das geschehen?«
Frantizéc ergriff das Wort: »Arsen und Quecksilber! Eine chronische Intoxikation, an der er dann nach multiplem Organversagen starb.«
Hirnbein beruhigte sich sofort. »Der Ärmste. Aber warum hat er das getan?«
Wronzeks zog die Rechnungen hervor. »Hat er das bei Ihnen gekauft?«
Hirnbein ergriff die Rechnungen, warf einen kurzen Blick darauf und nickte. »Drachenblut. Ein uraltes Ingrediens für magische Rezepte, Tränke und Räucherwerk. Ursprünglich Calamus Draco, heute würde man sagen: Daemonorops Draco. Das blutrote Harz einer Rotanpalme. Heutzutage nur sehr schwer zu bekommen. Er scheint damit experimentiert zu haben, er hat auch andere Blutharze bestellt, die man so bezeichnet.« Er deutete auf die dritte Rechnung. »Croton Draco und Dracaena Draco. Er hat viele ausprobiert.«
»Und Sie haben ihm das Zeug besorgt?«
Hirnbein nickte. »Es war nicht ganz einfach. Die ältesten Sorten sind kaum noch zu haben. Er brachte mir immer die Rezepte mit, arabische, indonesische … sehr exotische Dinge, zuletzt eine chinesische Zusammenstellung. Und ich habe ihm bestellt, was er haben wollte.«
»Dieses … Harz ist nicht gefährlich, oder?«
Der Apotheker schüttelte den Kopf. »Nein. Man benutzt es als Pulver zur Herstellung von Räuchermischungen, oft mit Sandel- und Zedernholz. Geliefert wird es häufig in Barren oder großen Brocken. Die Farbe wechselt zwischen unterschiedlichen Rottönen. Der Rauch sollte blutrot sein und riecht sehr intensiv. Er dient angeblich auch zur Steigerung der Libido!«
»Libido?«
Frantizéc mischte sich ein. »Liebeszauber!«
Hirnbein zwinkerte.
Wronzek schnaufte. »Das bringt uns nicht weiter. Dass er nicht ganz bei Trost war, wussten wir bereits.«
Hirnbein sah ihn an. »Sind Sie sicher, Herr Kommissar?«
Frantizéc zuckte zusammen. Der Tonfall, in dem Hirnbein diese Frage stellte fiel ihm auf. Sie hatte beinahe etwas Lauerndes, doch Wronzek achtete nicht darauf.
»Kommen Sie, Georg. Wir verschwenden hier nur unsere Zeit!« Mit diesen Worten drehte der Kommissar sich um und verließ die Apotheke.
Der Pathologe folgte ihm. Langsamer und sehr nachdenklich. Als er sich umdrehte und zurückblickte, sah er Hirnbein lächeln.
»Kann ich die Rezepte haben?«, erkundigte sich Frantizéc etwas später.
Der Kommissar sah ihn verwundert an. »Warum denn das?«
»Rein interessehalber. Wissenschaftlich ist das sicher eine Goldgrube. Und historisch sowieso.«
Wronzek kniff ein Auge zusammen. »Interesse am Liebeszauber?«
»Eher nicht! Aber ich könnte mir schon vorstellen, dass die eine oder andere Zutat Möglichkeiten bieten könnte: in der Medizin oder der Kosmetik.«
»Sie Materialist!«
»Ach kommen Sie, Wronzek! Als ob Sie das überraschen würde …«
Der Kommissar schüttelte den Kopf. »Das ist es ja gerade. Das tut’s eben nicht!« Er wandte sich seinem Wagen zu. »Ich schicke Ihnen die Kopien zu. Die Originale bleiben in der Akte. Ich nehme an, wir können wirklich von Selbstmord ausgehen … Bis dann!«
In Frantizécs Kopf begannen sich die Räder zu drehen.
Etwa eine Woche später, am Abend, legte Georg Frantizéc das letzte Blatt zur Seite. Ein Gedanke begann, Gestalt anzunehmen. Sie hatten sich getäuscht – in gewisser Hinsicht. Wládislaw Isínowksí war Anthropologe gewesen und er hatte sich mit allerlei magischen Ritualen beschäftigt, deren Niederschrift man bei ihm gefunden hatte, doch sein Ziel war sehr viel abwegiger als gedacht. Je mehr Frantizéc von den alten, zum Teil nur schwer entzifferbaren Texten las, desto sicherer wurde er. Ein Wort tauchte immer wieder auf – in unterschiedlichen Zusammenhängen, in verschiedenen Sprachen. Griechisch: Drákon, Arabisch Tinnin oder Persisch Azhdaha.
Der Drache!
Nicht als mystische Figur, nicht als Legende oder Märchen, sondern als Realität. Zunächst tat sich der Gerichtsmediziner schwer mit dieser Vorstellung, doch die Verbissenheit, mit der Isínowksí dieses Ziel verfolgt hatte, welche Geldmittel er eingesetzt hatte … all das beeindruckte ihn enorm. In den folgenden Wochen und Monaten las er alles, was er über Drachen, deren Eigenarten und Besonderheiten nur finden konnte; zusätzlich studierte er die Aufzeichnungen des Verstorbenen, bis er schließlich herausfand, wonach der Verstorbene wirklich gesucht hatte. Dabei halfen ihm die bekannteren Schriften, wie das Mundus Subterraneus von 1665 oder die Serpentum et Dracorum historia von 1640 sehr viel weniger, als die obskureren und unbekannteren Texte, etwa aus Japan oder Korea. Dort fand er die Hinweise, die er gesucht hatte. Und so stand er gute vier Monate später erneut in Hirnbeins Apotheke.
