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Die Kriege der Zukunft finden bereits heute und im Geheimen statt. Ihre Strategie stützt sich auf Drohnen, Nanobewaffnung und gezielte Tötungen. Diese Individualisierung des Krieges wirft dabei völlig neue ethische und politische Fragen auf, denen sich Krishnan in diesem militärstrategischen und philosophischen Essay unerschrocken stellt. Er diskutiert die Gründe der zunehmenden Individualisierung, ihre militärische und politische Nützlichkeit, aber auch ihre ethische Fragwürdigkeit: Brauchen wir eine neue Genfer Konvention?
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Seitenzahl: 318
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Armin Krishnan
Gezielte Tötung
Die Zukunft des Krieges
Erste Auflage Berlin 2012
© 2012 MSB Matthes & Seitz Berlin
Verlagsgesellschaft mbH
Göhrener Str. 7, 10437 Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
www.matthes-seitz-berlin.de
ISBN Print: 978-3-88221-568-7
ISBN eBook: 978-3-88221-026-2
Das Auffinden und Neutralisieren von Individuen durch ›gezielte Tötung‹ hat sich über das letzte Jahrzehnt, nicht zuletzt als Folge der Entwicklung bewaffneter Drohnen, zu einer völlig neuen Form der Kriegsführung entwickelt. In der gegenwärtigen öffentlichen Debatte wird die ›gezielte Tötung‹ in erster Linie als Maßnahme der Terrorismusbekämpfung diskutiert. Tatsächlich handelt es sich aber um ein sehr viel komplexeres Phänomen und um einen neuen Ansatz in der Nutzung von tödlicher Gewalt durch Regierungen im Kontext von politischen und militärischen Konflikten. In der Praxis sind gezielte Tötungen moralisch und juristisch sehr schwer zu beurteilen, und die Umstände, in denen diese Maßnahme angewendet wird, unterscheiden sich oft erheblich, ebenso wie die Mittel, die dabei zum Einsatz kommen. Selbst wenn man gezielte Tötungen als eine reine Antiterrorstrategie begreift, entsprechen die in der Regel überaus unscharf definierten Begriffe ›Terrorismus‹ und ›Terrorist‹ einem historischen Phänomen, das sich im Lauf seiner Geschichte sehr stark gewandelt hat.1 Schwierig ist insbesondere die Unterscheidung von ›Freiheitskämpfer‹ und ›Terrorist‹, da dies nicht nur von der verwendeten Taktik abhängt und davon, ob Unschuldige zu Schaden kommen, sondern sehr stark von der moralischen und politischen Legitimität des Kampfes. Zur Zeit der Apartheid in Südafrika galt beispielsweise der Afrikanische Nationale Kongress (ANC) als eine Terrororganisation und Nelson Mandela, der Anführer des militärischen Flügels des ANC, als Terrorist, nicht zuletzt deswegen, weil der ANC die bestehende politische Ordnung in Südafrika umstürzen wollte und zuweilen auch Terroranschläge gegen Zivilisten verübte.2 Dennoch gelang es dem ANC aufgrund der Legitimität seines Kampfes internationale Anerkennung zu gewinnen und schließlich ab 1994 zur größten und regierenden Partei Südafrikas zu werden. Regierungen verwenden das Schimpfwort ›Terrorist‹ oder ›Terrorgruppe‹ darüber hinaus nicht nur gegen jene, die eine bestehende politische Ordnung gewaltsam umstoßen wollen, sondern auch für politische Abweichler und Oppositionelle. Da sich umfassende staatliche Terrorismusdefinitionen oft auf sehr unterschiedliche Personengruppen ausweiten lassen, könnten vorgebliche Antiterrorstrategien wie die gezielte Tötung von ›Terroristen‹ leicht auch gegen Individuen angewendet werden, die Regierungen aus welchen Gründen auch immer als problematisch oder gefährlich einschätzen.
Die genaue Abgrenzung der gezielten Tötung vom politischen Mord ist nicht nur wegen der ungenauen Definition von Terrorismus schwierig, sondern auch weil dieselben Staatsorgane (Geheimdienste und militärische Spezialkräfte), die zuweilen politische Attentate ausführen, gleichermaßen mit der gezielten Tötung von Terroristen betraut werden. Auch die verwendeten Methoden unterscheiden sich wenig. Geheimdienste wie der israelische Mossad oder die Sicherheitsabteilung (Security Branch oder SB) der südafrikanischen Polizei haben ›Terroristen‹ mit Giftinjektionen, Sprengsätzen und Briefbomben getötet.3 Auch können die gezielt angegriffenen Individuen keineswegs immer als ›Kombattanten‹ charakterisiert werden, und deren Tötung dient damit keineswegs immer der Verhinderung bestimmter zukünftiger Terroranschläge. Der Mossad tötet auch Wissenschaftler, die an Waffenprogrammen für Israels Feinde arbeiten.4 Die USA töteten auch gezielt Mitglieder von afghanischen Drogenkartellen.5 Der Diktator Gaddafi wurde auf dieselbe Weise wie al Quaida-Terroristen in Pakistan gejagt und angegriffen, nämlich mit bewaffneten Drohnen.6 Die Methoden und die Ziele mögen sich daher unterscheiden, was diese Aktionen jedoch verbindet, ist die Überzeugung der ausführenden Staaten, dass Konflikte politischer und militärischer Natur durch die gezielte Eliminierung von Individuen entschieden werden können oder dass sich durch die systematische und selektive Tötung von bestimmten Feinden im Kontext eines größeren politischen oder militärischen Konfliktes zumindest ein taktischer, operativer oder strategischer Vorteil gewinnen lässt.
Die Ähnlichkeit von ›gezielten Tötungen‹ und politischen Attentaten ist schwer zu übersehen, auch wenn die Befürworter der Praxis gezielte Tötungen als legitime Kampfhandlungen zu definieren versuchen. ›Gezielte Tötung‹ klingt zwar wie ein Fachausdruck, aber im Völkerrecht gibt es diesen Begriff nicht, und er wird auch sehr unterschiedlich von Juristen, Wissenschaftlern und Regierungen verwendet und definiert.7 Eine eindeutige und scharfe Abgrenzung von legitimer bzw. legaler ›gezielter Tötung‹ auf der einen Seite und illegitimen bzw. illegalen ›Attentaten‹ auf der anderen Seite ist in der Praxis äußerst schwierig. Die Verwendung des Ausdrucks ›gezielte Tötung‹ versucht einem Akt staatlich sanktionierter tödlicher Gewalt gegen Individuen Legitimität und Legalität zu verleihen. Dies ist aber eine rein rhetorische Strategie. Die Unterscheidung beruht damit nicht auf greifbaren und klaren Unterschieden, sondern vorwiegend darauf, wie ein Beobachter die Legitimität bzw. Legalität einer staatlich angeordneten Tötung einschätzt.
