Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
»Ich gebe mir selbst endlich die Chance, stärker zu werden. Jeden Tag steigen mein Wille und mein Selbstvertrauen. Es braucht Übung, Übung, Übung, um das in der Therapie Gelernte auch täglich anzuwenden. Doch ich gebe nicht auf. Niemals. Nun bin ich seit fast einem Jahr symptomfrei. Ende dieses Semesters werde ich mein Studium abschließen. Dieses Gefühl ist unbeschreiblich.« Thomas »Was auch immer mir das Leben manchmal schwer macht, ich hadere nicht mehr damit. Kein Leiden mehr. Das Päckchen, das von der großen Last jetzt noch übrig ist, kann ich gut tragen. Das war meine Heilung.« Heike Dieses Buch zeigt, dass Genesung von einer Borderline-Störung möglich ist und wie sie gelingen kann. Ein Mutmachbuch!
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 292
Veröffentlichungsjahr: 2014
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Andreas Knuf
Gesundung ist möglich!
Borderline-Betroffene berichten
Andreas Knuf: Gesundung ist möglich! Borderline-Betroffene berichten.
4. Auflage 2012
© BALANCE buch + medien verlag, Köln 2008.
Der BALANCE buch + medien verlag ist ein Imprint der Psychiatrie Verlag GmbH, Köln
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf ohne Zustimmung des Verlags vervielfältigt oder verbreitet werden.
ISBN-ePub: 978-3-86739-814-5
ISBN-Print: 978-3-86739-034-7
ISBN-PDF: 978-3-86739-714-8
Bei Medikamenten, die in diesem Buch ohne besondere Kennzeichnung aufgeführt sind, kann es sich um gesetzlich geschützte Warenzeichen handeln, die nicht ohne Weiteres benutzt werden dürfen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Lektorat: Uwe Britten, textprojekte, Geisfeld
Umschlagkonzeption: p.o.l: kommunikation design, Köln, unter Verwendung eines Bildes von Karin Birner, Nürnberg
Typografiekonzept: Iga Bielejec, Nierstein
Satz: BALANCE buch + medien verlag, Köln
Homepage: www.balance-verlag.de
Buch lesen
Innentitel
Inhaltsübersicht
Informationen zum Herausgeber
Impressum
Einleitung: Raus aus der Hoffnungslosigkeit!
AUF UND AB UND TROTZDEM VORWÄRTS
Vom Wandel der Symptome – Texte zu den Diagnosekriterien
Anders · NANA
Vom Überleben in der Drehtür · SISAME P.
Das verdammte Ding namens Leben · BIANCA GODLINSKI
Auf und ab auf meinem Gesundungsweg · BIRGIT
Neues Spiel auf alter Bühne · ANJA LINK
ANGEKOMMEN, ZURÜCKGEBLICKT
Wenn dich deine Gefühle nicht mehr leben · PIA MAAR
Das Liebenswerte in uns · HEIKE MARIE LOHSE
Ein liebevoller Umgang mit mir selbst · BETTINA WERDER
Sternenkinder oder Der innere Kindergarten und die Suche nach sich selbst · HEIKE MARIE LOHSE
Wenn Ziele Hindernisse werden – Selbstbewusst am Arbeitsplatz · SALLY
Von Kore zu Persephone oder Wie ich trotzdem Therapeutin wurde · MAYA FREY
Die blaue Kugel und der Sternennebel · SIRIKIT
Gesundung bei Borderline · ANDREAS KNUF
Anhang
Autorinnen und Autor
Informationen zum Herausgeber
Die Botschaft dieses Buches ist eindeutig und unmissverständlich: Die Genesung von Borderline ist möglich, und zwar nicht etwa nur für Einzelne, sondern sogar für die Mehrzahl. Borderline ist heute »behandelbar«, nein, in vielen Fällen ist diese Erkrankung gut behandelbar. Diese klare Botschaft wird durch alle uns heute zur Verfügung stehenden Studien bestätigt und sie deckt sich auch mit der Erfahrung jener zwanzig Personen, die in diesem Buch über ihren Gesundungsweg berichten. Damit ist dieses Buch ein »Mutmachbuch«, das sich gegen die gängigen Vorurteile wendet, die besagen, dass Borderline nicht behandelbar und auch nicht »heilbar« wäre.
Diese Fehleinschätzungen habe auch ich noch während meines Psychologiestudiums in den achtziger und neunziger Jahren vermittelt bekommen. Entsprechend negativ war das Image der Borderline-Erkrankung damals. Kaum eine Fachperson wollte gerne mit »diesen Menschen« arbeiten. Doch auch diese Vorbehalte lösen sich mehr und mehr auf: Borderline ist heute für immer mehr Fachleute eine ganz normale psychische Erkrankung geworden, die ihren Schrecken verloren hat. Zentral dazu beigetragen hat die Erkenntnis, dass den Betroffenen tatsächlich geholfen werden kann.
Die hier veröffentlichten Texte zeigen nicht nur, dass eine Genesung möglich ist, sondern auch, wie sie gelingen kann. Während der knapp zweijährigen Arbeit an diesem Buch habe ich mit etwa vierzig »stabil« lebenden Borderline-Betroffenen gesprochen. Sehr neugierig habe ich immer wieder gefragt, was ihnen denn geholfen habe. Dabei bekam ich sehr ähnlich klingende Antworten, von denen in diesem Buch die Rede sein wird: Hilfe gaben Menschen der Umgebung, die den Kontakt nicht abgebrochen haben, Therapeuten, die als Menschen spürbar waren und die Betroffenen als Menschen ernst genommen haben, hinzu kamen die Selbsthilfe sowie die Entscheidung zu mehr Selbstverantwortung.