Es schien beinahe, als habe ihn der alte Apotheker erwartet. Lächelnd stand er hinter seiner Verkaufslade und senkte grüßend den Kopf. »Herr Frantizéc! Willkommen! Wie kann ich Ihnen helfen?«
Vier Monate später erkennt er spontan einen Mann, den er nur einmal gesehen hat und weiß sogar noch seinen Namen? Der Tonfall war freundlich und doch glaubte der Pathologe, noch etwas anderes wahrzunehmen. Spott vielleicht. Zudem fiel ihm auf, dass Hirnbein ein wenig lispelte.
»Ja …« Frantizéc zögerte. »Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll.«
Das Lächeln Hirnbeins vertiefte sich. »Sie interessieren sich für die Forschungen unseres viel zu früh verschiedenen Freundes Isínowksí.«
»Woher wissen …«
Hirnbein schüttelte den Kopf. »Einen anderen Grund kann es für Ihr Hiersein kaum geben. Ich nehme nicht an, dass sich kriminalistische Untersuchungen im Falle eines Selbstmordes derart lange hinziehen. Zudem habe ich Ihr Interesse bereits bei Ihrem ersten Besuch hier bemerkt. Ich habe ein Gespür für solche Dinge!«
»Ja. Sie haben recht. Ich habe seine Aufzeichnungen studiert. Ich glaube, er hat in alten Texten Hinweise darauf gefunden, wie man selbst zum Drachen werden kann.«
Hirnbein runzelte die Stirn, doch seine kalten Augen waren wachsam. »Ich nehme an, Sie meinen das metaphorisch. Vielleicht als Beschreibung eines Charaktertyps …?«
Frantizéc verneinte, wenn auch zögernd. Zu absurd klang die Geschichte. »In den Texten ist von einer tatsächlichen Metamorphose die Rede. Ein Mensch wird zum Drachen und umgekehrt. Ich glaube, Isínowksí hat versucht, zu einem Drachen zu werden. Ganz real und wortwörtlich. Alle seine Versuche galten diesem Ziel. Das Drachenblut schien ihm wohl der Schlüssel zum Erfolg zu sein. Bedenken Sie doch: Ein beinahe endlos langes Leben in Weisheit und Macht!«
»Nun.« Hirnbein strich sich das weiße Haar aus der faltigen Stirn. Er schien nachzudenken. »Zumindest gibt es dabei erstaunliche Übereinstimmungen mit nachweisbaren Wirkungen!«
Frantizécs Kopf zuckte nach oben. Er starrte den alten Apotheker an. »Wie meinen Sie das?«
Hirnbein zuckte mit den Schultern. »Drachen sind geschuppt, nicht? Die Unverwundbarkeit durch diese Panzerhaut ist eines der wesentlichen Merkmale dieser Wesen. Denken Sie an Siegfrieds Bad im Blut des Lindwurms. Er war danach unverwundbar … bis auf die eine Stelle, die von einem Lindenblatt verdeckt wurde. Es ist so, dass das sogenannte Drachenblut nicht nur zur Wundheilung verwendet wurde … in Kosmetika wirkt es nachweisbar adstringierend!«
»Adstringierend?«
»Ja, tatsächlich. Es verdichtet die Haut. Man könnte auch sagen, es erzeugt einen Schutzpanzer. Durch seinen hohen Gehalt an Tanninen beschleunigt es auch die Heilung. Es bildet sich ein weißlicher Schaum, wenn man es auf die Haut reibt.«
»Es ist also doch was dran«, murmelte Frantizéc fasziniert und wandte sich wieder an den Apotheker, der ihn gespannt beobachtete. »Können Sie mir helfen?«
»Ich? Was könnte ich tun?« Hirnbein schien überrascht.
»Besorgen Sie mir das nötige Drachenblut! Isínowksí haben Sie es auch verkauft.«
»Ja, sicher. Aber denken Sie daran: Das ursprüngliche Drachenblut ist kaum zu bekommen und vieles, was unter diesem Namen verkauft wird, stammt von anderen Pflanzen oder es handelt sich gar um Fälschungen und andere Substanzen. Sie werden mir genau sagen müssen, was Sie benötigen. Nun ja«, er deutete auf Frantizécs Haarschopf, »das feurige Temperament besitzen Sie ja schon!« Dann beugte er sich etwas nach vorne und fixierte sein Gegenüber mit seinem kalten, starren Blick. »Sie wissen doch, was man über Drachen sagt?«
Frantizéc sah ihn irritiert an. »Was meinen Sie?«
Hirnbein schwieg einige Sekunden lang, dann meinte er leise: »Drachen schützen ihre Geheimnisse und ihren Hort … und sie gelten als verschlagen und heimtückisch!«
Frantizéc begann zu experimentieren. Die uralten Texte, die fremden Sprachen, häufig ebenso alt, forderten ihn enorm, doch er gab nicht auf. Regelmäßig besuchte er Hirnbein und nahm dessen Hilfe in Anspruch, wenn es darum ging, Drachenblut zu besorgen. Es gab viele Sorten, viele Fehlschläge, doch der Apotheker schien immer die richtige Quelle zu kennen – auch wenn der Preis, der fällig wurde, häufig deutlich höher lag, als Frantizéc erwartet hatte. Bei einem Besuch beschuldigte er Hirnbein der Habgier und des Wuchers, doch dieser antwortete gelassen, spezielle Wünsche hätten eben ihren Preis. Und da Frantizéc niemanden kannte, der auch nur annähernd über Hirnbeins Verbindungen verfügte, beließ er es dabei.
