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LOVE IS IN THE AIR (OF LONDON)
Als Abbey Bly einen Studienplatz in London erhält, ist sie überglücklich, denn es ist die perfekte Chance, dem scharfen Auge ihres überbehütenden Rockstar-Vaters zu entfliehen. In England angekommen, erlebt sie erst mal eine gehörige Überraschung. Ihre drei »Mitbewohnerinnen« entpuppen sich als Jungs. Ziemlich unwiderstehliche Jungs! Rugbyspieler Jack lässt Abbeys Herz direkt höherschlagen. Es gibt nur zwei kleine Probleme. Zum einen besagen die WG-Regeln: keine Beziehungen unter den Bewohnern. Und zum anderen tritt schon bald auch noch der Musiker Nate in Abbeys Leben, der sie ebenfalls nicht kaltlässt und gehörig ins Gefühlschaos stürzt.
»Tolle Charaktere und eine fabelhafte Found Family - ein echtes Lesevergnügen voller Romantik und Spannung.« THE ESCAPIST BOOK BLOG
Die neue New-Adult-Romance von TIKTOK-Erfolgsautorin Elle Kennedy
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Seitenzahl: 610
Veröffentlichungsjahr: 2025
Titel
Zu diesem Buch
Widmung
August
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
September
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
Oktober
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
November
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
Dezember
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
Januar
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
Februar
44. Kapitel
45. Kapitel
46. Kapitel
März
47. Kapitel
48. Kapitel
49. Kapitel
50. Kapitel
51. Kapitel
52. Kapitel
April
Epilog
Die Autorin
Die Romane von Elle Kennedy bei LYX
Impressum
ELLE KENNEDY
Girl Abroad
Roman
Ins Deutsche übertragen von Silvia Gleißner
Als Abbey Bly einen Studienplatz in London erhält, ist sie überglücklich, denn es ist die perfekte Chance, dem scharfen Auge ihres geliebten, aber überbehütenden Rockstar-Vaters zu entfliehen. In England angekommen, erlebt sie erst mal eine gehörige Überraschung. Ihre drei »Mitbewohnerinnen«, mit denen sie bisher nur Textnachrichten ausgetauscht hatte, entpuppen sich allesamt als Jungs. Ziemlich unwiderstehliche Jungs! Rugbyspieler Jack lässt Abbeys Herz direkt höherschlagen. Es gibt nur zwei kleine Probleme. Zum einen besagen die WG-Regeln: keine Beziehungen unter den Bewohnern. Zum anderen tritt auch noch der attraktive Musiker Nate in Abbeys Leben, der sie ebenfalls nicht kaltlässt und sie schon bald in größte Gefühlsverwirrung stürzt. Und natürlich darf ihr Vater auf keinen Fall herausfinden, dass sie mit einem Haufen junger Männer zusammenwohnt …
Dieses Buch ist für alle Londoner:innen.
Jedes Mal, wenn ich eure märchenhafte Stadt besuche,
fühle ich mich, als käme ich nach Hause.
Er folgt mir überallhin. Ich dachte, ich hätte ihn hinter mir gelassen, als ich durch mein Zimmerfenster hinauskletterte und einen Umweg über die Poolterrasse zur Wäschekammer machte – nur um mit der körperlosen Stimme meines Vaters konfrontiert zu werden, die mich über die neueste Messerstecherei in der Nähe einer Londoner U-Bahn-Station informiert. Über den Echo-Lautsprecher auf dem Tresen fährt er damit fort, mir von irgendwo in diesem Haus Kriminalstatistiken zu rezitieren.
Aber nein. Ich höre nicht hin. Ich blende ihn aus, während ich Kleidung aus dem Trockner hole, die ich dann zurück in mein Zimmer schleppe, wo eine ansehnliche Burg aus Koffern und Kartons den größten Teil des Fußbodens erobert hat. Ich hatte Wochen Zeit zum Packen. Aber irgendwie habe ich es geschafft, die zeitraubendsten Aufgaben so lange aufzuschieben, bis nur noch eine knappe Stunde bleibt, bevor mein Wagen zum Flughafen eintrifft.
»Die Zahl der Messerverbrechen ist auf mehr als sechstausend …«
Ich stelle den Lautsprecher in meinem Zimmer stumm, als mein Vater wieder anfängt. Sobald ich sicher aus diesem Postleitzahlenbereich raus bin, werde ich mit jemandem reden, um sein Internet zu kappen. Er wird noch einen Herzinfarkt bekommen.
Mein Handy summt, und ich rechne damit, Dads Namen auf dem Display zu sehen, aber es ist Eliza, meine beste Freundin. Also stelle ich sie auf laut und werfe das Handy auf mein Bett.
»Tut mir leid, dass ich es nicht geschafft habe«, sagt sie anstelle einer Begrüßung. »Eigentlich sollten wir inzwischen zurück sein, aber meine Mom musste einen riesigen Streit mit dem Parkdienstmenschen anfangen, wegen einer Delle, von der ich mir ziemlich sicher bin, dass sie sie selbst in ihre Stoßstange gefahren hat, als sie mal wieder rückwärts gegen den Wagen des Landschaftsgärtners gefahren ist, und jetzt sind wir immer noch nicht …«
»Ist okay. Wirklich. Keine große Sache.«
Ich fange an, Shirts und Leggins zu falten, und stopfe sie hastig in Packwürfel. Ein hektisches Rennen gegen die Zeit, in dem es langsam widersinnig wird, die Sachen überhaupt zu falten. Alles wird zu einem zerknitterten Akt der Verzweiflung, um gut zwanzig Kilo Klamotten in meinem zum Bersten vollen Koffer unterzubringen. Die Vision einer gut organisierten Abreise, die ich vor einigen Tagen noch hatte, löst sich jetzt in Luft auf.
»Aber du verlässt mich«, jammert sie gespielt auf ihre trockene, widerstrebend anteilnehmende Art. Jeder Tag, an dem sie aufwacht und die Welt noch nicht untergegangen ist, ist absolut langweilig, aber ich bin einer der wenigen Menschen darin, die sie nicht gänzlich verabscheut. Es ist reizend. »Ich werde dich ein Jahr lang nicht sehen. Du wirst mir fehlen.«
Ich lache schnaubend. »Das klang schmerzhaft.«
»War es auch«, seufzt sie. Tatsache ist, dass Eliza noch nie in ihrem Leben jemanden gebraucht oder vermisst hat.
»Ich weiß die Mühe zu schätzen.« Dadurch ist für mich klar, dass es ihr etwas ausmacht.
Ehrlich gesagt beneide ich sie um ihr Selbstvertrauen. Um ihre allgemeine Zufriedenheit mit sich selbst und ihre Gleichgültigkeit gegenüber Dingen wie Angst, Zweifel oder Furcht. Sie könnte irgendwo auf der Welt abgesetzt werden und wäre zufrieden, solange sie nur einen Becher Kaffee hätte.
Ein eingehender Anruf piept auf meinem Handy. Ich verspreche Eliza, sie anzurufen, bevor ich in mein Flugzeug steige, und nehme das andere Gespräch entgegen, ohne auf das Display zu blicken. Ich rechne mit einem Anruf von meinen künftigen Mitbewohnerinnen. Bei dem Zeitunterschied und der Reisezeit von Nashville nach London wird das wahrscheinlich die letzte Chance sein, mit ihnen zu reden, bevor ich meine neue Wohnung betrete.
»Hallo?«
»In London werden Frauen zwischen sechzehn und neunundzwanzig Jahren achtmal wahrscheinlicher Opfer von …«
»Dad, ernsthaft? Hast du mit Dr. Wu über deine rasende Paranoia und deine Trennungsangst gesprochen?«
»Kleines, hör zu. London kann ein gefährlicher Ort für eine junge Frau sein. Ich habe dort sechs Monate lang gewohnt, weißt du.«
Ja. Das wissen alle. Er war dort, während er sein drittes Album schrieb und aufnahm. In den Tonstudios in der Abbey Road, nach der die Beatles ihr elftes Studioalbum benannten und nach der ich – zweiunddreißig Jahre später – benannt wurde.
»Dir ist schon klar, dass im größten Teil der übrigen Welt die Vereinigten Staaten als gewalttätige und barbarische Gesellschaft gelten, die von Verbrechen überrollt wird, ja?«, sage ich, während ich mich abmühe, den Reißverschluss eines weiteren Koffers zuzuziehen.
»Das ist etwas anderes, als in die Innenstadt von Nashville ins Kino zu gehen«, entgegnet er, ohne auf mein Argument einzugehen. »London ist eine internationale Großstadt. Du kannst in ein Taxi steigen und man sieht oder hört nie wieder etwas von dir.«
»Ich glaube nicht, dass Dr. Wu es als gesunde Bewältigungsstrategie ansieht, wenn du dir vor dem Auslandssemester deiner Tochter bingemäßig die Taken-Serie reinziehst.«
»Abbey.«
»Dad.«
»Du bist neunzehn Jahre alt. Das ist alt genug, um im Vereinigten Königreich Alkohol zu trinken. Ich kann nichts dafür, dass mich die Vorstellung von meinem kleinen Mädchen auf einem fremden Kontinent nicht begeistert. Noch dazu mit Leuten, die ich nicht kenne, in irgendeinem Nachtclub, wo dir englische Mistkerle Drinks einflößen.«
»Im Gegensatz zu amerikanischen Mistkerlen.«
»Abbey.«
Jetzt weiß ich, dass er echt über die Kante geschlittert ist. Mein Dad flucht nie in meiner Gegenwart. Wenn ich da bin, nippt er kaum an einem Glas Wein. Seit dem Tag, an dem er aufhörte, auf Tournee zu gehen, als ich elf Jahre alt war, hat er sich extrem bemüht, die Rockstarpersönlichkeit Gunner Bly zu neutralisieren und sich zur perfekten Vaterfigur zu formen. Ich glaube immer noch, dass ihm diese Fotos in der Boulevardpresse, auf denen er mich als Kleinkind um vier Uhr früh aus einem Tourbus trägt, eine Zigarette im Mundwinkel und eine Flasche Jack Daniel’s in der Hand, eine Schockwelle durch Mark und Bein gejagt haben. Das hat ihm einen gehörigen Schrecken versetzt. Und es hat ihm Angst gemacht, ich würde zu einem dieser ausgebrannten, verwahrlosten Promikinder heranwachsen, die abwechselnd im Reality-TV auftreten und in Reha gehen, bevor sie auf TheView einen Heulkrampf kriegen, und mit ihm nur über die Seiten der Klatschsparten kommunizieren.