Gesundung bei Borderline ist, genau wie bei anderen psychischen Erkrankungen auch, ein fortschreitender Entwicklungsprozess. Es geht also um je verschiedene Gesundungswege. Dabei ist Gesundung ein Prozess, der niemals abgeschlossen ist. Es gibt kein zu erreichendes Endziel, es gibt nicht jene, die es geschafft haben, und diejenigen, die es nie schaffen werden. Vielmehr steht jeder Borderline-Betroffene an einer anderen Stelle auf seinem Entwicklungsweg – wie im Übrigen jeder von uns! In diesem Buch berichten daher sowohl jene Betroffenen von ihren Erfahrungen, die schon viel Distanz zu Borderline haben und ein erfülltes und zufriedenes Leben führen, wie auch andere, die erst seit Kurzem so stabil leben, dass sie heute keine Klinik mehr brauchen oder Selbstverletzungen für sie überflüssig geworden sind.
Eine nicht ganz so positive Nachricht lautet, dass ein Genesungsprozess bei Borderline keine Frage von einigen Monaten oder wenigen Jahren ist. Borderline ist eine schwerwiegende psychische Erkrankung und die Loslösung davon ist für viele Betroffene ein Prozess vieler Jahre und manchmal sogar von Jahrzehnten. Die bessere Nachricht lautet: Nicht nur die borderlinetypischen Verhaltensweisen wie Selbstverletzungen, Suizidimpulse oder selbstschädigende Verhaltensweisen reduzieren sich, sondern auch die dahinter stehenden Gefühle wie unerträgliche Leere, Langeweile oder Angst vor dem Alleinsein.
Die meisten Autorinnen dieses Buches habe ich kennengelernt, indem ich Borderline-Therapeuten gebeten habe, ihren genesenen Patienten oder Ex-Patienten von diesem Buchprojekt zu berichten. Einige Betroffene kannte ich bereits und habe sie persönlich angesprochen. Andere haben sich gemeldet, weil sie den Aufruf auf meiner Homepage und in einer Mailingliste gesehen haben. Besondere Mühe habe ich darauf verwandt, männliche Autoren für das Buch zu finden. Mit einer Ausnahme ist es mir leider nicht gelungen.
Mein herzlicher Dank für die Unterstützung und für das Vertrauen geht an alle Autorinnen und den Autor dieses Buches sowie an viele andere Betroffene, mit denen ich über ihre Gesundungserfahrungen sprechen konnte und die mir wichtige Anregungen für dieses Buch gegeben haben. Herzlich danken möchte ich auch Martin Bohus, Hans Gunia, Anja Link und Achim Votsmeier-Röhr sowie vielen niedergelassenen Therapeuten, die bei der Suche nach Autorinnen behilflich waren oder wichtige Informationen beigetragen haben.
Andreas Knuf
Texte zu den Diagnosekriterien
Die Borderline-Erkrankung wird nach festen Kriterien diagnostiziert, die in den gängigen Diagnosesystemen zusammengefasst sind. Bei den meisten dieser insgesamt neun Kriterien handelt es sich um Bewältigungsversuche oder um Begleiterscheinungen der eigentlichen Borderline-Problematik.
In den folgenden Texten berichten neun Betroffene, wie sich auf ihrem Gesundungsweg die nach außen sichtbaren Verhaltensweisen wie Selbstverletzungen oder Wutausbrüche verändert haben, aber auch, wie sich die dahinter liegende Borderline-Problematik gewandelt hat, unter anderem die sehr starke Verunsicherung des eigenen Selbstwertes und der Identität.
Kriterium: Verzweifeltes Bemühen, tatsächliches oder vermutetes Verlassenwerden zu vermeiden
Als ich ein Jahr alt war, wurde ich mit Pseudokrupp, einer Krankheit ähnlich der Diphtherie, für mehrere Wochen ins Krankenhaus eingeliefert. Zu dieser Zeit gab es noch keine umfassende Begleitung der Eltern in Kliniken (etwa ein zusätzliches Bett). So war ich zum ersten Mal von meinen Eltern getrennt. Diese plötzliche und lange Trennung war vermutlich der Samen, aus dem dann vieles von dem spross, mit dem ich mir heute meine späteren Ängste vor dem Verlassenwerden zu erklären versuche.
Als ich wieder nach Hause geholt wurde, hatte der Kampf meiner Eltern schon begonnen und mein Vater verließ uns für mehrere Wochen. In dieser Zeit klammerte sich meine Mutter an mich wie an eine Wärmflasche und presste mich 24 Stunden am Tag an die Brust. Die Scheidung meiner Eltern und später der Verlust meines Großvaters, als ich 15 Jahre war, lösten dann auch die ersten schweren Krisen aus.
In späteren Jahren habe ich immer versucht, ein Verlassenwerden zu vermeiden, indem ich ständig meine eigenen Grenzen überschritt. Ich habe immer nachgegeben und fast alles getan, damit meine Partnerin doch bei mir blieb und ich nicht allein war. Ich dachte: »Wenn ich alles gebe, bekomme ich auch alles zurück.« Ich verschob meine Grenze jedes Mal ein Stück weiter, um sie beim nächsten Mal abermals zu überschreiten. Die Folge waren ein unheimlicher Groll und eine starke Wut, die sich in mir aufstauten und meine Partnerin dann bei der nächstbesten Gelegenheit heftig zu spüren bekam. Ich nahm Rache mit Worten, die zutiefst verletzend waren, oft »unter die Gürtellinie« gingen und für die ich mich heute ungeheuer schäme.