Er arbeitete wie besessen, bis zur Erschöpfung. Sein Beruf litt darunter, und als Kommissar Wronzek zum ersten Mal Bedenken bezüglich Frantizécs Zuverlässigkeit äußerte, zog er die Konsequenzen und nahm unbezahlten Urlaub. Wronzek runzelte die Stirn und murmelte unwillig etwas vor sich hin.
Frantizéc führte unzählige Versuche durch. Drachenblut in allen Farbschattierungen, Erscheinungsformen und Mischungen, doch er erzielte kaum eine Wirkung. Zwei Rezepte, die ganz unten im Stapel Isínowksís lagen, waren seine letzte Hoffnung. Erschöpft bestellte er die Ingredienzen, und als er sie nach einigen Wochen in Hirnbeins Apotheke abholte, meinte dieser: »Vielleicht ist es eher eine Frage der Dosierung?«
Frantizéc starrte ihn an. »Ich könnte die Konzentration erhöhen und die Verräucherung natürlich häufiger durchführen. Das wäre kein Problem.«
Hirnbein lächelte nur.
Ab diesem Zeitpunkt erhöhte Frantizéc die Anzahl der Anwendungen. Er verräucherte die Mischung aus Rauschrot und dem chinesischen Ch’ai Hsüeh, dem abgezapften Blut – den beiden letzten Arten des Drachenblutes, die er aufgestöbert hatte. Und tatsächlich zeigten sich erste Wirkungen. Seine Blässe wich einer gesunden Hautfarbe und er fühlte sich kräftiger. Zunächst. Dann schlug der Effekt um und er wurde schwächer. Zunehmend hatte er Schwierigkeiten, seine Bewegungen zu koordinieren, bis er sogar beim Sitzen ständig umzukippen drohte. Mattigkeit griff nach ihm, gleichzeitig wurde er reizbar und unleidlich. Er versuchte, seine Beschwerden zu verdrängen. Eine Zeit lang, dann konnte er der Erkenntnis nicht mehr ausweichen: Er kannte die Symptome. Er würde sterben.
Prag, Drazického, 25. April 2012, Hirnbeins Apotheke
»Sie haben mich reingelegt! Sie …!«
Hirnbein sah betroffen aus. »Aber mein lieber Freund! Wie kommen Sie nur darauf? Sie sind ein ausgezeichneter Kunde. Was für einen Grund hätte ich, Ihnen zu schaden?«
»Ich … Ich sterbe!« Frantizéc hustete.
Hirnbein sah ihn mitleidig an. »Das ist leider richtig, mein Freund. Und ich glaube, Sie haben wirklich nicht mehr viel Zeit!«
»Wie … haben Sie …?«
Der Apotheker dachte einen Augenblick nach, dann meinte er: »Sie kennen die Symptome?«
»Schwermetallvergiftung. Wie Isínowksí! … und Arsen … wahrscheinlich!«
»Aha! Und haben Sie eine Ahnung, wie Sie diese Gifte zu sich genommen haben?«
Der Sterbende deutete auf Hirnbein. »Sie haben es mir in das gekaufte Drachenblut gemischt!«
»Aber nein. Nein! Sie selbst haben das getan!«
»Ich? Aber …« Er musste sich festhalten.
»Die letzten beiden Bestellungen von Drachenblut. Sie erinnern sich? Das chinesische Ch’ai Hsüeh, das abgezapfte Blut. Die andere Zusammenstellung schien mir europäisch zu sein!«
»Speyer.« Frantizéc hustete erneut. »Frühes 13. Jahrhundert!«
»Sieh einer an!« Hirnbein nickte anerkennend. »Sie haben wirklich lange und gründlich gesucht. Und doch ist Ihnen ein Fehler unterlaufen, wissen Sie?«
Frantizéc starrte ihn nur an.
»Das chinesische Drachenblut in der von Ihnen entdeckten Zusammenstellung ist kein Harz, sondern Cinnabarit!«
»Zinnober … Quecksilber?«
Hirnbein nickte.