Soll heißen: Ich liebe meinen Dad, aber langsam wird er zu einem emotionalen Psycho, und diese erdrückende Vaternummer lastet auf mir.
»Dad, ich bin mir sicher, dass es dir lieber wäre, wenn ich den Rest meiner Collegezeit eingesperrt in meinem Zimmer verbringe, aber ich kann auf mich aufpassen. Zeit, die Nabelschnur zu durchtrennen, Kumpel. Ich bin jetzt ein großes Mädchen.«
»Du verstehst das nicht. Ich weiß, wie leicht ein paar Drinks zu ein paar Lines Koks werden …«
Oh, um Himmels …
»Ja, können wir später darauf zurückkommen? Ich bin hier gerade irgendwie schwer beschäftigt.«
Ich lege auf, ohne seine Antwort abzuwarten. Wenn ich ihm nachgebe, macht er sich nur total verrückt.
Als ich mich für dieses Programm bewarb, um mein zweites Studienjahr an der Pembridge University in London zu verbringen, geschah das auf den Vorschlag meines Professors für Europäische Geschichte und in einer Faszination, ausgelöst durch Peaky Blinders, The Crown und Love Island. Und obwohl meine Noten im ersten Jahr exzellent waren und meine Professoren mit Freuden Empfehlungen schrieben, glaubte ich nicht eine Minute lang, dass ich tatsächlich angenommen würde. Als ich die Mail bekam, stürzte das mein ganzes Leben ins Chaos. Plötzlich musste ich meinem hyperbeschützerischen Vater die Neuigkeit mitteilen, dass ich nicht nur ausziehen, sondern auch das Land verlassen würde.
Und nun, da der D-Day vor der Tür steht, kommt er nicht gut damit klar.
»Vielleicht gibt es ja ein Online-Programm.«
Ich springe vor Schreck fast einen Meter in die Luft, als ich mit haufenweise Klamotten in den Armen aus dem Wandschrank auftauche und ihn mitten im Zimmer stehen sehe.
»Jesus, Dad! Für einen Mann in deinem Alter kannst du dich beunruhigend gut anschleichen.«
»Wie wäre es damit?«, drängt er. »Online lernen würde dir liegen.«
»Nein, das würde dir liegen. Und vergiss es. Das hier wird passieren. Der Wagen ist jede Minute hier. Und ich habe meinen Mitbewohnerinnen schon die Miete für den ersten Monat geschickt.«
Was mich daran erinnert, dass ich immer noch nichts von ihnen gehört habe. Also schnappe ich mir mein Handy und sehe, dass ich einige verpasste Nachrichten von einer sehr langen Nummer habe. Daran werde ich mich noch gewöhnen müssen.
Lee: Cheers, Süße. Kann es kaum erwarten, dich zu treffen. Wir haben dein Zimmer vorbereitet und dazu ein paar Willkommensgeschenke, von denen Jackie und Jamie denken, dass du sie lieben wirst. Wegbeschreibung zur Wohnung ist gemailt. Folge nicht der Beschreibung von Google. Die ist Mist. Wir sehen uns morgen. Oder heute? Ich weiß gar nicht mehr xx
»Und wieso habe ich mit diesen Mitbewohnerinnen noch nicht gesprochen?«, fragt Dad, dessen Sorgenfalte tiefer wird. »Wir wissen gar nichts über sie. Du könntest dort ankommen und feststellen, dass dein Apartment ein Lagerhaus an den Docks ist und ein paar Männer schon darauf warten, dir einen Sack über den Kopf zu stülpen.«
»Uff, du bist ermüdend.«
Ich tippe eine kurze Antwort an Lee und stecke mein Handy dann in die Tasche.
»Ich habe sie auf derselben Internetseite recherchiert, auf der Gwen einen WG-Platz für ihr Auslandssemester gefunden hat«, erinnere ich meinen Vater. »Alle dort werden auf ihren Hintergrund geprüft. Die Universität hat die Seite sogar empfohlen. Sie ist sauber.«
Weil ich das mit den Zeitzonen einfach nicht in den Griff kriege, hatten wir noch kein Telefongespräch oder einen Videochat für die offizielle Vorstellung. Nur Mails und Textnachrichten, die für gewöhnlich ankommen, wenn der jeweils andere gerade schläft. Aber die digitale Konversation, die Lee und ich über die letzten Wochen geführt haben, war ermutigend. Soweit wirkt sie nett. Studentin im vierten Jahr, also zwei Jahre älter als ich. Und zwei andere Mädchen wohnen bereits dort.
»Ich würde mich besser fühlen, wenn ich mit ihnen reden könnte«, meint Dad. »Oder mit ihren Eltern.«
»Mit ihren Eltern? Wirklich? Ich fahre da nicht zu einer Pyjamaparty hin. Das sind Erwachsene.«
Er sieht mich mit schmalen Augen und schmalen Lippen an. »Damit fühle ich mich nicht besser.«
»Und ich schlage vor, du arbeitest daran mit Dr. Wu.«
Ich werfe ihm ein kurzes spöttisches Grinsen über die Schulter zu, das er definitiv nicht gut findet.
Dad setzt sich ans Fußende meines Bettes. Er fährt sich durch das struppige Haar und kratzt an seinen Bartstoppeln. Es sind Momente wie dieser, in denen ich mich – aus keinem besonderen Grund – daran erinnere, wie schräg es ist, die Tochter von Gunner Bly zu sein. Eigentlich wollte ich genau deshalb nicht, dass meine Mitbewohnerinnen vor meinem Einzug wissen, wer mein Vater ist. Es macht die Dinge nur … kompliziert.
Mein ganzes Leben war ich umgeben von Menschen, die so taten, als wären sie meine Freunde, um in seine Nähe zu kommen. Nie zu wissen, wem man trauen kann. Ständig enttäuscht zu werden von leeren Beziehungen. Er ist mit mir aus L. A. weggezogen, hier raus auf die Ranch außerhalb von Nashville, um von den Ruhmsuchern und Schleimern wegzukommen und ein ruhigeres Leben zu führen. Und ruhig ist es. Größtenteils. Ab und zu gibt es immer noch das eine oder andere Groupie, das durchschlüpft. Einen Fan oder jemanden, der darauf hofft, seine eigene Karriere zu starten. Manchmal jemanden, der Fotos und Klatsch an TMZ verkauft.
Ich habe schon in sehr jungen Jahren gelernt, dass es überall Fallstricke und Vipern gibt. Deshalb bin ich nicht einmal in den sozialen Medien aktiv. Darum nehme ich meinem Dad seine Neurosen auch nicht übel. Ich wünschte nur, er würde mir ein wenig Raum zum Atmen lassen, während ich meine eigenen entwickle.
»Hör zu, Kleines«, meint er nach einem Seufzen. »Ich weiß, ich war irgendwie ein Spielverderber, aber du darfst nicht vergessen, dass ich das noch nie gemacht habe. Du bist mein Kind. Dich loslaufen und dein eigenes Leben beginnen zu lassen ist ziemlich beängstigend für einen Vater. Als ich in deinem Alter war, hatte ich gerade einen Plattenvertrag unterschrieben und war jede Nacht in einer anderen Stadt, um mich in alle möglichen Schwierigkeiten zu bringen.«
»Davon habe ich gehört«, sage ich trocken.
Er lächelt und senkt den Kopf. »Dann weißt du, dass das heißt, dass ich alle möglichen Situationen gesehen habe, in die eine junge Frau völlig überfordert und allein in einer großen Stadt geraten kann.«
»Oh ja. Ich habe die Vermutung, dass ich so entstanden bin.«
Er hüstelt und runzelt die Stirn. »So in der Art.«
Es ist kein Geheimnis, dass Nancy ein Groupie war, das Dad um die Welt folgte, bis sie es endlich in sein Hotelzimmer geschafft hatte. Sie waren nicht lange zusammen. Der Rest ist Rock-’n’-Roll-Geschichte. Schrecklich flatterhaft, diese Groupies.
Die Wahrheit ist: Ich habe mir ein oder zwei pubertäre Fehltritte verdient. Gunner Blys Tochter zu sein, hat außerdem den Nachteil, dass ich mit den Geschichten über seine vielen Eroberungen aufgewachsen bin, aber keine eigenen Geschichten oder Eroberungen habe, so verhätschelt und geschützt in seiner luftdicht abgeschotteten Schuld und Reue. Ich weiß zu schätzen, dass er nur das Beste für mich will, aber ich bin jetzt Collegestudentin. Da möchte ich wenigstens ein bisschen was von den chaotischen Ausschweifungen erleben, die für ein Mädchen meines Alters üblich sind.