Ein anderer Versuch, das Verlassenwerden zu vermeiden, drückte sich in meinen Verboten aus, meine jeweilige Partnerin habe ihre Kontakte zu anderen Freunden zu unterbinden.
Kontakte meinerseits zu Freunden blieben hingegen oberflächlich, wenn es mir zu nahe und somit zu »gefährlich« wurde, verließ ich sie, bevor sie mich verlassen konnten.
Stand mir ein weiteres Verlassenwerden einer Partnerin unmittelbar bevor und konnte es auch durch Nachgeben meinerseits nicht mehr verhindert werden, dann überkam mich unbändige Angst und Panik. Oft fiel ich in Regression, tobte, schrie, weinte, bettelte und flehte wie ein kleines Kind, um das vermeintlich Unausweichliche vielleicht doch noch abwenden zu können. Einmal sperrte ich sogar meine Freundin im Schlafzimmer ein, um ihr Verlassen der Wohnung zu verhindern. Es endete damit, dass sie die Polizei rief, die sie letztendlich hinauseskortierte. Wurde ich also schließlich doch verlassen, brach meine Welt zusammen. Alles erschien sinnlos und wertlos. Tiefe Depression und Leere überfielen mich. Ich war völlig unfähig, irgendetwas Sinnvolles, Konstruktives zu tun. Totale Lethargie. Gedanken, die sich im Kreis drehten. Die Frage nach dem Warum war omnipräsent. Alkohol setzte ich zum Ertränken der Gefühle ein und um schlafen zu können. Selbstverletzungen fanden statt, um mich zu bestrafen, weil ich wieder mal versagt hatte, und um etwas Befreiung zu erlangen.
Der Kontrollverlust war für mich unerträglich. Es kam zu Telefonterror, E-Mail-Bombardements bis hin zum Stalken, wie das Auflauern an Straßenecken oder Zettel auf Windschutzscheiben zu hinterlassen.
Durch die Therapie und meine heutige Freundin begriff ich, dass ich Grundlegendes ändern musste. Back to the basics, sozusagen. Ich begann die Chancen zu nutzen, die sich boten. Sprach in der Therapie über meine Ängste und Wünsche, bis ich kaum mehr konnte. Manches musste ich ganz neu lernen. Auch, dass ich in erster Linie für mich selbst lebe und nicht für andere. Dass ich mein Leben in der Hand habe, wenn ich wirklich will. Trotzdem ist auch heute für mich das Alleinsein noch immer nicht ganz einfach. Die Angstgefühle sind weiterhin stark und ausgeprägt.
Heute weiß ich aber, dass es nur ein Gefühl ist. Dass dieses Gefühl wieder vorbeigeht. Dass ich es aushalten kann und dass ich es überlebe.
Die Zeit, die ich allein bin, versuche ich so gut wie möglich zu nutzen. Ich organisiere mein Leben, mache meine Arbeit. Ich brauche Ablenkung, immer noch. Arbeit bedeutet, keine Zeit für Gedanken zu haben. Es gibt aber kein destruktives Handeln mehr, weder den Missbrauch von Alkohol und Drogen noch Selbstverletzungen oder Suizidankündigungen. Diese alten Muster kommen für mich nicht mehr infrage. Ich habe gelernt, Verantwortung für mich selbst zu übernehmen. Wenn meine Gedanken Karussell fahren, dann fange ich sofort etwas an, auch wenn es nur einfache Dinge sind, zum Beispiel Fotos in ein Album einzukleben oder zu putzen.
Jede Krise, die ich gemeistert habe, baute mich auf und machte mich selbstsicherer.
Dennoch gibt es Momente, in denen es besonders schwierig ist, allein zu sein. Nach Niederlagen, Rückschlägen oder anderen unerfreulichen Ereignissen brauche ich den Schutz, die Liebe und die Geborgenheit meiner Freundin noch stärker.
Im Großen und Ganzen ist mein Leben aber nicht mehr auf meine Partnerin fokussiert oder von ihr abhängig. Ich weiß, dass ich heute stark genug bin, es auch allein zu schaffen. Ich bin erwachsen geworden. Aber: Ich möchte nicht allein sein. Ein erfülltes Leben kann in meiner Vorstellung nur in einer Beziehung mit einem nahen, vertrauten und geliebten Menschen möglich sein. Und genau diese Beziehung hat mich neben der Therapie stark gemacht. Ich lernte zu vertrauen und zu verzichten. Ich muss nicht mehr dominieren, nicht mehr alles jetzt, sofort und gleich haben. Es gibt keine Machtkämpfe mehr. Kritik werte ich meistens nicht mehr als einen Angriff, nicht mehr als eine Abwertung meiner Person.
Ich habe Stolz und Selbstvertrauen entwickelt. Früher war es mir egal, wenn ich mich mit sinnlosen Stalker-Aktionen »zum Affen« machte. Heute könnte ich mir nicht mehr vorstellen, mich je wieder so zu verlieren, denn außer noch mehr Schmerz brachten diese Handlungen gar nichts.
Die Gespräche mit anderen Betroffenen haben mir geholfen, manchmal auch das Schreiben in diversen Internetforen, was ich jedoch bald wieder aufgegeben habe, da es mich im Endeffekt stark hinunterzog und ich kaum positive Erfahrungen las. Die Leute, die es geschafft hatten, berichteten nicht davon. Im Unterschied zu früher finden heute meine sozialen Kontakte in der realen und nicht mehr in der virtuellen Welt statt.
Dennoch habe ich über das Internet drei sehr gute Freunde gefunden, mit denen ich seit zwei Jahren den GRENZPOSTen (eine Borderline-Selbsthilfezeitung) herausgebe. Diese Arbeit befriedigt mich, bringt Spaß, macht mich stolz und trägt vielleicht dazu bei, dass auch andere Betroffene einen Weg zur Genesung finden.