Die Praxis des politischen Attentats ist natürlich nicht neu, sie findet sich bereits in der frühen Antike. Die Sekte der Assassinen perfektionierte im Nahen Osten des Spätmittelalters angeblich das politische Attentat als Mittel der Kriegsführung und der Ausübung von politischer Macht und Kontrolle. Die Macht der Assassinen beruhte hauptsächlich auf deren Fähigkeit, selbst Könige und Fürsten durch Attentate zu bedrohen mit Hilfe von fanatischen und zum Tode bereiten gedungenen Mördern. Obwohl die Assassinen den politischen Mord nicht gerade erfunden haben, so waren sie jedenfalls dermaßen erfolgreich damit, dass das englische Wort für Attentäter, ›assassin‹, sich von ihnen herleitet.8 Was jedoch neu ist in der Praxis des politischen Mordes, ist der verstärkte Einsatz des Militärs und modernster Waffentechnik gegen Individuen im Zusammenhang mit innerstaatlichen bewaffneten Konflikten, Terrorismus, Waffenproliferation und organisiertem Verbrechen. Die Neutralisierung von bestimmten Individuen der Gegenseite ist keine irreguläre Randerscheinung mehr, sondern findet in vielen Kriegen Anwendung: in den maßgeblichen Konflikten des frühen 21. Jahrhunderts nimmt sie sogar eine zentrale und strategisch entscheidende Rolle ein. Dies bedeutet in vielerlei Hinsicht eine radikale Abkehr von der Praxis der westlichen Kriegsführung des 19. und 20. Jahrhunderts, die ganz auf Masse, Bewegung und Feuerkraft ausgerichtet war. Im individualisierten Krieg des 21. Jahrhunderts werden nicht mehr reguläre Streitkräfte gegen gegnerische reguläre Streitkräfte ins Feld geführt. Ein individualisierter Krieg bedeutet dagegen, dass Kriege nicht mehr von Staaten gegen Staaten, sondern von Individuen gegen Staaten geführt werden.9 Natürlich heißt das auch umgekehrt, dass Staaten nun Krieg gegen Individuen führen, die sie als ›gefährlich‹ einstufen.
Bei dieser neuen Art von Kriegsführung gibt es somit keine Feldzüge und Schlachten, sondern höchstens sehr begrenzte Militäreinsätze gegen einzelne strategische Ziele (fast immer Individuen) in Staaten, mit denen kein offener Krieg geführt wird. Charakteristisch für solche Militäreinsätze ist die Anwendung relativ geringer militärischer Gewalt mit Hilfe von hochpräzisen Raketenangriffen oder durch den Einsatz von Spezialkräften. In bestimmten Fällen sind es auch Geheimdienste, die Terroristen professionell mit Sprengsätzen oder doppeltem Kopfschuss beseitigen. Die Schwelle zum formalen Staatenkrieg soll dadurch nicht überschritten werden, und der Krieg gegen diese ›gefährlichen‹ Individuen kann beinahe rücksichtslos geführt werden, da sie als illegitim bzw. kriminell gelten. Daher betrachten die beiden Staaten, die gezielte Tötungen am offensten und häufigsten anwenden – die USA und Israel – diese als legitime Reaktion auf die Bedrohung ihrer nationalen Sicherheit, die offiziell von bestimmten Individuen ausgeht.
Dennoch sind ›gezielte Tötungen‹ aus vielerlei Gründen überaus umstritten. Kritiker sprechen oft von ›Attentaten‹, ›außergerichtlichen Hinrichtungen‹ oder von ›staatlich sanktioniertem Mord‹. Die Beantwortung der Frage nach der völkerrechtlichen Legalität von ›gezielten Tötungen‹ ist alles andere als einfach. In der Regel hängt dies von den jeweiligen Umständen ab, unter denen die Tötung stattfindet. Interessanterweise gibt es im Völkerrecht kein generelles Verbot von ›Attentaten‹, sondern nur ein Verbot der Tötung von völkerrechtlich geschützten Personen.10 Auch wenn nicht explizit im Völkerrecht verboten, so unterscheiden sich gezielte Tötungen aber sehr deutlich von anderen Kontexten, in denen der Staat legitim tödliche Gewalt ausübt. Polizisten und Soldaten dürfen unter bestimmten Umständen legal tödliche Gewalt anwenden, jedoch ist diese Gewalt nicht gegen im Voraus bestimmte Personen gerichtet, sondern an spezifische Umstände gebunden. Polizisten dürfen tödliche Gewalt anwenden, um ihr eigenes Leben oder das Leben anderer zu schützen. Zum Beispiel kann die Polizei einen Geiselnehmer ohne Vorwarnung erschießen, wenn dadurch das Leben der Geisel gerettet werden kann. Dies wird als ›finaler Rettungsschuss‹ bezeichnet und ist legal. Gleichermaßen dürfen Soldaten in einem bewaffneten Konflikt gegnerische Kombattanten töten, sofern diese nicht hors de combat sind und keine verbotenen Waffen oder Praktiken angewendet werden. Die Gewalt im traditionellen Krieg richtet sich aber nicht gegen bestimmte Individuen im Feindeslager, sondern gegen den Feind allgemein, und die Tötung eines Gegners ist ein Resultat des Kampfes. Dagegen hat die Verwendung von Namenslisten von bestimmten Personen, die zum Abschuss freigegeben sind, wie dies typischerweise bei gezielten Tötungen der Fall ist, sehr viel eher den Charakter einer Hinrichtung als den einer Polizeiaktion oder einer normalen Kampfhandlung. Auch wenn gezielte Tötungen als nationale Selbstverteidigung im Kontext eines bewaffneten Konflikts legitimisiert werden und damit als analog zur Tötung von Kombattanten in einem Krieg betrachtet werden, so widerspricht diese Vorgehensweise eindeutig den Traditionen und Konventionen des Krieges, die Attentate auf bestimmte Gegner als Heimtücke betrachten. Die wachsende Verbreitung und Akzeptanz der Praxis ist darum als eine relativ neue und womöglich besorgniserregende Entwicklung in der Evolution des modernen Krieges anzusehen.
Was sind ›gezielte Tötungen‹?
