Gestalkt – Tagebuch der Angst - Silvia Meixner - E-Book

Gestalkt – Tagebuch der Angst E-Book

Silvia Meixner

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  • Herausgeber: Heyne
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

Von einem Stalker verfolgt und bedroht – eine Frau erkämpft sich ihr Leben zurück

Der Horror beginnt mit einer Morddrohung auf ihrer Mailbox. Ein Unbekannter kapert ihre Internetidentität, verfasst unter ihrem Namen Postings und erstellt eine Webseite, auf der er sie als Prostituierte anpreist. Silvia Meixner wurde Opfer eines Stalkers. Die Polizei ist hilflos, die Gesetzeslage dehnbar wie Kaugummi. Doch eines Tages beginnt Silvia Meixner sich zu wehren: Sie spricht offen mit Bekannten über ihre Lage, führt akribisch Buch über die Taten des Stalkers und wagt sich nun damit an die Öffentlichkeit. Erschütternd, mutig, stark – ein Tagebuch der Angst, aber auch eines der Befreiung.

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EPUB

Seitenzahl: 291

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Über die Autorin:

Silvia Meixner, geboren in Wien, arbeitete u. a. als Redakteurin für Die Welt und die Bild-Zeitung. Sie lebt als freie Journalistin in Berlin und Wien und studiert neben ihrer Arbeit als Buchautorin Politikwissenschaften.

SILVIA MEIXNER

GESTALKT–

TAGEBUCH DER ANGST

Wie ich mich gegen meinen Verfolger zur Wehr setze

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Originalausgabe 06/2015

Copyright © 2015 by Silvia Meixner

Copyright © 2015 by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Dieses Werk wurde vermittelt durch die AVA international GmbH Autoren- und Verlagsagentur, Münchenwww.ava-international.de

Redaktion: Beate Koglin

Umschlaggestaltung: Yellowfarm GmbH, S. Freischem

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-14518-7

www.heyne.de

Inhalt

VorwortHeute ich – morgen du?

Stalkingtagebuch Teil 1: Der Horror nimmt seinen Lauf

Was ist eigentlich Stalking?

Stalkingtagebuch Teil 2: Die Polizei hilft mir nicht

Stalkingtagebuch Teil 3: Das Cyberstalking beginnt

Deutschland, ein Paradies für Stalker

Stalkingtagebuch Teil 4: Die Stalker sind unter uns

Stalkingtagebuch Teil 5: Schlaflosigkeit, Angst, Panikattacken

Stalkingtagebuch Teil 6: Perfides Stalking im Internet

Stalkingtagebuch Teil 7: Leben unter ständiger Bedrohung

Stalkingtagebuch Teil 8: Die Kontrolle über das eigene Leben zurückgewinnen

Erste Hilfe: Zehn wichtige Tipps, wenn Stalking beginnt

Vorwort Heute ich – morgen du?

Am Tag der Walpurgisnacht 2012 änderte sich mein Leben radikal. Viele Menschen tanzten in der letzten Aprilnacht fröhlich in den Mai – für mich begann der Kampf gegen einen Stalker, der bis heute anhält. Ein Unbekannter drohte in der Nacht zum 30. April 2012 an, mich am 1. Mai umzubringen, und eröffnete damit ein Karussell der Angst. Ich bin seitdem gezwungen mitzufahren – und weiß bis heute nicht, warum. Ich kann es mir nur so erklären, dass ich am falschen Tag am falschen Ort war und einen Irren kennengelernt habe, dem es Freude bereitet, Menschen zu quälen.

Vor dem 30. April 2012 kannte ich Stalking nur aus den Medien und aus Krimis. Nun kenne ich es in vielen Facetten, mein Stalker hat kaum etwas ausgelassen, um mich immer wieder in Angst und Schrecken zu versetzen. Ich wandte mich hilfesuchend an die Berliner Polizei. Dort teilte man mir unter anderem mit, dass der Stalker mir »nur ein bisschen Angst machen wolle« und »auch nicht alle Morde aufgeklärt würden«. An der Aufklärung eines Stalkingfalls, so lernte ich schnell und mit Entsetzen, hat man in Berlin – zumindest in meinem Fall – so gut wie kein Interesse.

»Das kann doch nicht sein«, hörte ich immer wieder, wenn ich Bekannten oder Freunden von meinen Erlebnissen berichtete. Warum hilft die Polizei nicht?

