Ich hab' dich niemals lächeln sehen... - Silvia Meixner - E-Book

Ich hab' dich niemals lächeln sehen... E-Book

Silvia Meixner

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Beschreibung

Rosalia Graf und ihre Freunde wehrten sich mit bescheidenen Mitteln gegen die übermächtige Nazi-Diktatur Adolf Hitlers. Sie und ihr Ehemann Johann beherbergen in ihrer Wiener Wohnung einen flüchtigen Funktionär der Kommunistischen Partei und verbreiten Flugblätter gegen das Nazi-Regime. Das Ehepaar Graf wird am 15. Juli 1942 festgenommen und am 21. Juni 1944 im Landesgericht Wien hingerichtet. Ihre Nichte, die Journalistin und Schriftstellerin Silvia Meixner, hat sich auf Spurensuche nach dem Leben ihrer ermordeten Familienmitglieder begeben.

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INHALT

Vorwort

Kapitel 1 Letzte Ruhe, späte Ruhe

Kapitel 2 Wikipedia: Ein Leben in kurzen Sätzen

Kapitel 3 Interview mit Käthe Sasso: Gespräch mit einer Unbeugsamen

Kapitel 4 Johnstraße

Kapitel 5 Willkommen im Roten Wien!

Kapitel 6 Johann Graf: Schachtel Nr. 805

Kapitel 7 Parallelen

Kapitel 8 Wo die Hampels starben – jeder für sich allein: Die Gedenkstätte Plötzensee in Berlin

Kapitel 9 Widerstandskämpfer und der Wert des Erinnerns: Wie wird man berühmt – und wollten die mutigen Menschen das überhaupt?

Kapitel 10 Kapitel Beruf: Henker. Bezahlung: Pro Kopf

Kapitel 11 Rosalias Freunde – gemeinsam gekämpft, gemeinsam ermordet

Kapitel 12 Gestapo-Zentrale in Wien: »Dieses Haus war die Hölle«

Kapitel 13 Friedrich Forsthuber, Präsident des Wiener Landesgerichts: »Es ist ein Privileg, in einer Demokratie zu leben«

Kapitel 14 Ein Haus der Angst

Kapitel 15 Zehn Eisenbahner, hingerichtet in 27 Minuten

Kapitel 16 »Moskauer Deklaration«: War Österreich Opfer oder Täter?

Kapitel 17 Die Urteile – Tote nehmen keine Wohnung

Kapitel 18 Gute Menschen

Kapitel 19 Eine kleine Liebeserklärung an den Neusiedler See

Kapitel 20 Der Wiener Zentralfriedhof im 21. Jahrhundert: Online den Tod organisieren, Rehe beobachten oder joggen

Kapitel 21 So feiert der Wiener Zentralfriedhof seinen 150. Geburtstag

Kapitel 22 Einsamkeit im Gefängnis: »Es interessiert sie einen Scheißdreck, wer du bist«

Kapitel 23 Spuren, die im Nichts enden …

Kapitel 24 Nie wieder. Nie wieder?

Dankeschön.

VORWORT

Lange Zeit ahnte ich nichts von der Existenz von Rosalia und Johann Graf. Ein Teil meiner Familie wusste von den hingerichteten Verwandten, ein Teil nicht. Die, die davon Kenntnis hatten, dachten, dass alle es wussten. Die, die nichts davon ahnten, kamen nicht auf die Idee, zu fragen, ob jemand in der Familie hingerichtet worden war.

Und so schlummerte Rosalia Grafs Geschichte, jahrzehntelang.

Als ich davon hörte, dass sie und ihr Mann Johann im Zweiten Weltkrieg im Widerstand gewesen und von den Nationalsozialisten hingerichtet worden waren, war ich zuerst überrascht, danach fasste ich einen Entschluss: Ich wollte Rosalia Grafs Geschichte aufschreiben, recherchieren, was nach so vielen Jahren von ihrem Leben noch da war. Ich wusste, wenn ich es nicht tun würde, würde es niemand machen. Und meine Tante und mein Onkel würden noch mehr vergessen werden als sie es ohnehin schon waren. Also nahm ich, fast 80 Jahre nach den grausamen Ereignissen, die Spurensuche auf.

