Gewalt gegen Einsatzkräfte - Ken Oesterreich - E-Book

Gewalt gegen Einsatzkräfte E-Book

Ken Oesterreich

0,0

Beschreibung

Aggressive and violent behaviour against the emergency services is not just a myth hyped in the media, but sadly a reality. The author illustrates what it is that causes this type of troublesome behaviour and provides concrete advice on prevention and ways of dealing with threatening situations that arise. The aim is to enhance the ability of emergency service staff to deal with stressful and potentially violent conflict situations. Practical examples support the reader in recognizing critical situations at an early stage and avoiding counterproductive behaviour.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 176

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Dr. phil. Ken Oesterreich

[3]Gewalt gegen Einsatzkräfte

Die Grundlagen einer strukturierten Eigensicherung

Verlag W. Kohlhammer

[4]Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Die Abbildungen stammen – sofern nicht anders angegeben – vom Autor.

1. Auflage 2020

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-034933-9

E-Book-Formate:pdf: ISBN 978-3-17-034935-3epub: ISBN 978-3-17-034936-0mobi: ISBN 978-3-17-034937-7

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

[5]Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

1.1   Gebrauchshinweise für den Leser

1.2   Ausgangslage und Überblick zum aktuellen Forschungsstand

1.3   Herausforderungen

1.4   Intention

1.5   Methodisches Vorgehen für mehr Handlungssicherheit

2 Begriffliche Eingrenzung

3 Das A-B-C-Der-Eigensicherung – ein algorithmen-basiertes Handlungsinstrument

3.1   Begriffliche Eingrenzung

3.2   Hypothesen des Buches

4 Gewaltbegünstigende Faktoren 

4.1   Alkoholintoxikation als gewaltbegünstigender Faktor

4.2   Aggressives Abwehrverhalten

5 Taktisch inkorrektes Verhalten

5.1   Taktisch inkorrektes Verhalten

5.1.1   Verletzungen als Folge inkorrekten Verhaltens:

5.1.2   Beeinträchtigung der eigenen Reaktionszeit

5.1.3   Fehlerhafte Einschätzung einer Person (Paradoxe Wahrnehmung)

5.1.4   Zusammenfassung

5.2   Taktisch korrektes Verhalten

5.2.1   Die neutrale Kontaktstellung

5.2.2   A-B-C-Der-Eigensicherung vorschalten

6 Internationale Fallanalysen

6.1   Fallanalyse 1: Gewalt durch Dritte – Behinderung an der Einsatzstelle

6.2   Fallanalyse 2: Gewalt durch falsches Eigenverhalten

6.3   Fallanalyse 3: Patienteninduzierte Gewalt

6.4   Fallanalyse 4: Bedrohungslage mit Messer

6.5   Fallanalyse 5: Übergriff mit einer Stichwaffe

6.6   Überprüfung der Untersuchungshypothesen

7 Beispielszenarien aus der konkreten Einsatzpraxis Fallanalysen 6 –12

7.1   Einsatzszenario: »akute Psychose«

7.2   Einsatzszenario: »Treppensturz«

7.3   Einsatzszenario: »Treppensturz/Häusliche Gewalt«

7.4   Einsatzszenario: »Alkoholintoxikation«

7.5   Einsatzszenario: »gestürzte Person«

7.6   Einsatzszenario: Schnittstelle Nachgeforderte Kräfte/Arbeit im RTW

7.7   Einsatzszenario: Schnittstelle Notaufnahme

8 Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

[7]1    Einleitung

1.1   Gebrauchshinweise für den Leser

Dieses Buch ist ein Arbeitsbuch für notfallmedizinische Anwender und Praktiker. Es ist das Ergebnis eines mehr als zehnjährigen lückenlosen Arbeits- und Entwicklungsprozesses in der Aus- und Fortbildungspraxis zum Themenkomplex Gewalt gegen Rettungskräfte. Die Grundidee dieses Buches ist es, dem Leser ein konkretes Instrument zur Verfügung zu stellen, mit dem Rettungskräfte in akuten Lagen aggressive und potentiell gewaltbereite Personen diskret einschätzen und beurteilen können. Dadurch wird es möglich, die notwendigen Folgeschritte zu planen und zu implementieren. Das übergeordnete Ziel ist die Verbesserung von Handlungssicherheit im Umgang mit aggressiven und gewaltbereiten Personen und Patienten.