Ich lasse mir mein Leben nicht mehr von der Krankheit kaputtmachen. Dank meiner Freundin, meiner Therapeutin und meinem Schutzengel habe ich begonnen, wieder die schönen Dinge des Lebens zu sehen. Ich gebe mir selbst endlich die Chance, stärker zu werden. Jeden Tag steigen mein Wille und mein Selbstvertrauen. Es braucht Übung, Übung, Übung, um das in der Therapie Gelernte auch täglich anzuwenden. Doch ich gebe nicht auf, das steht fest. Niemals.
Nun bin ich seit fast einem Jahr symptomfrei. Ende dieses Semesters werde ich mein Studium abschließen. Dieses Gefühl ist unbeschreiblich.
Thomas
Kriterium: Muster instabiler, aber intensiver zwischenmenschlicher Beziehungen, gekennzeichnet durch den Wechsel zwischen Idealisierung und Entwertung
Zwischenmenschliche Beziehungen waren für mich eigentlich immer ein Rätsel. Ich hatte keine Ahnung, wie das praktisch ablaufen soll, und habe deshalb stets nach einer Gebrauchsanweisung gesucht.
Es fällt mir schon sehr schwer, die Menschen, mit denen ich aufgewachsen bin, überhaupt in Erinnerung zu rufen und zu benennen. Die Bezeichnung »Freunde« bzw. »Freundinnen« passt meiner Meinung nach gar nicht zu meinen frühen Kontakten, denn ich bin mir ziemlich sicher, dass ich nie wirklich emotionale Beziehungen oder Bindungen hatte.
Ich war immer viel zu sehr damit beschäftigt, andere genau zu beobachten, ihr Verhalten zu studieren und dieses dann zu übernehmen. Dass es in Beziehungen auch um Gefühle geht, davon hatte ich keine Ahnung. Ich wusste gar nicht, welche Gefühle das sein sollten, und erst recht nicht, was diese dann bedeuten könnten. Alles, was ich sah, waren perfekte und fehlerlose Menschen, an denen ich mich orientieren musste, weil sie offensichtlich das Rezept für richtiges Verhalten gefunden hatten.
Obwohl ich mit einigen Menschen viel Zeit verbracht habe, war das immer so ein Gefühl wie bei einem Hochseilakt. Ich hatte immer wieder den Eindruck, dass ich jederzeit abstürzen könnte und dann total aufgeschmissen sein würde. Dieses Abstürzen konnte durch die geringste Kleinigkeit geschehen – aus heiterem Himmel – und das machte mir immer furchtbare Angst. Das Ganze war eine sehr anstrengende und unsichere Angelegenheit. Ich war immer nur mit selbstkritischem Denken beschäftigt. Doch auch wenn ich noch so sehr versuchte, so zu sein wie andere, um den Kontakt zu erhalten, ging immer irgendetwas schief. Da ich mich so sehr auf den anderen konzentrierte und praktisch am anderen klebte, gingen Beziehungen nach kürzester Zeit auseinander. Dabei kam es leider immer wieder dazu, dass ich mich brutal verraten fühlte. Außerdem war mein ganzes Konzept verloren und ich kam mir vor wie im luftleeren Raum – bis die nächste Person auftauchte und das Ganze von Neuem losging.
Dabei glaube ich, dass ich gar nicht erkannte, was ich an dem Menschen verloren hatte. Wahrscheinlich war mir das sogar egal, weil Gefühle ja sowieso keine Rolle spielten – welche auch? Nur eines war klar: Diese Menschen waren für mich von einem Moment auf den anderen bedeutungslos.
Heute sind mir zwischenmenschliche Beziehungen zwar immer noch ein Rätsel, aber ich glaube, ich komme der Lösung Tag für Tag ein Stückchen näher. Ich hab mir in den letzten Jahren sehr viel anhören müssen, wie ich auf andere wirke und was mein Verhalten mit anderen macht – ob ich es hören wollte oder nicht. Natürlich waren mehrere Dinge ausschlaggebend dafür, dass ich überhaupt zuhörte, aber ich glaube, das wichtigste war, dass ich auf professionelle Helfer traf, bei denen ich den Eindruck hatte, verstanden zu werden.
Ich wollte mit meinem Verhalten nie jemanden verletzen, zurückstoßen, verwirren oder ihm gar Angst machen, doch genau das tat ich offenbar und bekam das dann auch von allen Seiten zu hören. Das war natürlich nicht einfach, doch nachdem ich mich erst einmal entschlossen hatte, andere Menschen wirklich wahrnehmen zu wollen, vereinfachte sich allmählich vieles.
Natürlich änderte sich nichts von heute auf morgen und natürlich war ich immer wieder ganz schön trotzig und fühlte mich auch missverstanden. Trotzdem merkte ich, dass etwas Grundlegendes langsam immer weiter wuchs – andere Menschen wurden mir wirklich wichtig. Ich versuchte nicht mehr, in irgendein Marionettenspiel reinzupassen, sondern suchte mich selbst und meine Gefühle. Meine eigene Unsicherheit und Angst vor dem Alleinsein, aber auch vor dem Nähezulassen kosteten viel Mut und Kraft. Aber ich glaube, nur so wurde ich überhaupt bereit, darüber nachzudenken, was ich gesagt bekam.