Und stellte mir bald schon die Frage: Kann man jemanden vermissen, von dessen Existenz man so lange nichts wusste? Heute weiß ich: Ja, das ist möglich. Mit jedem Schritt des Suchens kamen mir Tante Rosalia und Onkel Johann ein bisschen näher. Ich besuchte ihre Grabstätte auf dem Wiener Zentralfriedhof, ich recherchierte in Archiven, las Bücher – zum Beispiel über Henker, weil ich verstehen wollte, was Menschen dazu treibt, andere mit dem Fallbeil zu töten – sprach mit Experten und Zeitzeugen.

Ich stand vor dem imposanten Wohnhaus der Grafs in Wien, empfand im Wiener Landesgericht, wo sie hingerichtet wurden, tiefe Traurigkeit und spürte Zuversicht, als ich an ihren Grabstätten auf dem Wiener Zentralfriedhof stand. Mit dem Gefühl des Vermissens stellte sich auch ein weiteres Gefühl ein: Stolz. Je mehr kleine Details ich aus ihren Leben erfuhr, desto klarer wurde mir: Rosalia und Johann Graf waren nicht irgendwelche Verwandte, sie waren Menschen mit Haltung und Mut, wie man sie nur selten findet.

Und auch ihre Mitstreiter waren Menschen, die mir Mut machen. Sie sind der Beweis, dass es während der Zeit der Nationalsozialisten nicht nur Mörder, Mitläufer und Verräter gegeben hatte, sondern auch Mitstreiter, Freunde, mit denen die beiden im Tode nach langer Zeit wiedervereint wurden. Käthe Sasso, eine gemeinsame Kämpferin, sammelte nach dem Krieg die Gebeine ihrer Freunde zusammen und kämpfte für deren würdige Bestattung. Das war nicht einfach in einem Land, in dem viele die Geschichte der Nationalsozialisten unter den Teppich kehren wollten. Weil viele, wie man in Wien sagt, »Dreck am Stecken« hatten und ihre eigene Vergangenheit am liebsten nicht hinterfragen wollten. Möge ihr Gewissen diese Arbeit erledigt haben.

Von Rosalia Graf gibt es nur noch drei Fotos: Ein Fotograf der »STAPO Leitstelle Wien« hat sie aufgenommen. Es sind die Fotos, die nach ihrer Verhaftung gemacht wurden. Eines zeigt Rosalia Grafs Gesicht von vorne, eines ihr Profil, eines ihr Halbprofil. Natürlich lächelt sie nicht, niemand würde das in dieser Situation tun. Sie blickt ernst in die Kamera und während meiner Recherchen hatte ich ihr Bild auf meinem Schreibtisch stehen und habe mich oft gefragt, wie wohl ihr Lächeln gewesen war. Aus dieser Frage entstand der Titel dieses Buches.

In Breitenbrunn, Rosalia Grafs Geburtsort, traf ich einen 99-jährigen Mann. Er konnte sich zwar nicht an Rosalia Graf erinnern, er hatte sie in diesem kleinen Ort erstaunlicherweise nie getroffen. Das lag daran, wie wir im Gespräch herausfanden, dass er eine Generation älter war und einige Jahre im Krieg an der russischen Front kämpfen musste. Als er schließlich in die Heimat zurückkehrte, war Tante Rosalia, geborene Moser, längst hingerichtet.

Der 99-Jährige stellte traurig fest, dass die Menschen nichts aus der Geschichte lernen würden, verglich seine Zeit im Krieg mit dem heutigen Krieg in der Ukraine. Er erzählte mir von seinem Hunger, der ihn jeden Tag und jede Nacht begleitete. In seinem Gesicht stand absolute Traurigkeit und ich konnte den Hunger nachempfinden. Nicht den Hunger, den wir haben, wir Menschen hierzulande haben im 21. Jahrhundert bestenfalls Appetit.