›Gezielte Tötungen‹ sind nur schwer vom politischen Mord oder Attentat abzugrenzen. Befürworter sehen eindeutige Unterschiede und betonen, dass es sich bei der ›gezielten Tötung‹ um eine sowohl legitime als auch völkerrechtlich legale Maßnahme der Terrorismusbekämpfung handelt. So haben führende Politikprofessoren wie Avery Plaw die gezielte Tötung eindeutig als eine Antiterrorstrategie beschrieben, die Regierungen gegen Terroristen allein zum Schutz vor Bedrohungen ihrer Sicherheit einsetzen.11 Thomas B. Hunter, ein früherer Analytiker des amerikanischen Militärgeheimdienstes DIA, bezeichnet die ›gezielten Tötungen‹ als »die geplante, vorbeugende und absichtliche Tötung eines Individuums oder mehrerer Individuen, von denen bekannt ist oder angenommen wird, dass sie aufgrund ihrer Kontakte zu Terrorgruppen oder bestimmten Individuen eine gegenwärtige und oder zukünftige Bedrohung für die Sicherheit des Staates darstellen«.12 Der Völkerrechtler Nils Melzer hat die Legalität gezielter Tötungen juristisch definiert, als »die Anwendung tödlicher Gewalt, die einem Völkerrechtssubjekt zugeschrieben werden kann, mit Absicht, Vorausplanung und Überlegung, individuell ausgewählte Personen zu töten, die sich nicht im Gewahrsam derer befinden, die sie zum Ziel erklärt haben«.13 Noch breiter ist die Definition des Analytikers der RAND Corporation Bruce Berkowitz, der keinerlei Unterschied zwischen gezielter Tötung und Attentat sieht. Nach Berkowitz spielt es keine Rolle, ob die Zielperson einen hohen Rang hat oder nicht, um eine Tötung als Attentat zu charakterisieren. Auch gemeine Soldaten könnten zum Ziel von Attentaten werden, ebenso wie Terroristen in den unteren Rängen.14 Indes ist es durchaus sinnvoll, zwischen Attentat und gezielter Tötung zu unterscheiden, da ein Attentat ein singuläres politisches Ereignis ist, während gezielte Tötungen als eine neue Form von Kriegsführung beschrieben werden können, die aus einer Serie von Attentaten auf bestimmte und nach bestimmten Kriterien ausgewählte Individuen des Gegners besteht, mit dem Ziel, diesen Gegner zu besiegen oder zu einem bestimmten Verhalten zu zwingen bzw. zu manipulieren oder aber zu demoralisieren. Darüber hinaus können mit gezielten Tötungen auch andere bedeutsame politische oder strategische Ziele verfolgt werden, wie innenpolitische Ziele, Verbrechensbekämpfung, Verhinderung der Weiterverbreitung von Waffentechnik usw. Der Ausdruck ›gezielte Tötung‹ wird im Folgenden im Sinne einer Form von Kriegsführung verwendet, die auf der systematischen Eliminierung von ausgewählten Individuen zur Erreichung von wichtigen politischen oder militärischen Zielen basiert. Danach zeichnen folgende Eigenschaften nach gegenwärtiger Praxis eine gezielte Tötung aus:
Eine legitime Regierung ordnet die Tötung an und führt sie aus;
es gibt einen formalen und juristisch informierten Prozess, nach dem die Ziele ausgewählt werden;
die Zielperson ist normalerweise ein ›Terrorist‹ und allgemein ein nichtstaatlicher Akteur;
die Tötung findet außerhalb des Hoheitsgebiets des Staates statt, dessen Regierung sie angeordnet hat;
es besteht kein formaler Kriegszustand zwischen dem Staat, der die gezielte Tötung angeordnet hat, und dem Staat, in dem die Tötung stattfindet;
die Tötung ist präventiv: Sie ist ein Akt nationaler Selbstverteidigung, der zukünftige Anschläge oder Bedrohungen verhindern soll, und kein bloßer Vergeltungsakt für vergangenes Unrecht;
die gezielte Tötung ist rechtlich im Zwischenbereich von internationaler Strafverfolgung und Kriegsführung angesiedelt.
Die gezielte Tötung ist somit eine eigenständige Form von Kriegsführung, die nicht auf eine Zielkategorie (Terroristen) beschränkt ist, sondern sich vielmehr im Prinzip universell anwenden lässt. Der frühere Elitesoldat George Crawford bezeichnet diese Form von Kriegsführung als ›Menschenjagd‹ (›Manhunting‹). Dabei geht es im Wesentlichen um das Aufspüren und Unschädlichmachen von Individuen, die für Aggression verantwortlich sind. Crawford betont, dass dabei nur in extremen Fällen tödliche Gewalt angewendet werden sollte, da gefährliche Individuen, wenn möglich, bevorzugt der Justiz überstellt werden sollten.15 Crawford betrachtet die Menschenjagd als die Gegenwart und möglicherweise Zukunft des Krieges und fordert von den amerikanischen Streitkräften und Geheimdiensten die Ausbildung entsprechender Fähigkeiten durch die Entwicklung einer Doktrin, durch Ausbildung, Ausrüstung, Organisation und den Ausbau nationaler und internationaler Zusammenarbeit. Betrachtet man die Entwicklung der Kriegsführung in den letzten Jahren, besonders im Hinblick auf die amerikanische Aufstands- und Terrorismusbekämpfungsstrategie im Irak, in Afghanistan und Pakistan, dann wird deutlich, dass die amerikanischen Streitkräfte und Geheimdienste sich bereits sehr gut auf die neue Aufgabe der Auffindung und Neutralisierung von Individuen umgestellt haben. In der gegenwärtigen Sprechweise des U.S.-Militärs heißt dieser Ansatz auch ›finden, festnageln, erledigen‹ (›find, fix, finish‹), was soviel bedeutet wie den Feind aufzuspüren, ihn bewegungsunfähig zu machen, um ihn dann angreifen zu können, was bei Terroristen immer häufiger mit Drohnen geschieht.16
Nichts zeigt die Wende in der Kriegsführung deutlicher als die Schnelligkeit, mit der die U.S.-Streitkräfte das eigene Drohnenarsenal ausgebaut haben. Während die U.S.-Streitkräfte im Jahr 2000 nur etwa 50 Drohnen besaßen,17 waren es gut zehn Jahre später über 5.500 Drohnen. Nur 340 Drohnen haben die Größe von bemannten Flugzeugen, alle anderen Drohnen sind Mikrodrohnen in der Größe von Modellflugzeugen.18 Das CIA-Drohnenprogramm erfuhr in den letzten Jahren exponentiellen Zuwachs, und das Pentagon hat so viele Drohnen bestellt, dass die Hersteller derzeit Lieferschwierigkeiten haben.19 Die amerikanische Luftwaffe USAF bildet inzwischen mehr Drohnenpiloten als Piloten von bemannten Flugzeugen aus.20 Der Zweck dieser Drohnen und des Drohnenkriegs ist in der Regel nicht die Führung eines konventionellen Krieges, für den sie sich nicht besonders eignen,21 sondern das Aufspüren und Töten von gefährlichen Individuen, seien es Terroristen, Aufständische, Drogenbosse oder flüchtige Diktatoren. 2011 operierten amerikanische Drohnen in wenigstens sieben verschiedenen Ländern außerhalb der USA, wo sie gezielte Tötungen durchführten oder diese zumindest durch Luftaufklärung unterstützten: im Irak,22 Afghanistan,23 Pakistan,24 Jemen,25 Somalia,26 Libyen27 und Mexiko.28 Zudem haben die amerikanischen Streitkräfte in den letzten zehn Jahren weltweit wenigstens 60 geheime Drohnenstützpunkte aufgebaut, die es ihnen ermöglichen, Ziele in vielen Teilen der Welt anzugreifen.29 Zu den wichtigsten Drohnenstützpunkten zählen: eine Basis auf den Seychellen im Indischen Ozean, ein Flughafen in Arba Minch in Äthiopien, ein Flugfeld in Dschibuti, mehrere Militärflughäfen in Afghanistan, darunter Bagram und Kandahar, ein Flughafen in den Vereinigten Arabischen Emiraten, der Militärflughafen Balad im Irak, der Militärflughafen Al-Udeid in Katar, ein Flughafen in Tuzel in Usbekistan und der Militärflughafen Shabaz in Pakistan.30 Gezielte Tötungen erfordern zwar keine Drohnen, aber Drohnen sind derzeit die bevorzugte Methode für die gezielte Tötung von Gegnern. Vieles deutet darauf hin, dass diese Methode seitens der USA und anderer Staaten in Zukunft häufiger zur Anwendung kommen wird.31
