Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
So hat Vicky ihre beste Freundin noch nie gesehen: Als Blanche einen Drohbrief erhält, zieht es ihr den Boden unter den Füßen weg. Der Absender ist niemand geringeres als Robin Dorville, Regent einer der mächtigsten Glamourgesellschaften des Landes. Ein machthungriger Typ, so arrogant wie gutaussehend. Wie soll sie bloß an ihn rankommen? Seine Gesellschaft, die sogenannte Saya Nord, befindet sich derzeit im Ausnahmezustand, denn Robin sucht seine künftige Regentin - Erstharmonie genannt. Sie wird als Frau an seiner Seite zukünftig die Glamourgesellschaft anführen und damit zu einer der mächtigsten Frauen im Land avancieren. Verzweifelt wie Vicky ist, bewirbt sie sich unter einem Decknamen als Robins Erstharmonie. Sie wird tatsächlich angenommen und befindet sich bald in einer düsteren wie glanzvollen Welt voller rauschender Feste, Eifersucht und Intrigen zwischen den Kandidatinnen und aufregender Dates mit Robin. Bis sie von einem mysteriösen Mordfall in der Vergangenheit erfährt. Und ihre ganze Welt auf den Kopf gestellt wird. Liebe, Hass und Intrigen: Wer sich der Glamourgesellschaft hingibt, wird sich ihr nicht mehr entziehen können!
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 482
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Dreizehn Stunden hat die Nacht
Vicky verabscheut die Glamourgesellschaften – ihre Oberflächlichkeit, ihre Macht, ihre Intrigen. Sie kann nicht vergessen, was sie ihr genommen haben. Doch plötzlich findet sie sich mittendrin und kann nur hoffen, dass niemand ihre wahre Identität aufdeckt.
Clea kennt nichts anderes, sie lebt für die Glamourgesellschaften. Vor allem aber lebt sie für Robin Dorville, den Regenten der Saya Nord.
Robin sucht seine Erstharmonie, die zukünftige Regentin. Er ist arrogant, er ist attraktiv, er ist mächtig. Niemand weiß, wem sein Herz wirklich gehört.
Wer wird sein Glück finden, ohne dabei unterzugehen?
I. Wir sind die Elite der High Society. Das Leben zu genießen, ist unser Grundgesetz und die höchste unserer Pflichten.
II. Niemand stellt den Regenten infrage. Seine Entscheidungen sind unsere Entscheidungen.
III. Interne Konflikte werden vom Regenten, unter Beratung durch den Vorstand und die Harmonien, entschieden.
IV. Es dürfen maximal fünfundzwanzig Harmonien angenommen werden. Jeder von ihnen steht die Kandidatur bei der Harmonienwahl frei. Nach der Bindung des Regenten an eine Kandidatin seiner Wahl wird diese als Erstharmonie zur herrschenden Autorität an seiner Seite.
V. Dauerhafte Beziehungen zwischen internen Mitgliedern dürfen nur in Abstimmung mit dem Regenten geführt werden.
VI. Nach der Zeitrechnung innerhalb der Gesellschaft wird jede Nacht um die Dreizehnte Stunde (ab 00:00 Uhr) verlängert, die am Mittag wieder entfällt. Bis zu ihrem Ende feiert die ganze Gesellschaft gemeinsam. Der Mittwochabend steht jedem Mitglied zur freien Verfügung.
VII. Von 06:30 Uhr bis 11:30 Uhr herrscht Morgenruhe. Ruhestörungen sind untersagt.
VIII. Jeden Donnerstag findet um 16 Uhr eine Vollversammlung aller internen Mitglieder statt.
IX. Interviewanfragen der Presse dürfen nur mit Genehmigung des Regenten angenommen werden.
X. Das Verlassen unseres Geländes ist nur nach Antragstellung unter Angabe von Ziel, Grund und Aufenthaltsdauer gestattet. Regelmäßige Verpflichtungen außerhalb der Gesellschaft bedürfen vorheriger Klärung.
Dreizehn Stunden hat die Nacht. In goldenen Lettern auf schwarzem Grund lief der Schriftzug über das gewaltige Banner über dem Eingang. Mein Blick glitt immer wieder dorthin, irrte dann über die Umstehenden, flackerte zu Boden, auf meine Hände, wieder zurück. Ich war nervöser, als mir lieb war, aber aus ganz anderem Grund als die lachende und plappernde Horde in der Schlange vor und hinter mir.
Das Absperrband zu beiden Seiten bot nur dürftigen Schutz vor der Pressemeute. Glücklicherweise lauerten die Fotografen nicht auf Gäste wie mich. Gerade bombardierten sie am VIP-Eingang nebenan eine junge Frau mit ihren Fragen, bestimmt irgendeine reiche Erbin oder eine Politikertochter.
Mit einer fahrigen Bewegung warf ich meine Haare zurück, die mir bereits unangenehm im Nacken klebten, und schloss die Lücke, als der Türsteher ein Pärchen durchließ und die Wartenden vor mir aufrückten.
Ein Plakat am geschlossenen linken Türflügel versprach uns, dass uns die Party des Jahres bevorstand. Ich drehte mein Ticket, eine stabile schwarze Karte mit silbrigen Glitzerpigmenten, zwischen den Fingern und fragte mich zum gefühlt tausendsten Mal, was ich hier eigentlich machte.
Als ich das letzte Mal mein Handy gecheckt hatte, war eine Sprachnachricht von Blanche eingegangen.
Ich habe überreagiert, hatte sie gesagt, es ist nichts, du musst dir wirklich keine Gedanken mehr darüber machen. Die Sache hat sich schon erledigt.
Nichts davon hatte ich ihr abgenommen. Dafür war sie viel zu aufgelöst gewesen, viel zu verzweifelt. Außerdem hatte ich den Brief gelesen.
Die Wut schäumte wieder heiß in mir hoch, als ich daran dachte.
Du weißt, ich kann dir wegnehmen, was dir am wichtigsten ist. Das ist deine letzte Chance. Tut mir leid, dass es so weit kommen musste, aber ich werde nicht warten, bis die Schlinge sich zuzieht. Ich habe nichts mehr zu verlieren. Komm in die Saya Nord und werde meine Harmonie, oder du wirst es bitterer bereuen, als du dir vorstellen kannst.
Niemand hatte das Recht, meine beste Freundin so zu bedrohen. Niemand.
Was war bloß passiert? Warum hatte sie mir nicht einfach gesagt, was dieser Verrückte gegen sie …?
Fast hätte ich das Eintrittsticket in der Mitte durchgebrochen.
Konzentrier dich, rief ich mich selbst zur Ordnung. Oder du wirst nie Antworten finden!
»Die Karte bitte!«
Ich hatte gar nicht wahrgenommen, dass ich inzwischen an der Reihe war. Ungeduldig streckte der Türsteher mir die Hand entgegen. Ich reichte ihm mein Ticket und hielt den Atem an, als er es durch das Lesegerät zog. Doch das Lämpchen leuchtete grün, und er winkte mich durch.
Wie in Trance ließ ich meine Handtasche kontrollieren und ging dann an der Garderobe vorbei auf die laute Musik und die Lichter zu, die bis in den Eingangsbereich hineinblitzten.
Natürlich gehörte der Laden den Dorvilles. Zwar war der Club in der Hand eines Lokalbetreibers, der mit Sicherheit externes Mitglied war, aber das Gebäude war Eigentum der Familie. Immobilien, Events und Geheimnisse – das war ihr Geschäft. Heute war mindestens einer von ihnen hier, und auf ihn hatte ich es abgesehen.