»Und das Arsen?«
»Die andere Mischung. Ein mittelalterliches Mittel, das zur Kräftigung benutzt wurde. Es enthält Realgar. Rauschrot. Eine wirklich sehr giftige Arsen-Schwefel-Verbindung. Beide Substanzen nannte man ebenfalls Drachenblut. Und Sie haben es verräuchert, über einen längeren Zeitraum, nehme ich doch an?«
Frantizéc nickte. Kein Wunder, dass er sich vergiftet hatte! Genau wie Isínowksí. »Aber … Sie …«
»Nein, mein Freund. Nein. Wer sich solche Geheimnisse aneignen will, begibt sich in Gefahr. Das wussten Sie doch? Sie wollten ein langes Leben in Macht und Weisheit. Sie hätten es beinahe geschafft. Geduld ist eine Tugend und man sollte sie in ausreichendem Maße besitzen. Lassen Sie mich Ihnen dennoch meine Hochachtung aussprechen!«
»Wie … geschafft?«
»Man kann sich besonders an das Arsen gewöhnen, wissen Sie? Das Arsenik-Essen hat in Kärnten oder Tirol Tradition. Einer der Bergbauern nahm einmal vor einer akademischen Kommission eine Dosis von 400 Milligramm Arsen zu sich und zeigte keine Anzeichen von Vergiftung. Für einen normalen Menschen ist diese Dosis absolut tödlich! Und doch wurde Arsen schon immer auch zur Kräftigung benutzt. Wirklich. Glauben Sie mir: Sie standen kurz davor, das Geheimnis zu lüften. Sie waren nur zu ungeduldig. Ich hatte Ihnen sogar einen Hinweis gegeben, wenn Sie sich erinnern. Leben erringt man nur in der Nähe des Todes. Es ist wirklich schade!« Hirnbein lächelte. Doch seine Augen waren kalt.
Der todgeweihte Georg Frantizéc hielt sich krampfhaft an einem Schrank fest. Die Ataxien, die ihn plagten, machten mittlerweile beinahe jede koordinierte Bewegung unmöglich. Die Mattigkeit übermannte ihn immer stärker. Er wusste, dass er verloren hatte – und verloren war.
Hirnbein schwieg.
Mühsam ging Frantizéc zur Tür. Breitbeinig stolperte er nach draußen. Er hatte hier nichts mehr verloren und nichts mehr zu gewinnen. Ihm wurde kalt. Er riss sich zusammen und machte sich auf den Weg.
Er wollte zu Hause sterben.
Hirnbein sah dem Sterbenden nach. Er öffnete den Mund und verschluckte die Reste und damit die letzten Spuren von Rauschrot und Zinnober. Er rülpste und ein feiner Rauchfaden drang aus seinen Nasenlöchern. Die Nickhäute legten sich kurz über seine Augen. »Man sagt uns nach, wir seien verschlagen und tückisch …«
Er fuhr mit der Hand unter das Hemd und kratzte sich den schuppigen Bauch.
Genre: Mythic Crossover
Viele Kulturen unserer Erde bewahrten die mythologische Kenntnis, dass es eine reale Möglichkeit gibt, mittels derer man sich zwischen unserer realen und einer anderen Welt austauschen kann. Für die alten Kelten war das am Abend zu Samhain: hier konnten die Weltenkreise von Mittelerde und Anderwelt zusammentreffen. Für die alten Griechen war es der reale Eingang in die Unterwelt – doch konnte man diesen Weg (normalerweise) nur in eine Richtung begehen. Die mittelalterlichen Okkultisten dagegen wollten mit dem Pentagramm einen Durchgang in das Dämonenreich herbeischwören.
Der grundlegende Nachteil – so faszinierend diese Möglichkeiten auch sind – ist: Niemand weiß, was sich wirklich hinter diesem Riss verbirgt. Achim Mehnerts Eschatologie spielt genau heute.
Achim Mehnert
»Du verleihst mir Stärke, meine Tochter. Du allein bist es, die mir kein Zaudern und kein Zögern gestattet.«
Xiuhcoatl hob die Hände und streckte das Gefäß mit der zäh schwappenden Flüssigkeit dem Himmel entgegen. Nur die fünfte Sonne hing am wolkenlosen Firmament, blendend, grell, heiß. Sie rührte sich nicht, schien erstarrt. Schon einmal war es so gewesen, berichteten die Überlieferungen, nämlich nach dem Untergang der vierten Sonne, nachdem die Welt in Dunkelheit gehüllt war und durch den Opfertod der Götter Nanahuatzin und Tecuciztecatl der Zyklus der Gestirne neu belebt worden war. Im Augenblick der kosmischen Wiedergeburt war Quetzalcoatl erschienen. Der Drachengott Quetzalcoatl, nach dem Xiuhcoatl nun rief.
Von tiefer Schuld und unbändiger Angst vor der Rache der gefiederten Schlange erfüllt, führte der Priester den Krug an seine Lippen und nahm zwei tiefe Schlucke. Heiß rann der bittere Pilzsud über seine Zunge in den Rachen, tränkte den Gaumen mit abscheulicher Bitterkeit.