Krieg ist in der Vorstellungswelt vieler Menschen ein intensives Massenereignis nach dem Vorbild des Zweiten Weltkrieges. Millionenstarke Armeen mit Tausenden von Panzern, Kampfflugzeugen und Kriegsschiffen treten gegeneinander an. Ganze Nationen ringen über Jahre hinweg miteinander und schlagen viele Schlachten, bis eine Seite schließlich unterliegt und kapituliert. Diese Vorstellung hat sich durch unzählige Kriegsfilme und Dokumentationen im Bewusstsein der meisten Europäer und Amerikaner verfestigt. Die gegenwärtige Realität des Krieges ist jedoch eine völlig andere. Für westliche Streitkräfte wie die Bundeswehr oder andere NATO-Streitkräfte sind Kriege begrenzte Interventionen fern von der Heimat, in denen sie meist einem sich stets entziehenden Feind in Form von Partisanen oder Terroristen gegenüberstehen. Dort gibt es kaum nennenswerte Schlachten, nur einzelne Scharmützel, Hinterhalte und Terroranschläge. Der Feind ist in der Regel unsichtbar und kämpft oft mit improvisierten Sprengsätzen. Die Anzahl der eigentlichen Kombattanten ist in diesen Kriegen, die oft formal als ›humanitäre Interventionen‹ bezeichnet werden, auf beiden Seiten relativ gering. Es sind ohnehin zumeist Zivilisten, die zu Kriegsopfern werden. Das moderne Gefechtsfeld ist voll von Zivilisten und fast leer in Bezug auf Kombattanten. Es ist daher eine wesentliche Herausforderung unter solchen Umständen den Feind überhaupt erst einmal zu finden. Ein gutes Beispiel dafür ist der Kosovokrieg von 1999. Der Journalist Michael Ignatieff hat darauf hingewiesen, dass dieser Krieg von nur 1.500 NATO Piloten und weniger als 1.000 serbischen Luftabwehrspezialisten geführt wurde.1 Krieg wird zunehmend von einer verschwindend kleinen Zahl von Kombattanten ausgetragen, die zudem oft nichtstaatliche Akteure sind und zuweilen als Verbrecher angesehen werden, was eine individualisierte Kriegsführung attraktiv macht. Die historischen Wurzeln des Wechsels zu einer individualisierten Kriegsführung liegen in der wachsenden Bedeutung des Revolutions- und Bürgerkriegs, der Entwicklung einer modernen Aufstandsbekämpfungsdoktrin, der sogenannten Revolution in Militärangelegenheiten (RMA) bzw. dem Konzept der »wirkungsbasierten Bombardierung« und der Tendenz moderner Kriegspropaganda, Feinde individuell zu dämonisieren. Die Evolution des Krieges vom Clausewitz’schen Konzept im 19. Jahrhundert hin zum individualisierten Krieg des frühen 21. Jahrhunderts verlief schleichend.
Carl von Clausewitz, einer der einflussreichsten Theoretiker des Krieges, prägte mit seinem nachgelassenen und unvollendeten Werk Vom Kriege das westliche Verständnis der Natur des Krieges maßgeblich. Nach Clausewitz ist Krieg ein »erweiterter Zweikampf« mit dem Zweck, »den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen«.2 Krieg ist damit ein Wettkampf des Willens zweier Völker. Krieg ist zudem nach Clausewitz kein Selbstzweck, sondern stets ein Mittel, um eine politische Zielsetzung zu erreichen. Der Krieg setzt die Politik nicht außer Kraft, sondern ist »eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln«. Genau wie Politik ein Vorrecht des souveränen Staates ist, so ist es ebenso ein Vorrecht des Souveräns, zu entscheiden, wann und ob Krieg als Mittel den eigenen politischen Interessen dient. Krieg gilt hier als ein legitimes Instrument der Staatsräson. Dies bedeutet auch, dass es für Clausewitz allein der Staat ist, der legitim Krieg führen darf, und zu einer legitimen Kriegsführung gehört selbstverständlich das Aufgebot regulärer staatlicher Armeen. Gewöhnliche Mitglieder des Volkes haben kein Recht, sich an den Feindseligkeiten zwischen Staaten zu beteiligen. Das gemeine Volk ist am Krieg nur insofern beteiligt, als es die wirtschaftlichen Kosten trägt. Der israelische Militärhistoriker Martin van Creveld bezeichnet daher das Clausewitz’sche Paradigma des Krieges als »trinitarisch«, hergeleitet aus der Trinität von Staat, Heer und Volk.3 Für Clausewitz ist Krieg per definitionem ein Phänomen internationaler Politik, das politisch gezähmt werden kann, obwohl er ihn grundsätzlich als »Akt der Gewalt« betrachtet, dessen Logik gerade in der Grenzenlosigkeit dieser Gewalt besteht.4 Entscheidend im Clausewitz’schen Kriegsverständnis ist das Primat der Politik, nach der Krieg nur Mittel zum politischen Zweck, und Krieg stets ein Staatenkrieg ist.
Für Clausewitz ist der Krieg eine Art Duell von Ebenbürtigen, bei dem es verbindliche Regeln gibt. Diese Regeln haben ihren Ursprung in der mittelalterlichen Kultur der Ritterlichkeit, die die Kriegführenden zur Fairness im Kampf verpflichtet. So beschränkt die militärische Tradition der Ritterlichkeit den Kampf auf eine klar identifizierbare Gruppe von Kombattanten und verbietet Angriffe auf jene, die sich nicht verteidigen können. Waffen, die es Kombattanten erlaubten, ohne Risiko zu kämpfen, wie zum Beispiel die Armbrust, galten lange Zeit als ehrlos und wurden darum geächtet.5 Ein wichtiger Gesichtspunkt bei diesem und späteren Verboten von Waffen war und ist die Fairness ermöglichende Symmetrie der Kampfweise und der Waffen.6 Darum wurden verschiedene Verbote von bestimmten Waffen wieder aufgehoben, sobald sie allen Kriegsparteien gleichermaßen zur Verfügung standen.7 Auch wenn das Gebot zu Fairness im Krieg anachronistisch (oder utopisch) erscheint, so lebt dieses Ideal in den Grundsätzen militärischer Ehre fort und ist im modernen Kriegsrecht weitgehend enthalten, das Massaker von feindlichen Kombattanten, Angriffe auf die Zivilbevölkerung und Heimtücke eindeutig verbietet.