Es war eine ziemlich exklusive Location, trotzdem war es stickig und voll. Partys wie diese, zu denen auch Nichtmitglieder, die genügend Kohle hatten, zugelassen wurden, waren selten. Mein Ticket war sündhaft teuer gewesen. Ich kannte Leute, die alles dafür gegeben hätten, jetzt an meiner Stelle zu sein. Wer reich ist, hat viele Freunde. Das bestätigte sich mal wieder, wenn man sich hier umsah. Ja, Robin Dorville hatte viele Anhänger. Ob auch nur ein einziger von ihnen ihm hinterherweinen würde, falls ihm jemand den Hals umdrehte? Im Moment hatte ich genau dazu nämlich nicht übel Lust.
Blanche vertraute mir alles an, immer, ausnahmslos. Bis jetzt. Wäre der Brief mir nicht in die Hände gefallen, hätte sie ihn mir vermutlich nie gezeigt – das zu wissen, genügte mir. Wenn etwas derart schlimm für sie war, dass sie damit nicht mal zu mir kommen konnte, war die Lage verdammt ernst. Ich wusste nicht, was hinter alldem steckte, aber ich wusste, wer. Und wenn sie mir nicht die Wahrheit sagen konnte – bitte. Dann würde ich die Sache eben selbst in die Hand nehmen. Etwas Besseres gab mein Leben im Moment sowieso nicht her.
Ich war auf eine breite Tribüne getreten, die terrassenartig abwärtsführte und in die Tanzfläche mündete. Kleine Grüppchen saßen auf den verschiedenen Ebenen zusammen und genossen ihre Drinks. Was für eine originelle Idee, einen Club so aufzubauen, dass man gleich beim Reinkommen einen Bereich hatte, von dem aus man die Tänzer beobachten konnte! Ich hielt noch einmal inne, um mir von hier oben einen groben Überblick zu verschaffen.
Schwarze Wände, schwarzer Boden; ohne die Lichttechnik hätte absolute Finsternis geherrscht. Die Decke jedoch war eine einzige goldene Spiegelfläche, die alles, was im Raum vorging, verdoppelte und die huschenden Kreise der Beleuchtungsstrahler auf den Fliesen unter ihr spielen ließ. Es waren so viele Menschen hier. Nicht bei jedem war leicht zu erraten, wer Mitglied war und wer nur Gast. Doch tendenziell handelte es sich bei den besten Tänzern in den teuersten Klamotten wohl um Insider, bei den großäugigen Kichererbsen hingegen, die teils etwas unbeholfen in der Masse umhertrieben, um überwältigte Fans.
Am gegenüberliegenden Ende des Raums befand sich ein großer Balkon mit Sesseln und Tischen und darunter, ganz im Schatten, das Halbrund einer langen Bartheke. Gerade öffnete ein gläserner Aufzug seine Türen, um einige Gäste von dort nach oben zu befördern. Ich beobachtete ihre Fahrt. Auf dem Balkon angekommen, gesellten sie sich zu den Leuten bei einem mehrstöckigen Brunnen an dessen Rand. Wenn mich nicht alles täuschte, floss darin Champagner.
Ich setzte mich wieder in Bewegung, stieg die Stufen hinunter und mischte mich unters Volk.
Die Bässe wummerten in meinem Bauch, als ich mir meinen Weg zwischen den schwitzenden Leibern hindurchbahnte, die um mich herum wogten. Bisher hatte ich mein Opfer nicht entdeckt, aber die Nacht war noch jung. Eine Dorville-Party endete niemals vor dem Morgengrauen – wenn diese Idioten irgendwelche Regeln hatten, waren es solche.
Ich wich einer Rothaarigen mit protzigem Diamantschmuck aus, die mir bei einer wenig graziösen Drehung beinahe den Ellbogen ins Gesicht gerammt hätte, und stolperte dafür gegen jemand anderen.
»Na, meine Schöne?«
Aufdringliche Hände umfassten meine Taille. Mein erster Reflex war, den Typen irgendwohin zu treten, wo es sehr wehtun würde, aber ich hielt mich gerade noch zurück. Es war bekannt, dass interne Mitglieder sich niemals zu mehr als einem kleinen Flirt mit Außenstehenden hinreißen lassen durften. Außerdem würde keine der anderen Frauen hier so reagieren, und ich war nicht besonders scharf darauf, sofort aufzufliegen. Oder genauer gesagt: überhaupt aufzufliegen. Ganz davon abgesehen ließ mein eng sitzendes Cocktailkleid mir viel zu wenig Bewegungsfreiheit.
»Vin«, stellte der Typ sich vor. Sein versnobter Tonfall passte nur allzu gut zu meiner Vorstellung von Dorvilles Gefolge. Außerdem hatte er viel zu viel Gel in den Haaren. »Ich hab dich noch nie bei uns gesehen. Eine von Robins Verehrerinnen, was?«
Ich musste mich echt zusammenreißen, um ihm nicht ins Gesicht zu spucken. »Nein«, sagte ich kurz angebunden.
Er nickte wissend und fuhr sich mit einer Geste durchs verklebte blonde Haar, die wahrscheinlich anziehend wirken sollte. »Also noch nicht.« Endlich nahm er seine widerlichen Griffel von mir weg. »Zu schade.«
»Ich dachte, wir feiern hier gerade quasi seinen Junggesellenabschied – warum sollte ich also herkommen, um Robin anzuhimmeln? Habe doch eh keine Chance mehr bei ihm.«
Jetzt sah Vin mich an, als käme ich vom Mond. In gewisser Weise war das sogar richtig. Zu Hause war mir noch nie so weit entfernt vorgekommen wie an diesem Ort, und das, obwohl ich von Lübeck aus nur gute zwei Stunden gebraucht hatte. Wobei, was hieß das für mich schon noch – zu Hause?
»Richtig«, sagte er. »Aber dir ist schon klar, dass die offizielle Wahl seiner Erstharmonie noch nicht einmal begonnen hat?!«
Klar, ich hatte fast vergessen, wie das hier lief. In der Klatschpresse kam man kaum daran vorbei – die berühmt-berüchtigten Glamourgesellschaften sorgten ununterbrochen für Schlagzeilen, ganz besonders über Dorvilles Vater, der wiederum Sohn des Gründers war. Doch bisher hatte mich das alles nicht interessiert. Gegen den schillernden Reiz, den die Dorvilles und ihr kranker Lebensstil auf viele Menschen ausübten, war ich aus gutem Grund absolut gefeit, eins der wenigen Dinge, die ich mit meinem Vater gemeinsam hatte.
Aber für meine Pläne hatte ich recherchieren müssen, und jetzt schoss mir in den Kopf, was ich gelesen hatte: Als Regent stand Dorville neben einem Vorstand ein Kreis von Frauen zur Seite, die sich Harmonien nannten. Von ihnen konnte jede die Kandidatur zu seiner »Erstharmonie« antreten. Nach einem Wettbewerb auf dem traurigen Niveau einer TV-Datingshow würde Dorville schließlich eine der Harmonien auswählen und mit ihr etwas eingehen, was man vage mit einer Ehe vergleichen konnte.
Wenn ich diesen Vin richtig verstanden hatte, stellten sich gerade erst die Bewerberinnen auf. Dorville feierte schon, obwohl die Unglückliche noch gar nicht feststand.
»Wer bist du überhaupt?«
Die Tanzenden störten sich nicht daran, dass wir ihnen im Weg standen, sondern schwankten einfach um uns herum. Trotzdem fasste ich nach Vins Arm und zog ihn mit mir an den Rand des Geschehens, vorbei an einer der mit sprudelndem Wasser gefüllten Säulen, die die Fläche vom Rest des Clubs abgrenzten. Goldene Bälle trieben darin auf und ab und ließen mich an das Märchen vom Froschkönig denken.