Inzwischen weiß ich: Deutschland ist ein Paradies für Stalker! Egal, was die Täter unternehmen, um ihrem Opfer das Leben zur Hölle zu machen, die Gefahr, dass sie eines Tages vor Gericht zur Verantwortung gezogen werden, ist gering. Dafür sorgt der sogenannte »Stalkingparagraph«, der in der Sache und Theorie zwar gut klingt, in der Praxis aber eklatante Schwächen aufweist: Der Paragraph 238 Strafgesetzbuch (StGB) ist dehnbar wie Kaugummi, und es hängt ganz vom diensthabenden Polizisten ab, ob er den Paragraphen überhaupt anwendet oder einem Bürger dringend von einer Anzeige abrät.

Laut den Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik 2014 wurden im Jahr 2013 bundesweit 23 831 Fälle von Stalking gemäß Paragraph 238 Strafgesetzbuch (StGB) erfasst. Eine Studie der Technischen Universität Darmstadt, die in den Jahren 2002 bis 2005 durchgeführt wurde, kommt zu dem Ergebnis, dass 12 Prozent aller Deutschen einmal in ihrem Leben gestalkt werden – das heißt, dass insgesamt rund 9,6 Millionen Menschen von Stalking betroffen sind. Diese Zahlen umfassen sowohl Fälle, die nach wenigen Tagen oder Wochen beendet sind, als auch Stalkingfälle, bei denen das Opfer jahrelang verfolgt wird. Nicht immer setzen Täter oder Täterinnen ihrem Opfer das Messer an die Kehle – sie agieren viel perfider, säen eine Saat der Angst und sehen genüsslich zu, wie diese aufgeht. In vielen Gesprächen mit Opfern habe ich immer wieder dieselben Sätze gehört: »Zur Polizei gehe ich nicht, die helfen mir sowieso nicht.« Und: »Ich war bei der Polizei, die haben mich nicht ernst genommen.« Und: »Dieser Stalkingparagraph ist doch ein Witz.« 73 Prozent der Teilnehmer der Darmstädter Stalkingstudie gaben an, dass sie Schwierigkeiten hatten, Polizeibeamten den Ernst ihrer Situation klarzumachen.

Insgesamt kommt es nur zu einer geringen Zahl an Anzeigen, und nur eine verschwindend kleine Zahl landet schließlich vor Gericht. In der Folge gibt es kaum einen Stalker, der im Gefängnis sitzt. Was also sollte einen Stalker abschrecken, sein Opfer zu quälen?

Auch die Gesellschaft verharmlost seine Taten, tut sie gern als »Kavaliersdelikte« ab. Die Opfer sollen sich bitte nicht so anstellen, es gibt wirklich Schlimmeres als Menschen, die vor der Tür stehen, drohen, Telefonterror veranstalten, gefälschte Webseiten anlegen, unter falschem Namen posten, denunzieren und permanent Angst verbreiten. Dabei wird übersehen, dass vermeintlich kleine Taten sich im Laufe der Zeit für das Opfer zu einer schier unüberwindbaren Bedrohung anhäufen.

Den Tätern geht es in unserem Land gut, denn sie werden geschont – von der Gesellschaft und von den Gesetzen. Weniger gut ergeht es den Opfern, die jahrelang leiden, belächelt werden und mit seelischen und körperlichen Schäden rechnen müssen, für die sie ebenfalls kaum Hilfe erfahren. Sie haben keine Lobby – und sie gründen auch keine, weil sie überhaupt keine Zeit und Energie dafür haben. Ängste werden in unserer Gesellschaft gern ignoriert – solange es nicht die eigenen sind. Dabei kann es jeden treffen. Von jetzt auf gleich. Wer heute die Ängste von Stalkingopfern belächelt, kann morgen schon in derselben Situation sein. Weil er sich von einem Partner oder einer Partnerin getrennt hat, weil er sexuelle Avancen abgelehnt hat, weil er bei seinem Stalker unbewusst Neid oder Hass ausgelöst hat oder einfach zur falschen Zeit am falschen Ort war – und einen Menschen kennengelernt hat, der sie oder ihn aus purer Bösartigkeit zum Opfer erwählt.

Stalking ist ein großes Tabuthema unserer Gesellschaft. Im Krimi beschäftigen wir uns gern damit – danach sollen die Opfer aber bitte wieder verstummen. Die meisten meiner Bekannten hören stets gern die neuesten Neuigkeiten, ergötzen sich an den Schandtaten des Stalkers – »Na, hat er sich wieder gemeldet?« oder: »Gibt’s was Neues?« –, dann aber wechseln sie schnell das Thema. So lange ein Stalkingopfer kein Messer im Rücken hat, kann das Ganze ja wohl nicht so schlimm sein, oder?