»Was ich sagen will, ist: Ich mache mir Sorgen um dich. Das ist alles.« Er steht auf und nimmt meine Hand. »Du bist so ungefähr das Einzige, das ich richtig gemacht habe.«
»Ich denke, Billboard und die Wand mit den Grammys wären anderer Meinung.«
»Dieser ganze Kram ist nicht einmal einen Bruchteil so wichtig, wie dein Dad zu sein, hörst du?«
Eine Träne taucht in seinem Auge auf, und das schnürt mir die Kehle zu. Nichts bringt mich so zum Weinen, wie meinen Dad emotional zu sehen. Was das angeht, sind wir beide Softies.
»Ich liebe dich«, sage ich. »Und ich werde klarkommen. Es bedeutet mir eine Menge, dass du hier mitziehst, okay? Das ist wichtig.«
»Versprich mir nur, dass du gute Entscheidungen triffst. Und noch etwas – vergiss bitte nicht: Nach Mitternacht passiert nichts Gutes.«
»Versprochen.« Ich umarme ihn und drücke ihm einen Kuss auf die Wange.
»Du weißt, dass du immer nach Hause kommen kannst, ja?« Er will die Umarmung nicht lösen, also entziehe ich mich ihm nicht, weil ich weiß, dass er das braucht. »Jederzeit. Tag und Nacht. Ein Wort genügt, und ich sorge dafür, dass am Flughafen ein Ticket auf dich wartet.«
»Ich weiß.«
»Und falls du in irgendwelche Schwierigkeiten gerätst. Egal, was es ist. Falls du dich irgendwo wiederfindest, wo du nicht sein willst oder im Gefängnis landest …«
»Dad …«
»Egal, was es ist, du rufst mich an, und ich helfe dir. Ohne Fragen zu stellen. Wir müssen nie darüber reden. Das ist ein Versprechen.«
Ich wische mir eine Träne aus dem Auge und schmiere sie auf sein Hemd. »Okay.«
Mein Handy pingt. Eine Nachricht vom Fahrer, dass er draußen steht.
Ich atme nervös aus. »Zeit zu gehen.«
Richtig. Das hier passiert wirklich.
Bis jetzt habe ich nur an die Freiheit und das Abenteuer eines Umzugs über den Ozean gedacht. Aber plötzlich brechen Furcht und Unsicherheit über mich herein. Was, wenn ich meine neuen Mitbewohnerinnen hasse? Was, wenn sie mich hassen? Was, wenn britisches Essen eklig ist? Was, wenn alle in meiner neuen Uni viel klüger sind als ich?
Mich packt ein drängender Instinkt, unters Bett zu kriechen.
Als würde er hören, wie meine Ängste überbrodeln, schafft Dad es, in Elternmodus zu schalten. Irgendwie ist er jetzt derjenige, der mich beruhigt.
»Mach dir keine Sorgen«, meint er, wirft sich meinen Rucksack über die Schulter und nimmt meinen Rollkoffer. »Denen wird die Spucke wegbleiben.«
Gemeinsam beladen wir die wartende Flughafenlimousine. Was übrig ist, wird an die Wohnung geschickt. Ich weiß nicht recht, ob ich überhaupt atme, als Dad mich ein letztes Mal umarmt und mir ein Bündel Scheine in die Tasche steckt.
»Für Notfälle«, sagt er. »Ich liebe dich.«
Den größten Teil meines Lebens fühlte sich dieses Ranchhaus wie ein bequemes Gefängnis an, das mich dazu bringen sollte zu vergessen, dass ich an seine Räume gefesselt bin. Endlich bin ich ausgebrochen – nur dass ich nie innegehalten habe, um mich zu fragen, was ich denn tun würde, sobald ich frei bin. Dort draußen ist eine beängstigende Welt voller Möglichkeiten, mir die Zähne einzuschlagen.
Und ich könnte nicht aufgeregter sein.
Es ist nach Mitternacht Ortszeit, als wir in London landen, und die Lichter der Landebahn verschwimmen im verregneten Fenster, während eine Stimme über unseren Köpfen uns anweist, unsere Uhren vorzustellen.
Nach fast zehn Stunden Flug kann ich gar nicht schnell genug aus diesem Flugzeug kommen. Meine Blase beschwert sich lautstark, und meine Füße sind geschwollen. Mich packt eine fieberhafte Dringlichkeit, während ich im Gang stehe, beklommen und unruhig, mit meinen Taschen in der Hand, um das Flugzeug zu verlassen. Die Luke geht auf, und ich eile die Gangway hinunter zum Terminal und zur nächstgelegenen Toilette.
Es ist nach ein Uhr nachts, als mein Fahrer meine letzten Taschen in den Kofferraum des schwarzen Taxis lädt. Ich will ihm Lees Wegbeschreibung geben, woraufhin er mir versichert, dass er Notting Hill problemlos findet.
Mein Körper glaubt immer noch, dass es noch nicht einmal acht Uhr abends ist, als ich auf dem Rücksitz mit dem Gesicht an der Fensterscheibe klebe, um die Lichter von London vorbeifliegen zu sehen.
Dank einem überbehütenden Vater, der Mord und Totschlag an jeder Ecke sieht, bin ich noch nicht viel herumgekommen, deshalb bin ich immer noch voller Ehrfurcht, wenn Orte genauso aussehen wie in den Filmen. Die Architektur, die Sehenswürdigkeiten. Diese roten Telefonzellen. Es ist beinahe surreal. Ich verschlinge die Stadt mit meinen Blicken und schaue alle paar Sekunden nach vorn, um ein erschrockenes Aufkeuchen über den Gegenverkehr zu unterdrücken, nur um mich dann wieder daran zu erinnern, dass wir ja auf der anderen Straßenseite fahren. Der Fahrer betrachtet mich im Rückspiegel und lacht leise.
Fair, Sir. Fair.
Ich beschließe, das alles auf der Fahrt zu meinem neuen Zuhause zu verarbeiten, und akzeptiere das Stereotyp des naiven amerikanischen Bauerntrampels, während ich ungeniert die Doppeldeckerbusse beglotze und meinem Fahrer dumme Fragen stelle, nur um seinen Akzent zu hören. Doch außerhalb der Rushhour endet die Reise nur allzu schnell in einer idyllischen Wohnstraße mit Reihenhäusern aus Backstein und in Pastellfarben.
Langsam nähern wir uns einem zweistöckigen Haus aus der Zeit Edwards VII. in Eierschalenweiß mit Stuckfassade. Beide Haushälften haben von Säulen getragene Veranden und hüfthohe Gusseisentore, hinter denen sich winzige Gärten mit Topfblumen befinden und Stufen zu überdachten Eingängen hinaufführen. Ein nervöses Kribbeln macht sich in meinen Füßen breit, als ich an der Tür des linken Eingangs die Nummer 42 lese.
Das Licht auf der Veranda ist an und wartet auf mich.
»Ich sehe besser nach, ob noch jemand auf ist«, sage ich zu dem Fahrer, aber mehr zu mir selbst, als ich mich zwinge, den Türgriff zu umfassen.
Die vorderen Fenster schimmern hinter den weißen Vorhängen. Beweis genug, dass ich erwartet werde, doch jetzt frage ich mich, ob ich einen Nachtflug hätte nehmen sollen, um zu einer vernünftigen Zeit anzukommen. Das ganze Haus wachzuhalten ist vielleicht kein toller erster Eindruck.
Wird schon schiefgehen.
Ich klopfe und halte den Atem an. Ich habe ein Dutzend Mal darüber nachgegrübelt, wie schlimm das laufen könnte. Wir könnten uns auf der Stelle hassen. Soweit ich weiß, sind die anderen alle ein oder zwei Jahre älter als ich. Was, wenn ihre Geduld mit der ahnungslosen Amerikanerin nach einer Woche oder so am Ende ist?
Ich mache mich schon wieder komplett verrückt, und genau da sehe ich drinnen eine undeutliche Bewegung. Die Vorhänge bewegen sich, bevor die Tür quietschend aufgeht.
Zu meiner großen Verwirrung steht ein schlanker schwarzer Typ in lockerem Tanktop und langer Haremshose aus Seide mit weiten Beinen in der Tür.
»Wusste ich’s doch, dass du ein Rotschopf bist.« Sein breites Lächeln ist freundlich.
»Ist, ähm, Lee zu Hause?«
»Gelegentlich. Aber ich habe so etwa zwei Drittel einer Flasche Merlot intus, also kann ich das nicht versprechen.«
War das eine Antwort? Ich bin immer noch verdutzt.
»Ich bin Abbey.« Ich beiße mir auf die Lippe. »Ich soll hier einziehen.«
»Aber klar doch, Süße.« Er blickt über meinen Kopf hinweg und nickt dem Fahrer zu.
»Tut mir leid, dass ich alle wachgehalten habe. Ich hätte an den Zeitunterschied denken sollen, als ich meinen Flug gebucht habe.«
»Nicht alle. Die anderen Jungs lernst du morgen kennen. Sie sind heute Nacht aus.«
Ich blinzle dümmlich. »Jungs?«
»Jack und Jamie.« Er schiebt mir die Tür auf und bittet mich hinein. »Am besten wartest du nicht auf sie. Du wirst sie so gegen vier hereinstolpern hören. Versuch dich mit einem Urteil zurückzuhalten, bis sie ihre Morgentoasts hatten.«
Er lässt die Tür angelehnt für den Fahrer, der den Kofferraum öffnet und mein Gepäck auf den Gehweg stapelt.