Die Konzeption des Krieges als Duell bedeutet, dass es ein Kampf nach Regeln ist, in dem sich zwei gleichwertige Gegner gegenüberstehen. Wegen der inhärent politischen Natur des Krieges ist der Feind im Krieg, wie der politische Theoretiker und Verfassungsjurist Carl Schmitt herausgestellt hat, keineswegs ein persönlicher Feind, der als kriminell oder verachtenswert anzusehen ist. »Den Feind im politischen Sinne braucht man nicht persönlich zu hassen …«8 Der Feind sei »eben der andere, der Fremde«, dessen Existenz genüge, um die Möglichkeit oder Eventualität des Krieges zu erzeugen. Das Politische als eine Unterscheidung von Freund und Feind und damit der Krieg selbst (oder zumindest dessen immer bestehende Möglichkeit) ist nach Schmitt existenziell. Die Tötung von Feinden im Krieg wie der Krieg selbst seien daher überhaupt nicht moralisch bewertbar. Gerechtigkeit gehöre somit nicht zum Begriff des Krieges.9 Für Schmitt (und Clausewitz) kann es daher gar keine gerechten Kriege geben. Es ist nämlich ein fester Bestandteil des Clausewitz’schen Paradigmas des Krieges, dass die militärischen Gegner trotz ihrer formalen Feindschaft moralisch gleichwertig sind. Der Feind ist kein Verbrecher, da es ein fundamentales Recht der souveränen Staaten war, nach Gutdünken Krieg zu führen, egal aus welchem Grund. Die legitimen Repräsentanten des Staates sind damit ebenfalls keine Verbrecher, sondern verdienen es als ehrbare Kämpfer behandelt zu werden. Daher schreibt das moderne Völkerrecht, dessen Wurzeln im 19. Jahrhundert liegen, vor, dass die legitimen Repräsentanten des militärischen Gegners (dessen uniformierte Soldaten) nicht als Verbrecher ohne Rechte zu behandeln sind, sondern dass sie besonderen Schutz genießen und nach Ende der Feindseligkeiten wieder freigelassen werden müssen. Die Genfer Konvention verbietet zum Beispiel eindeutig die Folterung bzw. Misshandlung und Exekution von Kriegsgefangenen und fordert im Gegenteil für sie eine besondere Fürsorgepflicht.10
Zu diesen Traditionen des Krieges gehört auch das Tabu, bestimmte Kombattanten wie militärische Führer gezielt anzugreifen. So hatte einer Anekdote zufolge Wellington eine Gelegenheit, Napoleon zu töten, auf die er mit den Worten verzichtete, es sei nicht das Geschäft von Kommandeuren, aufeinander zu schießen.11 Selbstverständlich war das Zögern Wellingtons, Napoleon gezielt anzugreifen, nicht einfach von militärischer Ehre motiviert, sondern auch ein Ausdruck mittelalterlichen Standesdünkels, der gemeinen Soldaten verbot, einen General oder gar einen Kaiser zu töten.
Die Grundsätze der militärischen Ehre, die über Jahrtausende das militärische Denken und Handeln beeinflusst haben, verbieten ganz klar unfaire und inhumane Mittel und Methoden der Kriegsführung. Die Haager Landkriegsordnung betont, dass die »Kriegsführenden … kein unbeschränktes Recht in der Wahl der Mittel zur Schädigung des Gegners« haben. Ausdrücklich verboten ist »die Verwendung von Gift oder vergifteten Waffen«, »die meuchlerische Tötung oder Verwundung von Angehörigen des feindlichen Volkes oder Heeres«, »die Tötung oder Verwundung eines die Waffen streckenden oder wehrlosen Feindes, der sich auf Gnade oder Ungnade ergeben hat«, »die Erklärung, dass kein Pardon gegeben wird«, usw.12 Bestimmte Waffen, Taktiken und Methoden, die als inhuman angesehen werden oder Verrat an dem guten Willen des Feindes begehen (zum Beispiel durch Heimtücke) sind strengstens verboten. So ist es etwa verboten, unter dem Schutz der weißen oder einer neutralen Flagge anzugreifen, die Uniformen des Feindes zu tragen oder gegnerische Kombattanten heimtückisch zu ermorden. Attentate auf militärische Führer oder der Mord von Kombattanten mit Hilfe einer List oder meuchlerischer Methoden ist eindeutig untersagt. Zweck dieser Verbote ist es nach Carl Schmitt, eine Eskalation von einer nur politischen zu einer totalen oder absoluten Feindschaft zu verhindern und damit die Möglichkeit eines politischen Friedensschlusses zu erhalten.
Der Erste Weltkrieg wurde zu jener Zeit allgemein als so furchtbare Katastrophe für die Menschheit empfunden, dass sich die Staatengemeinschaft in der Folge intensiv bemühte, die Praxis des Krieges allgemein zu verbieten. Bereits der Versailler Friedensvertrag enthielt eine Klausel über Kriegsschuld (Artikel 231) und bezichtigte Kaiser Wilhelm II., persönlich für den Ersten Weltkrieg verantwortlich gewesen zu sein (Artikel 227). Dass die Frage der Kriegsschuld überhaupt aufkam, war an sich bereits eine erhebliche Abweichung vom Clausewitz’schen Paradigma des Krieges und vom klassischen Konzept staatlicher Souveränität, wonach es ein Vorrecht von Staaten ist nach Gutdünken Krieg zu führen. Ebenso im Versailler Vertrag enthalten war das Gebot zur Gründung eines Völkerbundes, der das friedliche Zusammenleben der Völker garantieren sollte. Der Völkerbund hatte das Ziel, jeden Angriffskrieg zu kriminalisieren und durch kollektive Sanktionen der Staatengemeinschaft zu bestrafen und damit langfristig den Staatenkrieg unmöglich zu machen. Der Kellogg-Briand-Pakt von 1928 war noch deutlicher in der Zielsetzung und beinhaltete eine klare Verzichtserklärung fast aller derzeit existierenden Staaten, Krieg als ein Werkzeug internationaler Politik zu benutzen. Mit diesem Universalismus zeichnete sich eine Aufhebung, oder zumindest Relativierung, nationaler Souveränität ab. Allerdings waren Völkerbund und Kellogg-Briand-Pakt historisch zum Scheitern verurteilt, was bald durch eindeutige Verstöße gegen das Verbot des Angriffskriegs durch Italien, Japan und Deutschland deutlich wurde. Der später folgende Zweite Weltkrieg war schließlich um einiges zerstörerischer und verlustreicher als der Erste. Wieder wurde auf die ursprüngliche Lösung der Kriminalisierung des Krieges zurückgegriffen. Aber zum ersten Mal in der Geschichte wurden die politischen Führer der aggressiven Mächte wegen des Führens eines Angriffskriegs formal vor Gericht gestellt und verurteilt.