Gerade weil der Anwenderbezug im Mittelpunkt steht, ist es zwingend erforderlich die folgenden Kriterien zu betonen:

Handlungssicherheit entsteht durch Nachvollziehbarkeit. Deshalb werden ausschließlich dokumentierte Fallbeispiele aus der rettungsdienstlichen Arbeit betrachtet, um den konkreten Erfordernissen dieser Arbeitsrealitäten gerecht zu werden.

Handlungssicherheit erfordert Begriffssicherheit. Gerade weil Rettungskräfte in der Dokumentationspflicht sind, ist es erforderlich zunächst wesentliche Begriffe zu klären und einzugrenzen.

Handlungssicherheit entsteht durch strukturiertes und bewusstes Lernen. Lernen erfordert Übung und Wiederholung. Deshalb sind die Fallanalysen durch einen möglichst hohen Wiederholungsgrad gekennzeichnet.

Zu Wissen und zu Verstehen, was zu tun und was zu unterlassen ist, ist maßgeblich für die Planung eigener Handlungsschritte und Verhaltensmaßnahmen. Handlungssicherheit entsteht deshalb auch durch die richtige Verknüpfung von Theorie und Praxis.

Vor diesem Hintergrund empfiehlt es sich, dieses Buch zunächst einmal von Anfang bis Ende durchzulesen. Die Übersichten zu Algorithmen sowie die Fallbeispiele können anschließend als exemplarische Vorlagen für den Unterrichtsbetrieb genutzt werden. Die notwendigen theoretischen Grundlageninformationen werden in möglichst kompakten Zwischenkapiteln in den Betrachtungsverlauf eingeflochten und fungieren als Hintergrundschablonen. Vor diesen Hintergründen werden die für [8]die Arbeitspraxis erforderlichen Handlungsstrukturen entwickelt und fallspezifisch erläutert.

An dieser Stelle soll allerdings auch betont werden, dass dieses Buch lediglich einen Beitrag zum Arbeitsschutz von Rettungskräften leisten kann und wird. Es ist nicht beabsichtigt, den Eindruck zu erwecken, dass alle Gefährdungs- und Bedrohungslagen im Rahmen einer Publikation vollumfänglich abgebildet und betrachtet werden können. Zu den für Rettungskräfte wahrscheinlichen Bedrohungslagen gehören u. a.:

Tabelle 1:

Verbale Bedrohungen

Gewalt als Konsequenz von Alkohol und Drogenkonsum

Nonverbale Bedrohungen

Annäherung an bewusstlose Person/Aggressives Abwehrverhalten

Beißen

Gewalt im Kontext psychiatrischer Notfall

Spucken

Scharfe Gewalt/Bedrohungen mit Klingen und messerähnlichen Gegenständen

Tätliche Übergriffe vor, während und nach der Patientenversorgung

Die Themen körperlicher Selbstschutz und Selbstverteidigung werden im Rahmen dieser Publikation bewusst nicht betrachtet. Die Vermittlung solcher Inhalte erfolgt am besten im Rahmen einer strukturierten Unterweisung im Rahmen der rettungsdienstlichen Aus- und Fortbildung.

1.2   Ausgangslage und Überblick zum aktuellen Forschungsstand

Die scheinbar zunehmende Aggressions- und Gewaltbereitschaft gegenüber medizinischen Berufsgruppen stellt eine globale Herausforderung dar. Der angemessene Umgang mit dem Phänomen Gewalt in präklinischen und klinischen Arbeitsbereichen bekommt gerade deshalb auch eine zunehmend größere Bedeutung im Rahmen der Aus- und Fortbildung von Rettungskräften und Notfallmedizinern. Die Auswertung verschiedener Studien aus Europa, Asien und Nordamerika, die [9]zwischen 1999 und 2015 (Blanchard/Curtis 1999; Mantzouranis 2015) erstellt wurden, lässt folgende Schlüsse zu:

Medizinische Rettungskräfte sind einem signifikanten Risiko ausgesetzt, während der Arbeit am und mit dem Patienten aggressiven und potentiell gewalttätigen Verhaltensformen zu begegnen (vgl. Grange/Corbett 2002).