»Es ist, als hättest du Lepra«, sagte ein Stalkingopfer zu mir, »alle starren auf dein Leid, aber niemand will dir helfen.« Ich hätte noch einen anderen Vergleich parat. Es ist, als hätte man ein besonders skurriles Hobby. Menschen wenden sich den Erzählungen begeistert zu, aber die Regeln sind klar: Das Opfer muss »liefern«. Wenn der Täter häufig im Auto vor der Tür sitzt, ist die Botschaft unmissverständlich: Ich habe dich im Auge. Mitgefühl oder gar tatkräftige Hilfe ist damit im persönlichen Umfeld allerdings nur selten zu bekommen. »Ist doch nicht schlimm«, sagte jemand gönnerhaft zu mir, »lass ihn doch im Auto sitzen!« Natürlich, es ist ja nicht verboten.

Dieses Buch ist allen Menschen gewidmet, die Ähnliches erleben und nach Auswegen und Hilfe suchen.

Es gibt einen guten Ansatz: Die Gesellschaft, die Politik, die zuständigen Instanzen müssen sich endlich aufraffen, Stalking nicht als Privatangelegenheit der Opfer und als Kavaliersdelikt zu betrachten. Stalker fürchten sich auch – sie haben panische Angst davor, dass Nachbarn, Freunde, Kollegen und die Oma davon erfahren könnten, was sie treiben. Genau deshalb muss man ihre Taten öffentlich machen, den Stalkingparagraphen verbessern, die Täter vor Gericht bringen und verurteilen. Erst wenn die soziale Kontrolle einsetzt, wird sich herumsprechen, dass Stalking kein harmloses Hobby, sondern die Summe grausamer kleiner oder größerer Straftaten ist. Meine Forderung ist klar: Helft endlich den Opfern – und verurteilt die Täter! Solange die Gesellschaft den Tätern die Macht gibt und den Opfern die Hilfe versagt, werden die Stalker weitermachen.

Mein Verfolger läuft nach wie vor frei in Berlin herum. Vielleicht kennen Sie ihn ja oder sitzen demnächst neben ihm im Internetcafé oder lernen ihn auf einer Party kennen. Die Stalker sind unter uns. Auch wenn viele das nicht wahrhaben wollen – zumindest so lange, bis sie selbst zum Opfer werden.

Stalkingtagebuch Teil 1: Der Horror nimmt seinen Lauf

26. April 2012: Anonyme Anrufe

Nachts. Berlin. Ich hatte einen schönen Abend mit Freunden, sitze gut gelaunt im Taxi und höre meine Mailbox ab. Ein Anrufer hat keine Nummer, aber eine Nachricht hinterlassen, er befriedigt sich darauf selbst.

Ich sage zum Taxifahrer: »Seltsam, der Typ muss sich verwählt haben.«

Der Taxifahrer erwidert: »Diese Stadt ist voller Irrer. Man muss vorsichtig sein.«

Ich frage den netten Taxifahrer: »Mal ehrlich, würden Sie so was machen, eine wildfremde Frau anrufen und sich selbst befriedigen? Was könnte ein Mann daran spannend finden?«

Der Taxifahrer antwortet: »Keine Ahnung, mich würde das nicht antörnen, aber es gibt ja viele Perverse.«

Ja, es gibt viele Perverse! Ich war ein Mensch, der an das Gute in seinen Mitmenschen glaubte. Glauben wollte. Die Erfahrungen, die ich seit der Walpurgisnacht 2012 bis heute machen musste, haben mich zu einem anderen Menschen gemacht. Ich glaube inzwischen nicht mehr bedingungslos an das Gute in meinen Mitmenschen. Natürlich habe ich auch vor dem 30. April 2012 gewusst, dass das Böse in jedem Menschen steckt, und die Kunst des Lebens darin liegt, das Gute überwiegen zu lassen. Viele Menschen schaffen das. Mein Stalker nicht. Vielleicht ist er nur böse, vielleicht ist er psychisch krank, möglicherweise ist er beides. Seine Taten entschuldigt das nicht.