Meine Verwirrung weicht langsam beunruhigender Klarheit. »Du bist Lee?«
»Seit ich ein Baby war.« Er schält mir den Rucksack von der Schulter, hängt ihn über seine eigene und wirft sich in Pose wie ein Katalogmodel. »Ich weiß, in Lebensgröße bin ich strahlender.«
Die Innenräume der Wohnung sind hell und luftig. Eine Erleichterung angesichts des trostlosen Wetters. Am Fuß der Treppe befindet sich ein kleines Foyer, dann kommt ein schmaler Flur mit einem Wohnzimmer zu einer Seite und einer Küche am Ende. Es gibt ein Sammelsurium von teuer aussehenden, nicht zusammenpassenden modernen Möbelstücken, als seien die Seiten eines Einrichtungsmagazins durcheinandergewirbelt und in einem einzigen Haus zusammengeworfen worden.
»Aber Lee ist ein Mädchen«, sage ich nachdrücklich.
Er sieht mich an und zieht eine Augenbraue hoch. »Lass dich von diesen makellosen Wangenknochen nicht täuschen.«
»Nein, ich meine, ich sollte doch mit Mädchen zusammenziehen. Ist das hier das falsche Haus?«
»Nicht wenn du Abbey Bly bist.« Er mustert mich mit skeptischer Sorge, so als sei ich die typische hysterische Frau, die im Cornflakes-Gang mit einem Einkaufswagen kämpft. »Ich bin Lee Clarke. Willkommen in London.«
Mein Vater wird mich umbringen.
Vergiss Londoner Verbrechen. In etwa zehn Stunden oder so werde ich einen Mörder aus Tennessee vor meiner Tür stehen haben, bereit, mich für diesen total dummen Fehler zu erwürgen. Na ja, in Wahrheit unverschuldeten Fehler. Aber Semantik wird mich hier nicht vor dem bevorstehenden Tod bewahren.
Ich starre Lee weiter an. »Und die anderen Mitbewohner sind auch Jungs?«, brumme ich mehr an mich selbst gerichtet, als ich die Sneakers in der Ecke und die Jacken an den Haken hinter der Tür sehe.
»Ich fürchte ja, Süße.« Er zieht eine mitfühlende Schnute. »Aber lass dich nicht von ihrem Geruch abschrecken. Ansonsten sind sie wirklich ganz reizend.«
Im Geiste fange ich an, alle Mails und Textnachrichten noch einmal durchzugehen, auf der Suche nach Hinweisen. Ich hatte das Kästchen für weibliche Mitbewohner gecheckt, als ich mich auf der WG-Zimmer-Seite registrierte. Ich nahm einfach an …
»Aber Moment, wieso solltet ihr eine weibliche Mitbewohnerin wollen?«
Nicht dass Lee gruselige Schwingungen ausstrahlen würde, aber das hier ist genau das, wovor Dads lebhafte Paranoia mich gewarnt hat.
»Online meinst du? Machte keinen Unterschied für uns. Ich habe das bevorzugte Geschlecht offengelassen.«
Na toll. Ich habe mich noch nie von androgynen Namen so persönlich angegriffen gefühlt.
Das war’s. Der ganze Plan fliegt mir um die Ohren. Nicht nur, dass Dad wütend sein wird, weil ich mir ein Haus mit drei Kerlen teile. Er wird es als Beweis ansehen, dass man mir nicht zutrauen kann, für mich selbst zu sorgen. Eine einzige simple Aufgabe, und ich schaffe es, sie zu vermasseln.
»Alles okay?« Lee sieht mich stirnrunzelnd an.
Ich reibe mir über die Schläfe und spüre Kopfschmerzen im Anmarsch. »Das ist peinlich.«
»Dafür habe ich ein Mittel.«
Damit verschwindet er in der Küche und kommt einen Moment später mit einem Glas Wein zurück, das er mir in die Hand drückt.
»Bitte sehr. Für die Nerven.«
Ich trinke einen hastigen Schluck. Ich weiß nicht, ob es hilft, aber als der Fahrer die erste Ladung Gepäck in der Türöffnung platziert, akzeptiere ich, dass das hier keine Halluzination aufgrund von Jetlag ist. Ich sitze nicht mehr im Flugzeug und leide unter einem Fiebertraum, verursacht durch Champagner und Flugzeugessen.
Tja, Mist.
»Alles in Ordnung«, lüge ich, denn ein kompletter Nervenzusammenbruch zehn Sekunden, nachdem ich durch die Tür gekommen bin, erscheint mir unhöflich. »Nur müde. Langer Flug. Wie auch immer, so was passiert schon mal, richtig?«
»Glückliche Zufälle.« Er zuckt mit den Schultern. »Ich halte mich gern für einen Menschen, der denkt, dass alles aus einem bestimmten Grund passiert. Ich meine, so ein Mensch bin ich nicht, aber ich denke gern, ich wäre einer.« Lee lächelt in sich hinein und macht eine Geste, als würde er sich das Haar über die Schulter werfen. »Wer weiß, Abbey Bly. Dies könnte der Beginn einer großartigen Freundschaft sein.«
Ja klar, falls ich nicht morgen um diese Zeit zurück in ein Flugzeug geschleift werde. Lee scheint toll zu sein und so, aber ich sehe nicht, wie ich lange genug hierbleiben dürfte, um mehr als eine Anekdote zu werden.
Offenbar nimmt er mein zunehmendes Unbehagen wahr, denn sein Lächeln verschwindet.
»Hey, alles in Ordnung«, beteuert er. »Das hier ist nicht das, was du erwartet hast. Ich verspreche dir, dass wir kein Haufen Verrückter sind. Und du kannst gern bleiben. Aber falls du dich heute Nacht in einem Hotel besser fühlen würdest, verstehe ich das total. Nimm dir eine Nacht Zeit und wir sehen, wie die Lage morgen früh aussieht?«
Ich denke wirklich über sein Angebot nach. Ich könnte mich umdrehen und wieder ins Auto steigen. Die Nacht damit verbringen, über meine Situation nachzudenken, und das Ganze noch einmal angehen, wenn alle Mitbewohner hier sind. Aber dann müsste ich ein Hotel auf meine Kreditkarte setzen, und die Abrechnungen gehen an meinen Dad. Außerdem bin ich mir ziemlich sicher, dass er zu diesem Zeitpunkt schon Warnmeldungen eingerichtet hat, falls ich mehr als fünfzig Mäuse ausgebe. Noch bevor mein Kopf auf das Kissen trifft, werde ich einen hysterischen Anruf bekommen, in dem er fragt, was zur Hölle ich vorhabe.
Nein. Trotz dieses kleinen Rückschlags rufe ich mir in Erinnerung, dass ich die letzten Wochen damit verbracht habe, per Mail mit Lee zu kommunizieren. Und er war von der WG-Zimmer-Seite gründlich überprüft worden. Außerdem empfange ich von ihm keine Axtmörder-Schwingungen oder so. Ich möchte gern denken, dass ich ein gutes Radar für mörderische Irre habe.
»Wenn es okay für dich ist«, sage ich ihm, »würde ich gern bleiben.«
»Na dann, gut.« Lee strahlt mich an und nickt zu der Treppe. »Wir heben uns die Höflichkeiten und die Besichtigungstour für morgen auf. Bringen wir dich zu Bett.«
Oben an der Treppe erklärt er mir, dass es nach rechts zu den Zimmern von Jack und Jamie geht. Wir gehen nach links zu drei Türen.
»Badezimmer am Ende des Flurs. Das teilen wir beide uns.«
Ich glaube nicht, dass ich das Gesicht verziehe, aber Lee beeilt sich, einzuwerfen: »Vertrau mir, du willst nicht sehen, was Jamie mit seinem und Jacks anstellt.«
Wir bleiben vor zwei gegenüberliegenden Türen stehen.
»Da ist meins«, sagt er und deutet auf die Tür links. Dann öffnet er die andere: »Und das ist deins.«
Mir bleibt vor Überraschung die Luft weg. Ich hatte nackte Wände und vielleicht noch einen auf das Bett geworfenen Quilt erwartet, aber dieses Zimmer ist so viel mehr als das.
»Ich hoffe, es gefällt dir.« Lee zuckt bescheiden mit den Schultern. »Ich konnte nicht anders.«
Das Zimmer ist in Weiß-, Grau- und Cremetönen eingerichtet und bietet eine friedvolle, gemütliche Atmosphäre. Das Bett ist gemacht, mit Federbett, Überwurfdecken und Plüschkissen. Überlappende Teppiche liegen auf dem Holzfußboden. Auf dem Fensterbrett stehen kleine Topfpflanzen, deren Ranken in Richtung Boden baumeln. Es gibt einen Kleiderschrank, einen Schreibtisch und eine Kommode mit einem kleinen Fernseher darauf.
»Das hast du alles für mich gemacht?«
Ich drehe mich zu ihm um, geschockt und voller Ehrfurcht. Das ist wirklich zu viel. Ich meine, es ist perfekt. Aber so viel Aufwand.
Er verdreht die Augen. »Das letzte Mädchen hatte einen grässlichen Geschmack.« Lee stellt meinen Rucksack neben der Kommode ab. »Wie auch immer, das sind nur die Grundlagen. Konnte dich ja schlecht auf einer blanken Matratze schlafen lassen.«
»Danke. Das ist großartig.«
Er lacht schnaubend und winkt dann ab.
»Und dafür, dass du hier bist, um mich zu begrüßen«, sage ich. Denn alles in allem betrachtet, hätte es angesichts der Umstände auch schlimmer kommen können. »Danke.«
»Ziemlich gern geschehen, Abbey Bly. Das Badezimmer gehört ganz dir, falls du duschen oder dich frischmachen willst. Ich bringe dein Gepäck hoch.«
Nach der Reise fühle ich mich schmutzig und erschöpft, also nehme ich sein Angebot an, und wir beschließen, uns den Rest der Freut-mich-dich-kennenzulernen-Unterhaltung für morgen aufzuheben. Danach liege ich im Bett, das Haar noch nass, während ich die neuen Geräusche des Hauses in der Nacht auf mich wirken lasse. Ich starre an die Decke und habe keine Ahnung, was ich mit meinem Dad machen soll.