Einige Autoren postulieren, dass für Mitarbeiter in notfallmedizinischen Berufen ein nahezu zehnfacheres Risiko besteht, Gewalt am Arbeitsplatz zu erfahren als für andere Berufsgruppen. Mitarbeiter in Notaufnahmen seien dabei am stärksten betroffen (Kowalenko 2013).

Laut einer Untersuchung von 4102 Einsatzdokumentationen von 2003 wurden Rettungskräfte in 8,5 % der Fälle (349 Einsätze) mit Gewaltverhalten konfrontiert (Grange/Corbett 2002).

Das Hauptrisiko besteht während der unmittelbaren Arbeit am Patienten (Schmid 2012) und der Interaktion mit Angehörigen (Ayranci 2005). Das größte Gewaltpotential scheint dabei von männlichen Patienten und Angehörigen auszugehen (Grange/Corbett 2002; Mechem 2002; Schmid 2012; Kowalenko 2013; Hahn 2010).

Die wahrscheinlichen Übergriffformen reichen dabei von verbalen Bedrohungen, körperlichen Bedrohungen, körperlichen Übergriffen mittels Stoßen, Schlagen, Treten und Beißen bis hin zu Bedrohungen mit Stich- und Schusswaffen (Petzäll/Tällberg 2006; Rahmani/Hassankhani 2011; Amjad 2012; Duchateau 2002).

Die Wahrscheinlichkeit mit aggressiv-gewalttätigem Verhalten konfrontiert zu werden wird weiterhin von verschiedenen Faktoren begünstigt. Im Wesentlichen gehören dazu die Anwesenheit von Polizeikräften, Dritten, psychiatrische Vorerkrankungen, vorliegende Alkohol- und Drogenintoxikationen bzw. Mischintoxikationen (Grange/Corbett 2002). Besonders die Kombination von Alkoholintoxikation mit Schizophrenie scheint die Entstehung von gewalttätigem Verhalten zu begünstigen (Räsänen 1998).

Problematisch scheint in diesem Zusammenhang die häufig nur unzureichend vorhandene Dokumentation von Vorfällen (vgl. Mock/Wrenn 1998) und der weiterhin mangelnden Forschungsgrundlage zu diesem Gewaltphänomen (vgl. Hahn 2010; vgl. Grange/Corbett 2002), die sich durch eine unzureichende, oberflächliche und uneinheitliche Dokumentation kennzeichnet. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist die bestehende Handlungskompetenz für den Umgang mit aggressiv-gewalttätigen Situationen und die Bewältigung damit einhergehender Gefahren für Kollegen und [10]Patienten nicht oder nur rudimentär ausgeprägt. Eine in diesem Zusammenhang genannte Strategie ist der Versuch durch verbale Kommunikation das aggressive Gegenüber dazu zu bringen sich zu beruhigen (vgl. Rahmani 2011).