27. April 2012 Obszöne Anrufe

Der Abend nach der Taxifahrt. Ich sitze mit einem Freund gut gelaunt und entspannt auf dem Balkon, wir trinken Wein, ein Anruf. Ein Unbekannter ist am Apparat. Er stöhnt. Ich lege auf. Ich ahne, dass der Anruf vom vorangegangenen Tag und dieser nun kein Zufall mehr sind. Ich habe keine Ahnung, wer der Anrufer sein könnte. Ich kann es mir nicht erklären, aber an einen Menschen, der sich verwählt oder zufällig meine Nummer gewählt hat, glaube ich nun nicht mehr.

Aus heutiger Sicht scheint es mir wie ein Aufwärmen, bevor ein großes Spiel beginnt. Es wird ein seltsames, unbarmherziges Spiel: Der Anrufer ist der Jäger, ich bin die Gejagte. Es gibt offenbar keinen Grund für sein Spiel …

28. April 2012 Dasselbe Spiel

Am nächsten Abend wiederum dasselbe Spiel. Ich lege auf und gehe ab sofort nur noch ans Telefon, wenn ich die Nummer des Anrufers identifizieren kann. Ich frage Freundinnen, ob ihnen Ähnliches widerfahren sei. Einige staunen, andere erzählen von ihren Erlebnissen. Mindestens ein Drittel meiner Freundinnen hat ähnliche Anrufe erlebt. Aus praktischer Sicht kann man sagen: Das spart die hohen Telefonsexgebühren. Aus moralischer Sicht muss man sagen: Liebe Männer, lasst das bitte. Ich kenne keine Frau, die das toll findet, und das müssten die anonymen Stöhner unter anderem daran erkennen, dass die Frauen auflegen. Wortlos. Grußlos. Wem die Ohren wehtun, der hat’s verdient, dann hat die Angerufene zur Trillerpfeife gegriffen. Ein einfaches, aber wirksames Gegenmittel.

29. April 2012: »Ich bring dich um!«

Anruf vier wird mich das Stöhnen des Anrufers bei seinen ersten Anrufen schnell als vergleichsweise harmlos vergessen lassen und mein Leben grundlegend verändern: Es wird mir mit Mord gedroht. Der Anruf kommt in der Nacht vor der Walpurgisnacht, und bis heute frage ich mich, wie der Täter so blöd sein konnte, seine Nachricht auf meiner Mailbox zu hinterlassen. Sie liegt seitdem gut verwahrt an einem sicheren Ort. Eines Tages, wenn es zum Prozess kommen wird, wird diese Nachricht ein wichtiges Beweismittel sein. Da ich nachts mein Handy auf lautlos gestellt habe, höre ich die Mailbox erst am nächsten Morgen in der S-Bahn auf dem Weg zur Arbeit ab. Was ich höre, lässt mir das Blut in den Adern gefrieren. Eine verzerrte Männerstimme sagt: »Silvia, am 1. Mai wirst du umgebracht.« Diese Walpurgisnacht wird zum unvergesslichen Horror für mich: Wer will mich umbringen? Und warum?

30. April 2012: Gute Polizisten, schlechte Polizisten

S-Bahnhof Berlin-Friedrichstraße. Ich treffe auf einen Polizisten und frage ihn, wo der nächste Polizeiabschnitt ist. Ich erzähle ihm kurz, was vorgefallen ist. Er ist hilfsbereit und freundlich, schaut mich teilnahmsvoll an und sagt nachdenklich etwas, was ich im Stress der Stunde nicht richtig einordnen kann, was mir nachher aber noch oft einfallen wird: »Ich wünsche Ihnen viel Glück und dass es bald aufhört. Und ich wünsche Ihnen, dass Sie an die richtigen Polizisten geraten.«

»Gibt es falsche Polizisten?«, denke ich mir, bevor ich weitereile zum nächstgelegenen Polizeiabschnitt. Für mich sind Polizisten meine Freunde und Helfer, ich habe weitgehend gute Erfahrungen mit ihnen gemacht. Und wenn nicht, dann lag es meistens daran, dass ich zu schnell gefahren bin oder falsch geparkt habe. Bei genauer Betrachtung war ich daran natürlich selbst schuld. Gerade in Berlin finde ich es bewundernswert, wenn jemand den Beruf des Polizisten ausübt. Ich war einmal dienstlich auf einer 1.-Mai-Demo in Kreuzberg, und ich werde nie vergessen, wie Polizisten, die vermutlich aus ganz Deutschland kamen, zusammengepfercht in einem winzigen Bus saßen und einen Stadtplan studierten. Sie taten mir leid, weil sie an einem Feiertag in einer fremden Stadt Dienst tun mussten.