»Louelle Graf«, antwortete ich etwas verspätet, genau wie ich es vor dem Spiegel geübt hatte. Bevor Vin mir mitteilen konnte, dass er diesen Namen noch nie gehört hatte, fragte ich: »Weißt du denn, wo Dorville gerade steckt? Es gibt da nämlich etwas anderes, das ich gern mit ihm besprechen würde.« Wenn er mich schon angequatscht hatte, konnte er sich ja ruhig auch nützlich machen und mir die Suche ersparen.
Vin lächelte. »Du hast Glück: Ich bin sein bester Freund. Wenn ich dich ihm vorstelle, sammelst du quasi schon Bonuspunkte!«
Na klasse. Ich konnte es gar nicht erwarten, das hier endlich hinter mir zu haben. Dabei stand mir noch weitaus Schlimmeres bevor, sollte ich mit dem ersten Schritt meines Plans Erfolg haben.
Ein nerviger Rest Unsicherheit in mir versuchte, einen anderen Ausweg zu finden. Vielleicht sollte ich Dorville einfach geradeheraus zur Rede stellen? Aber das verwarf ich sofort wieder. Er hatte Blanche unmissverständlich gedroht. So jemand würde nicht davor zurückschrecken, auch mir zu schaden, wenn er zu ahnen begann, warum ich hier war. Also würde ich subtiler vorgehen müssen – das Druckmittel finden, das er gegen Blanche in der Hand hatte, und es unschädlich machen. Worum auch immer es dabei gehen mochte.
Und wenn mir das nicht gelang, konnte ich vielleicht stattdessen etwas finden, mit dem ich wiederum ihn erpressen konnte. Jemand wie er hatte zweifellos viel zu verbergen. Es bräuchte nur eine einzige Sache, die er lieber nicht mit der ganzen Welt teilen wollte. Damit würde ich Blanche schützen können.
»Was genau willst du denn von ihm?«
Er hatte ja keine Ahnung! »Der Gesellschaft beitreten natürlich.«
Vin zog die Brauen hoch.
»Liegt doch auf der Hand!«, sagte ich, schon leicht heiser, weil es so anstrengend war, die ganze Zeit die Musik zu übertönen. »Wer würde das nicht wollen?«
Er betrachtete mich skeptisch. »Die Chancen stehen schlecht. Was glaubst du, wie viele Anfragen wir bekommen, gerade auf einer Party wie heute?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Das soll mir euer Regent persönlich sagen.« Es hatte seine Vorteile, jemanden zu haben, der mich Dorville vorstellte. So würde er weniger schnell Verdacht schöpfen, als wenn aus dem Nichts plötzlich eine Fremde auftauchte. Außerdem war es fraglich, ob ich ohne Hilfe überhaupt auch nur in seine Nähe kommen würde.
Vin führte mich geradewegs auf die Bar zu.
Bleibst du echt dabei?, meldete sich meine innere Stimme. Verschwinde, solange du noch kannst! Weih jemanden ein, der helfen kann. Blanche wird es dir irgendwann danken.
Doch ich hatte all meine Bedenken schon längst in die Waagschale gelegt und war immer wieder zu demselben Entschluss gekommen: Ich würde das durchziehen und herausbekommen, was dieser lachhafte Party-Macho für ein Problem mit meiner besten Freundin hatte.
Auf der Theke aus schwarzem Marmor standen mehrere Champagnerflöten bereit, und ein paar Meter weiter verteilte gerade ein Kellner im Sakko mit Minzblättern garniertes Limettensorbet in kleinen Schälchen. Eine Erfrischung hätte ich jetzt gut gebrauchen können. Doch als Vin neben mir anhielt, war das sofort vergessen. Jeden Moment würde ich Bekanntschaft mit Dorville machen.
Die Musik war hier immer noch laut, aber wir hatten uns weit genug von den Boxen entfernt, um zumindest nicht mehr schreien zu müssen.
»Robin!«, brüllte Vin trotzdem, als wären alle Menschen in Reichweite schwerhörig. »Ich hab ein neues Mädchen für dich!«
Dann stand er mir zum ersten Mal leibhaftig gegenüber. Sein Anblick befeuerte meine Wut, ordnete ihr ein Ziel in der Wirklichkeit zu. Nur irgendwo in einer objektiveren Zone meines Gehirns musste ich zugeben, dass er tatsächlich so attraktiv war, wie immer behauptet wurde. Selbst in offensichtlich angeheitertem Zustand und mit dem völlig zerwühlten braunen Haar sah er ziemlich gut aus. In seinen dunklen Augen lag die Arroganz, die ich erwartet hatte. Er war ein wandelndes Klischee.
»Was will sie?«, blaffte er Vin an, ohne mir auch nur einen längeren Blick zu widmen.
»Beitreten. Was auch sonst?«
Dorville winkte ab. »Bring sie raus.«
Ich hätte es wissen müssen. Sicher nutzten wirklich Dutzende von reichen Deppen Gelegenheiten wie diese, um einen Fuß in die Tür zu bekommen. Jetzt war Improvisation gefragt. Wenn er mich wieder vor die Tür setzte, wäre ich vollkommen umsonst hergekommen.
»Ich kandidiere als Erstharmonie!«, verkündete ich so laut, dass sich die Umstehenden nach mir umdrehten.
Auch Dorvilles Aufmerksamkeit war mir jetzt sicher.
»Interessant«, sagte er gedehnt und sah mich nun direkt an. Der gelangweilte Ausdruck wich einer lauernden Neugier. »Das heißt, du willst bei uns aufgenommen werden, Harmonie werden und dich am Wettbewerb beteiligen? Einfach so, von jetzt auf gleich?«
Ich hielt seinem Blick stand. »So ist es.«
Er lachte und haute Vin dabei auf die Schulter. Der sah etwas irritiert aus. Kein Wunder, vor fünf Minuten hatte ich noch das Gegenteil behauptet. »Schaff sie weg, ich befass mich später mit ihr.«
Wie bitte? Ich war doch kein Geschäftsschreiben, das man irgendwo auf einen Stapel legen konnte!
»Da bist du ja!«, kreischte plötzlich eine schrille Stimme. Sie gehörte zu einer dunkelhaarigen Tussi auf High Heels, mit tonnenweise Make-up im Gesicht, die schon so besoffen war, dass sie das Gleichgewicht verlor und Vin in die Arme fiel.
Das musste eine von Dorvilles verrückten Glamourellas sein. Auf den stürzte sie sich jedenfalls jetzt, um ihm einen dicken Kuss auf die Wange zu schmatzen.
»Veronique!«, zischte Dorville, kaum dass sich die aufgetakelte Schönheit von ihm gelöst hatte. »Hör auf zu trinken! Nur weil das Repräsentantenlimit heute nicht gilt, musst du’s nicht gleich übertreiben.«
Mir schenkte er keine weitere Beachtung – echt unglaublich, wenn man bedachte, dass ich mich gerade als seine Zukünftige angeboten hatte.
Veronique richtete den verrutschten Träger ihres mit Perlen verzierten Kleides und versuchte stammelnd, Dorville wieder versöhnlicher zu stimmen, während Vin nach meinem Arm fasste und mich von den beiden wegführte. »Ich lass dich zu unserem Hotel fahren«, sagte er, »Miss Ich-bin-nicht-wegen-Robin-hier.«
Gerade wollte ich protestieren, da legte jemand Vin von hinten die Hände auf die Augen. Er wirbelte herum, bereit, die betreffende Person anzuschnauzen, doch als er das Mädchen mit den brünetten Locken sah, wich der Ärger einem breiten Lächeln. »Gwynnia!«
Mein Körper versteifte sich. Noch eine aus dieser armseligen Familie! Ich meinte mich zu erinnern, dass Dorvilles Schwester ein Jahr jünger war als er, aber ganz sicher war ich mir nicht. Auf jeden Fall hatte sie ein sehr hübsches Gesicht mit großen blauen Augen. Vermutlich wurde man aus der Familie verstoßen, wenn man nicht gut genug aussah.