»Ich erflehe deine Vergebung.« Xiuhcoatl fiel auf die Knie und ließ den Blick über die Hochlandebene schweifen. »Verzeihe mir und meinem Vorfahren. Nimm die Angst von meinem Volk und meiner Tochter Nenetl, dem Licht meines Herzens.«
Aus den Augenwinkeln gewahrte er, dass das dunkelhaarige Mädchen sich neben ihm niederließ. Sie kauerten am Rande des Plateaus von Tlachihualtepetl, der mächtigsten Pyramide der Welt, über deren höchster Erhebung die goldene Scheibe am Himmel thronte wie der Schöpfergott Quetzalcoatl selbst. Vor ihnen erstreckte sich das Tal des Atoyak. Hier bei Puebla hatte sich Xiuhcoatls Volk versammelt, ehrfürchtig und andächtig angesichts des eingeleiteten Rituals. Ein monotoner Singsang drang zu dem Priester und seiner Tochter herauf. Weit hinter der Pyramide gen Sonnenuntergang erhob sich der Popocatepetl, mächtig und Ehrfurcht gebietend, im Norden der beinahe genau so riesige Orizaba.
Xiuhcoatl neigte das Haupt und trank einen weiteren Schluck, der seine Eingeweide wärmte. Einst hatte sein Vorfahr Quetzalcoatls Eibruder in einem rituellen Zweikampf besiegt. Xolotl, der Zwillingsbruder der gefiederten Schlange, war der Gott des Blitzes und der Wächter der Unterwelt. Ihm oblag es, täglich die Sonne in die Erde hinab zu geleiten und sie am nächsten Morgen wieder zum Himmel emporsteigen zu lassen. Doch die Sonne verharrte. Die Rache des Quetzalcoatl war gekommen, nicht zufällig an jenem Tag, an dem Nenetl ihren vierzehnten Geburtstag beging.
»Ich rufe dich, Schöpfergott und Gott des Windes, des Himmels, des Krieges und der Erde«, erhob der Priester die Stimme. »Erhöre das Flehen deines Dieners. Sende mir ein Zeichen.«
Weinerliches Gejammer ließ Xiuhcoatl aufhorchen. Er hob den Kopf. Die Gefangenen im Hof am Fuß der Pyramide warteten auf ihre Opferung. Menschliche Opfer sollten den Drachen besänftigen, sobald sich das magische Tor öffnete. Es war alt, viel älter als die Ruine des Tempels, den Xiuhcoatls Vorfahr und Xolotl bei ihrem Zweikampf eingerissen hatten, und seit Generationen entweiht. Niemand hatte gewagt, das Tor je wieder zu öffnen, doch nun blieb keine andere Wahl, sollte nicht die Sonne das Land versengen, die Berge verbrennen und die Menschen mit ihrem feurigen Odem vom Antlitz der Welt hinfort fegen. Daher war Xiuhcoatl an den magischen Ort gekommen und hatte die nötigen Vorbereitungen getroffen.
Der Priester nahm das halb volle Gefäß an sich und stieg auf die Beine. Er zog seine Tochter in die Höhe. Unter dem Gesang ihres Volkes schritten sie gemeinsam zu der orangefarbenen Christenkirche, die zu betreten so lange tabu gewesen war. Ein eisiger Hauch streifte Xiuhcoatl, als er durch das mächtige Tor trat. Überall sah man die Spuren der Eroberung des Gotteshauses durch seine eigenen Jünger. Doch sie hatten ausreichend Zeit, bis die Büttel kämen; die Kraftfahrzeuge seiner Jünger blockierten die Zufahrtsstraßen. Und im Angesicht der Macht würden auch die Schergen der Herrschenden zum wahren Glauben zurückfinden!
Sie verließen den entweihten Ort, um zum Fuße der Pyramide hinabzusteigen. Dort, auf dem großen Platz, wartete der riesige Altarstein. Er war zu sperrig gewesen, ihn ohne schwere Maschinen auf das Dach der Pyramide zu bugsieren.
»Der Wind kehrt zurück«, hauchte Nenetl.
»Noch nicht, aber bald schon«, antwortete der Priester. »Wind wird den Quetzalcoatl begleiten, sobald er erscheint, um den Fluch von der Sonne und von uns zu nehmen.«
»Ich fürchte mich.«
Xiuhcoatl lächelte seiner Tochter beruhigend zu. »Du brauchst keine Angst zu haben. Meinem Vorfahren ist es gelungen, einen Gott zu besiegen, und ich werde es ihm gleichtun. Die Macht der Götter über unser Volk ist groß, doch sie ist nicht unermesslich. Wir können uns ihnen widersetzen, wenn wir ihnen mit all unserem Mut begegnen. Meine Fürbitten und das Opfer werden den Quetzalcoatl besänftigen.«
Der Priester war längst nicht so optimistisch, wie er sich gab, doch er wollte die Furcht von seiner Tochter nehmen. Er war bereit, ein viel größeres Opfer als den Gefangenen zu bringen, um sein Volk und besonders Nenetl vor der Rache des Drachen zu schützen. Um Sicherheit für das Licht seines Herzens zu erlangen, würde er sein eigenes Leben geben, falls es sein musste. Er reichte dem Mädchen den kleinen Krug. »Trink ein wenig, dann wird dir leichter.«
»Wie du willst, Vater.« Nenetl nahm das Gefäß mit dem Sud und setzte es an die Lippen. Als sie einen kleinen Schluck des stinkenden Gebräus nahm, schüttelte sie sich. »Schauderhaft«, sagte sie hustend.