Ich fühle mich wie in Trance, als wäre ich von meinem bisherigen Leben völlig abgeschnitten, und frage, als ich auf der Polizeistation eintreffe, ohne weiter darüber nachzudenken, ob ich mit einer Beamtin sprechen könne. Ich schildere kurz, was vorgefallen ist, die Polizisten sind sehr nett und verständnisvoll. Während ich warte, betritt ein junges Paar die Polizeistation, die beiden sind Touristen und sehr aufgeregt, man hat ihnen eine Tasche geklaut. Ich sitze ein paar Meter entfernt und frage mich, ob der unbekannte Anrufer irgendwo in der Nähe ist und ob er seine Drohung wahr machen wird – und wenn ja, wie.

Wie gern hätte ich die Probleme der beiden Touristen! Natürlich sind sie aufgeregt, aber ich denke mir, was ist eine geklaute Tasche schon gegen eine Morddrohung. Ich befand mich in einer von jenen Situationen im Leben, in denen ich gern mit anderen tauschen würde. Aber das Leben ist unerbittlich: Mein Problem bleibt meines – und wird es lange bleiben. Heute Morgen nach dem Aufstehen war ich noch ein froher, ausgeglichener Mensch – wenige Stunden später fühle ich mich, als lebte ich unter einer Glasglocke, die zusätzlich mit Watte gefüttert ist.

Stunde um Stunde vergeht. Ich sitze in einem Raum, mir gegenüber die Polizistin, die meinen Fall aufnimmt. Sie ist freundlich und überaus verständnisvoll, keine Sekunde lang habe ich den Eindruck, dass sie mich nicht ernst nehmen würde oder gar abwimmeln will. Im Gegenteil: Sie ist ungemein engagiert und versucht wirklich alles, um mir zu helfen. Aus heutiger Sicht würde ich sagen: Wären alle Polizeibeamten so, das Problem Stalking würde sich in diesem Land schlagartig relativieren. Stalker würden es sich dreimal überlegen, ob sie irgendjemandem das Leben schwer machen – und käme der Stalkingparagraph konsequent zur Anwendung, kämen ein paar Täter mehr ins Gefängnis – das würde sich herumsprechen, und das Problem wäre in relativ kurzer Zeit weitgehend gelöst.

Leider sieht die Realität anders aus.

Ich frage die Polizistin, ob sie sich die Nachricht auf meiner Mailbox wohl anhören könne und wie sie die einschätze.

Sie hört die Botschaft ab, ihr Gesicht wird ernst: »Das müssen Sie ernst nehmen. Das ist kein Spaß, hier hat sich niemand nur einen schlechten Scherz erlaubt.«

Der Unbekannte meint es also ernst. Wer ist er? Was will er?

Nun beginnt sie systematisch und beherzt ihre Arbeit, und ich werde dieser Frau für alle Zeiten dankbar sein. Sie lässt nichts unversucht, um eine Spur zu finden, diese zu verfolgen. Da der Täter dumm genug war, seine Nummer nicht zu unterdrücken und von einem öffentlichen Ort anzurufen, ist die Sache einfach: Der Anruf kam nachts um ein Uhr aus einem Internetcafé in Berlin.

Seit ich das weiß, sehe ich Internetcafés mit anderen Augen: Stellen Sie sich vor, jemand ruft von dort aus jemanden an, spricht eine Morddrohung aus, stöhnt dabei herum, befriedigt sich möglicherweise selbst – und niemand bemerkt es! Oder vielleicht will es niemand bemerken? Oder vielleicht ist es in einigen Berliner Bezirken an der Tagesordnung, dass man telefonisch Menschen bedroht und alle hören weg …?

»Kennen Sie jemanden, der in dem Bezirk wohnt, in dem sich das Internetcafé befindet?«, fragt die Polizistin.