»Kennen wir uns?«, fragte sie mich mit einem leichten Stirnrunzeln und klemmte sich ihre mit beerenfarbenem Samt überzogene Clutch unter den Arm, für die sie mehrere Hunderter geblecht haben musste – das Logo sprach für sich.
»Eine Neue für Robin«, stellte Vin mich vor.
Einen Moment lang war ich versucht, das abzustreiten und einfach zu verschwinden. Aber wie sollte es dann weitergehen?
»Ich habe auch einen Namen.«
Die beiden grinsten sich an, als hätte ich gerade einen guten Witz gerissen, ohne es zu merken.
»Und der wäre?«, fragte Gwynnia.
»Louelle«, antwortete ich zum zweiten Mal in meinem Leben.
Gwynnia stellte sich als Dorvilles Schwester vor und wandte sich dann wieder an Vin. »Meinst du, er nimmt sie an?«
Schon wieder wurde ich mit diesem unverschämt prüfenden Blick gemustert.
»Die dreißig vor ihr hat er jedenfalls sofort abblitzen lassen. Sie ist spät dran, aber sie hat Chancen, so dreist, wie sie ist.«
»Freut mich zu hören!«, mischte ich mich ein. »Was ist jetzt? Ehrlich gesagt würde ich gern noch bleiben! Ich will mir doch nicht meine erste Party hier entgehen lassen!«
Vielleicht könnte ich von einem der anwesenden Mitglieder etwas Nützliches in Erfahrung bringen. Etwas, das mich vor der vermutlich größten Dummheit meines Lebens bewahren würde.
Vin lachte. »Glaub mir, du wirst noch früh genug auf deine Kosten kommen. Aber nicht heute, sorry. Befehl vom Boss.« Er zwinkerte mir zu.
»Wenn du beitrittst, bekommst du ohnehin deine eigene Begrüßungsparty«, sagte Gwynnia tröstend.
»Echt? Kann’s kaum erwarten!« Es fiel mir schwer, nicht sarkastisch zu klingen.
Vin zog mich weiter Richtung Ausgang. Gwynnia winkte mir zum Abschied. »Be a Glamour Girl!«
»Wie bitte?«, fragte ich.
Vin lachte wieder. »Das sagt man hier halt so.«
Alles klar. Ohne Spaß, die konnten sich ihren Glamour sonst wohin stecken.
Draußen standen mehrere glänzende Luxuskarossen mit getönten Scheiben in einer Reihe. Gelangweilte Fahrer in schwarzen Anzügen hingen hinter dem Steuer, blätterten in Zeitungen oder rauchten aus heruntergelassenen Fenstern hinaus. Sie ließen sich nicht von den Paparazzi aus der Ruhe bringen, die auch auf dieser Seite des Gebäudes die Stellung hielten und eine kleine Schar von Rauchern umschwärmten.
»Herr Reichbodt!«, hörte ich heraus. »Können Sie uns sagen, ob ihr Vater …?«
»Armer Frederic«, meinte Vin. »Ist schon länger Mitglied bei uns, aber sie interessieren sich erst so richtig für ihn, seit sein Vater die Exfrau dieses italienischen Starfußballers geheiratet hat.«
Reichbodt, Reichbodt … War das nicht dieser Bankenchef?
Was war ich froh, dass hier keiner wusste, wer mein Vater war. Viel zu erzählen gab es so oder so nicht über ihn.
Vin winkte einem Fahrer zu, der nicht älter aussah als er selbst. Als die Limo herangefahren war, öffnete Vin mir die hintere Wagentür.
»Bring sie zum Hotel!«, wies er den Chauffeur an. »Und auch wenn noch nichts unterschrieben ist – halt besser Abstand zu ihr.«
Der Junge machte große Augen. »Eine Neue? Jetzt noch?«
»Kennen Sie Robin Dorville persönlich?«, rief eine Journalistin in Karobluse mir zu und näherte sich im Eiltempo. »Sind Sie Mitglied? Was denken Sie über die Harmonienwahl? Warum verlassen Sie die Party so früh?«
Auf ihr Rufen hin drehten sich weitere Köpfe neugierig in unsere Richtung. Die Frau nahm mich bereits mit ihrer Kamera ins Visier. Auch das noch, bloß kein Bild von mir! Schnell schlüpfte ich ins Auto, während Vin abwehrend die Hände hob.
Er lächelte mir noch einmal zu, bevor er zurücktrat. »Du wirst das Gesprächsthema des Abends sein, Süße!« Dann schlug er die Tür zu.
Wir fuhren los und ließen die Klatschreporter hinter uns. Ich wartete darauf, dass mein Fahrer sich vorstellen oder zumindest irgendetwas sagen würde, aber das hatte er wohl nicht vor. Unhöflichkeit war für Mitglieder der Gesellschaft wahrscheinlich Pflicht. Na gut, schweigen konnte ich auch.
Der Club lag im Ortskern der kleinen Küstenstadt. Der Wagen schlängelte sich einige Minuten lang durch kleine Gässchen und fuhr dann am Meer entlang aus dem Ort heraus. Ich starrte die ganze Zeit über aus dem Fenster.
Noch könnte ich darum bitten, rausgelassen zu werden, und mich einfach wieder vom Acker machen. Die Vorstellung, wirklich Dorvilles Gesellschaft beizutreten, gefiel mir gar nicht, geschweige denn die, wirklich als seine Erstharmonie zu kandidieren. Aber nur so würde ich an ihn herankommen. Ich hatte ausgiebig an meiner Tarnung gearbeitet, auch wenn ich dafür weniger als vierundzwanzig Stunden Zeit gehabt hatte. Es würde funktionieren. Das musste es.
Wir hielten auf dem abgesenkten Bordstein vor einem Hotel namens Uniqueness. Den Namen hatte ich noch nie gehört. Mit der blassgelb getünchten Fassade, den weinroten Dachschindeln und den kunstvoll verschnörkelten Standlaternen zu beiden Seiten des imposanten Eingangs wirkte es wie frisch aus dem Katalog in die Gegend gepflanzt und schon von außen um einiges teurer und nobler als die Hotels der Van-Wächt-Kette, die mein Vater führte – was schon etwas heißen wollte. Eine würdige Unterkunft für jemanden wie Dorville und seine Gesellschaftsmitglieder.
»Ich bring dich rein.«
Das war immerhin schon mal ein ganzer Satz. Mein Chauffeur stieg aus und hielt mir die Tür auf. »Bist du ohne Gepäck gekommen?«
»Ja. Ich konnte ja nicht damit rechnen, dass ich wirklich eine Chance kriege. Vielleicht lass ich mir was nachschicken.«
»Wird nicht nötig sein.«
Darum würde ich mich später kümmern. Mit Koffer auf der Party aufzulaufen, war mir blöd vorgekommen, aber jetzt wünschte ich, ich hätte pragmatischer gedacht. Schließlich konnte ich nicht auf ewig in Partydress und High Heels herumlaufen. Wobei – vielleicht war das in den Glamourgesellschaften so üblich?!