»Aber wirksam. Die Pilze verleihen Mut und Stärke.«
Mit einem großen Zug leerte Xiuhcoatl den Krug und ließ ihn achtlos fallen. Die Flüssigkeit erhitzte sein Inneres. Er fühlte die Kraft, die ihn durchströmte, eine unbändige Energie, die ihm ein wenig von seiner Angst vor der bevorstehenden Auseinandersetzung nahm. Es war so, wie er zu Nenetl gesagt hatte: Sein Vorfahr hatte Xolotl besiegt. Warum also sollte nicht auch ihm ein Triumph vergönnt sein? Doch noch ließ sich der Kampf vermeiden. Noch hegte er die Hoffnung, den Drachen mit dem Menschenopfer besänftigen zu können.
Hunderte Blicke seiner Jünger taxierten jede seiner Bewegungen.
Vor dem Altar blieb er stehen. Der Gefangene war darauf fixiert; es war ein Kaplan. Er lag auf dem Rücken, seine ausgestreckten Arme und Beine waren mit Stricken festgebunden. Sie schnitten ihm ins Fleisch, weil er verzweifelt versuchte, sich seiner Fesseln zu entledigen, doch er konnte nichts gegen sie ausrichten. Zu beiden Seiten waren Feuerstellen errichtet. Hinter dem Altar ragte eine aus hellem Naturstein gemauerte Wandscheibe auf. Wäre dieses Opfer nicht ausreichend, gäbe es noch mehr.
»Was immer geschieht«, sagte der Priester zu seiner Tochter, während er das für die Opferung vorgesehene Steinmesser begutachtete, »du musst an meiner Seite bleiben. Du schenkst mir die Kraft, die ich brauche. Fühlst du dich stark genug, um dem Quetzalcoatl gemeinsam mit mir ins Antlitz zu blicken?«
»Ja, Vater.« Nenetls Stimme zitterte. »Ich werde nicht von dir weichen.«
»Ich bin stolz auf dich, meine Tochter.«
»Und ich auf dich, Vater.«
Ein flüchtiges Lächeln umflorte die Augen des Priesters. Er öffnete einen kleinen Beutel und entnahm ihm eine Handvoll zerriebener Pflanzen. Auf diesen Moment hatte er gewartet. Es war der Augenblick der Wahrheit, von dem die Zukunft seines Volkes und seiner Tochter abhing. Er zögerte, um einen Blick zum Himmel zu werfen. Die Sonne stand hoch. Grell und unbeweglich hing sie in einem strahlend blauen Himmelsmeer über der Pyramide, als würde sie ihre Bahn niemals fortsetzen wollen.
Xiuhcoatls Züge verhärteten sich. Entschlossen warf er das Pflanzenpulver in eine Feuerstelle und zitierte dabei den Namen der gefiederten Schlange. Eine dunkle Rauchwolke stieg aus der Glut auf. Wie aus weiter Ferne vernahm er die Rufe seines Volkes, die wie ein Echo zurückgeworfen wurden.
»Quetzalcoatl!«, intonierten die Versammelten. »Quetzalcoatl! Quetzalcoatl!«
Nenetl stimmte in die Litanei ein. Xiuhcoatl schüttete den Rest der Pflanzen in die andere Feuerstelle. Jäh erwachte eine hochschlagende Flamme zum Leben, leckte nach Luft und versank sogleich wieder hinter einer Säule schwarzen Rauchs. Ein dünnes, verirrtes Fähnchen, vermischt mit betörendem Duft, der ihm beinahe die Sinne raubte, trieb dem Priester die Tränen in die Augen. Er beugte sich über die steinerne Altarplatte.
Der Gebundene starrte ihn aus großen Augen an. Fiebrige Angst war darin zu lesen, obwohl er unter dem Einfluss der Pulque stand, einem meskalinhaltigen Trunk. Hektische rote Flecken überzogen sein Gesicht. Er versuchte zu sprechen, doch nur Unverständliches kam über seine Lippen. Teniente? Das war des Priesters militärischer Titel gewesen, in einer anderen Welt zu einer anderen Zeit.
»Gleich ist es soweit«, wisperte der Priester. »Ich spüre es. Ich sehe ihn bereits. Der Schöpfergott ist aufmerksam geworden. Er bereitet sich darauf vor, zu uns zu kommen. Er kann es nicht mehr erwarten.«
Abermals sank er auf die Knie, ergriffen von der machtvollen Ahnung der bevorstehenden Ankunft des Schöpfergottes in Drachengestalt. Xiuhcoatl hörte sich singen. Sein Oberkörper zuckte ekstatisch hin und her.
Die Stele erzitterte, bebte wie unter Erdstößen und versank in einem feurigen Odem, der sich über den Boden ergoss und den Altar umspülte. Ein unterschwelliger Ton fuhr klagend über die Ebene. Er steigerte sich, schwoll an zu wütendem Heulen. Gipfelte schließlich in Furcht erregendem Grollen.
Mit ihm kam der Sturm.