Nicht immer kann ich heute gleich ein neues Verhalten einsetzen, wenn es sich andere wünschen, aber zumindest kann ich darüber nachdenken und versuchen, mich in andere hineinzuversetzen. Mittlerweile kann ich auch bei anderen Menschen erkennen, dass sie keineswegs perfekt und frei von Fehlern sind. Dabei ist mir jedoch das Wichtigste, dass ich nicht mehr versuche, andere zu kopieren, nur um ihnen nah zu sein. Bei einzelnen Menschen gelingt es mir sogar schon, ihnen zu sagen, dass sie mir wichtig sind. Und das Schöne dabei ist, dass ich wirklich genau das dann innerlich auch empfinde. Manchmal schaffe ich es, unserer Beziehung zu trauen, auch wenn mein Gegenüber mal keine Zeit hat, mich zu sehen, oder schlecht gelaunt ist. Heute erlebe ich das viel weniger als Zurückweisung, muss deshalb nicht den Kontakt abbrechen, sondern überdenke die Situation und frage sogar manchmal nach, wenn ich eine Verlustangst spüre.
Trotzdem fällt mir der Austausch mit anderen immer noch schwer und er ist oft sehr anstrengend. Um meine inneren Impulse zu kontrollieren und auf meine eigenen Regeln zu hören, muss ich vor allem immer wach und konzentriert sein. Aber ich glaube, es geht nicht anders, zum Beispiel um auch im Beruf klarzukommen. Dabei habe ich natürlich sehr oft den Gedanken, warum ich mich immer ändern muss oder wie lange ich denn noch an mir arbeiten soll. Aber das sind wohl jene Momente, in denen ich mich wieder verschließe und mich vielleicht ausruhe. Ich habe inzwischen gemerkt, dass diese Gedanken, wenn man sich erst einmal entschlossen hat, mit Menschen zu leben, auch schnell wieder vergehen. Schon allein deshalb, weil auch das Umfeld die positive Veränderung und die Anstrengung wahrnimmt. Ich habe im Laufe der letzten Jahre sehr viel positive und herzliche Reaktionen bekommen – auch damit lerne ich nach und nach umzugehen, ohne die Menschen wegzustoßen.
Der schönste Lohn für die vielen Anstrengungen ist, dass ich mich jetzt zum ersten Mal vorsichtig traue, zwei liebe Menschen meine »Freundinnen« zu nennen.
Kordula Stratmann
Kriterium: Andauernde Identitätsstörung: ausgeprägte und andauernde Instabilität des Selbstbildes oder der Selbstwahrnehmung
Ich war mir all die Jahre nicht bewusst darüber, irgendeine eigene Identität zu haben. Wenn ich mal nicht von meinen Launen abhängig war, dann doch zumindest von denen der anderen. Alles war abhängig von meinem Umfeld und auch der Meinung anderer Menschen.
Ich identifizierte mich mehr über meine Beziehungen und Freunde, für die ich auch alles tat, ohne Rücksicht auf meine eigenen Gefühle und Bedürfnisse, die ich weder wahrnahm noch für angebracht hielt. Ich wollte ständig gebraucht werden, um mich selbst wichtig zu fühlen.
Die kleinste Kritik, selbst von völlig fremden Menschen, warf mich für Stunden oder gar Tage völlig aus der Bahn. Ich fühlte mich sofort ausgeschlossen, ja sogar verachtet, ich war schlicht nichts mehr wert. Nun musste ich alles noch perfekter machen, mich noch mehr anstrengen.
Nur durch Lob von außen konnte ich meinen Wert steigern. War ich nicht »produktiv« und angepasst, dann war ich auch nichts wert. Ich erreichte einen sehr guten Abschluss an der Fachoberschule und war mächtig stolz darauf, denn es gab dafür sehr viel Lob und Anerkennung. Allerdings machte ich das daraus resultierende Selbstbewusstsein nach zwei Monaten wieder zunichte, weil ich mein Studium hinschmiss, denn ich war mir sicher, es nicht zu schaffen (ich konnte nicht die Beste sein und das war nicht tragbar).
Mein Umfeld reagierte verständnislos, und erst als ich nur noch heulte, wurde mein Entschluss von meinen Eltern akzeptiert. Ich hatte keine Ahnung, was zu mir passte, wusste weder, was ich werden wollte, noch, wer ich war. Man konnte mir alles schönreden, ich probierte es aus lauter Verzweiflung aus. Und bei den kleinsten Schwierigkeiten oder Problemen warf ich alles wieder hin. Dann wusste ich einmal mehr, was ich keinesfalls machen wollte.
Ich war sehr sensibel dafür, wenn irgendwo irgendetwas nicht stimmte. Natürlich bezog ich das immer sofort auf mich, grübelte, was ich denn nun schon wieder falsch gemacht hätte, machte mich regelrecht verrückt. Ich konnte mich so hineinsteigern, dass ich überzeugt davon war, die Leute (ja, selbst Freunde) hätten es alle auf mich abgesehen, wollten mich fertigmachen, konnten mich ohnehin noch nie leiden.
Das endete dann immer in grundsätzlichen Sinnfragen und schließlich in Suizidgedanken.
Es war mir auch nicht möglich, jemals einen Fehler zuzugeben. Wer hätte mich denn dann noch gemocht?
Ich lebte mit sehr vielen Heimlichkeiten. Durch die Essstörung, die noch hinzukam, wurde alles noch viel schlimmer. Ich hasste meinen Körper. Unterwäsche in einem Laden zu kaufen war schlichtweg nicht möglich. Ich bekam richtige Heulkrämpfe in Umkleidekabinen. Ich lebte gar nicht »mit mir«. Ich wollte immer jemand anderer sein, so fehlerlos wie die Helden in Romanen oder in Hollywood. Auch andere Menschen sah ich nicht realistisch, ich idealisierte sie oder wertete sie komplett ab. Dadurch war es mir auch nicht möglich, normale Beziehungen zu führen. Ich hatte für jede Gelegenheit die richtigen Bekannten, die untereinander nicht im Mindesten zusammenpassten. Meine Interessen waren vielfältig, aber eben sehr oberflächlich. Ich wollte alles ausprobieren und kennenlernen, war immer auf der Suche nach »Meinem«. Mich anzupassen fiel mir nicht schwer und ich wollte unbedingt überall gemocht werden.