Ich sah mich in der Lobby um, während der Typ an die Rezeption ging. Ornamentverzierte Säulen stützten die Decke, die sich hoch über dem blitzsauberen Boden wölbte. Um einen sternförmigen Brunnen waren teure weiße Sitzmöbel gruppiert. Wären die grausam kitschigen Kronleuchter nicht gewesen, hätte man es fast hübsch nennen können.
Mein Fahrer kam mit einer Schlüsselkarte zurück. Er drückte sie mir in die Hand. »Du hast die 112. Wenn ich dir einen Rat geben darf – genieß die letzte ruhige Nacht. Und das Einzelzimmer.« Damit ließ er mich einfach stehen.
112? Wie der Notruf? Na, wenn das nicht Ironie war!
Hier war ich also, in einem Hotel in einer fremden Stadt, mutterseelenallein.
Ich nahm den Aufzug gegenüber dem Empfang und fuhr ins erste Stockwerk, wo ich mich auf die Suche nach meinem Zimmer machte. Der Flur war unglaublich lang, und weit über mir strahlten weitere Kronleuchter. Der Teppich sah so aus, als ob man lieber keinen Wein darauf verschütten sollte, wenn man nicht für den Rest seines Lebens die Summe für den Schaden abstottern wollte. Es war gespenstisch still.
Vor der 112 angekommen, zog ich meine Karte durch den Schlitz. Das Schloss klickte, und ich betrat den Raum.
Nicht schlecht!, hörte ich meinen Vater beim Anblick des Zimmers anerkennend sagen. Die Einrichtung hätte glatt von ihm zusammengestellt sein können. Schlicht, aber sichtbar edel – stilvoll eben. Ich würde den kurzen Aufenthalt hier auf jeden Fall auskosten.
Einen Millionär zum Vater zu haben, hatte sich für mich noch nie besonders ausgezahlt – im wahrsten Sinne des Wortes. Es würde ihn fuchsteufelswild machen, wenn er wüsste, was ich gerade trieb, und das nicht nur, weil er einer der wenigen Magnaten des Landes war, die sich noch nicht in den unmittelbaren Dunstkreis der Gesellschaften hatten hineinziehen lassen. Ich wünschte, der Gedanke würde mir nicht so gefallen, vielleicht sogar mehr, als der an mein Vorhaben mich abstieß.
Als ich meine kleine Besichtigung beendet hatte, zog ich die Vorhänge vor den großen Fenstern weg, die auf einen Balkon mit Meerblick hinausführten. Dann setzte ich mich auf die Kante des King-Size-Bettes und schleuderte die Schuhe von meinen Füßen. Draußen war tiefe Nacht, aber ein heller Mond stand am Himmel und ließ die sanften Wellen hinter der Steilküste silbern schimmern.
Ich holte mein Handy hervor. Als das Display aufleuchtete, zuckte ich zusammen. Das vertraute Hintergrundbild versetzte mir einen Stich. Warum zur Hölle hatte ich es nicht längst gelöscht? Hastig wählte ich Blanche aus meinen Kontakten aus. Inzwischen hatte sie fünf weitere Male angerufen und sieben Nachrichten geschrieben. Ich zögerte nur kurz, bevor ich zurückrief.
Beim dritten Klingeln nahm sie ab.
»Vicky? Wo bist du? Ich dreh fast durch! Warum hast du dich nicht gemeldet? Ist alles in Ordnung? Bist du sauer? Hast du …?«
Ihr Wortschwall brachte mich zum Lächeln. Doch dann dachte ich wieder daran, was ich ihr zu sagen hatte. »Hör zu, ich weiß nicht, was es mit diesem Brief auf sich hat, aber ich bin zu der Party gefahren, die Dorville heute gibt.«
Stille in der Leitung. Ich beeilte mich weiterzureden.
»Ich hab behauptet, dass ich Mitglied werden will.«
Ich hörte sie nach Luft schnappen. Ein paar Sekunden vergingen. Offenbar musste sie den Schock erst verdauen. Gut, dass ich das mit der Harmonienwahl für mich behalten hatte.
»Bleib, wo du bist. Wir holen dich.«
»Nein«, widersprach ich. »Bitte sag mir einfach, wonach ich suchen muss! Dann bin ich vielleicht schon bald wieder zurück.«
»Es gibt nichts, wonach du suchen könntest. Du hast mich gestern in einem schlechten Moment erwischt, okay? Die Sache ist halb so wild, ich kümmere mich selbst darum.«
»Wenn du’s mir nicht sagen kannst, werde ich wohl wirklich beitreten müssen.«
»Das wirst du nicht tun!«, kam es mühsam beherrscht von ihr.
Wir waren beide ziemlich dickköpfig, aber diesmal würde ich mich durchsetzen. Sie konnte rein gar nichts tun, um zu verhindern, dass ich blieb.
Als sie weitersprach, hörte ich sie leiser, als ob sie das Handy weghielt und sich an jemanden richtete, der bei ihr war. »Sag deiner Freundin, dass sie sofort von dort verschwinden und irgendwo auf uns warten soll!«
Mir gefror das Blut in den Adern. Nein, nicht er. Nicht jetzt. Wie kam sie dazu, ihn mit reinzuziehen, nach allem …?
»Vicky? Vicky, hörst du mich?«
Seine Stimme spaltete mein Herz. Es fühlte sich an, als würden beide Hälften irgendwohin rutschen, wo nicht ihr Platz war.
»Jasper.«
Dass Blanche mich an ihn weitergegeben hatte, konnte eigentlich nur eines bedeuten … »Du hast es ihr nicht gesagt«, brachte ich heraus. Gegen meinen Willen keimte sofort Hoffnung in mir auf. Hatte er doch noch mal nachgedacht?
»Ich dachte, du wolltest das übernehmen.«
So viel zum Thema Hoffnung.
»Was übernehmen?«, hörte ich Blanche im Hintergrund.
Nein, ich hatte ihr noch nicht gesagt, dass es aus war zwischen ihrem Bruder und mir. Das hatte ich vorgehabt, gestern. Schließlich war auch sie gerade zu Besuch in ihrem Elternhaus gewesen. Doch dann war es anders gekommen: Blanches Schluchzen im Badezimmer, der Brief auf dem Boden ihres Zimmers, die mysteriöse Person, mit der sie hinter verschlossener Tür telefoniert hatte, ihr Ausraster, als sie mich mit dem Brief in der Hand erwischte.
Sie hatte andere Sorgen gehabt als meine Trennung. Also hatte ich die schreckliche Neuigkeit für mich behalten und mir eingeredet, Jasper würde erkennen, dass er einen Fehler gemacht hatte. Dann hätte ich Blanche später nur von einer kleinen Krise berichten müssen, die wir überstanden hatten. Aber die Wahrheit laut auszusprechen – so weit war ich einfach noch nicht. Ich hatte sie nicht einmal für mich selbst akzeptiert.
Jasper reagierte nicht auf Blanches Zwischenruf. »Mach keinen Unsinn! Ich weiß, dass du verletzt bist, aber es bringt nichts, dich jetzt kopfüber in irgendetwas reinzustürzen.« Seine Stimme klang ruhig, doch ich hörte heraus, dass er Angst hatte, ich würde nicht nachgeben.
Das werde ich auch nicht, dachte ich, und das ist nicht zuletzt deine Schuld.
Ich stand auf und öffnete die Balkontür, trat hinaus. Obwohl es eine laue Spätsommernacht war, überlief mich ein Frösteln. Ich schwieg, setzte mich dem Schmerz aus, noch einmal seine Stimme zu hören. »Vicky? Bist du noch …?«
Ich legte auf.
Dann holte ich tief Luft und schleuderte das Handy in die Hecke unter dem Balkon. Wenn ich mit Dorville fertig war, würde ich schon einen Weg finden, Blanche zu kontaktieren. Aber bis dahin durfte mich niemand mit ihr in Verbindung bringen.