Die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse waren eine beispiellose Neuheit im Völkerrecht, und sie haben den Grundsatz eingeführt, dass auch verantwortliche Individuen von Staaten, die nicht der Genfer und anderen Konventionen beigetreten sind, wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit juristisch zur Verantwortung gezogen werden können. Die Einhaltung der Grundsätze von Menschlichkeit im Krieg ist somit nicht mehr optional für Staaten und deren Lenker, sondern universell bindend. Die neugegründeten Vereinten Nationen erlauben im Kapitel VII der UN-Charta die Nutzung militärischer Mittel gegen Feinde des internationalen Friedens. Damit wurden alle Kriege, sofern sie legitim sein wollen, zu bloßen Polizeiaktionen der internationalen Staatengemeinschaft umdefiniert. Im eigentlichen juristischen Sinne gibt es damit gar keine Kriege mehr,13 sondern nur noch Polizeieinsätze der Staatengemeinschaft gegen aggressive Mächte und andere »Bedrohungen des Friedens«. Zugespitzt formuliert bedeutet dies, dass Kriege nur noch international legitimiertes polizeiliches Eingreifen gegen kriminelle Aggressionen sind, die von ›Schurkenstaaten‹ oder ›bösen‹ Individuen wie Diktatoren und Terroristen, ausgehen. Der nur politische Feind, den man nach Schmitt existenziell benötigt und damit auch nicht hassen soll, ist seit dem Zweiten Weltkrieg immer mehr zu einem »absoluten Feind« geworden, der verachtenswert ist und den es letztlich zu eliminieren gilt.
Der Krieg innerhalb des Clausewitz’schen Paradigmas ist ›gehegt‹ in dem Sinne, dass das Kriegsrecht den Rahmen der erlaubten Kriegshandlungen sehr beschränkt. Ein Problem für das Clausewitz’sche Paradigma war stets die Rolle des Partisanen im Krieg. Wie Carl Schmitt herausgestellt hat, stand der Partisan ursprünglich klar außerhalb des klassischen Kriegsrechts, da er eben kein regulärer Kämpfer im Auftrag eines souveränen Staates ist. Im Gegenteil, es ist das definierende Charakteristikum des Partisanen, irregulär, oder wie es im gegenwärtigen Sprachgebrauch heißt, ›asymmetrisch‹ zu kämpfen, also sich einen Vorteil zu verschaffen, indem er die Regeln des konventionellen Krieges bricht. So trägt der Partisan keine Uniform und kann sich dadurch in der Bevölkerung verbergen, um immer dann überraschend zuzuschlagen, wenn er gerade im Vorteil ist. Nach Mao Tsetung soll der Partisan im Volk schwimmen wie ein Fisch im Wasser. Im Partisanenkrieg ist die Bevölkerung eben nicht unbeteiligt wie beim Clausewitz’schen Idealkrieg, sondern geradezu das Objekt und Ziel des Krieges. Der Partisan kann ohne die Unterstützung der Bevölkerung nicht kämpfen und muss daher zumindest einen Teil seiner Bemühungen auf die politische Mobilisierung der Bevölkerung richten. Die Aufstandsbekämpfer im Dienste des Staates (Polizei, Geheimdienste, Militär) müssen umgekehrt den Partisanen daher ebenso militärisch wie auch politisch bekämpfen, indem sie ›Herz und Verstand‹ der Bevölkerung gewinnen und damit dem Partisan die Unterstützungsgrundlage entziehen. Die Kriegsführung im Partisanenkrieg ist damit total oder unbegrenzt, und die Natur der Feindschaft ist eine andere als im gehegten Krieg. Schmitt argumentiert: »Der moderne Partisan erwartet vom Feind weder Recht noch Gnade. Er hat sich von der konventionellen Feindschaft des gezähmten und gehegten Krieges abgewandt und in den Bereich einer anderen, der wirklichen Feindschaft begeben, die sich durch Terror und Gegen-Terror bis zur Vernichtung steigert.«14 Der Partisan läuft damit stets Gefahr, von seinen staatlichen Gegnern zum Kriminellen (oder in gegenwärtiger Sprachweise zum ›Terrorist‹ oder ›illegalen Kombattant‹) erklärt zu werden. Somit hat der Partisan durch die Anwendung unfairer Mittel wie terroristischer Anschläge im Grunde nichts zu verlieren.
In der Tat sind Revolutionskrieg und Terrorismus eng miteinander verwandt, und viele Guerillaorganisationen wenden Terroranschläge gegen Zivilisten (etwa gegen Mitglieder der Regierung) als Bestandteil ihrer irregulären Strategie an. Diese charakteristische Irregularität der Kampfweise bedeutet letztendlich, dass der Partisanenkrieg nach Carl Schmitt unmöglich juristisch begrenzt werden kann.15 Wie Schmitt herausgestellt hat, ist es die natürliche Tendenz von Staaten, die mit einem organisierten Aufstand gegen den Staat konfrontiert werden, Aufstand und Aufständische für kriminell zu erklären und diese schonungslos zu bekämpfen. Dies wiederum rechtfertigt für den Revolutionär eine terroristische Kampfweise, da die Übermacht des Staates zu groß ist, um eine diskriminierendere oder direktere Kampfweise zu wählen. Darum haben die irische IRA und der südafrikanische ANC den Terrorismus als Mittel des Widerstands gewählt. Dies bedeutet nach Schmitt, dass der Revolutionär im Bürgerkrieg »zum Träger der absoluten Feindschaft gegen einen absoluten Feind« wurde in einem »absoluten Krieg«.16 In einem absoluten Krieg gibt es keine verbindlichen Regeln, und das Ziel ist nicht der politische Friedensschluss, sondern letztlich nur die militärische, politische und schließlich auch die moralische Vernichtung des Feindes. »Die Menschen, die jene Mittel gegen andere Menschen … anwenden, sehen sich gezwungen, diese anderen Menschen … auch moralisch zu vernichten. Sie müssen die Gegenseite als Ganzes für verbrecherisch und unmenschlich erklären … [s]onst sind sie eben selber Verbrecher und Unmenschen.«17
Der Partisanenkrieg war ein wichtiger Aspekt des Zweiten Weltkrieges und der antikolonialen Befreiungskriege des Kalten Krieges in Lateinamerika, Afrika und Asien. In manchen Fällen waren die Befreiungskriege in der Dritten Welt erfolgreich und haben zur Gründung von relativ stabilen neuen souveränen Staaten geführt. In anderen Fällen hat sich der Bürgerkrieg in einen Dauerzustand verfestigt und in manchen Weltregionen, ganz besonders in Afrika, zum Staatsverfall beigetragen. Das Ergebnis dieser fehlgeschlagenen Befreiungskriege wird nun in der akademischen Debatte als »neue Kriege« bezeichnet, die zu einem allmählichen Zerfall des Kriegsrechts führen, da die Kriegführenden oft irregulär und darüber hinaus auch noch oft unpolitisch sind. Der Clausewitz’sche oder ›gehegte‹ Krieg gehört nun weitgehend der Vergangenheit an, und die Grundsätze militärischer Ehre, die im modernen Kriegsrecht formalisiert sind, haben sehr viel von ihrer traditionellen Bedeutung verloren.