Wer in Berlin wohnt, dessen Freunde und Bekannte sind meist über alle Bezirke verstreut. So ist es auch bei mir. Ich denke nach, eigentlich kenne ich niemanden, der in der Nähe des Internetcafés wohnt. Aber plötzlich fällt mir ein: Ich hatte mal einen Facebook-»Freund«, einen flüchtigen Bekannten, den ich, weil mir seine Postings auf die Nerven gingen, vor vielen Monaten gelöscht hatte. Er hatte unter anderem ständig schlechte und langweilige Fotos aus seinem Kiez veröffentlicht – hätte er das nicht gemacht, hätte ich ihn und sein Viertel vermutlich schon längst vergessen. Er wohnt – Zufall? – um die Ecke von jenem Internetcafé, in dem die Morddrohung ausgesprochen wurde. Ich kann mir nicht erklären, warum ausgerechnet er mir nach dem Leben trachten sollte – aber in den kommenden Monaten werden alle Fäden, alle Spuren immer wieder zu ihm führen.

Die Idee der Polizistin ist es, die sogenannte Gefährderansprache, die Teil des Stalkingparagraphen 238 ist, zur Anwendung zu bringen. Die Idee klingt sehr vernünftig: Die Gefährderansprache soll der Deeskalation dienen, im Idealfall gelingt es der Polizei, bedrohlichen Personen eine deutliche Grenzziehung zu vermitteln und diese von ihren Plänen, anderen Menschen Schaden zuzufügen, abzubringen.

Ich sitze in dem Zimmer der Polizistin, draußen ist schönes Wetter, Hauptstadtleben. Ich fühle mich, als hätte ich mit all dem da draußen plötzlich nichts mehr zu tun. Die Polizistin hält unter anderem den Umstand, dass der eventuelle Täter um die Ecke des Internetcafés wohnt, aus dem die Morddrohung kam, für ausreichend, um eine Gefährderansprache durchzuführen. Dass er um die Ecke wohnt, ist natürlich rechtlich nicht relevant, rein theoretisch könnte auch ein Chinese aus Italien oder ein Italiener aus China angereist sein. Aber zusammen mit vielen kleinen Indizien, die ich wie Puzzlestücke aneinanderreihe, wird es an diesem Tag und in den kommenden Wochen und Monaten eine Menge Hinweise auf den potenziellen Täter geben. Die Polizistin versucht nun, ihre Kollegen im Wohnbezirk des möglichen Täters auf die Spur zu schicken. Leider vergeblich.

Das »Glück« des Täters: Er hat in der Nacht vor der Walpurgisnacht angerufen, der Tag darauf ist der 1. Mai, und da sind in Berlin alle Polizisten traditionell in höchster Alarmbereitschaft, weil man nie wissen kann, wo welche Demonstranten ausrasten werden. Für Stalkingopfer ist da kein Platz. Hinzu kommt vermutlich, dass in dem Bezirk, in dem der mutmaßliche Täter wohnt – einem der Bezirke mit den meisten Straftaten in der Hauptstadt –, ein Fall offensichtlich nur dann als wichtig angesehen wird, wenn das Opfer schon tot ist.

Stalking gehört dort offenbar zu den vernachlässigbaren Tatbeständen, denke ich mir, als ich stundenlang bei der Polizei sitze und hoffe, dass jemand sich erbarmt, eine Gefährderansprache durchzuführen.

»Warum machen die nichts?«, frage ich mich immer wieder. »Warum hilft mir niemand?«

Der Polizist, der sich weigert, zum mutmaßlichen Täter zu fahren, hat das Recht auf seiner Seite. Er kann eine Gefährderansprache machen, aber er muss nicht. Es ist erstaunlich, wie zwei Polizisten in einer Stadt, die nur ein paar Kilometer Luftlinie voneinander entfernt arbeiten, zu völlig verschiedenen Einschätzungen kommen.

Ich vertraute darauf, dass die Polizei mir helfen würde. Die Polizistin kämpfte wie eine Löwin, verlor aber leider gegen ihre Kollegen in einem anderen Berliner Bezirk. In dunklen Stunden, derer noch viele kommen sollten, war diese Frau ein Strohhalm meiner Hoffnung, der Beweis, dass nicht alle Polizisten schlecht sind und dass es welche gibt, die ein Opfer und seine Nöte ernst nehmen.

Ich hatte einfach Pech: falscher Bezirk, falscher Tag, falsche Beteiligte. Ein Polizist kann die Möglichkeit, eine Gefährderansprache durchzuführen, jederzeit unter den Teppich kehren. So wurde auch mein Fall offensichtlich einfach als harmlos eingestuft, und die Polizisten in diesem Bezirk unterließen es, der Kollegin – und in der Folge mir – zu helfen. Warum dieser Bezirk immer als Problembezirk gewertet wird, den man besser großräumig umfährt, wundert mich indes nicht mehr. Ich möchte nicht in einem Kiez wohnen, in dem die Polizei Stalkingopfern nicht hilft.