Sie kamen spät zum Hotel zurück – oder früh, je nachdem, wie man es betrachtete. Jedenfalls versprach der Nachthimmel vor den Fenstern bereits den Sonnenaufgang. Ich hatte auf dem extrem bequemen Bett ein bisschen gedöst, war aber sofort hellwach, als es auf dem Flur lauter wurde. Rufe, Schritte, Lachen. Es dauerte eine ganze Weile, bis wieder Ruhe einkehrte. Ich drehte mich gerade auf die andere Seite, um vielleicht doch noch etwas Schlaf zu bekommen, als ich eine bekannte Stimme vor der Tür vernahm.
»Wirklich? Jetzt noch? Ehrlich gesagt will ich mich einfach nur aufs Ohr hauen.« Das war Vin, ganz klar.
»Jetzt sei kein Frosch! Wir sind in einer halben Stunde zurück, versprochen.« Und Dorville persönlich!
Vin entgegnete noch irgendetwas, das ich nicht verstand, sie schienen sich wieder zu entfernen.
Ich zögerte nur kurz. Nach einem Seufzen in Richtung meiner High Heels verließ ich das Zimmer barfuß. So war ich schneller und würde nicht durch verräterisches Klackern auf mich aufmerksam machen. Ich erhaschte gerade noch einen Blick auf Vins Rücken, bevor sich die Fahrstuhltür schloss.
Ich nahm die Verfolgung der beiden übers Treppenhaus auf, und als ich im Erdgeschoss ankam, sah ich gerade eine Hintertür zufallen, die auf das Außengelände des Hotels führen musste. Der Mann an der Rezeption musterte mich leicht irritiert, aber ich ließ ihm keine Zeit für eine Bemerkung. Schon war ich ebenfalls durch die Tür in den dämmernden Morgen hinausgetreten.
Ich sah mich um. Ein schmaler Rasenstreifen wurde von sauber zurechtgestutzten Büschen eingegrenzt, die in der Mitte von einem schmiedeeisernen Gartentor durchbrochen wurden. Dahinter lief ein heller Schotterweg aufs Meer zu. Meine beiden Beschattungsopfer steuerten auf den Rand der Klippen zu. Dorville trug einen langen, schmalen Gegenstand bei sich. Was zum Teufel hatten sie vor? Die gute Aussicht genießen wohl kaum.
Sie bewegten sich immer weiter vom Gebäude fort, aber ihnen auf der offenen Fläche zu folgen, war zu riskant. Wenn Dorville anfing, mich für eine Stalkerin zu halten, sanken meine Chancen, jemals in die Gesellschaft aufgenommen zu werden, erheblich. Mir blieb nur, den Weg gleich nach rechts zu verlassen und über die vertrocknete Wiese bis zu den Sträuchern zu laufen, hinter denen die Jungs soeben verschwanden.
Ich rannte los und hoffte, dass niemand meine Aktion durch eines der Hotelfenster verfolgte. Die Schottersteinchen bohrten sich schmerzhaft in meine Fußsohlen. Erleichtert seufzte ich auf, als ich schräg über die Wiese weiterlaufen konnte.
Im Winter hätte ich nicht unentdeckt bleiben können, aber zum Glück hatten die wenigen Büsche, die dem scharfen Wind so nah an den Klippen trotzten, ein einigermaßen dichtes Blätterkleid. Vorsichtig spähte ich durch eine Lücke im Geäst.
»Kamera läuft!«, rief Dorville gerade.
Er hatte ein Stativ aufgebaut und entfernte sich nun davon. Die Linse der Kamera hatte er parallel zu dem ansteigenden Pfad justiert, sodass sie den nächsthöheren Klippenrand und das bestimmt fünfzehn Meter tiefer tosende Meer einfing.
»Muss das wirklich sein?«, rief Vin Dorville zu. Es klang ein bisschen kläglich.
Dorville schüttelte verständnislos den Kopf. »Willst du echt kneifen?«
Vins Gesichtsausdruck nach zu urteilen, konnte die Antwort nur Ja lauten.
»Reizt dich das denn gar nicht? Dafür hab ich extra dieses Hotel ausgewählt!«
Vin straffte die Schultern, doch selbst von meinem Standpunkt aus konnte ich ihn schlucken sehen. »Na gut. Bringen wir’s hinter uns.«
Sie stiegen zu der Klippe hinauf, auf die die Kamera gerichtet war, und waren schnell außer Hörweite. Inzwischen hatte ich so eine Ahnung, was Dorville geplant hatte. Es wäre allerdings ganz schön verrückt.
»Los!«, hörte ich ihn brüllen, kaum dass ich das gedacht hatte. Er nahm Anlauf und raste über den Klippenrand. Vin, der noch einen Moment gezögert hatte, folgte ihm mit kleinem Abstand. Auf ihrem Weg in die Tiefe grölten die beiden wie die Irren.
Ich sprang aus meinem Versteck hervor und sah gerade noch, wie Vin im Wasser landete und untertauchte. Kurz darauf kam er wieder an die Oberfläche. Nicht weit von ihm entfernt entdeckte ich auch Dorvilles Kopf in den schäumenden Wellen. Fassungslos starrte ich zu den Jungs ins Wasser hinunter. Wieso machte ich mir überhaupt Sorgen, was ich gegen Dorville unternehmen sollte? Er war offensichtlich lebensmüde. Sah ganz so aus, als würde mein Problem sich in absehbarer Zeit selbst aus der Welt schaffen.
Robin kam selten pünktlich, doch das war selbst für ihn ungewöhnlich. Es war inzwischen fast halb sieben, und er war immer noch nicht aufgetaucht. Ich spürte die Müdigkeit in allen Gliedern, aber bevor ich nicht wusste, was los war, würde ich kein Auge zumachen können.
Laut der Reservierungsbestätigung, die ich mir schon vor Tagen unter einem Vorwand von Gwynnia hatte zeigen lassen, hatte Robin sie kein eigenes Zimmer für sich buchen lassen. Außerdem hatte er sich im Club mit einem »Bis gleich« von mir verabschiedet. Also wo steckte er? Er hatte sich doch nicht etwa spontan dazu entschlossen, zu Apryl zu gehen? Meine Kehle schnürte sich zu. Er war schon die ganze Nacht lang kaum von ihrer Seite gewichen. Irgendwann reichte es auch mal!
Oder hatte sein Wegbleiben etwas mit den Gerüchten über dieses fremde Mädchen zu tun, das auf der Party gewesen sein sollte?
Ich lag nun schon seit einer ganzen Weile im Nachthemd auf dem Bett, der Tür zugewandt und mit einer aufgeschlagenen Zeitschrift vor mir, an die ich noch keinen Blick verschwendet hatte. Falls Robin sich doch noch hierherbequemen sollte, durfte er nicht glauben, dass ich mich seinetwegen schon wieder verrückt gemacht hatte.
Ich überlegte, Apryls Zimmer ausfindig zu machen und an der Tür zu lauschen, verwarf die Idee aber gleich wieder. Wenn mein Verdacht richtig sein sollte, wollte ich es lieber nicht wissen. Davon abgesehen würde mich bei meinem Glück noch jemand dabei erwischen. Eine andere Möglichkeit wäre, Vin oder Gwynnia zu suchen, aber wahrscheinlich lagen die längst in ihren Betten und wären nur genervt.
Ich zuckte vor Schreck zusammen, als es laut klopfte. Im nächsten Moment atmete ich auf. Endlich war er da.
»Sorry, ich war noch … musste noch was erledigen«, sagte er, sobald ich ihm geöffnet hatte.