In engeren Beziehungen mit Männern konnte ich nicht immer perfekt sein und dann, sobald sie mich kennengelernt hatten, begann ich zu klammern und viel Theater zu machen und sehr eifersüchtig zu sein (was ich ja alles als perfekte Frau, Freundin und Geliebte gar nicht sein durfte). Das endete immer in einer Katastrophe und in vielen Selbstmordgedanken und -androhungen. Ich hatte keinerlei Substanz, auf die ich in solchen Situationen hätte zurückgreifen können.
Inzwischen ist vieles anders: Ich lebe heute gerne und stelle mein Leben nicht mehr infrage.
Schon seit Jahren habe ich keine Suizidgedanken mehr. Ich bin noch immer manchmal launisch, aber ich leide nicht mehr darunter. Meistens versteckt sich dahinter nur ein unbefriedigtes Bedürfnis (oft nach Ruhe) und ich gönne mir dann gerne, was ich in dem Moment gerade brauche. Ich bin mir wichtig und mein Wohlbefinden spielt eine große Rolle. Und wenn ich es tatsächlich nicht befriedigen kann oder auch gar nicht erkenne, so habe ich inzwischen doch so viel Vertrauen ins Leben, dass ich weiß: Es geht auch wieder vorbei. Doch das Beste ist, dass ich diese Dinge heute aus- und ansprechen kann. Manchmal sind die Menschen etwas enttäuscht, wenn man so plötzlich auch eigene Bedürfnisse anmeldet, aber das legt sich meist sehr schnell. Es ist natürlich noch immer wichtig, Anerkennung von Freunden und der Familie zu bekommen, aber sie ist nicht mehr existenziell. Denn es ist absolut in Ordnung, dass ich so bin, wie ich bin. Was Fremde von mir halten, ist mir heute relativ egal. Ich finde es sehr angenehm, ihre Zustimmung zu meiner Person oder zu meinem Handeln zu bekommen. Wenn das aber mal nicht so ist, verschwende ich nicht mehr meine Zeit damit, unendlich darüber nachzugrübeln.
Leider kann ich gar nicht mehr sagen, wann und wie es sich entwickelt hat, aber dieses Gefühl von Leere ist tatsächlich verschwunden, vielleicht handelt es sich meist um ein Bedürfnis nach echter Nähe, die ich früher nie erlebt habe.
Die Werte in meinem Leben haben sich verändert. Ich lebe seit zweieinhalb Jahren in einer Beziehung und wir verbringen die Abende meist zu Hause. Ist mein Partner mal nicht da, dann genieße ich den Abend allein auch sehr. Früher wäre das für mich der Horror gewesen. Heute kann ich viel mehr mit mir selbst anfangen und finde mich eigentlich ziemlich interessant.
Mehr als angenehm ist es auch, wenn man sich endlich nicht mehr für all das verantwortlich macht, was so an unangenehmen Dingen um einen herum passiert.
Meine jetzige Partnerschaft ist nicht zu vergleichen mit den früheren. Ich zweifle nicht mehr bei der geringsten Auseinandersetzung die ganze Beziehung und die Liebe meines Partners zu mir an. Ich habe gar nicht mehr das Bedürfnis zu klammern, und wenn ich tatsächlich mal eifersüchtig bin und es nicht gleich in den Griff bekomme, dann kann ich das ansprechen, ohne das Gefühl zu haben, das Gesicht zu verlieren. Ich muss nicht perfekt sein, denn auch er ist es nicht.
Ich habe zudem eigene Interessen gefunden, die mir sehr wichtig sind. Das gibt mir die Sicherheit, etwas Eigenes zu haben, zum Beispiel fotografiere ich sehr gerne und übe mich autodidaktisch mithilfe von Büchern ein bisschen im Zeichnen. Eigentlich hat mich das schon immer interessiert, ich habe es mir aber nie zugetraut. Ich will kein Künstler werden und es reicht, wenn mir das Zeichnen Spaß macht, mir guttut, unabhängig vom Endergebnis.
Man kann mich längst nicht mehr zu allem überreden. Ich habe ein Gefühl dafür, was ich möchte, was mir Spaß macht, guttut und vor allem was ich nicht möchte.
Zwar mag ich manche Dinge immer noch nicht so gerne zugeben oder darüber reden, aber meistens ist es kein großes Problem mehr, einen Fehler zuzugeben, mich zu entschuldigen oder überhaupt dazu zu stehen, wie ich nun mal bin. Auch Vorgesetzte jagen mir nicht mehr so viel Angst ein. Der Effekt dieser Gelassenheit ist erstaunlich, denn keine meiner früheren Vermutungen ist je eingetroffen. Die Menschen verachten mich nicht im Geringsten für meine eingestandenen Fehler (die sie ja ohnehin kannten). Im Gegenteil, die Beziehungen werden angenehmer und einfacher.
Im Beruf lasse ich mich nicht mehr ausnutzen und kann ganz klar auch mal Nein sagen. Trotzdem wird meine Arbeit geschätzt. Aber die größte Veränderung vollzog sich wohl zwischen mir und meinem Körper. Ich finde ihn wirklich sehr attraktiv. Nachdem ich meine Essstörung im Griff hatte, hat sich mein Gewicht nach einigem Hin und Her tatsächlich eingependelt und ich fühle mich sehr wohl damit. Wobei: Es ist auch gar nicht mehr so wichtig!