Der 99-Jährige gab mir einen guten Rat in Sachen Älterwerden: »Bleiben Sie immer in Bewegung. Ich bewege mich, jeden Tag!« Natürlich turnt er nicht mehr durch die Gegend, aber er macht täglich mit Hilfe seines Rollators einen Spaziergang, bewegt Muskeln und Geist. Vielleicht ist das das Geheimnis des Menschseins: Bewegung, für Geist und Körper. Niemals nachlassen, immer nachfragen. Das habe ich getan. Hier sind die Antworten.

Wien/Berlin, im Juni 2024

KAPITEL 1

LETZTE RUHE, SPÄTE RUHE

Der Rasen ist vermoost, dicht gewachsen und sehr, sehr weich. Wie ein kostbarer Teppich, in dem ganz langsam die Schuhe versinken und den man kaum zu betreten wagt. Innehalten. Es ist ein tröstlicher Ort, an dem die Seele ihren Frieden finden kann. Dafür haben Menschen Friedhöfe geschaffen: Hier nehmen wir weinend Abschied und kehren wieder, um die tröstliche Erinnerung an die Verstorbenen aufleben zu lassen.

Plötzlich tauchen drei Rehe auf, die flink zwischen den Gräbern umherspringen. Kaum erblickt man sie, sind sie auch schon wieder weg, weiter gehüpft auf ihrem Streifzug über den Friedhof. Es ist, für wenige Sekunden, eine friedliche Szenerie.

Die grausame, brutale Vergangenheit kann sie nicht übertünchen. Hier, in ihrer Heimatstadt, ruht Rosalia Graf. Zentralfriedhof, Gruppe 40, Reihe 21. Allerbeste Lage, was für Wiener, denen man eine besondere Beziehung zum Tod nachsagt, nicht ganz unwichtig ist. Auf dem Wiener Zentralfriedhof liegen mehr Menschen begraben als in der Zwei-Millionen-Einwohner-Stadt leben. Mit 300.000 Gräbern ist er nach Hamburg Ohlsdorf der zweitgrößte Friedhof Europas. Drei Millionen Menschen, darunter viele Touristen, besuchen diesen Ort jedes Jahr. Es gibt einen Souvenirshop, ein Museum und für Menschen, die hungrig werden, eine Konditorei. Die Wiener wissen: Süßes macht Freude, wenn der Mensch glücklich ist, es ist aber auch gut gegen Traurigkeit und Melancholie. Mit einem Punschkrapferl oder einer Kardinalschnitte im Bauch lassen sich Probleme leichter aushalten und vielleicht sogar Lösungen finden. Das war schon immer so.

DIE GRUPPE 40

Die »Gruppe 40«, ein Teil des Zentralfriedhofs, quasi eine Abteilung, bietet eine interessante Mischung. Rund tausend Menschen, Künstler, Musiker, Politiker, wurden in Ehrengräbern der Stadt Wien beerdigt. Einer davon ist der Popsänger Falco (1957-1998), bürgerlicher Name Johann Hölzel. Falcos letzte Ruhestätte ist eines der meistbesuchten Gräber auf diesem Friedhof. Im Jahr 1986 war Falco der erste Österreicher, der die amerikanische Hitparade eroberte. Mit »Rock me Amadeus« war er vier Wochen an der Spitze der US-Charts. Er starb am 6. Februar 1988 bei einem Autounfall in der Dominikanischen Republik. Auf eine hölzerne Parkbank neben dem Grab hat jemand »Falco lebt« geschrieben. Ein stummer Protest gegen den Tod.

Jeden Tag kommen viele Besucher an Falcos Grab. Sie gedenken seiner, plaudern mit anderen Menschen, die die letzte Ruhestätte dieses begnadeten Künstlers aufsuchen. Den gegenüberliegenden Ehrenhain hingegen besuchen nur wenige. Kaum einen Grabstein zieren frische Blumen. Die Namen der Menschen, die hier ihre letzte Ruhestätte gefunden haben, scheinen weitgehend vergessen.

Ich habe Tante Rosalia nicht gekannt; ich vermisse sie trotzdem.