Ich biss mir auf die Zunge, um nicht nachzuhaken. Er hatte mir schon oft genug vorgeworfen, dass ich klammerte.
Er warf seine Reisetasche zu meiner, lehnte ein Stativ gegen die Wand und legte seine Kamera auf der kleinen Kommode neben der Tür ab. »Bin noch kurz duschen«, verkündete er dann.
Auf dem Weg zum Bad humpelte er leicht.
»Was ist passiert?« Schon war ich bei ihm.
»Hab mir einen kleinen Kratzer eingefangen. Geht schon.«
Er wischte sich mit der Hand übers Bein. Als er sie hob, waren seine Finger blutig. Dafür hatte er nur ein Schulterzucken übrig. »Heilt von allein«, meinte er und griff nach der Klinke der Badezimmertür.
Die Frage rutschte mir einfach heraus, völlig zusammenhangslos: »Ist es wahr? Die Sache mit dem Mädchen, das jetzt noch kandidieren will?«
Er hielt inne und drehte sich langsam zu mir um. »Welches meinst du? Du weißt, die stehen zu Hunderten Schlange.«
Es war witzig gemeint, entsprach aber leider der Wahrheit. Dass bei PartyTime, dem exklusiven Sender für Klatsch und Tratsch über die Glamourgesellschaften, aktuell ständig seine Vorzüge diskutiert, über seine Bettqualitäten spekuliert und anhand der Äußerlichkeiten und Charakterzüge seiner Harmonien – also nicht zuletzt meinen – sein Frauengeschmack analysiert wurde, verschlimmerte das Ganze nur noch.
»Stimmt es?«, drängte ich. Was ich eigentlich fragen wollte, behielt ich für mich: Warum hast du sie nicht weggeschickt?
Sein Blick war unergründlich. »Ja, stimmt.«
»Du wirst sie doch nicht annehmen, oder?« Ich merkte selbst, wie panisch ich klang. Aber die Tatsache, Robin in der Öffentlichkeit mit acht anderen teilen zu müssen, war hart genug. Ich hatte absolut kein Interesse daran, dass daraus neun wurden.
»Ich fürchte, ich habe keine Wahl.«
Mein Magen zog sich zusammen. »Was soll das heißen?«
Seine Mundwinkel zuckten. »Du hast ja nicht gesehen, wie heiß sie ist.«
Obwohl ich wusste, dass er mich nur ärgern wollte, traf mich die Bemerkung.
Robin verschwand im Bad und machte mir die Tür vor der Nase zu. Frustriert trat ich dagegen.
»Du musst dir keine Sorgen machen!«, rief er lachend.
Er hatte gut reden!
»Wenn du sie annimmst, werde ich echt sauer«, warnte ich.
Das Brausen und Plätschern der Dusche setzte ein.
Ich atmete tief durch. Da fiel mein Blick auf die Kamera auf dem Schränkchen. Wenn er sie so offen dort abgelegt hatte, würde es ihn ja wohl nicht stören, wenn …? Ich nahm sie mit ins Bett. Als ich die letzten Aufnahmen aufrief, sah ich, dass Robin zuletzt ein Video gemacht hatte. Das Standbild auf dem kleinen Display zeigte eine Klippenkante im ersten Licht der Morgendämmerung, dahinter das Meer. Ich ließ den Film abspielen. »Kamera läuft!«, drang Robins Stimme aus dem kleinen Lautsprecher. Hastig schaute ich Richtung Bad, aber das Rauschen der Dusche war hoffentlich laut genug, um die Geräusche bei mir im Zimmer zu übertönen.
Während Robin und Vin im Kameradisplay diskutierten, ahnte ich bereits Schlimmes. Mein Verdacht bestätigte sich schneller, als ich mich dagegen stählen konnte. Ich sah, wie Robin auf den Abgrund zurannte. Wie er fiel. Mein Herz schlug so heftig, dass es schmerzte. Ich konnte nicht mehr atmen.
Robin war berühmt für seine wahnwitzigen Manöver, aber gewöhnen würde ich mich nie daran.
Daher also seine Wunde! Er musste auf dem felsigen Grund aufgeschlagen oder beim Versuch, wieder an Land zu gelangen, irgendwo hängen geblieben sein. Egal wie, ich hätte ihn heute verlieren können. Auf die eine oder andere Weise konnte ich ihn jeden Tag verlieren.
Hatten sie mich vergessen? Seit Stunden war ich schon wach, und es hatte noch niemand bei mir vorbeigeschaut. Eine Menge Zeit, um Pläne zu schmieden und wieder zu verwerfen. Endlich, um die Mittagszeit, klopfte jemand an meine Tür. Ich öffnete und stand dem Typen gegenüber, der mich in der vergangenen Nacht hergefahren hatte. »Es geht zurück zur Saya Nord. Unser Regent will, dass ich dich fahre. Die Partybusse sind nur für Mitglieder.«
Was für ein Jammer aber auch!
Ich folgte ihm nach unten und raus zum Wagen. Wie der Zufall es wollte, stand einer der angekündigten Busse noch auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Drei Mädchen packten gerade ihre Sachen in den Stauraum. Dumpfe Bässe drangen bis zu uns herüber. Ich schüttelte nur den Kopf und stieg ins Auto.
Wir fuhren los. Als ich mich umdrehte und durch die Heckscheibe zurückschaute, sah ich ein dunkelhaariges Mädchen am Eingang des Hotels stehen. Sie starrte uns nach und wirkte irgendwie ziemlich angefressen.
Mein sonst so schweigsamer Begleiter hob den Blick zum Rückspiegel, und ihm entfuhr ein Lachen. »Oh weh, ich glaube, du hast die Königin verärgert!«
»Was?«
Doch zu einer Antwort ließ er sich nicht herab. Stattdessen drehte er das Radio auf und begann, im Takt aufs Lenkrad zu klopfen.
Es dauerte fast eine Stunde, bis wir Dorvilles Zuhause erreichten. Die meiste Zeit ging es über breite Landstraßen, immer an der Küste entlang. Zu weiteren Gesprächen kam es wie erwartet nicht, und leider musste ich feststellen, dass mein namenloser Fahrer wirklich einen grottenschlechten Musikgeschmack hatte. Ich war froh, als wir uns endlich unserem Ziel näherten.
Das erste Anzeichen dafür war ein hoher Zaun aus schwarzen Metallstreben, der die Straße versperrte und die Landschaft zu beiden Seiten durchschnitt. Wir mussten einen jungen Mann in einem Häuschen passieren, das mich stark an eine Mautstelle erinnerte. Mein Fahrer und er winkten sich zu, und schon öffnete sich das Tor.
Der Wagen fuhr durch eine schnurgerade Allee aus jungen Birken. Mein Blick versuchte, sich an den vorbeiziehenden Bäumchen festzuhalten, bis mir davon schwindelig wurde.
Würde ich es in die Gesellschaft schaffen? Blanche sagte immer, ich sei die Mutigere von uns beiden. Sie war da gewesen, als ich mir selbst meinen letzten Milchzahn zog, als ich ihren ersten Freund im Bus fertigmachte, weil er sie am Tag ihres Zweimonatigen versetzt hatte, und als ich dem Direktor unserer Schule gestand, dass ich für den Streik unserer Klasse in Frau Helbings Unterricht verantwortlich, aber nach wie vor der Meinung war, dass sie die mathematisch weniger Begabten nicht dermaßen fies vorführen durfte.
Blanche hatte meine stärksten, aber auch meine schwächsten Momente erlebt. Ohne ihre Unterstützung etwas so Gewagtes zu tun, wie mich in das Leben eines Dorvilles einzuschleusen, fühlte sich falsch an.