Ich liebe die Gegend hier. Ich habe Wochen damit verbracht, mir online wie besessen Fotos von den Fußgängeralleen, den Cafés und den Buchläden anzusehen. Eine Unterkunft zu finden, die nahe genug am Campus liegt, war nicht einfach bei den hohen Mietpreisen in London. Wenn ich dieses Haus aufgebe, stehen die Chancen schlecht, dass ich etwas anderes finde, das alle meine Kriterien erfüllt. Nicht so kurz vor Semesterbeginn.
Aber Dad wird ausflippen. Wenn er das erfährt, lässt er mich auf keinen Fall hierbleiben.
Und wenn ich keinen Platz zum Wohnen habe, wird er mich mit Begeisterung zurück nach Hause schleifen.
Lebe wohl, London.
Es ist echt seltsam. Ich wache auf zu den Geräuschen vorbeifahrender Autos vor meinem Fenster, von Fahrrädern und Leuten, die mit ihren Hunden Gassi gehen. Die Geräuschmelodie einer Gemeinde, die erwacht und den Tag angeht. Etwas, das ich seit Jahren nicht regelmäßig erlebt habe. Draußen auf der Ranch gibt es nur die Vögel und die schweren Schritte meines Dads, ohne andere Häuser in Hörweite. Seit wir in L. A. lebten, als ich noch ein Kind war, habe ich keine Müllwagen oder Auto-Soundanlagen mehr vor meinem Fenster gehört. All diese Hinweise, die mich daran erinnern, wie weit weg ich von zu Hause bin und wie überaus nahe einer der größten Städte der Welt. Sie fängt an, sich real anzufühlen, diese Reise, zu der ich aufgebrochen bin.
Es reicht, um mir den Jetlag aus dem Gehirn zu pusten. Dann dringen Duftnoten von Speck, Würstchen, Eiern und Toast an meine Nase, und mein Magen knurrt mich an. Ich schätze mal, diese Salzstangen, die ich aus dem Flugzeug mitgenommen habe, waren kein großes Abendessen.
Unten gehe ich etwas zögerlich in die Küche, wo ich Geräusche von Kochutensilien an Metallpfannen und das Auf- und Zuschlagen von Türen verschiedener Schränke höre. Es ist so, wie sich ein Bed and Breakfast immer anfühlt, übergriffig und seltsam ungastlich. Ich wohne hier, aber noch nicht ganz.
»Gut«, meint Lee und hebt den Blick vom Herd, um mich über die Schulter hinweg zur Kenntnis zu nehmen. »Du bist auf. Ich war mir nicht sicher, ob du vielleicht den Großteil des Tages verschläfst.«
»Der Jetlag trifft mich für gewöhnlich am zweiten oder dritten Tag. Höchstwahrscheinlich werde ich die ganze Nacht auf sein.«
Seine Erscheinung lenkt mich ein wenig ab. Er hat sich verwandelt. So als sei gestern Nacht eine Halluzination gewesen. Heute ist er gekleidet für einen Nachmittag in der Stadt: frische dunkelblaue Khakihose und gebügeltes Anzughemd unter einer Weste, ergänzt mit einer seidenen Fliege und einem braunen Ledergürtel. Mit seiner dick umrandeten Brille ist er beinahe ein ganz anderer Mensch.
»Nimm Platz.« Er stellt einen Teller auf die Frühstückstheke und legt Gabel und Messer dazu. »Wahrscheinlich bist du noch nicht bereit für das englische Frühstück. Fangen wir klein an.«
Dann lädt er mir genug Cholesterin auf den Teller, um ein Nilpferd umzuhauen. Nicht dass ich mich beschweren will.
»Riecht großartig.« Ich habe schon den Mund voll mit Ei, bevor er überhaupt damit fertig ist, Essen aus der Pfanne zu schaufeln. Ich schmecke gar nicht so viel, sondern absorbiere eher jeden Bissen.
Lee lacht in sich hinein und schüttelt den Kopf.
»Was ist?«, frage ich mit der Hand vor dem Mund.
»Amerikaner. Bei denen ist alles großartig.«
»Oh.« Da stehen auch eine Karaffe mit Milch und ein paar leere Gläser, also bediene ich mich und spüle das Ei hinunter. »Diese Eier schmecken ausgezeichnet.«
»Schon besser.«
»Alles klar, Mann?« Ein großer Typ mit schlanken Muskeln und kurzem braunen Haar schlendert hinter mir in die Küche. Er ist barfuß und trägt zerknitterte Jeans und ein ebenfalls zerknittertes T-Shirt, in denen er anscheinend geschlafen hat. »Und wer ist das?«
»Abbey, Jamie«, stellt Lee uns vor und macht einen weiteren Teller für den Neuankömmling. »Jamie, Abbey.«
Der durch und durch blasse Engländer, jene Sorte, die ich von romantischen Komödien her kenne, geht zu dem Wasserkessel auf dem Herd und macht sich eine Tasse Tee, die er zu dem Stuhl neben mir trägt. Dann schnappt er sich mit einem flirty Zwinkern ein Stück Speck von meinem Teller.
»Hi, Abbey.« Er klimpert mit den Wimpern, und ich bin mir sicher, dass diese Nummer, gepaart mit seinen aristokratischen Zügen und dem vornehmen Privatschülerlächeln, jedes Mal funktioniert. »Gut geschlafen?«
Ich nicke nachdrücklich. »Ausgezeichnet.«
Das bringt Lee zum Kichern.
Jamie nickt. »Reizend.«
Mit dem Pfannenwender in der Hand wacht Lee über dem Würstchenteller. »Soll ich ihr einen Teller machen?«
Obwohl Lee die Frage an Jamie richtet, blickt der nicht auf, während er Schinken auf seinen Toast legt. »Wem?«, fragt er abweisend.
»Fragst du mich, weil du dich nicht an ihren Namen erinnerst?« Lees Tonfall ist ironisch.
»Von wem reden wir?«, frage ich neugierig.
»Das ist die Frage, nicht wahr?« Lee legt den Kopf schief, als der Boden über unseren Köpfen knarrt. Wir hören schnelle Schritte, gefolgt von einer hastig geschlossenen Tür. »Du kannst mir nicht erzählen, dass das Getrippel von Jackie kommt.«
Jamie, der offenbar mit seinem Toast spricht, zuckt mit den Schultern. »Müssen wohl Mäuse sein.«
Eine Reihe viel langsamerer, schwererer Schritte kommt die Treppe heruntergestapft. Schon bald entdecke ich, dass sie zu einem Riesen von gebräuntem blonden Typen gehören, mit nacktem Oberkörper, Bartstoppeln am Kinn und mehr Bauchmuskeln, als ich Wimpern habe. Jack, nehme ich an. Obwohl er auch mit Leichtigkeit als Thor durchgehen könnte. Das Einzige, was fehlt, ist der große Hammer.
Vielleicht bewahrt er den ja in seiner Hose auf …
Ich schwöre, ich höre Elizas Stimme in meinem Kopf.
»Du weißt, dass da oben eine halb nackte Frau herumläuft?«, meint er gedehnt mit kräftigem australischen Akzent und lässt sich auf den Stuhl mir gegenüber am Frühstückstresen fallen.
Als er an mir vorbei nach dem Servierteller mit den Eiern greift, lässt er ein charmantes Lächeln aufblitzen, das mich direkt aus den Latschen kippen lässt.
Heiliger Strohsack. Ich habe noch nie einen attraktiveren Kerl in Person gesehen. Perfektes kantiges Kinn und liebenswerte Grübchen. Bizeps so groß wie meine Oberschenkel.
»Anscheinend herrscht etwas Verwirrung darüber, ob sie mehrere Mäuse im Menschenkostüm ist«, meint Lee und wirft Jamie, der sich unerschütterlich weiter seinem Frühstück widmet, einen sarkastischen Blick zu.
Jack späht zu mir herüber. »Du bist nicht mehrere Mäuse in einem Kostüm, oder?«
Ich schüttle den Kopf. »Ich bin Abbey. Du kannst mich, nun ja, Abbey nennen.«
Oh mein Gott.
Echt jetzt? Wie zur Hölle soll er mich denn sonst nennen? Susan?
Seine Lippen zucken belustigt. »Ich bin Jack.« Ein Herzschlag. »Nenn mich Jack.«
Lee am Herd kichert. Ich kann mir nur vorstellen, wie rot meine Wangen gerade sein müssen.
Zum Glück erlöst mich Jack aus meiner Not, indem er meinen Ausbruch von Irrsinn ohne weiteren Kommentar übergeht. »Okay. Also Abbey und ich sind keine Mäuse. Freut mich, dass das geklärt ist.«
Seine Augen sind unglaublich, hypnotisierend blau. So kosmisch und glitzernd, dass mir erst klar wird, dass ich ihn anstarre, als er wissend grinst und sein Zwinkern mir verrät, dass ich erwischt wurde.
Nett, Abbey. So subtil.
»Ich mache mir nur Sorgen um das arme Mädchen.« Lee steht auf der anderen Seite des Tresens und fängt an, in seinem Frühstück zu stochern, aber hauptsächlich fordert er Jamie heraus, ihn anzusehen. »Denkst du, sie hat sich verlaufen?«
»Da gibt es kein Mädchen.« Ein sturer Jamie salzt seine Eier und wird dabei zunehmend ungehalten.