Die Betrachtung des aktuellen Forschungsstandes zum Thema Gewalt gegen Rettungskräfte in Deutschland kann bestenfalls als rudimentär bezeichnet werden und bedarf weiterer zukünftiger wissenschaftlicher Untersuchungen. Die erste repräsentative deutsche Studie zum Thema Gewalt gegen Rettungskräfte stammt aus dem Jahre 2012 (Schmid 2012). Unlängst sind weitere Erhebungen und Betrachtungen dazugekommen (Dressler 2016), die aber lediglich als Bestandsaufnahme verstanden werden können. Dressler versucht in ihrer Publikation lediglich eine Datengrundlage zu schaffen anhand derer mögliche Fallzahlen bestimmbar sein könnten. Dabei geht es ihr nicht um die Widerlegung bzw. Bestätigung irgendeiner Untersuchungshypothese, sondern um die Darstellung eines möglichen Ist-Zustandes und dessen Wahrnehmung. Die Autorin kommt zu dem Schluss, dass, anders als noch 2012 bzw. 2013 verbreitet angenommen, Gewalt gegen Einsatzkräfte mittlerweile nicht mehr nur als ein relativ seltenes Einzelphänomen zu betrachten ist1. Die Untersuchungen von Schmid (2012) und Dressler (2016) können trotz fehlender Detailtiefe als Orientierungshilfe für die Aufarbeitung des Themenkomplexes Gewalt gegen Rettungskräfte genutzt werden.

1.3   Herausforderungen

Die Auseinandersetzung mit dieser Aggressions- und Gewaltproblematik gestaltet sich sehr komplex. Der Umgang mit aggressiv-gewalttätigen Personen ist zunächst keine originär medizinische Aufgabe, sondern fällt in den Zuständigkeitsbereich der Sicherheitsbehörden. Unterschiedliche Aufgaben und Aufträge bringen unterschiedliche Wahrnehmungs- und Handlungsmuster mit sich. Ein Arzt bzw. Notfallsanitäter erfasst eine Lage nicht genauso wie ein Polizist. Im Umkehrschluss gilt das Gleiche. Diese unterschiedlichen Wahrnehmungen und daraus abgeleitete Handlungen werden begrifflich unterschiedlich formuliert und artikuliert. Die Begriffe Eigensicherung und Deeskalation werden beispielsweise nicht zwangsläufig identisch verstanden und verwendet (vgl. Füllgrabe 2002 und Friedrich 2006).

Eine zusätzliche Herausforderung liegt in der oftmals nicht erfolgten Begriffserklärung, wenn unterschiedliche Berufsgruppen miteinander interagieren. Allzu oft [11]werden Begriffe unreflektiert übernommen und die Kenntnis über deren Bedeutung und Tragweite vorausgesetzt. Deeskalation ist ein Beispiel für eine solche babylonische Sprachverwirrung.

Die Dokumentation von Übergriffen auf Rettungskräfte wird aufgrund der oben genannten fehlenden empirischen Daten und unzureichend implementierten Erfassungssysteme erschwert. Kontinuierlich steigende Einsatzzahlen einerseits und das Ansteigen unnötiger Einsatzfahrten aufgrund von eigentlich nicht gerechtfertigten Notrufen andererseits, erschweren die Dokumentation zusätzlich. Sofern Übergriffe dokumentiert werden, handelt es sich dabei zunächst um eine beschreibende Darstellung von dem, was passierte. Gerade in sozialen Medien und Plattformen gewinnt man den Eindruck, dass die Lage immer prekärer wird. In diesem Zusammenhang ist auffällig, dass gerade der Gewaltbegriff primär normativ verwendet wird. Es wird von der Prämisse ausgegangen, dass Gewalt schlecht sei. Im gleichen Atemzug erfolgt dann quasi reflexhaft die Handlungsaufforderung an den Staat, härtere Strafen zu verhängen. So verständlich diese Reaktion auf Seiten der Betroffenen ist, so sehr ist diese auch ein Ausdruck massiver Handlungsunsicherheit und der Unfähigkeit in diesen Kontexten zu agieren. Vor diesen Hintergrundschablonen betrachten wir im weiteren Verlauf das Thema Gewalt gegen Rettungskräfte.