Ich stehe am Grab von Rosalia Graf. Sie gehört zu jenen, die wohl weitgehend vergessen sind. Ich bin hier, weil ich möchte, dass ihr Name und die Namen ihrer politischen Mitstreiter den Menschen in Erinnerung bleiben. Ich möchte jedes Fitzelchen an Information, das im 21. Jahrhundert noch existiert und an sie erinnert, zusammentragen und im Rahmen dieses Multimedia-Projekts in Wort, Film und Foto sammeln und interessierten Menschen zur Verfügung stellen. Es ist ein kleines Puzzlestück der Geschichtsaufarbeitung im großen Wahnsinn des Nazi-Regimes. Der Name Adolf Hitler lässt auch heute noch, so viele Jahrzehnte nach seinen Gräueltaten, Menschen in aller Welt erschauern. Die Namen von Rosalia und Johann Graf und ihren friedlichen Mitstreitern hingegen waren zu ihren Lebzeiten unbekannt und sind es nach dem Zweiten Weltkrieg auch geblieben.

Den Großteil meines Lebens habe auch ich Rosalia Grafs Namen nicht gekannt. Sie ist meine Tante, war die Cousine meiner Großmutter. Hätte sie den Zweiten Weltkrieg überlebt, hätte ich sie als Kind als ältere Tante kennengelernt, die bestimmt oft zu Kaffee und Kuchen gekommen wäre und die wir zu Weihnachten eingeladen hätten. Oder wir wären raus zu ihr in den 15. Bezirk gefahren, wenn sie noch im John-Hof gewohnt hätte. Ihr Mann, Onkel Johann, wäre als ehemaliger Bediensteter der Stadt Wien dann längst schon in Pension gewesen. Sie hätten, in den 1970er-Jahren, so möchte ich es mir gern vorstellen, ein friedliches und gemütliches Leben geführt. Es ist schön, Rentner in Wien zu sein. Die Stadt ist wunderbar, es gibt viele Möglichkeiten, seine Freizeit zu verbringen.

Vielleicht hätten die beiden Ausflüge in den nahen Park von Schloss Schönbrunn unternommen, an besonderen Tagen wären sie in den 1. Bezirk gefahren und hätten sich vielleicht im Café Landtmann oder beim Demel einen Kaffee und etwas Süßes gegönnt. Das tun Wiener seit langer Zeit, es sind besondere Orte der Stadt, die man mit etwas Besonderem verknüpft. Beim Demel kauft man nicht jeden Tag ein, manchmal reicht es schon, die Phantasie zu beflügeln, wenn man die phantasievollen Tortenkreationen im Vorübergehen im Schaufenster bewundert. Aber an manchen Tagen darf es dann ein Demel-Besuch oder der Kauf der kandierten Veilchen sein, die Kaiserin Sisi angeblich so gerne genascht hat.

Vielleicht wäre Tante Rosalia mit mir in den Park oder in den Tiergarten gegangen, sie hätte mir ein Eis gekauft – all die schönen, kleinen Dinge, die Tanten mit ihren Nichten überall auf der Welt machen.

Es sind so viele Gedanken, die durch meinen Kopf rasen, als ich auf dem weichen, moosigen Rasen stehe. Normalerweise erinnere ich mich, wenn ich an Gräber stehe, an die Menschen, die ich kannte und vermisse. Ich denke an schöne Erlebnisse, daran, was ich von diesen Menschen lernen durfte. Manchmal denkt man auch an Trauriges und beschließt, zu vergeben oder es zumindest zu versuchen. Ich habe Tante Rosalia nicht gekannt. Ich vermisse sie trotzdem.Ich habe ihr und ihrem Mann zwei Rosen mitgebracht: ein weiße und eine orangefarbene.

Ich denke mir: Ihr habt einen schönen Platz, zumindest im Tod. Und ihr seid als Ehepaar wieder vereint. Ich denke in Dankbarkeit an die Zeitzeugin Käthe Sasso, die mit viel Kraft und Ausdauer dafür gesorgt hat, dass es diese letzte Ruhestätte gibt.

Es tut weh, zu sehen, dass fast all diese Menschen am selben Tag gestorben sind. Sie waren nicht krank, sie sind keinem Unglück zum Opfer gefallen. Die Todesursache, die sie eint, heißt Mut. Auf der einen Seite. Auf der anderen Seite war da die Vernichtungswut der Nazis. Wenn es nicht so traurig wäre, könnte man fast darüber lachen: Adolf Hitler hat meine Tante Rosalia gefürchtet. So sehr gefürchtet, dass er sie ermorden ließ.