Was ist ein »Gefährder«?

Dies ist eine Person, bei der kein konkreter Verdacht der Begehung einer Straftat besteht, aber bei der die Polizei vermutet, dass sie Straftaten von erheblicher Bedeutung begehen könnte beziehungsweise diese plant.

Auf der Webseite des Fortbildungsinstituts der bayerischen Polizei wird die Gefährderansprache so definiert:

»Bei der Gefährderansprache handelt es sich um ein verhaltensbeeinflussendes Instrument. Die individuelle Ansprache signalisiert dem potenziellen Gefährder, dass polizeiliches Interesse an seiner Person besteht, die Gefährdungslage bei der Polizei registriert wird und die Lage ernst genommen wird. Darüber hinaus hat sie zum Ziel, durch klare Grenzsetzung und das Aufzeigen von Konsequenzen den Gefährder in Richtung eines sozialkonformen Verhaltens zu beeinflussen. Die individuelle Ansprache bewirkt, dass dem Täter ein erhöhtes Tatendentdeckungsrisiko deutlich gemacht wird und durch das Gespräch zusätzliche Informationen gewonnen werden können, die für das polizeiliche Folgehandeln eine wichtige Grundlage bilden. Eine Gefährderansprache ist im Regelfall eine polizeiliche Information über bevorstehende Ereignisse, bestehende Rechtslage, erlaubtes oder unerlaubtes Verhalten und die Absicht der Polizei, Gesetzesverstöße zu verhindern oder zu unterbinden.«

Stellen Sie sich vor, Sie sind dämlich genug, einem Menschen eine Morddrohung auf seiner Mailbox zu hinterlassen und wenige Stunden später steht ein freundlicher Polizist vor Ihrer Wohnungstür und bittet um ein Gespräch. Wäre ich ein Stalker, ich hätte die Hosen voll und würde umgehend mit meinen Straftaten aufhören.

Verlässliche statistische Zahlen über den Erfolg dieser Maßnahme gibt es leider nicht, aber aus Opfersicht finde ich, dass es zumindest einen oder auch mehrere Versuche wert ist. Bei der Bremer Polizei, die in Sachen Stalking vorbildlich agiert, ist man beispielsweise längst dazu übergegangen, bei jedem Stalkingfall eine Gefährderansprache durchzuführen, sobald das Opfer einen Täter benennen und dies vernünftig begründen kann. Die Bremer verzeichnen einen hohen Erfolgsgrad, wenn ein geschulter Mitarbeiter vor der Tür eines mutmaßlichen Stalkers steht. Die meisten sind so erschrocken darüber, dass man sie enttarnt hat oder dass ihnen die Polizei auf den Fersen ist, dass sie sofort aufhören. Denn eines fürchten die Stalker wie der Teufel das Weihwasser: Dass man sie enttarnt, aus dem Dunkel ihrer Wohnzimmer ans Licht holt, dass Freunde, Verwandte, Kollegen erfahren könnten, was sie treiben. Eine gelungene Gefährderansprache fördert beim Täter die Angst vor den Folgen, die ihnen der freundliche Polizist unmissverständlich auflistet.

Ein gut geschulter Polizist wird in der Lage sein, einem Menschen, der unter Verdacht steht, ein Stalker zu sein, die möglichen strafrechtlichen Folgen seines Handelns so zu erklären, dass er sich gut überlegen wird, ob er weitermacht.

Die eklatante Schwäche des Stalkingparagraphen besteht darin, dass jeder Polizist eigenmächtig beurteilen kann, ob die Beweislage ausreicht, um eine Gefährderansprache durchzuführen. Die Polizistin, mit der ich sprach, war ganz eindeutig der Ansicht, dass das bei mir der Fall war. Das Wort Stalking hätte ich auch in meinem Schockzustand nicht in den Mund genommen, ich hätte niemals gedacht, dass ich jemals in die Situation kommen würde, Stalkingopfer zu werden.

Aus heutiger Sicht bin ich davon überzeugt, dass mein Stalker, hätte die Polizei ihm im Rahmen der Gefährderansprache einen Besuch abgestattet, es sich überlegt hätte, ob er mir weiterhin das Leben zur Hölle machen wolle – was er nunmehr seit drei Jahren tut.