1.4   Intention

Unser Anliegen ist es, einen Beitrag zu leisten und die bestehenden Lücken in der Aus- und Fortbildung von medizinischen Fach- und Führungskräften inhaltlich und strukturell zu füllen. Denselben Stellenwert, welchen das Thema Patientensicherheit innehat, muss den Themen Eigensicherung und Teamsicherung zugebilligt werden. Darüber hinaus verstehen wir diese Publikation als einen Beitrag zum nachhaltigen und zeitgemäßem Arbeitsschutz in notfallmedizinischen und klinischen Arbeitsbereichen. Der Schutz gegen Gefährdungen, die bei beruflicher Tätigkeit auftreten können, umfasst im notfallmedizinischen Kontext z. B. die regelmäßige mechanische Hygiene, den bewussten Einsatz von Desinfektionsmitteln und das Tragen von Arbeits- und Schutzkleidung. Einweisungen in den korrekten Umgang mit Gefahrstoffen sind ein weiteres Beispiel für Arbeitsschutzmaßnahmen. Das Verbot von offenem Feuer im unmittelbaren Umfeld entzündlicher und explosiver Stoffe ist nachvollziehbar und sinnvoll. Exotherme Reaktionen können fatale Konsequenzen nach sich ziehen. Eine Einweisung in den Umgang mit eben solchen Gefahrensituationen ist demzufolge gleichermaßen sinnvoll. Der Transport eines verwirrten, emotional erregten und eventuell aggressiven Patienten in die Klinik gleicht in vielerlei [12]Hinsicht einem Gefahrguttransport. Bereits minimale Veränderungen in der Umgebung können erhebliche und plötzliche Reaktionen hervorrufen. Diese Faktoren werden oftmals erst im Nachgang des eskalierten Ereignisses wahrgenommen. Dazu gehören z. B. die Anwesenheit bzw. Abwesenheit bestimmter Personen im RTW, Umfeldfaktoren wie zum Beispiel Lärm- und Lichtverhältnisse, der momentane Zustand des Patienten (z. B. Intoxikation).

Im Rahmen der Fallbesprechung und des sogenannten Debriefings werden solche Erlebnisse häufig mit den folgenden Formulierungen eingeleitet: »Das ging alles viel zu schnell…«; »So schnell konnte ich gar nicht reagieren…«;»Wie aus heiterem Himmel…« Die Betroffenen Personen konnten in der jeweiligen Situation nicht ausmachen, auf welche Umfeldfaktoren sie bewusst hätten achten müssen und waren deshalb handlungsunsicher oder, im Extremfall, sogar handlungsunfähig. Eine Einweisung in den Umgang mit eben solchen Gefahrensituationen und, überspitzt formuliert, den Umgang mit dem »Gefahrgut Mensch« ist demzufolge gleichermaßen sinnvoll und zeitgemäß.

Zweifellos macht die Klärung der Fragen »Wie und wann werden Rettungskräfte mit aggressiven Gewaltformen konfrontiert?« eine möglichst umfangreiche Dokumentation und Evaluation von Übergriffen zwingend erforderlich. Zusätzlich müssen aber auch der Kontext und die Bedingungen, die auf Seiten aller Betroffenen zum Zeitpunkt des Vorfalls herrschten, betrachtet werden, um erklären zu können, wie diese Ereignisse letztlich entstehen konnten. Die Lieferung solcher Erklärungsmöglichkeiten sind allerdings lediglich Vorbedingung für die Ableitung und Implementierung funktionaler und gebrauchstauglicher Handlungsstrukturen für den Umgang mit aggressionslastigen Behandlungssituationen und potentiell gewaltbereiten Individuen.

Funktionalität und Gebrauchstauglichkeit

Der Begriff Funktionalität bezeichnet in der Technik und in der Informatik die Fähigkeit eines Produktes oder einer Komponente, eine bestimmte Funktion oder Gruppe von Funktionen zu erfüllen. Dies bezieht sich vor allem auf die Gebrauchstauglichkeit.Der Begriff Gebrauchstauglichkeit meint das Ausmaß, in dem ein Produkt von bestimmten Benutzern in einem definierten Einsatzgebiet verwendet werden kann, um bestimmte Ziele effektiv, effizient und zufriedenstellend zu erreichen (vgl. DIN EN ISO 9241-110)

[13]1.5   Methodisches Vorgehen für mehr Handlungssicherheit

Kontinuierlich steigende Einsatzzahlen und zunehmende Belastung von Einsatzkräften aufgrund immer größer werdender Verantwortung und demographische Herausforderungen wirken sich mittelbar und unmittelbar auf die Bereiche Aus- und Fortbildung aus. Die für Aus- und Fortbildung zur Verfügung stehende Zeit ist häufig knapp bemessen. Zeit ist somit eine sehr kostbare Ressource. Es ist deshalb erforderlich, die zu vermittelnden Inhalte klar zu strukturieren und begrifflich transparent und verständlich zu kommunizieren.