All diese Toten hier sind aufgestanden gegen das Hitler-Regime, haben deutlich ihre Meinung zum Ausdruck gebracht und gegen die Nazis protestiert. Einige von ihnen sind quasi Seite an Seite gestorben, am 21. Juni 1944 wurden die Häftlinge im heutigen Wiener Landesgericht für Strafsachen im 5-Minuten- Rhythmus hingerichtet.

Du, Tante Rosalia zuerst.

Danach Dein Mann. Das weiß ich, weil ich die Gerichtsakten, die erhalten geblieben sind, gelesen habe.

Vermutlich haben die beiden Eheleute einander noch gesehen. Ein Gespräch wird nicht möglich gewesen sein. Jeder der beiden wusste, dass das Leben in wenigen Minuten vorüber sein würde. Ihr Todesurteil kannten Tante Rosalia und Onkel Johann seit langem. Es gab keinen Weg, dem zu entrinnen.

Ich stehe auf dem weichen Rasen und versuche, mir das auszumalen. Ihr Tod, der Tod ihrer Mitstreiter, war so sinnlos.

Über mir donnert ein Flugzeug vorbei und reißt mich aus meinen dunklen Gedanken.

Ich atme tief durch und versuche, mir die schönen Seiten in Rosalias Leben auszumalen, die es sicherlich gab. Wie sie fröhlich mit ihrem Mann zum Tanzen gegangen ist, mit Freundinnen Kaffee getrunken hat, mit einem Nachbarn im Garten des John-Hofs, wo sie wohnte, geplaudert hat. Wie ihr ihre Freundin und politische Mitstreiterin Emilie Tolnay die Haare gemacht hat, wie sie sich am Sonntag gemeinsam zu Kaffee und Kuchen trafen. Im Tod sind sie wieder vereint, die Grabsteine der beiden Frauen liegen nahe beieinander. Ich verlasse den Friedhof, ein bisschen getröstet. Hier, liebe Tante Rosalia, an der Seite deines Mannes und deiner Freunde, lässt es sich in Frieden ruhen.

KAPITEL 2

WIKIPEDIA: EIN LEBEN IN KURZEN SÄTZEN

Als ich mit den Recherchen für dieses Buch und den Kurzfilm begann, stellte ich zu meinem Erstaunen fest, dass Rosalia Graf einen kurzen Wikipedia-Eintag hat. Verfasst von freundlichen Menschen, die sich im Rahmen von Geschichtsprojekten wohl mit ihr und ihrem Schicksal befasst hatten.

Einige wenige Ereignisse ihres Lebens kann man online nachlesen: »Rosalia Graf geb. Moser (geboren am 1. Juni 1897 in Breitenbrunn am Neusiedler See; gestorben am 21. Juni 1944 in Wien) war eine österreichische Hilfsarbeiterin, Hausgehilfin und Widerstandskämpferin gegen den Nationalsozialismus. Sie wurde von der NS-Justiz gemeinsam mit ihrem Ehemann Johann Graf zum Tode verurteilt und im Wiener Landesgericht mit dem Fallbeil hingerichtet.«

Im Absatz »Leben« berichtet Wikipedia: »Rosalia Graf wurde als Tochter von Elisabeth Moser und des Landwirts Mathias Moser geboren. Nach dem Besuch der Pflichtschule arbeitete sie als Hausgehilfin in Wien und Ungarn, in der Folge auch als Hilfsarbeiterin.

1930 heiratet sie den Wiener Johann Graf, einen Gemeindebediensteten. Das Ehepaar gehörte vor 1934 der SPÖ an. Laut Anklageschrift beteiligte sich Rosalia Graf in der Wohnung des befreundeten Ehepaares Anton und Emilie Tolnay an politischen Diskussionen, die sich insbesondere nach Ausbruch des Krieges mit der Sowjetunion »verschärft« haben sollen. Auch sollen diese Gespräche eindeutig »kommunistische Färbung« angenommen haben.