Ein Schrei aus unzähligen Kehlen gellte über die Ebene, als sich am Fuß des Altars ein schwarzes Loch auftat. Die Mauer war zusammengefallen. Xiuhcoatl hörte die von Panik erfüllte Stimme seiner Tochter. Ihm blieb keine Zeit, nach ihr zu sehen, denn die Welt verschwamm vor seinen Augen. Lohende Wolken brachen sich mit heißem Atem einen Weg in die Freiheit.
»Vater, es ist der Schöpfergott!«
Der Priester wurde von den Knien gerissen. Er überschlug sich, ein hilfloser Spielball der Mächte, die durch das uralte Tor kamen. Jener Mächte, die er heraufbeschworen hatte. Ein Kopf schob sich aus den Feuerlohen hervor, gefolgt von einem schlanken, schuppigen Körper, drei Meter lang, vier Meter, bis endlich die Schwanzspitze zum Vorschein kam. Die grüne Schuppenhaut schimmerte wie ein neblig-feuchter Morgen unten im Wald, die roten Augen glühten wie Edelsteine im Sonnenlicht. Es war die gefiederte Schlange, der Drachengott. Quetzalcoatl, Gott des Himmels und der Erde. Eibruder und Zwilling des besiegten und gedemütigten Xolotl, dem die Herrschaft über die Sonne abhanden gekommen war.
»Schöpfergott!«, stieß Xiuhcoatl aus. »Du hast mich erhört. Du bist gekommen, um uns zu vergeben und den Fluch von der Sonne zu nehmen.«
Er versuchte sich aufzurichten, doch der Sturm, der Quetzalcoatl folgte, fegte ihn hinfort. Sand tanzte wie tausend unwirkliche Schimären und verschleierte den Altar. Der Sturm geriet zu einem ohrenbetäubenden Orkan, als der Drache seine Schwingen entfaltete. Das Feuer blieb hinter ihm zurück, doch heftige Böen folgten ihm.
Wieder schaute der Priester zum Himmel empor, zum goldenen Abbild der Sonne, die nun von einer roten Korona umgeben war. Bildete er sich den Anblick nur ein? Nie zuvor hatte er ihn wahrgenommen. Auf seiner Zunge lag der schwere, gallige Geschmack des Pilzgebräus, doch seine Kehle war ausgetrocknet. Er hätte trinken können, einen ganzen Bachlauf leeren.
Keine Zeit dafür. Nicht einmal genug Zeit, auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden. Denn der Quetzalcoatl verharrte nicht. Er flog über die Ebene, hielt Ausschau und kehrte zurück. Seine Federflügel streiften die Pyramide, sein Schwanz peitschte den Untergrund. Er fauchte und schrie, stieß gutturale Laute aus, die zu verstehen Xiuhcoatl unmöglich war. Die Menschen waren weit zurückgewichen, doch lauter als zuvor drang ihr Singsang über den Platz. Furcht bestimmte ihre Rufe, die immer wieder das gleiche Wort formten. »Quetzalcoatl! Quetzalcoatl!«
»Wir haben ein Opfer für dich, um dir unsere Ergebenheit zu beweisen.« Xiuhcoatl zückte das Messer. Wo waren seine Helfer, wo die anderen Opfer? Entsetzt beobachtete er das Treiben des Schöpfergottes. Er hatte den Eindruck, dass die gefiederte Schlange größer wurde. Sie wuchs im Flug, und sie hörte nicht auf ihn. Das Menschenopfer schien sie nicht zu interessieren.
Endlich kam der Priester auf die Beine. Er stemmte sich gegen die Sturmböen. Sie zerrten und zogen an ihm, als wollten sie ihn auf die Probe stellen. Xiuhcoatl hielt ihnen Stand. Er ahnte, dass er mit der Wiederholung des von seinem Vorfahren durchgeführten Rituals einen Fehler begangen hatte. Oder lag es am falschen Ort, hier neben und nicht auf der Pyramide? Der Drache ließ sich nicht besänftigen. Das Verlangen nach Rache für seinen Zwilling trieb ihn an. Kein Opfer der Welt konnte es zum Verlöschen bringen.
»Er flieht, Vater!«, warnte Nenetl. »Er fliegt davon, in die Welt hinaus. Du musst ihn aufhalten.«
»Das werde ich, meine Tochter.« Ich versuche es. War es schon zu spät? Gehetzt sah sich der Priester um. Was sollte er tun? Krampfhaft umklammerte seine Rechte das Messer. Vielleicht richtete er etwas aus, indem er das Opfer darbrachte. Er kam nicht dazu, sich dem Felsaltar zuzuwenden, denn der Geflügelte jagte dem Rand der Ebene entgegen – und flog darüber hinaus.
Schreie drangen an Xiuhcoatls Ohren. Sie trugen Angst mit sich, Panik. Der Gesang war zum Erliegen gekommen. Der Schöpfergott stürzte sich in die Tiefe, rasend vor unbändigem Zorn. Er geriet aus Xiuhcoatls Blickfeld.
Bewegung kam in den Priester. Er stolperte mehr, als dass er lief. Den Schmerz, als er sich an einem Felsen die Schienbeine aufschlug, nahm er kaum wahr. Sein Atem ging rasselnd, während er nach dem Schöpfergott rief und um Gnade und Vergebung bat. Am Rand der Ebene hielt er mit heftig pochendem Herzen inne.