Abstrakt wirkende Phänomene wie zwischenmenschliche Gewaltausübung stellen eine methodische Herausforderung dar. Während gerade in der Notfallmedizin häufig mit Rollenspielen, Realistischen Unfalldarstellungen (RUDs) und Simulationen erfolgreich und nachhaltig gearbeitet wird, wird das »Nachspielen« aggressiver und gewalttätiger Patientenkontakte häufig von den Seminarteilnehmern als nicht realistisch und nicht zielführend wahrgenommen. Gewalt kann man nicht spielen. Ein solches Rollenspiel kann erst dann realistisch werden, wenn alle involvierten Teilnehmer Gewalt in ihren unterschiedlichen Facetten (verbal, nonverbal und körperlich) bereits erlebt haben und selbst bereits Gewalt ausüben mussten. An dieser Stelle wird ein wesentliches logistisches Problem für die Aus- und Fortbildung erkennbar. Solche erfahrenen Rollenspieler sind selten zu finden. Rollenspiele sind außerdem in ihrer Vorbereitung, Durchführung und Evaluation sehr zeitintensiv. Demzufolge ist es kaum möglich eine große Bandbreite an wahrscheinlichen Szenarien in einem stark eingegrenzten Zeitbudget angemessen betrachten zu können.

Die Analyse schriftlich bzw. digital dokumentierter Fallbeispiele aus der Einsatzpraxis vermeidet die oben genannten Probleme und macht es möglich auf eben diese Aspekte einzugehen, die in akuten Lagen leicht übersehen werden.

Die strukturierte Sensibilisierung von Rettungskräften für die Entwicklung und den Verlauf von Gewaltprozessen ist zwingend erforderlich, weil Rettungskräfte originär nur für den Umgang mit den Folgen von Gewalt ausgebildet sind. Es ist aber nicht möglich, anhand der Folgen einer Gewalthandlung (Verletzungen) eindeutige Rückschlüsse über deren Entstehung in zeitkritischen Lagen zu ziehen. Stellen sie sich exemplarisch folgendes Szenario vor:

[14]Auffinden einer verletzten Person/Einsatzstichwort »Hilflose Person«

Nach Ankunft an der Einsatzadresse finden Sie eine leicht geöffnete Wohnungstür vor. Nach wiederholtem Klingeln, Klopfen und verbalem Anrufen beschließen Sie die Wohnung, in der sich die vermeidliche hilflose Person befinden soll, zu betreten. Sie stellen zunächst Beleuchtung sicher und prüfen, ob sich in den vom Wohnungsflur abgehenden Räumen Personen befinden. Sie treffen zunächst keine Personen an. In dem Raum, der das Wohnzimmer zu sein scheint, finden Sie letztlich eine bewusstlose, männliche, auf dem Rücken liegende Person vor. Besagte Person weist eine deutliche Stichverletzung in der linken Brustseite auf (das Tatmittel befindet sich noch in der Wunde).

Zwar ist anhand der vorliegenden Verletzungen eine mögliche Behandlung des Patienten abzuleiten und zu initiieren, es ist aber nicht möglich eindeutig festzustellen wie und auf welche Art und Weise die Person verletzt wurde. Aus rein medizinischer [15]Sicht spielen die Fragen nach dem »Wie« und dem »Ablauf des Angriffs« keine Rolle – im Kontext der Eigensicherung allerdings schon.