Rosalia Graf nahm der Folge auch ihren Mann zu diesen Besprechungen mit. Im Juni 1941 erklärten Rosalia und Johann Graf ihren Beitritt zur KPÖ. Als Zeichen der Solidarität stellten sie auch ihre Wohnung als Unterkunft für Mitglieder des Zentralkomitees der KPÖ und für Funktionärstreffen zur Verfügung. In der Nacht zum 1. Mai 1942 beteiligte sich das Ehepaar an einer Flugblattaktion.«

Es war diese Flugblattaktion, die das Ende des Widerstands der Grafs und ihrer Mitstreiter bedeutete. Ich habe ihren Inhalt später auch in den Gerichtsakten gefunden: »Mit großem Geschrei kündigt Hitler eine neue Offensive an, Das bedeutet neue Blutopfer für unsere Jugend. Das bedeutet aber auch neue Opfer, neues Elend für uns Arbeiter und Arbeiterinnen. Arbeiter und Arbeiterinnen! Denkt stets an dieses Blutvergießen. Kämpft mit uns gegen Hitler! Er allein ist der Mörder unserer Jugend. Sabotiert Hitlers Kriegsmaschinerie, wo ihr nur könnt! Arbeitet so langsam wie nur möglich! Jedes Stück mehr verlängert den Krieg!« (Originaltext der Flugblätter)

Im Wikipedia-Eintrag kann man auch über die Festnahme der Eheleute Graf am 15. Juli 1942 lesen, wegen des »Verdachts auf Vorbereitung zum Hochverrat.« Und weiter: »Rosalia und Johann Graf wurden am 15. Juli 1942 wegen des »Verdachts auf Vorbereitung zum Hochverrat« festgenommen, von der Gestapo Wien erkennungsdienstlich erfasst, fotografiert und verhört.

Am 22. Dezember 1943 folgte die Anklage des Oberreichs-anwalts beim Volksgerichtshof.

Am 14. April 1944 wurden Therese Dworak, Johann Graf, Rosalia Graf und Emilie Tolnay vom Volksgerichtshof Wien wegen ›Vorbereitung zum Hochverrat und Feindbegünstigung‹ zum Tode verurteilt, Anton Tolnay zu zehn Jahren Zuchthaus.

Am 21. Juni 1944 wurden Johann und Rosalia Graf zum Schafott geführt und binnen weniger Minuten mit dem Fallbeil hingerichtet. Gemeinsam mit ihnen wurden an diesem Tag im Wiener Landesgericht vierzehn weitere Widerstandskämpfer von der NS-Justiz ermordet, darunter die Mitangeklagte Therese Dworak (Aus: »Rosalia Graf«- Wikipedia-Eintrag).

Ich las den Wikipedia-Text mit gemischten Gefühlen. Wie die meisten von uns google ich zuweilen Menschen, deren Lebensgeschichte mich interessiert. Zum einen fand ich es tröstlich, dass man sie online nicht ganz vergessen hatte. Zum anderen dachte ich mir, dass ihr Leben so viel mehr war als ein kurzer Wikipedia-Eintrag. Während des Lesens entstand die Idee, dass Tante Rosalia eine eigene Website bekommen sollte.

KAPITEL 3

INTERVIEW MIT KÄTHE SASSO: GESPRÄCH MIT EINER UNBEUGSAMEN

Im Zusammenhang mit Rosalia Graf finde ich online den Namen Käthe Sasso. Sie ist seit vielen Jahren eine wichtige und bewegende Zeitzeugin, die in Österreich immer wieder ihre Lebensgeschichte erzählt hat, mit Menschen jeden Alters über ihre grausamen Erfahrungen während des Zweiten Weltkriegs spricht. Als ich sie an einem Herbstnachmittag anrufe, ist sie freundlich und spontan bereit, mit mir über ihre Lebenserfahrungen zu sprechen. Ich frage sie, was ihr der Name Rosalia Graf sagt und bedeutet. Katharina »Käthe« Sasso erzählt: »Ich habe Rosalia Graf gekannt, sie ein paar Mal in Wien getroffen. Wir haben uns, noch in Freiheit, durch unsere politische Arbeit kennengelernt.« Private Gespräche waren, so sagt Sasso, unter Widerstandskämpfern meist tabu – man wollte einander nichts erzählen, womit der andere, etwa in einem Verhör nach der Verhaftung oder in einem unbedachten Augenblick, sich oder andere Mitstreiter in Gefahr hätte bringen können. Denn wer unter Haftbedingungen von Vernehmern unter Druck gesetzt wird, läuft Gefahr, unter Angst Dinge zu erzählen, die man lieber für sich behalten hätte.