Jack hat die Flügelspannweite einer 747. Als er isst, stößt sein Ellbogen an meinen, aber er scheint es nicht zu bemerken. »Glaubst du, sie ist aus seinem Kleiderschrank gekrochen?«
Jamie lehnt sich zu mir und sagt mir leise ins Ohr: »Sei so lieb und wechsle das Thema, ja?«
»Abbey …«, warnt mich Lee in ernstem Tonfall. »Vergiss nicht, wer dir Speck gemacht hat.«
Ich habe eine Schwäche für die Verzweifelten und Unterdrückten, also werfe ich Jamie einen Rettungsring zu. »Also, bringt mich auf den neuesten Stand. Wie lange wohnt ihr schon zusammen?«
Lee verdreht die Augen. »Typisch.«
Jamie lehnt sich wieder zu mir und drückt mir einen Schmatz auf die Wange. »Du bist ein Goldstück, Abbs.«
»Wir sind letzten Herbst hier eingezogen«, erklärt Jack kauend.
»Wie habt ihr euch kennengelernt? Seid ihr schon lange Freunde?«, frage ich.
Er wirft einen Blick zu den anderen beiden. »Das war doch in diesen einen Ferien, oder? In diesem Ort in Spanien mit den abgefuckten Köpfen an der Wand.«
Ich ziehe eine Augenbraue hoch. »Köpfe?«
»Da waren keine Köpfe«, widerspricht Jamie. »Und es war vor dem Frühjahrssemester. Die Wohnung von diesem Mädchen, Cara, in Chelsea. Du erinnerst dich an sie.«
Jack häuft Eier und Wurst auf eine Scheibe Toast, faltet die zusammen und schiebt sich das ganze Ding in den Mund. Er schluckt es hinunter und sagt dann: »Ich weiß noch, dass du eine Ladung Chips von einem Laster geklaut hast.«
»Ich habe vierzig Pfund dafür dagelassen.«
»Was denkst du, wie viel eine Tüte Chips kostet?«
»Ihr liegt beide falsch«, mischt sich ein gereizter Lee ein. »Der Ort mit den Masken an der Wand war da, wo Nate seinen Auftritt hatte, an dem Abend, als Jack mit diesem Rugbytypen auftauchte. Dem, der so abgeschreckt war, als seine Freundin aus der Toilette kam und ihren Lippenstift überall über Jamies Gesicht verteilt hatte.«
»Stimmt.« Jack klatscht die Hand auf den Tresen und deutet auf Jamie. »Da hast du den Arsch vollbekommen.« Er lacht, und dieser Laut lässt mein Herz ein bisschen schneller schlagen.
»Oh, leck mich, Campbell«, meint Jamie.
»Oh nein.« Ich versuche mein nervöses Lachen zu unterdrücken, als ich mir vorstelle, wie Jamie mit einem Freund von Jack in eine Barschlägerei gerät. Denn ich nehme an, dass alle Kerle in Thor-Größe in Rudeln unterwegs sind. »Du hast dich nicht wirklich mit ihm geschlagen.«
»Ha!« Lee kichert und mümmelt an einem Stück Toast.
»Nein«, wehrt Jamie ab. »Ich habe die Situation treffend eingeschätzt und entschieden, dass Selbsterhaltung der vernünftigere Weg ist.«
Ich unterdrücke ein Grinsen. »Bedeutet was?«
»Bedeutet, dass er Jacks Kumpel fünfzig Mäuse dafür bezahlt hat, dass er sein hübsches Gesicht nicht verunstaltet«, antwortet Lee. »Was im Grunde bedeutet, er hat dem Typen fünfzig Mäuse dafür bezahlt, dass er mit seiner Freundin geknutscht hat.«
So geht es noch eine Weile zwischen den dreien weiter. Sie diskutieren über die Einzelheiten von Jamies Finanzdiplomatie, was laut Lee bedeutet, dass Jamie »recht gut situiert« ist. Soll heißen, er hat Verbindungen zur britischen Aristokratie. Zu Hause würde das bedeuten, er wäre eine Art Promi oder vielleicht der Erbe eines Firmenvermögens. Hier geht das mit schicken Titeln, Schlössern und was nicht noch alles einher.
Während wir den Rest des Frühstücks damit verbringen, das Eis zu brechen und das ganze Kennenlerndings durchzuziehen, wollen sie zwangsläufig auch etwas über die Amerikanerin in ihrer Mitte wissen. Und so kommen wir zum heiklen Teil.
»Nun ja, mein Hauptfach ist Europäische Geschichte. Deshalb bin ich hier – offensichtlich. Ursprünglich komme ich aus Los Angeles, aber jetzt wohne ich außerhalb von Nashville. Das liegt in Tennessee.«
»Los Angeles? Wie Beverly Hills?« Lee blickt hoch und hat förmlich Sterne in den Augen. Den Blick kenne ich gut. »Kennst du jemand Berühmtes?«
So fängt es immer an. Wortwörtlich. Und es endet unweigerlich damit, dass Leute stundenlang über meinen Dad schleimen, bis ich gar keine reale Person mehr bin, sondern nur noch ein Gefäß für ihr Fan-Dasein. Ein Kanal zu meinem Vater. Also lüge ich. Ständig. Es ist anstrengend.
»Och nein, nicht wirklich. Einmal dachte ich, ich hätte Ben Affleck in einem Dunkin’ Donuts gesehen. Aber das war nur ein Typ mit einer Kappe von den Red Sox.«
Daraufhin erzählt Lee die Geschichte, wie er einmal auf einer Dragshow in Brighton mit einem Typen von Love Island herumgemacht hat, und lässt mich glücklicherweise vom Haken. Ich bin überzeugt, dass das Thema irgendwann wieder aufkommen wird, aber ich habe es nicht eilig damit. Was mich wieder daran erinnert, dass ich nicht nur meinen Dad vor ihnen geheim halte, sondern auch andersherum. Denn ich habe noch nicht entschieden, ob ich bleiben kann.
Wir sind schon ziemlich weit in Lees Katalog aller auch nur annähernd berühmten Personen, die er je getroffen hat, und er hat noch nicht gemerkt, dass der Rest von uns auf Durchzug geschaltet hat.
»Er unterhält sich gern selbst«, brummt Jack mir zu. »Aber ich bin immer noch daran interessiert, etwas über dich zu erfahren.«
Ich versage komplett darin, die Röte zu verbergen, die sich auf meinen Wangen breitmacht, als er das sagt. Wie seine Mundwinkel zu einem ganz leichten Lächeln hochgehen. Er muss es nicht einmal darauf anlegen, und ich verliere jede Kontrolle meiner höheren Funktionen. Attraktive Männer sind die schlimmsten.
»Geht ihr alle auf die Pembridge?« Es ist das Erste, das mir in den Sinn kommt in meinem armseligen Versuch, die Unterhaltung am Laufen zu halten.
»Nein, nur Lee. Ich bin im dritten Jahr auf der St. Joseph’s. Jamie ist im letzten Jahr am Imperial College London, zusammen mit den anderen feinen Pinkeln und künftigen Premierministern.«
»Die wahre Frage ist …«, mischt sich Lee wieder in die Unterhaltung ein, stützt beide Ellbogen auf den Tresen und beugt sich vor. »Wird Abbey hierbleiben oder flüchtet sie zurück in die Staaten?«
»Was, du willst nicht bleiben?« Jamie runzelt die Stirn. »Wieso?«
Lee gibt einen dramatischen Seufzer von sich und antwortet für mich. »Ihr allerliebster Daddy hatte den Eindruck, dass sie mit anderen Frauen zusammenziehen würde. Aber siehe da …«
Jamie zuckt mit den Schultern. »Daddy ist über dem großen Teich, oder?«
Ich nicke. »Nun ja, stimmt.«
Noch ein Schulterzucken. »Dann lüge.«
»Das ist eine ziemlich große Lüge.« Ich habe meinen Vater noch nie angelogen. Nie bei etwas Wichtigem.
»Du musst das Thema ja nur – wie lange? – umgehen, einen Monat oder zwei?«, meint Jack. »Danach kannst du es ihm sagen und es wird zu spät sein, um dich von der Schule zu nehmen, oder?«
»Du kennst meinen Dad nicht. Er ist krankhaft beschützend.«
Andererseits fange ich an, mich hier wohlzufühlen. Die Jungs haben mir das Gefühl gegeben, willkommen zu sein, so als würde ich bereits zum Haus gehören. Nichts von der peinlichen Gestelztheit, die ich als Folge dieser enormen Fehlkommunikation befürchtet hatte.
Außerdem habe ich mich schon seit Monaten auf diese Chance gefreut. Die Chance, London und seine ganze Geschichte und Architektur zu erforschen. Zugang zu einer Bibliothek von Weltklasse in Pembridge zu haben. Und vor allem eine Chance, abseits des ständig wachsamen Blicks meines Vaters zu leben. Ich weiß, dass er gute Absichten hat, aber in seinem Schatten kann es erstickend sein.
Hier, selbst unter dem tristen Himmel eines englischen Spätsommers, gibt es Tageslicht.
Als die Jungs daher sachte auf eine Antwort drängen, halte ich den Atem an und vertage die Konsequenzen auf später.
»Okay. Ich bleibe.«
Lees Gesicht leuchtet auf. »Jawohl! Ich freue mich schon so darauf, dir …«
Er verstummt abrupt, als eilige Schritte die Treppe herunterklappern und durch das Foyer hasten, begleitet von einem verschwommenen Vorbeihuschen von Farbe. Nachdem die Haustür hinter dem Farbklecks zugeschlagen ist, sehen wir Jamie an, der uns schlicht mit einem weiteren Schulterzucken antwortet.