Ich habe heute eine nicht für möglich gehaltene innere Zufriedenheit erreicht und freue mich immer darüber, selbst wenn ich mich mal aufrege oder mir wieder mal alles zu viel ist. Es ist einfach eine Basis vorhanden und so werde ich nicht mehr so leicht aus der Bahn geworfen.
Ich bin mir meiner selbst einfach bewusst. Ich weiß, wer ich bin.
Maria S.
Kriterium: Impulsivität in mindestens zwei potenziell selbstschädigenden Bereichen wie Geldausgabe, Sexualität, Substanzmissbrauch, rücksichtsloses Fahren oder »Fressanfälle«
Wenn die Anspannung zu groß wurde und die Gedanken daran, mich zu schneiden oder mich umzubringen, weil ich die Situation und die mit ihr verbundenen Gefühle nicht mehr aushalten konnte, dann hatte ich einen ganz starken Drang, irgendetwas zu tun, etwas Destruktives. Ich wollte einfach »Scheiße bauen«. Vielleicht nur deshalb, um der Situation und den Gefühlen nicht mehr ohnmächtig ausgeliefert zu sein.
Alkohol zu trinken und danach viel zu schnell mit dem Auto zu rasen, zu fressen, bis mir kotzübel war, mir schon mal die Rasierklingen in der nächsten Drogerie zu klauen, schwarzzufahren oder mit einem wildfremden Typen ins Bett zu steigen, das alles waren für mich Ventile, um Anspannung und Druck abzubauen. Teilweise geschah es in der Hoffnung, erwischt und dadurch gebremst zu werden (was aber nie passierte), oder auch in der Hoffnung, dass es ausreicht, um die Gefühle wieder aushaltbar zu machen oder zumindest die Kontrolle über die Suizidgedanken wiederzuerlangen. Manchmal gab es den Drang, Dinge zu tun, wie auf Zugschienen zu laufen oder auf das eingerüstete Hochhaus zu klettern. Durchgezogen habe ich dieses Hochrisikoverhalten allerdings nie.
Je nachdem, was ich getan hatte, ging es mir trotz der reduzierten Anspannung hinterher schlechter, zum Beispiel gerade nach dem Sex mit fremden Männern. Manchmal kam es mir vor, als hätte ich dann wenigstens einen Grund, mich beschissen zu fühlen, oder als würde es mir recht geschehen, wenn ich mich dann so schmutzig und dreckig empfand. Zur Scham kam die Sorge um mögliche Ansteckungen oder um eine Schwangerschaft hinzu. Im Gegensatz zum Selbstverletzen durch Schneiden hatte dieses impulsive Verhalten bei mir nichts von einer Sucht.
Durch viel Arbeit und langjährige Psychotherapie bin ich zur Expertin für mich selbst geworden und habe die »Skills« (meine Fertigkeiten) und die Achtsamkeit so weit automatisiert und perfektioniert, dass ich in der Regel nur noch selten etwas von meinem Borderline merke oder unter größere Anspannung gerate. Das Verhalten ist nicht gänzlich verschwunden, alle paar Monate erwischt es mich und in Krisenzeiten auch mal in kürzeren Intervallen, zum Beispiel nach der Trennung von meinem Freund. Die tägliche Routine, damit umzugehen, fehlt mir (zum Glück) zwar inzwischen, aber dafür kann ich auf viele Erfahrungen zurückgreifen.
Nach wie vor steigt die Anspannung durch irgendeinen Auslöser rasant an, und zwar innerhalb von Minuten. Heute hilft es mir, zu wissen, dass es sich nur um Stunden handelt und dass allerspätestens am nächsten Tag alles vorüber ist – wie bei einem Sturm, der plötzlich aufkommt. Es geht allein darum, den Schaden des Sturmes in Grenzen zu halten. Auch heute kommt es noch vor, dass ich dann zu schnell mit dem Auto fahre, aber ich habe dabei nichts getrunken. Ja, auch kommt es noch vor, dass ich eine ganze Tafel Schokolade in mich hineinstopfe, um die miesen Gefühle zu betäuben, aber es bleibt bei einer Tafel.
Heute nutze ich das Internet, um in solchen Momenten mit fremden Männern zu flirten und tabulos über Sex zu sprechen, aber meistens, ohne mich mit ihnen zu treffen. Und wenn es ganz heftig kommt, dann rauche ich ein paar Zigaretten. Eigentlich habe ich mir das Rauchen vor zwei Jahren abgewöhnt, aber wenn der Drang, handeln zu müssen, zu groß wird, dann gelingt es mir mit dem Rauchen wenigstens, etwas Dysfunktionales zu tun, das gesellschaftsfähig ist. Damit gebe ich dem Gefühl nach, etwas kaputtmachen zu müssen, denn es ärgert mich danach, dass ich es nicht schaffe, ohne diese blöden Krisenkippen auszukommen. Beim Thema »Sucht« bzw. »Auswege aus der Sucht« gibt es bei mir ohnehin kein »Nie wieder!«. Für mich ist es wichtiger geworden, mit dem Rückfall umgehen zu lernen. Das heißt, hinzufallen und wieder aufzustehen und weiterzumachen. Das habe ich bei dem Reduzieren bzw. Aufhören mit dem Schneiden als Selbstverletzung gelernt. Alles in allem sind die Momente, in denen ich dieses impulsive Verhalten brauche, um die Anspannung zu regulieren und aus der Ohnmacht rauszukommen, heute nur noch selten. Die Art dieses impulsiven Verhaltens und das Ausmaß der Selbstschädigung sind dadurch immerhin auf ein teilweise schon fast »normales« Maß gesunken.