»Je weniger man über sein Gegenüber wusste, desto besser und sicherer war es für alle Beteiligten«, sagt die 1926 Geborene. Wichtig war allein, dass man für die gemeinsame Sache kämpfte, zuverlässig war und schweigen konnte. Das mag einfach und für viele »selbstverständlich« klingen, doch dieser moralische Dreiklang des Widerstands war unter den Bedingungen einer Diktatur eine Herausforderung.

Rosalia Graf und Käthe Sasso gehörten zur Widerstandsgruppe um den Freiheitskämpfer Gustav Adolf Neustadl. »Wir waren rund 400 Leute«, sagt Käthe Sasso. Sie wurde im Burgenland geboren und kam aus einer politischen Familie, Politik sei bei ihr zu Hause immer ein Thema gewesen. »Meine Eltern waren immer politisch aktiv, schon zu Zeiten des Ständestaates 1934.« Ihre Eltern erklärten dem Mädchen die Situation in seinem Heimatland Österreich, sie erzählten dem Kind von ihren Eindrücken und ihren Plänen. Dadurch habe sie schon als kleines Mädchen gewusst, »was Hitler bedeuten wird«. Sie erinnert sich: »Ich habe schon als Kind gegen den Faschismus gekämpft. Zu uns in Wien sind viele Burgenländer gekommen, wir waren eine große Gruppe im Widerstand.«

MAN MUSSTE IMMER AUF DER HUT SEIN

Käthe Sasso erzählt: »Ich bin durch meine Eltern zum Widerstand gekommen. Meine Mutter hatte im Rahmen ihrer politischen Arbeit zum Beispiel Kleidung für Mitkämpfer gesammelt. Im Jahr 1942, ich war 16 Jahre alt, starb meine Mutter. Mein Vater musste schon 1941 zum Militär. Ich habe weitergemacht, ich hatte das volle Vertrauen der Gruppenmitglieder.« So wurde der Widerstand für das junge Mädchen auch ein bisschen etwas wie eine Ersatzfamilie, ein Ort, an dem sie Menschen traf, denen sie vertraute – und die ihr vertrauten.

In der Gruppe herrschte Zusammenhalt, aber man musste auch immer auf der Hut sein: Die Gestapo versuchte permanent, Spitzel einzuschleusen. Man musste sich also ständig fragen: War der Neue so freundlich, weil er ein freundlicher Mensch war – oder war er freundlich, weil er sich so das Vertrauen der Gruppe erschleichen wollte? War die Neue so neugierig, weil sie ein neugieriger Mensch war – oder war sie so neugierig, weil sie ihren Mitstreitern Geheimnisse und Pläne entlocken wollte?

Am Ende gelang es der Gestapo, einen Spitzel in der Gruppe zu etablieren. Dies wurde Käthe Sasso zum Verhängnis. Alois Lawra denunzierte die Mitglieder, die junge Frau wurde im August 1942, ebenso wie Neustadl und viele andere Mitglieder der Widerstandsgruppe, verhaftet. »Ich war minderjährig, deshalb konnte mir nicht der Prozess gemacht werden. Aber ich wurde inhaftiert.« Nach und nach bekam sie mit, wer ihrer Mitstreiter ebenfalls im Landesgericht Wien in Haft war. »Ich war in der Jugendzelle oben, die anderen in einem unteren Stockwerk. Irgendwann habe ich erfahren, dass auch die Grafs da waren.«

KÖPFLER, DIE NICHTS MIT DEM SCHWIMMBAD ZU TUN HABEN