Seit Mitte des 20. Jahrhunderts wird der klassische Staatenkrieg immer seltener geführt und ist beinahe irrelevant geworden: »Großkriege sind veraltet in dem Sinne, wie alte Kleider veralten: sie sind aus der Mode, und obwohl man sie wiederbeleben könnte, gibt es für sie derzeit keine Nachfrage.«18 Dies bedeutet aber keineswegs ein Ende organisierter Gewalt bzw. ein Ende des Krieges, nur dessen Transformation. Revolutions- und Bürgerkriege, in denen es vor allem um den Kampf um die politische Ordnung innerhalb eines Staates geht, ersetzen mehr und mehr den Krieg zwischen unabhängigen Staaten. Gleichzeitig sind diese Konflikte sehr stark internationalisiert durch häufige offene und verdeckte Einmischung anderer Staaten sowie nichtstaatlicher Akteure. Bereits Ende der 1990er Jahre hat die Politikwissenschaftlerin Mary Kaldor die These von den »neuen Kriegen« formuliert, nach der die »alten Kriege« durch eine neue Form von globalisierten internen Konflikten ersetzt werden.19 Die Internationalisierung dieser internen Konflikte erfolgt durch grenzüberschreitende Flüchtlingsbewegungen, die Präsenz von internationalen Hilfsorganisationen, Interventionstruppen sowie durch eine internationalisierte bzw. globalisierte Kriegsökonomie. Westliche und andere internationale Streitkräfte werden oft zur Friedenssicherung und zum Schutz der Zivilbevölkerung entsandt oder aber um andere Bedrohungen abzuwenden, seien sie Terrorismus, transnationales organisiertes Verbrechen oder die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen.
2008 gab es weltweit 36 aktive Konflikte. Kein einziger davon war ein zwischenstaatlicher Konflikt.20 Es gibt damit weltweit derzeit keinen einzigen konventionellen zwischenstaatlichen Krieg, der symmetrisch von regulären Streitkräften geführt wird. Der Militärhistoriker Martin van Creveld hat schon in den 1990er Jahren aufgezeigt, dass der konventionelle Krieg zu einer historischen Randerscheinung geworden ist und dass bereits in dem Zeitraum von 1945 bis 1990 drei Viertel aller Kriege in die Kategorie der Konflikte geringer Intensität (low intensity conflict) fallen.21 Charakteristisch für diese Konflikte sind Guerillakrieg und Terroranschläge bewaffneter Gruppierungen innerhalb eines Staates, der dadurch destabilisiert wird. Van Creveld zufolge werden diese neuen Kriege vorwiegend aus nichtpolitischen Gründen geführt und sind vielmehr durch ethnische und kulturelle Differenzen, Religion, das Streben nach ökonomischem Vorteil, Gerechtigkeit oder schlicht nach Überleben motiviert.
Ein wichtiges Merkmal dieser Kriege ist außerdem, dass sie sich im Gegensatz zu kurzen und intensiven zwischenstaatlichen Kriegen oft über Jahrzehnte erstrecken und damit die betroffenen Staaten und Gesellschaften nachhaltig zerstören. Neue Kriege sind damit vor allem Staatszerfallkriege – Symptom des Staatszerfalls und zugleich dessen Ursache. Wichtige Beispiele sind die Bürgerkriege in Somalia, Angola, Sudan, Kongo und Afghanistan, die teilweise bereits 30 Jahre andauern. Charakteristisch für diese ›Konflikte geringer Intensität‹ ist außerdem, dass sie keineswegs weniger verlustreich sind als größere zwischenstaatliche Kriege. Die Zahl der Todesopfer geht über die Gesamtdauer der Konflikte oft in die Hunderttausende, wenn nicht Millionen. Da die Kriege in erster Linie auf dem Rücken der Zivilbevölkerung ausgetragen werden, sind die Opfer überwiegend Zivilisten und nicht Kombattanten, was eine völlige Umkehrung der Clausewitz’schen Kriegsführung ist. Charakteristisch sind »ethnische Säuberungen«, in denen bestimmte ethnische Bevölkerungsteile durch systematischen Terror aus bestimmten Gebieten vertrieben werden. In extremeren Fällen kommt es dabei zum großangelegten Völkermord wie 1994 im Falle der Tutsi durch die Hutus in Ruanda oder wie beim Völkermord an der schwarzen Bevölkerung in der sudanesischen Darfur-Region seit 2003.