»Sehr große Mäuse.«
In Nashville späht die Sonne noch kaum über die Bäume, als ich meinem Dad nach dem Frühstück eine Textnachricht schreibe, aber er antwortet trotzdem auf der Stelle.
Dad: Warte kurz. Ich kontaktiere dich per Videoanruf.
Ich bin mir nicht sicher, wie gut ich die Lüge von Angesicht zu Angesicht rüberbringen kann, also wehre ich ab.
Ich: Ich stehe gerade knietief in ausgepackten Klamotten. Wollte mich nur kurz melden und dich wissen lassen, dass alles in Ordnung ist.
Dad: Flug war okay? Wie ist das Haus? So nett wie auf den Fotos? Du hast ein eigenes Zimmer, richtig?
Nachdem er seit unserem letzten Gespräch stundenlang Zeit hatte, hat er sich in einen Rausch der Hysterie hineingesteigert. Wie üblich.
Ich: Ja, alles gut.
Dad: Wie sind die neuen Mitbewohnerinnen? Nette Mädchen?
Ich hasse das. Zu wissen, was ich gleich tun werde, liegt mir schwer im Magen.
Ich: Ja, toll. Wir hatten alle zusammen Frühstück heute Morgen. Ich glaube, hier wird es mir gefallen.
Keiner meiner stolzesten Momente. Die Lüge wirft einen Schatten auf etwas, das ansonsten eine außergewöhnliche Gelegenheit ist – die Chance, meinen Horizont zu erweitern, während ich meine Ausbildung weiter verfolge.
Aber würde er jetzt die Wahrheit erfahren, würde das seine übermäßige Trennungsangst nur verschlimmern. Aber nur ein paar Wochen. Einen Monat oder zwei. Bis dahin wird er sich daran gewöhnt und mit dem leeren Nest abgefunden haben. Dann erzähle ich es ihm. Und ich bin sicher, dann wird er verstehen, wieso ich ein paar Tatsachen frisieren musste.
Dad: Tja, fühle dich nicht zu wohl. Ich zähle die Tage, bis du nach Hause kommst.
Er ist ja so ein Softie.
Ich: Weihnachten ist schneller da, als du denkst. Schmück den Baum nicht ohne mich.
Dad: Abgemacht. Ruf mich später an. Jederzeit. Es gibt kein zu spät oder zu früh.
Vielleicht sollte ich ihm ein Kaninchen oder so als emotionale Stütze besorgen.
Ich: Mache ich. Liebe dich. Bye.
Da klopft es kurz an meine Tür, und Lee öffnet sie einen Spalt, um mir mitzuteilen, dass in zehn Minuten ein Hausmeeting stattfindet. Das lässt mir genug Zeit, Eliza zu antworten, die mir gestern Nacht einige Nachrichten geschickt hat.
Ich: Rate mal, wer in einem Haus mit drei Kerlen gelandet ist?
Zu meiner totalen Überraschung ist sie wach.
Eliza: Sind sie heiß?
Ich: Ich glaube, einer ist schwul, aber ja.
Eliza: Luder.
Ich: Der eine, Jack, ist Australier und spielt Rugby.
Eliza: Und du willst so etwa zehntausend von seinen Rugbybabys.
Ich: Ich bin mir ziemlich sicher, dass er mein Pferd bankdrücken könnte.
Eliza: Superluder.
Ich: Ich habe es meinem Dad noch nicht erzählt. Er glaubt immer noch, sie wären Mädchen. Also behalte das für dich, ok?
Eliza: Lol. Klar, ich sage nichts. Zumindest nicht, bevor du mit Hot Jack (hier zweideutige Rugby-Anspielung einfügen).
Ich muss echt etwas über Rugby lernen.
Unten im Wohnzimmer finde ich Lee in einem Lehnsessel am Kamin. Jack und Jamie sitzen an jeweils einem Ende des Sofas, und Jamie wischt zwanghaft mit dem Finger über sein Handydisplay.
Als ich hereinkomme, bedeutet Lee mir mit einem nicht sehr subtilen Nicken, dass ich mich zwischen die beiden setzen soll. Ich nehme Platz und sage mir, dass ich nicht enttäuscht bin, weil Jack jetzt ein Shirt anhat.
»Also«, beginnt Lee und schaut auf seine Uhr. »Ich habe dieses Meeting einberufen, um ein paar Hausregeln noch einmal durchzugehen.«
»Könnten wir uns damit beeilen?«, grummelt Jack. »Ich wollte gerade trainieren gehen.«
Jamie stöhnt. »Du bist doch immer am Trainieren.«
»Genau. Solltest du auch mal probieren und ein paar Muskeln an diese mickrigen Bleistiftärmchen kriegen.«
»Wieso?«, schnaubt Jamie. »Ich sehe so aus, ohne es groß darauf anzulegen.«
»Ja, ich weiß. Genau das ist der Punkt.«
Lee kneift sich in die Nase und gibt einen langen Seufzer von sich. »Seid ihr beide fertig, oder wollt ihr, dass Abbey und ich eure jeweilige Maskulinität bewerten und euch erzählen, wie unglaublich heiß ihr doch seid?«
»Och nö«, meint Jack und lässt wieder dieses freche Grinsen aufblitzen. »Ich weiß, dass ich heiß bin.«
Da hat er verdammt recht. Wenn ich so nahe neben ihm sitze, laufe ich noch Gefahr, spontan in Flammen aufzugehen.
»Ich auch«, wirft Jamie ein und reckt überheblich das Kinn.
Jamie hat einen gewissen großstädtischen Chic an sich. Definitiv attraktiv. Aber er ist nicht mein Typ. Ich stehe nicht auf Jungs, die mehr Zeit für ihre Frisur brauchen als ich.
»Wie ich schon sagte«, versucht Lee es noch einmal. »Die Hausregel.«
Oh okay. Offenbar haben wir unsere Liste von »ein paar Hausregeln« reduziert auf nur eine.
Dann sieht er mich direkt an, so als würde er seine Finger um meine Seele schlingen. »Es gibt absolut keine Verbrüderung unter den Hausbewohnern.«
Oh.
»Auch bekannt als die Jamie-Regel«, wirft Jack hilfreich ein.
Jamie beschließt, nicht zu antworten, wischt weiter über sein Display und wirkt bewusst desinteressiert.
Lee verdreht die Augen. »Danke sehr, Jack.«
»Wieso die Jamie-Regel?«, frage ich, als keine nähere Erklärung kommt.
Lee schlägt die Beine übereinander und neigt den Kopf hin zu dem gescholtenen Jamie. »Wollt Ihr das näher erläutern, Lord Kent?«
Jamie beginnt seine Erklärung mit einem müden Seufzen. »Tja, weißt du, Abbey, manche möchten dich glauben machen, dass unsere vorherige Wohnsituation unhaltbar geworden sei, und zwar infolge einer kurzen und keineswegs ungewöhnlichen Liaison zwischen zwei zusammenwohnenden, einvernehmlichen Erwachsenen.«
Ich verbeiße mir ein Lachen. »Was hast du mit ihr gemacht?«
»Siehst du?« Jack neben mir verbeißt sich gar nichts. Sein tiefes Lachen bringt mein Herz zum Stottern. »Sie hat es kapiert.«
»Wieso gehen alle davon aus, dass ich der Schuldige dabei bin?«, will Jamie wissen.
Lee schenkt ihm ein Grinsen. »Babe, bei eurem letzten Krach hat das Mädchen mein Glätteisen und zwei von den guten Tellern kaputtgemacht.«
»Dein Glätteisen?«, wiederhole ich.
»Für meine Perücken«, erklärt er, als sollte das offensichtlich sein. »Auf jeden Fall gebe ich nicht allein ihr die Schuld.«
»Du hast sie ganz schön verarscht, Kumpel«, stimmt Jack zu.
»Das hätte auf allen Seiten besser gehandhabt werden können«, räumt Jamie ein. »Belassen wir es dabei.«
Lee jedoch ist eher bereit, das Thema näher zu erläutern. Er ist schnell dabei, mir zu erzählen, dass das Zusammensein der beiden kompliziert wurde, als sie sich plötzlich mit Jamies Neigung zu Polyamorie konfrontiert sah.
»Er ist ein betrügerischer Bastard«, fasst Jack das Ganze zusammen. »Hat Mädchen hereingeschmuggelt und nur zwei Türen von ihrem Zimmer entfernt geknallt.«
»Du glaubst also, wenn ich mit jemandem geschlafen habe, sollte ich mich für den Rest meines Lebens an ihn binden? Ist es das, worum es geht?« Genervt geht Jamie jetzt vollends in den Verteidigungsmodus. »Mir war nicht bewusst, dass ich sie geheiratet hatte.«
»Ich ahne, dass es hässlich geworden ist.« Ich sage es zu Lee, dessen Miene andeutet, dass das eine krasse Untertreibung ist.