Lia
Kriterium: Wiederholte suizidale Handlungen, Selbstmordandeutungen oder -drohungen oder Selbstverletzungsverhalten
Wenn ich mich heute zurückerinnere, dann hat mein selbstverletzendes Verhalten bereits im Kindergartenalter begonnen. Immer wenn ich mit irgendetwas nicht zurechtkam, machte ich es mit mir selbst aus. Zu Hause bekam ich immer nur zu hören, wie schlecht ich doch sei und dass ich alles falsch mache. Um mit den emotionalen Schmerzen umgehen zu können, fing ich an, mir die Haare rauszureißen. Da ich immer sehr, sehr dünnes Haar hatte und man die Kopfhaut sehen konnte, fiel das nicht einmal jemandem auf.
Später in der Grundschule begann ich, mit dem Kopf oder mit anderen Körperteilen gegen Wände und Türen zu schlagen. Ich machte viele »schräge« Dinge, bei denen es gar nicht unüblich war, sich zu verletzen, so fiel es auch niemandem auf, wenn es absichtlich geschah. Irgendwann wurde der Druck aber immer größer und ich habe immer andere Arten der Selbstverletzung gefunden. Von übermäßigem Essen bis zur lebensbedrohlichen Magersucht, Kratzen, Schneiden, Verbrennen und Knochenbrechen.
Lange Zeit kam niemand darauf, was ich eigentlich tat. Erst als die Misshandlungen zu Hause richtig brutal wurden und ich deshalb öfter ins Krankenhaus musste, fielen auch meine Schnittverletzungen auf, die ich mir selbst zufügte. Ich erzählte dann immer, ich sei vom Baum gefallen oder anderes. Da mein Vater in diesem Krankenhaus als Chirurg arbeitete, wurde auch nicht weiter gefragt.
Ich verletzte mich in Situationen, in denen ich mit dem psychischen Druck nicht mehr klarkam, wenn ich mich nicht mehr spüren konnte, kein Zeit- und kein Raumgefühl mehr hatte. Oder aber auch um vorhandene Schmerzen zu überdecken. Wenn das Blut lief, war es für mich ein eindeutiger Beweis, dass ich noch lebte und nicht nur meine äußere Hülle funktionierte, mit der jeder machen konnte, was er wollte. Es war aber gleichzeitig auch eine Art Weinen, denn das durfte ich zu Hause nie. Also lernte ich, anders zu weinen – meine Tränen waren dann rot.
Ich habe mich auch für viele Dinge, die geschahen, selbst bestraft und habe geglaubt, was mir die Erwachsenen einredeten: »Ich bin schlecht, muss die Verantwortung tragen und bin einfach nur an allem selbst schuld.« Später folgte dann zusätzlich zu meinen Selbstverletzungen auch das sogenannte Hochrisikoverhalten. Meinen ersten Suizidversuch unternahm ich bereits mit elf Jahren. Ich sprang von einer Autobahnbrücke, weil ich einfach nicht mehr konnte. Der Hund eines Försters hat mich gefunden, der Förster verständigte dann auch den Rettungsdienst.
Ich wurde im Krankenwagen und später in der Klinik mehrfach reanimiert. Danach lag ich wegen der schweren Verletzungen fast ein Jahr im Krankenhaus.
Den nächsten Versuch unternahm ich mit zwölf. Ich nahm alle Medikamente, die ich zu Hause fand. Auch da wurde ich ohne Therapie wieder aus der Klinik geholt, denn ich hätte ja anfangen können zu reden.
Mit neunzehn unternahm ich schließlich meinen letzten Suizidversuch. In der Zwischenzeit versuchte ich es ein- bis zweimal jährlich. Insgesamt komme ich auf elf Versuche mit den unterschiedlichsten Methoden.
Heute gehe ich mit belastenden Situationen unterschiedlich um. Im Laufe der Jahre habe ich mir ein Netzwerk aufgebaut, das mich auffängt, wenn es mir schlecht geht.
Wenn ich unter Spannung gerate oder starken Druck spüre, versuche ich mich mit verschiedenen Dingen abzulenken. Meist erledige ich etwas im Haushalt, gehe spazieren, puzzle oder spiele sinnlose Online-Spiele, bei denen man nicht denken muss. Hauptsache, meine Hände sind dann beschäftigt.
Klappt das allerdings alles nicht so richtig, dann schnappe ich mir mein Telefon und telefoniere so lange durch die Gegend, bis ich jemanden erwische, der Zeit zum Quatschen hat. Sobald ich jemanden erreiche, rede ich meist so lange, bis der Druck wieder gesunken ist. Hilft das auch nicht, dann habe ich ein Bedarfsmedikament. Nach der Einnahme telefoniere ich erneut und quatsche so lange weiter, bis ich merke, dass die Wirkung eintritt. Kann ich endlich auflegen, lege ich mich meistens aufs Sofa, schnappe mir meine Katzen und schaue belanglose Trickfilme.
Dieses Verhaltensmuster habe ich über Jahre und mittels Psychotherapie entwickelt. Irgendwann hat es schließlich »klick« gemacht. Ich hab im Laufe der Zeit gelernt, meinen Frust da abzulassen, wo er hingehört. Meistens klappt das auch. Das letzte Mal habe ich mich vor rund einem Jahr geschnitten. Manchmal fällt es mir verdammt schwer, dem Schneiden zu widerstehen, denn es bewirkt doch ein Befreiungsgefühl, das mit nichts zu vergleichen ist. Doch regelmäßig schaue ich mir meine Arme an und bin doch stolz auf mich, dass die Narben nach und nach verblassen.