Betrachten wir dieses Beispielszenario anhand der Fragestellung, wie und auf welche Weise der Angriff durchgeführt und das Tatmittel Messer eingesetzt wurde, ergeben sich die folgenden Möglichkeiten:

Es handelt sich um eine vollzogene Tötungsdelikt bzw. ein versuchtes Tötungsdelikt.

Es handelt sich um einen vollzogenen Suizid bzw. einen versuchten Suizid.

Es handelt sich um einen Unfall (z. B. Verletzung nach Sturz).

Es handelt sich um die Folge eines missglückten Beruhigungsversuches einer aufgebrachten bzw. verwirrten Person.

Bild 1: Dummy eines Opfers mit Stichverletzung im oberen linken Brustbereich

Im Falle einer versuchten bzw. vollzogenen Tötung kann der Täter das Tatmittel »Messer« aus unterschiedlichen Positionen und Winkeln ausgeführt haben. Die oben illustrierte Verletzung kann beispielsweise auf folgende Arten und Weisen verursacht worden sein:

Täter und Opfer standen sich frontal gegenüber. Der Angriff erfolgte durch einen geraden horizontal geführten Stich.

Täter und Opfer standen sich frontal gegenüber. Der Angriff erfolgte mittels eines frontalen vertikal ausgeführten Stichs.

Der Täter stand frontal vor dem sitzenden Opfer und führte einen geraden horizontalen Stich gegen das Opfer aus.

Der Täter warf das Messer nach dem Opfer.

Das Opfer befand sich bereits in Bodenlage und wurde vom stehenden Täter mit dem Messer angegriffen.

Täter und Opfer kämpften um die Kontrolle über das Messer. In Folge eines Sturzes kam es zur Verletzung der Person.

Täter und Opfer befanden sich in einer verbalen Auseinandersetzung. Als das spätere Opfer das Gespräch beenden wollte und sich in diesem Zuge wegdrehte, führte der Täter den Angriff mit einer horizontalen Stichbewegung aus.

Das Opfer befand sich in einer sitzenden Position. Der Angriff erfolgte mittels Stichangriff von hinten über die Schulter des Opfers.

Im Falle eines versuchten bzw. erfolgten Suizids kann die dargestellte Verletzung folgendermaßen verursacht worden sein:

Der Suizidant führte den Stich einhändig mit rechts aus.

[16]Der Suizidant führte den Stich beidhändig aus.

Der Suizidant »stürzte« sich in die Klinge.

Sollte es sich bei der Verletzung um die Folge eines Unfalls handeln, z. B. eines Sturzes, wäre es denkbar, dass die aufgefundene Person wegen einer vorliegenden (Misch)Intoxikation stürzte und aufgrund ihres Zustandes nicht mehr in der Lage war, die Selbstschutzhandlung (Wegwerfen des in der Hand befindlichen Messers) zu koordinieren. Sollte es sich um die Folgen eines missglückten Beruhigungsversuches einer aufgebrachten bzw. verwirrten Person handeln, wäre das folgende Szenario denkbar:

Das aufgefundene Opfer befand sich mit einer weiteren Person mit einer psychiatrischen Vorerkrankung in dieser Wohnung. In der Vergangenheit war es dem späteren Opfer wiederholt gelungen, die erkrankte Person während eines psychischen Ausnahmezustands erfolgreich zu beruhigen. Dabei verwickelte das Opfer die zweite Person in ein Gespräch, bewegte sich langsam auf sie zu und versuchte die erregte Person mit geöffneten Händen und nach unten zeigenden Handflächen zu beschwichtigen. Im vorliegenden Fall führte die gleiche Strategie allerdings nicht zu einer Beschwichtigung der zweiten Person.

Die Betrachtung dieses fiktiven Fallbeispiels macht deutlich, wie komplex die Entstehung einer solchen Lage sein kann und wie leicht es ist eine Vielzahl von Informationen zu übersehen. Eine strukturierte Fallarbeit ist die Voraussetzung dafür, nicht nur zu wissen, was in einer konkreten Situation getan werden muss, sondern auch zu verstehen, warum das so ist. Darüber hinaus ermöglicht die Fallarbeit auch zu illustrieren, welche Handlungen und Verhaltensweisen in einer bestimmten Lage kontraproduktiv und deshalb zu unterlassen sind. Die Arbeitspraxis zeigt, dass sich Situationen oftmals von selbst beruhigen und dass voreiliges Handeln oftmals die Lage unnötig verkompliziert und deren Lösung erschwert.