Da die Kriege normalerweise in Entwicklungsländern stattfinden und die staatlichen Armeen dort wenig professionell und schlecht ausgerüstet sind, können selbst primitiv bewaffnete Milizen zu einer ernsthaften Bedrohung für den Staat werden. Solche Kriege werden hauptsächlich mit selbst für die ärmsten Guerillagruppen noch erschwinglichen Handfeuerwaffen geführt.22 Die Kämpfer werden von bewaffneten Banden oft zwangsrekrutiert, ihr Alter liegt meist bei unter 18 Jahren, bisweilen sogar unter zehn Jahren.23 Manche Guerillaorganisationen wie die Revolutionary United Front (RUF) in Sierra Leone oder die Lords Resistance Army in Uganda bestanden während der Bürgerkriege vorwiegend aus Kindersoldaten, die oft unaussprechliche Gräueltaten an der Bevölkerung verübten, deren Zweck allein in der Terrorisierung und Einschüchterung der Bevölkerung lag. So waren die RUF-Rebellen dafür bekannt, Hände und Arme von Zivilisten abzuhacken; die Bakassi Boys in Nigeria haben ihren Opfer oft brennende Autoreifen um den Hals gehängt; in Kolumbien und Mexiko ist die Grausamkeit der Drogengangster geradezu rituell, wie zum Beispiel die ›kolumbianische Krawatte‹, bei der dem Opfer die Kehle durchgeschnitten und die Zunge durch die offene Wunde gezogen wird. Oft finanzieren sich die Guerilla- und Terrorgruppen durch illegale Aktivitäten bzw. durch ›organisiertes Verbrechen‹. In Westafrika war es vor allem der Diamantenschmuggel, in anderen Teilen Afrikas ist die Erpressung von Ölgesellschaften eine der Haupteinnahmequellen von Guerillagruppen. Guerillagruppen in Kolumbien und Peru sowie die Taliban in Afghanistan haben den Drogenhandel als eine wesentliche Einnahmequelle entdeckt, und manche vormals politischen Gruppierungen, wie die FARC in Kolumbien, haben sich in Verbrechenssyndikate umgewandelt.24 Selbst internationale islamistische Terrorgruppen wie die Hisbollah oder al Quaida profitieren stark von kriminellen Aktivitäten wie Waffenschmuggel, Drogenhandel, Kreditkartenbetrug und sogar Schutzgelderpressung, um die eigenen politischen und terroristischen Aktivitäten zu unterstützen.25
Diese Vermischung von Guerillakrieg, Terrorismus und organisiertem Verbrechen stellt ein »Grauzonen-Phänomen« dar, denn nationale Sicherheit und Verbrechensbekämpfung sind dadurch nicht mehr klar abzugrenzen.26 Der Gegner besteht aus transnationalen Terror- und Verbrechensnetzen, die ein hohes Maß an Flexibilität aufweisen und durch die eigenen Aktivitäten Staaten zu destabilisieren und auch jegliche Strafverfolgung zu untergraben vermögen. In Kolumbien versuchte das Medellin-Kartell die Regierung durch eine massive Terrorkampagne einzuschüchtern, Ähnliches geschah durch die sizilianische Mafia in Italien Anfang der 1990er Jahre. In beiden Fällen konnte die Macht der Verbrechenssyndikate gebrochen werden, jedoch konnten seitdem Terror- bzw. Verbrechensgruppen in vielen anderen Ländern Fuß fassen und bedrohen etwa in Mexiko, Irak, Afghanistan, Pakistan, Jemen und Somalia die staatliche Ordnung. Sobald ein Terror- bzw. Verbrechensnetz in einem Staat zerstört oder zurückgedrängt wird, verlagert es sich eben in einen anderen Staat. Die Staatengemeinschaft steht damit vor einem geradezu unlösbaren Dilemma: Ist es überhaupt sinnvoll, konventionell in ›neue Kriege‹ zu intervenieren?
Es gibt zwei Hauptgründe, warum der Westen ›neue Kriege‹ mit Sorge betrachtet: die Gefahr, dass Staaten zu sicheren Häfen für Terroristen und Verbrecher werden und dass diese Konflikte eine ganze Region destabilisieren. So hatte al Quaida in Afghanistan einen sicheren Hafen gefunden, wo sie Terroristen ausbilden und Terroranschläge weltweit planen konnten; das beinahe regierungslose Somalia wurde zu einem Rückzugsgebiet von Piraten, die am Horn von Afrika die internationale Schifffahrt bedrohen. Hinzu kommt, dass die ›neuen Kriege‹ wegen unkontrollierter Flüchtlingsströme häufig benachbarte Staaten destabilisieren, aber auch wegen der Tendenz von Guerilla- und Terrororganisationen, ihre sicheren Häfen und Operationsbasen außerhalb der Staaten zu haben, in denen sie kämpfen. Inländische Konflikte schwappen dadurch auf Nachbarländer über und führen gelegentlich zu militärischen Interventionen der betroffenen Nachbarstaaten. Beispiele sind die Interventionen Nigerias in Sierra Leone und Liberia, die Interventionen der Türkei im nördlichen Irak und die Interventionen der NATO in Pakistans Stammesgebieten.
Die militärischen Interventionen der Staatengemeinschaft werden oft formal durch humanitäre Gesichtspunkte, wie den Schutz der Zivilbevölkerung, legitimiert. Die völkerrechtliche Legitimation liefert oft, aber keineswegs immer, ein Mandat des UN-Sicherheitsrats. Das bedeutet, dass die Interventionsstreitmächte sich in der Regel aus einer Vielzahl von internationalen Truppen zusammensetzen, die im Rahmen eines UN-Mandates Ordnung und Sicherheit wiederherstellen. Dies verleiht einer Intervention sehr viel mehr Legitimität als der Einsatz eines einzelnen oder einiger weniger Staaten. Dennoch sind diese Interventionen entgegen ihrem Anschein in Wirklichkeit oft neokolonialistisch und geopolitisch motiviert und nicht von einer »moralischen Außenpolitik«. Es geht dabei normalerweise um die Sicherung des Zugangs zu wichtigen Rohstoffen, den Schutz von Handelswegen, die Stützung von befreundeten Regimes, die Ausweitung des politischen Einflussgebiets und die Eindämmung aufstrebender Groß- und Weltmächte wie Russland, China und Indien.27 Die Teilnahme an diesen Kriegen ist im Gegensatz zu einem reinen Verteidigungskrieg natürlich optional. Allerdings kann die Weigerung eines westlichen Staates, an internationalen Interventionen teilzunehmen, mit einem Verlust an politischem Einfluss innerhalb der NATO verbunden sein, sie kann aber auch andere eigene außenpolitische Interessen gefährden.
Die neuen Kriege provozieren geradezu die Einmischung durch äußere Mächte, die formal im Auftrag der internationalen Staatengemeinschaft handeln. Das erklärte Ziel ist meist die Verhinderung eines Völkermordes. Tatsächlich gibt es nur eine starke Motivation für ein Eingreifen: wenn ganz reale Interessen wie im Konfliktgebiet vorhandene Rohstoffe berührt werden. Daher kam es in Ruanda und Darfur, wo tatsächlich Völkermorde stattfanden, nicht zu einer internationalen Intervention – in den Ölstaaten Irak und Libyen dagegen schon. Ein wesentliches Merkmal dieser Interventionen ist, dass die eingesetzten militärischen Mittel oft sehr begrenzt sind. Dies hat verschiedene Gründe: Die politischen und militärischen Zielsetzungen sind begrenzt; die Bevölkerungen westlicher Staaten haben eine geringe Toleranz für eigene Verluste; die geschrumpften westlichen Berufsarmeen haben nicht die nötigen personellen Ressourcen, um Truppen in größerer Stärke und auf Jahre im Ausland zu stationieren; und die begrenzten Zielsetzungen rechtfertigen keine allzu hohen menschlichen und finanziellen Kosten für Militärinterventionen. In Somalia zogen sich die USA daher 1993 zurück, nachdem eine Spezialkräfte-Mission gegen den Warlord Mohammed Farah Aidid fehlschlug und nur sechzehn U.S.-Soldaten getötet wurden. Das Debakel in Somalia markierte einen Wendepunkt in der amerikanischen Außenpolitik28