»Toxisch«, erklärt er. »Der da hat sich leicht übel benommen. Nicht einmal eine Entschuldigung, um den Frieden zu wahren. Nachdem sie also aufgehört hatten zu reden, hat sie begonnen mit Dingen zu werfen. Ich konnte sie gar nicht schnell genug aus dem Haus bringen.«
»Um das klarzumachen«, wirft Jack ein, »ich hätte dafür gestimmt, dass Fiona bleibt.«
Jamie zeigt ihm den Mittelfinger. »Cheers, Mann.«
»Sie war kein unangenehmes Mädchen«, sagt Lee zu ihrer Verteidigung. »Jamie hat einfach so eine Wirkung auf Menschen.«
»Richtig.« Jamie steht auf, offenbar fertig mit dem harten Urteil über seinen Charakter. »Wenn meine Anwesenheit für das hier nicht länger erforderlich ist, gehe ich jetzt.«
»Schätzchen«, ruft Lee ihm nach, »sei nicht sauer auf uns.«
Dann sitzen nur noch Jack und ich auf dem Sofa, immer noch zusammengequetscht, was nun, da Jamie weg ist, noch viel auffälliger aussieht. Lee hat seine volle Aufmerksamkeit nun auf mich gerichtet, als hätte er gehört, wie mein Puls rast.
Oder vielleicht ist das ja auch nur mein schuldbewusstes lüsternes Gewissen, das da spricht. Was verrückt ist, denn es ist ja nicht so, als hätte ich irgendetwas getan – noch würde ich. Tatsächlich handle ich hier völlig überstürzt, wenn ich annehme, dass Jack irgendein Interesse an einer leicht ungeschickten jüngeren Frau hätte.
»Gut«, meint Lee, wohingegen ich schon so lange in meiner eigenen Gedankenspirale feststecke, dass ich gar nicht weiß, ob es einer der beiden bemerkt hat. »Freut mich, dass das geklärt ist.«
Daraufhin steht Jack auf und tätschelt mir den Kopf, als wäre ich ein Labrador. »Gerade noch mal der Kugel ausgewichen, hm?«
Ich lächle dümmlich und nicke. Aber was bedeutet das?
War Jamie die Kugel? Oder ich?
Redet Jack von sich selbst?
Jetzt bin ich noch verunsicherter als zu Beginn des Gesprächs. Aber Lee hat recht. Die geheimen Umstände dieser Wohnsituation sind schon nervenaufreibend genug, auch ohne zusätzliches Chaos durch Gefühle. Besser, wenn ich sämtliche derartige Ideen gleich aus meinem Kopf verscheuche. Sie wegpacke und zu meinen Kindheitsschwärmereien auf den Dachboden verbanne.
Das hier wäre nie ein Problem gewesen, wenn Jack einfach ein Mädchen gewesen wäre, so wie es hätte sein sollen.
Im Krieg mit meiner inneren Uhr ist der Zeitunterschied immer noch Sieger. Das kombiniert mit Beklommenheit wegen meines ersten Tags an der Pembridge, und schon bin ich auf und angezogen, noch bevor die anderen im Haus auch nur ihre Schlummertasten gedrückt haben. Ich nutze den Vorsprung und spaziere durch die Wohngegend, einfach die Straße runter und um die Ecke zu einem Café, wo ich mir einen Muffin und einen Kaffee kaufe. Dort wird mir klar, dass ich immer noch nicht ganz mit dem Unterschied zwischen Pence und Pfund klarkomme, doch zum Glück wird fast überall mobiles Bezahlen akzeptiert.
Ich nehme mein Frühstück mit. Zum Campus in Paddington sind es zwei Meilen Fußweg. Es gibt mehr als genug U-Bahn-Stationen dorthin, aber ich will ein Gefühl für den Ort bekommen. Mich orientieren und so. Ich mische mich unter die Fußgängerbrigaden, die auf den von Bäumen gesäumten Gehwegen unterwegs sind, vorbei an Reihenhäusern und Hotels, jahrhundertealten Apartments und modernen Bürogebäuden aus Glas. Ich spaziere am nördlichen Ende der von gusseisernen Zäunen umgebenen Kensington Gardens entlang, inmitten von Touristen, Joggern und Müttern mit Kinderwagen.
Der Himmel ist klar und die Temperatur mild, als ich den Campus erreiche. Dabei handelt es sich nicht um ein traditionell isoliertes Gelände wie bei einem typisch amerikanischen Campus, sondern eher um eine Reihe von Gebäuden, die in die städtische Umgebung integriert wurden, ein Durcheinander aus barocker Architektur und glänzendem Stahl. Die meisten meiner Kurse finden im neueren Colburn College statt, das allgemeinbildende Pflichtkurse beherbergt. Meine programmspezifische Arbeit und mein erster Kurs heute Morgen finden jedoch in der älteren Albert Hall statt, einem französisch inspirierten vierstöckigen Gebäude mit kunstvollen Schnitzereien über den schweren, bronzeverzierten Türen. Unter dem Säulengang durchzugehen ist wirklich atemberaubend. Von so etwas haben wir nicht viele in Nashville.
Ich bin früh dran für meinen Kurs in Recherche und Aufbau einer wissenschaftlichen Arbeit. Im Prinzip ist es eine grundlegende Einführung in akademisches Schreiben, das für alle Hauptfächer in Geschichte nötig ist. Ich muss meinen Eifer zähmen, als ich meinen Platz am Ende der vierten Reihe beanspruche. Nahe genug, um an Diskussionen teilzunehmen, aber nicht so nahe, um gleich am ersten Tag als Streberin ausgemacht zu werden. Als der Raum sich füllt, kommt schließlich noch eine junge Frau herein, sieht sich prüfend um und begegnet dann meinem Blick, während sie die Reihe entlanggeht.
»Was dagegen, wenn ich mich setze?«, fragt sie mit unverkennbar britischem Akzent.
Ich ziehe die Beine an und schiebe meine Tasche aus ihrem Weg. »Nur zu.«
»Ich war nicht sicher, ob ich es schaffe«, meint sie und lässt sich auf einen Sitzplatz eins weiter fallen. »Ich habe nicht darauf geachtet, wohin ich gehe, kam in einen Laden und sah mich dann ziemlich verwirrt um.«
Das Gefühl kenne ich. »Ich dachte zuerst, das Gebäude hier wäre ein Hotel.«
Sie stellt sich als Amelia vor, genesende Studentin der Russischen Literatur, die jetzt zum Revolutionären Frankreich wechselt. Sie gesteht, dass eine zunehmende Besessenheit von einem Instagramfoto eines toten Schriftstellers nicht der richtige Weg ist, ein Hauptfach zu wählen. Ich sage ihr, dass ich nicht sicher bin, ob nicht doch.
Der Kurs beginnt, und unsere Professorin ist eine schicke Frau mittleren Alters mit einem Schal um den Hals, die aussieht wie jemand, der in der Vorstellungspause beim Ballett Hof hält. Wie eine pensionierte Primaballerina, die Könige und Wirtschaftsmagnaten hinter sich zurückgelassen hat.
Sie erklärt, dass im Kurs von uns gefordert wird, ein Recherchethema vorzuschlagen und dann den Großteil des Semesters damit zu verbringen, eine Abhandlung über dieses Thema zu verfassen. Wir haben Zeit bis Ende September, um unser Thema festzulegen und eine Strategie zu präsentieren. Einfach genug, aber die enorme Bandbreite an Möglichkeiten hat mich jetzt schon irgendwie vor Unentschlossenheit erstarren lassen.
»Warst du schon in der Talbot Library?«, fragt Amelia, als die Lehrassistenz durch den Gang geht und das Studienprogramm verteilt.
»Nein, noch nicht. Ich habe gehört, sie soll außergewöhnlich sein.«
Die Talbot Library bleibt eine meiner primären Motivationen für Pembridge. Seit ich klein war, liebe ich Bibliotheken. Meine Babysitterinnen, die früher bei mir blieben, wenn Dad auf Tournee war, gingen mit mir zu Lesecamps und Buchmessen in der öffentlichen Bibliothek des Ortes. Später unternahm ich Besichtigungstouren, nur um eine besonders ungewöhnliche oder historische zu sehen, und bettelte meinen Dad bei gemeinsamen Reisen an, Umwege zu machen, um wieder mal eine Bibliothek zu erforschen, von der ich online gelesen hatte. Die hier an der Pembridge – sowohl architektonisch als auch ästhetisch typisch für ihre Ära – ist bedeutend wegen ihrer Sammlungen in Kunst, Geschichte und Primärquellen.
»Im zweiten Stock gibt es eine nette Ecke, in der Nähe des Eingangs zum Flügel mit den speziellen Sammlungen. Da ist tolles Licht«, erzählt Amelia, und ich mache mir eine mentale Notiz.
Am Ende des Kurses tauschen wir Handynummern aus, und danach suche ich mir in dem betonierten Innenhof eine Bank, um mich hinzusetzen und meinen Dad anzurufen. Ich weiß, wenn er nicht regelmäßig Updates bekommt, wird ihn nicht viel davon abhalten, in ein Flugzeug zu steigen und vor meiner Haustür aufzutauchen.
»Hey, Kleines.«
»Hi, Dad.«
»Wie läuft der erste Tag?«
»Gut. Ich habe dir gerade ein Foto vom Gebäude geschickt. Es ist unglaublich aus der Nähe. Erbaut im Jahr 1854 und Prinz Albert gewidmet.«
»Habe ich dir je erzählt, dass ich einen Auftritt in der Royal Albert Hall hatte? Unsere Leute kamen just an dem Tag zum Einladen, als eine andere Crew gerade am Ausladen war, also gab es einen ziemlichen Verkehrsstau an der Laderampe. Ich bin im Bus, weil wir einen kurzen Boxenstopp haben und noch vor dem Mittagessen einen Soundcheck machen müssen, und da sehe ich draußen unseren Roadie Rusty, der aussieht, als wolle er gerade einen Fahrer vermöbeln.«
Mein Leben bemisst sich nicht in Jahren, sondern in Anekdoten meines Vaters. Er hat für jede Gelegenheit eine Geschichte. Und sobald er loslegt, lässt sich der Zug der Erinnerung nicht mehr aufhalten.