Wissen und Verstehen sind Grundvoraussetzungen für die Entstehung von Handlungssicherheit. Handlungssicherheit wird zusätzlich verstärkt, wenn mit bereits vertrauten und verstandenen Strukturen gearbeitet werden kann. Im Bereich der Notfallmedizin sind Algorithmen eben solche Strukturen. Handlungssicherheit wird weiterhin durch den sicheren Umgang mit Begriffen verbessert. Dies gilt ins besonders für dokumentationspflichtige Berufsgruppen.

1

Diese Punkte wurden im Rahmen einer Emailkorrespondenz mit der Autorin thematisiert.

[17]2    Begriffliche Eingrenzung

Ausgehend von der Übersetzung des lateinischen Verbs communicare »jemanden etwas mitteilen« und der Grundannahme (Watzlawick 2000, S. 51 ff.), dass man nicht, nicht kommunizieren kann, ist anzunehmen, dass alles Mitteilungscharakter hat. Ein wesentliches Problem für das Verständnis von Mitteilungen liegt in der oftmals fehlenden Begriffsklärung begründet. Das hat zur Folge, dass Maßnahmen als Zeitverschwendung wahrgenommen werden. Heidig stellt dazu folgendes fest:

»Die Sprache löst sich von der Praxis und umgekehrt und sofern ein betroffener diesen Umstand nicht analysieren und begrifflich fassen kann, erlebt er diesen als hintergründige psychische Spannung bzw. als Widerspruch, der sich über die Zeit aufbaut und – da nicht fassbar – in der Regel auch nicht bearbeitet werden kann.« (Heidig 2018, S. 44)

Dieser Missstand wird im weiteren Verlauf mit Hilfe eines Begriffskontinuums (vgl. Bild 2) behoben werden. Mittels dieser begrifflichen Eingrenzung wird es möglich zu veranschaulichen, wie die oftmals inflationär gebrauchten Begriffe »Eigensicherung«, »Eigenschutz«, »Deeskalation«, »Selbstschutz« und »Selbstverteidigung« zueinander in Beziehung stehen und voneinander abgegrenzt werden müssen. Im Zentrum dieses Kontinuums steht ein Konflikt als zentrales Strukturelement. »Konflikt« verstehen wir in diesem Zusammenhang als das Aufeinandertreffen von Positionen von mindestens zwei Parteien, die als unvereinbar wahrgenommen werden. »Eigensicherung« auf der linken Seite des Kontinuums, bezeichnet ein aktives und bewusstes Verhalten hinsichtlich der Einschätzung und Vermeidung von Gefahren (vgl. Oesterreich/Köhler 2011). Darin eingeschlossen ist vor allem auch eine strukturierte Arbeitsweise als Individuum und als Team. Vor diesem Hintergrund ist das sogenannte Crew Ressource Management (CRM) nach Raal und Diekmann (vgl. Raal/Diekmann 2005) eine nützliche Methode. Nachstehend werden diese CRM Richtlinien aufgeführt (vgl. Bild 3).

Bild 2: Begriffskontinuum

Bild 2 zeigt auf der rechten Seite des Kontinuums die »Selbstvereidigung«. Diese bezeichnet ein reaktives Verhalten auf einen gegenwärtig anhaltenden bzw. unmittelbar bevorstehenden Angriff. Das Begriffspaar »Eskalation/Deeskalation« ist im mittleren Bereich des Kontinuums um einen Konfliktpunkt herum verortet. Auf der linken Seite des Konfliktes beinhaltet der Deeskalationsbegriff den Versuch, Rahmenbedingungen möglichst aktiv selbst zu gestalten, mit dem Ziel eine weitere [18]