Ich stand unter Schock, ich hatte keine Ahnung von den Details und rechtlichen Möglichkeiten des Stalkinggesetzes. Ich wäre niemals auf die Idee gekommen, um eine Gefährderansprache zu bitten. Ich kannte das Wort nicht einmal.

Guter Rat: Bestehen Sie auf einer Gefährderansprache und erstatten Sie Anzeige

Ich rate jedem Opfer: Wenn Sie wissen, wer der Täter ist oder konkrete Hinweise dafür haben, gehen Sie zur Polizei und bleiben Sie hartnäckig. Fragen Sie, wer auf Ihrem Abschnitt für Stalking zuständig und diesbezüglich besonders geschult ist. Immer mehr deutsche Polizisten absolvieren eine Sonderausbildung. Wenn Sie Glück haben, finden Sie einen Polizisten oder eine Polizistin, die Sie und Ihre Ängste ernst nimmt. Bestehen Sie auf einer Gefährderansprache!

Erstatten Sie darüber hinaus Anzeige, idealerweise gegen Nachstellung, gegen unbekannt, wenn Sie nicht wissen oder rein theoretisch vor Gericht nicht beweisen könnten, wer der Täter ist. Wenn Sie wissen oder gut belegen können, wer der Täter ist, erstatten Sie gleich Anzeige gegen ihn. Eine Anzeige gegen unbekannt versandet leider schnell.

Nachstellen steht in Deutschland seit dem 1. April 2007 unter Strafe. Sie können zum Beispiel wegen Beleidigung, Bedrohung, Nötigung, Hausfriedensbruch, Sachbeschädigung oder Körperverletzung Anzeige erstatten. Unbedingt zu beachten: Nehmen Sie eine Person Ihres Vertrauens mit!

Nehmen Sie alle Beweise mit, jeder kleine Hinweis – und erscheint er Ihnen vielleicht noch so bedeutungslos – wird Ihnen helfen, Ihre Glaubwürdigkeit zu untermauern. Bleiben Sie im Gespräch mit den Polizisten möglichst sachlich. Versuchen Sie, auch wenn es schwierig ist, die Nerven zu bewahren.

Lassen Sie sich nicht abwimmeln oder davon abhalten, eine Anzeige zu erstatten. Es macht den Ordnungshütern zwar Mühe, die manche gern vermeiden wollen, aber es ist Ihr gutes Recht als Staatsbürger, sich mit einer Anzeige zur Wehr zu setzen!

Was Sie noch tun können: Beim zuständigen Amtsgericht können Sie als Stalkingopfer eine einstweilige Verfügung beantragen, in der dem Stalker oder der Stalkerin untersagt wird, sich Ihnen zu nähern, Sie zu kontaktieren oder bestimmte Orte aufzusuchen.

Um bessere Karten zu haben, falls es zu einem Gerichtsprozess kommt, können Sie dem Stalker schriftlich mitteilen, dass Sie keinerlei Kontakt mit ihm wünschen. Schicken Sie diesen Brief unbedingt per Einschreiben mit Rückschein. Es gibt Richter, die im Prozess daran zweifeln, dass das Opfer tatsächlich keinen Kontakt mit dem Täter haben wollte. Mit einem solchen Schreiben können Sie es belegen.

Wenn es Ihre finanziellen Möglichkeiten erlauben, sollten Sie sofort einen Rechtsanwalt konsultieren, am besten einen, der sich auf das Thema Stalking spezialisiert hat. Es gibt mittlerweile bundesweit einige, die das tun – ein Umstand, der belegt, wie drängend das Problem ist.

»Das Stalkinggesetz ist so effektiv wie Handauflegen bei Krebserkrankungen« – Interview mit Chiara S., Stalkingopfer aus Hamburg

Aus einem harmlosen Klick wird ein Albtraum: Chiara S. (24) aus Hamburg hat es erlebt. Auf Facebook bestätigt sie die Freundschaftsanfrage eines ihr unbekannten und – wie sich später herausstellen sollte – erfolglosen Architekten (62) aus Hannover. Was zuerst wie eine von unzähligen Anfragen aussieht, auf die täglich weltweit ebenso unzählige Male geantwortet wird, entwickelt sich zur jahrelangen Jagd. Die damalige Managementstudentin erhält zu jener Zeit wie alle Menschen, die Mitglied bei einer Social-Media-Plattform sind, viele Freundschaftsanfragen und bestätigt diese auch von Facebook-Mitgliedern, die sie nicht persönlich kennt.

ENDE DER LESEPROBE