Unter ihm wütete der Drache. In seinen Klauen zappelte ein Mensch, in seinem mit Reißzähnen bewehrten Maul hing ein weiterer, nur noch ein blutiger, zerfetzter Kadaver. Die Menge stieb in heilloser Panik auseinander. Männer, Frauen und Kinder versuchten sich in Sicherheit zu bringen, doch die gefiederte Schlange machte reiche Beute. Sie schlug ein Opfer nach dem anderen.
Vor Xiuhcoatl begann sich die Welt zu drehen. Ein gequälter Laut entrang sich seiner Kehle, als er erkannte, was er angerichtet hatte. Seine grenzenlose Selbstüberschätzung kostete seinem Volk das Leben. Der Schöpfergott wuchs und wuchs. Mit jedem Menschen, den er verschlang, wurde er ein Stück größer. Der Priester begriff. Des auf dem Altar dargebotenen Opfers war sich der Drache sicher. Zunächst holte er sich alle anderen, bevor einem von ihnen die Flucht gelang.
»Verschone meine Leute!«, schrie Xiuhcoatl heiser. Er wähnte sich in einem Fieberwahn, in dem die Welt aus den Fugen geriet. Noch immer brannte der Pilzsud in seiner Kehle. Zeigte das Gebräu die Wirklichkeit, oder gaukelte es ihm etwas vor, das nicht stimmte?
Der Gott warf einen gewaltigen Schatten, während seine Hatz den Hang blutrot färbte. Körperteile und Eingeweide zeugten von seinem Wüten. Ein Strom aus Blut ergoss sich in Richtung der Wohnstätten von Xiuhcoatls Volk.
Die gequälten Schreie der Sterbenden wollten nicht enden. Der Quetzalcoatl kannte kein Erbarmen. Mit seinen Klauen griff er nach den Fliehenden, um sie zu verschlingen. Inzwischen war er auf das Zehnfache seiner ursprünglichen Größe angewachsen, und es war kein Ende in Sicht.
Er wird wachsen und immer weiter wachsen, bis er sich die ganze Welt einverleibt hat, ging es dem Priester durch den Kopf. Auch auf ihn griff die Panik über. Wahnvorstellungen befielen ihn, die alles übertrafen, was er unter dem Einfluss des Pilzsuds jemals erlebt hatte. Er sah Formen und Farben, wie es sie zuvor nicht gegeben hatte. Noch war Nenetl unberührt, doch schließlich würde der Drache auch sie zu fassen bekommen.
»Nein, sieh hier!«, schrie Xiuhcoatl. Noch immer hielt er das Messer in der Hand. Er hastete zurück zum Altar. »Verschone meine Tochter. Nimm stattdessen dieses Opfer.«
Eine Stimme geisterte durch seinen Verstand. Er begriff die Worte nicht. Sie kamen ihm unglaublich fremd vor. Der Gefangene flehte vermutlich um sein Leben. Es war gleichgültig, denn er war als Opfer auserkoren. Vielleicht trug er dazu bei, das Schlimmste zu verhindern. Xiuhcoatl erkannte ihn kaum. Alles verschwamm vor seinen Augen. Er spürte die Tränen des Fiebers, die er vergoss, als er wieder und wieder zustach. Sie vermischten sich mit dem Blut des Menschenopfers. Diese Gabe konnte der Drache nicht ausschlagen. Er durfte es nicht.
»Schöpfergott, komm zu mir!« Der Geist des Priesters versank in einem Weltenstrudel, den er selbst ausgelöst hatte. Er begriff es, doch es gab keine Umkehr mehr. Seine letzte Chance war, dem Wahnsinn Einhalt zu gebieten. »Dies bringe ich dir dar. Nimm es an und beende dein Wüten. Oder nimm mich an Stelle meiner Tochter.«
»Vater.« Es war nicht mehr als ein Hauch, der ihn traf. Entsetzt. Überrascht. Ungläubig. Und von Schmerzen erfüllt. »Was … geschieht? Warum … hast du das getan?«
Was getan, meine Tochter? Wovon sprichst du?
Xiuhcoatl wurde von rasendem Taumel erfasst. Er spürte das heiße Blut des Opfers. Es rann am Messer hinab, benetzte seine Hände. Sämtliche Kraft wollte aus dem Priester weichen, doch er durfte nicht aufgeben. Nicht versagen. Allein Nenetls Leben zählte. Die Pyramide verwandelte sich in ein gigantisches, groteskes Ungeheuer mit tausend Armen und tausend Augen, die ihn betrachteten. Die Hochebene erstreckte sich ins Uferlose, bis zu einem fernen Horizont, an dem das Grün des Grases mit dem wolkenlosen Blau des Himmels und der glühenden Sonnenkorona verschmolz.
»Wo bist du, Quetzalcoatl?«
Die Schreie des Schöpfergottes kamen von fern. Er hatte die Ebene verlassen, den Berg und den Opferaltar. Er flog davon, ins Land hinaus. War es Xiuhcoatl gelungen, ihn zu besänftigen?