Ich gab mir die größte Mühe, über allem zu stehen, was da auf mich zukam, aber langsam wurde mir so richtig flau im Magen. Bei Tageslicht betrachtet erschien mir mein Masterplan nicht mehr halb so brillant wie noch am Abend zuvor.
Wir fuhren auf einen großen, von Blumenrabatten umsäumten Parkplatz, und ich warf einen ersten Blick auf das Gesellschaftsanwesen. Ich erinnerte mich dunkel daran, das riesige Gebäude schon mal im Fernsehen gesehen zu haben – Palazzo – war das nicht die Bezeichnung dafür?
Der Name von Dorvilles Mutter – Saya – prangte in großen Lettern an der Überdachung vor dem Eingang. Das Haus hatte eine lange Front, die eine gewisse Ähnlichkeit mit der von Schloss Cheverny besaß, das ich während eines geschäftlichen Aufenthalts meines Vaters in Blois im französischen Loire-Tal besucht hatte. Ich konnte nicht sehen, wie weit sich das Grundstück dahinter noch erstreckte, aber als ich ausstieg und ein Rauschen vernahm, wusste ich, dass das Meer fast unmittelbar hinter dem Palazzo liegen musste.
»Die anderen sind sicher bald da.«
Der Fahrer führte mich ins Haus hinein; die Tür war nicht verschlossen. Wir kamen in einen großen Eingangsbereich, von dem diverse dunkle Holztüren abgingen. Zu unserer Rechten gab es eine Sitzecke mit sandfarbenen Sofas. Vom Eingang aus blickte man auf eine Art Rezeption, daneben ragte eine beachtliche Standuhr in die Höhe. Das goldene Ziffernblatt zeigte eine Zahl zu viel, natürlich die Dreizehn. Hinter Glas schwang ein großes, ebenfalls goldenes Pendel.
Weiter hinten ging es zu beiden Seiten in andere Gebäudeflügel ab und über eine ausladende Treppe ins zweite Geschoss.
Namenlos zeigte auf die Sofas. »Warte da.«
»Und worauf?«
Ausnahmsweise ging er tatsächlich auf meine Frage ein. »Darauf, dass dich jemand abholt. Robin hat angeordnet, dass dein Vorstellungsgespräch noch heute Nachmittag stattfinden soll.«
Vorstellungsgespräch? What?
Bevor ich noch weitere Infos aus ihm herausquetschen konnte, war er schon wieder zur Tür hinausmarschiert.
Seufzend ging ich zu den Sofas hinüber und setzte mich. Irgendjemand hatte ein Fashion-Magazin hier liegen lassen, in dem ich lustlos zu blättern begann.
Es war wahrscheinlich noch keine Viertelstunde vergangen, als die ganze Mannschaft eintraf. Lautes Geschnatter füllte die Stille, als die Ersten von ihnen hereinstürmten. Die meisten wirkten aufgedreht, aber einigen war die Müdigkeit anzusehen. Erst glaubte ich, niemand würde von mir Notiz nehmen, aber dann bemerkte ich die kurzen, verstohlenen Blicke in meine Richtung. Gwynnia löste sich aus dem Pulk und kam zu mir.
»Gute Fahrt gehabt?«, fragte sie fröhlich, wartete aber nicht auf eine Antwort. »Du kannst dich schon mal in den Anhörungsraum setzen.« Sie deutete auf eine Tür nahe der Treppe. »Robin ist noch kurz nach oben gegangen, und ich muss schnell die ganzen Unterlagen ausdrucken.«
Schon war sie wieder davongehuscht.
Ich ging im größtmöglichen Bogen um die lärmenden Mitglieder herum und verschwand beinahe fluchtartig in dem Raum, zu dem sie gezeigt hatte. Sofort beschlich mich ein mulmiges Gefühl. Direkt vor mir stand ein einzelner Stuhl, ihm gegenüber drei weiße Tische, auch mit je einem Stuhl dahinter. Das Ticken einer Uhr füllte die Stille. Sonst wirkte das kleine Zimmer völlig kahl. Zögernd nahm ich auf dem Stuhl ohne Tisch Platz.
Sie ließen mich noch eine ganze Weile warten. Als ich mich schon zu fragen begann, ob das hier eine Art Folter sein sollte und wie sich überhaupt ein solch trister Ort im Gebäude einer Glamourgesellschaft befinden konnte, kamen sie schließlich doch noch. Dorville, Gwynnia und ein dunkelhaariger Kerl.
»Schön, dich bei Tageslicht zu sehen«, begrüßte Dorville mich mit einem gekonnt charmanten Lächeln. »Vin sagt, du heißt Louelle?« Und als ich nickte: »Also dann: Marcon – Louelle, Louelle – Marcon, Vorsitzender unseres Gesellschaftsvorstands.«
Marcon musterte mich kühl, formte die Finger seiner rechten Hand zum Brunnen von Schnick-Schnack-Schnuck und bewegte sie in meine Richtung, als ob er mir zuprosten würde.
»Unser Begrüßungsritual.« Gwynnia war mein ratloses Gesicht nicht entgangen. »Statt Händeschütteln.« Sie wiederholte die Geste, und in mir rang der Aha-Effekt mit dem Drang, sie alle, so wie sie vor mir standen, auszulachen. »Oh, ein Glas, kein Brunnen! Wie …« Vollkommen beknackt. »… nett.«
»Fangen wir an.« Dorville ließ sich an dem Tisch in der Mitte nieder, der meinem Stuhl direkt gegenüberstand. Die anderen beiden nahmen links und rechts von ihm Platz.
Gwynnia breitete mehrere Papiere vor sich aus und zückte einen Stift. »Ich protokolliere«, erklärte sie.
»Die leichteste Frage zuerst«, sagte Dorville. »Warum bist du hier?«
Den dreien so unvorbereitet gegenüberzusitzen, machte mich nervös. Ich hatte keine Ahnung, wie genau diese Sache hier ablaufen würde.
»Das habe ich doch gestern schon gesagt«, sagte ich so lässig wie möglich. »Weil ich der Gesellschaft beitreten und für das Amt als deine … ähm … Frau?! … kandidieren möchte.«
Gwynnia kritzelte irgendetwas auf ihren Zettel. Sie schrieb das doch hoffentlich nicht wörtlich mit?
Dorville stützte die Arme auf die Tischplatte, und ich gab mir die größte Mühe, seinem herausfordernden Blick standzuhalten.
»Vielleicht sollten wir beim Eintritt in unsere Gesellschaft anfangen«, meinte Marcon.
Dorville nickte zustimmend. »Macht Sinn. Und ist außerdem deutlich aussichtsreicher. Also – was verschafft uns die Ehre, dass du Teil der Saya Nord werden willst? Warum möchtest du internes Mitglied sein und bei uns leben, statt Antrag auf eine externe Mitgliedschaft zu stellen?«
Was ich darauf antworten könnte, hatte ich mir zum Glück am Morgen im Hotel schon überlegt. »Ich habe schon so viel über die Glamourgesellschaften gehört. Eure Lebenseinstellung ist einfach faszinierend. Ich möchte meinen Alltag hinter mir lassen und bei euch komplett neu beginnen, mich neu erfinden.« Würg.
»Warum hast du dich nicht bei meinem Bruder in der Saya Süd beworben?«, wollte Dorville wissen.
»Ich wollte zu dir«, schoss es sofort aus mir heraus. War ja nicht mal gelogen. »Um jeden Preis.«
Er beobachtete mich ganz genau. »Es ist offensichtlich, dass du nicht viel Ahnung hast, wie es bei uns ist. Die meisten Zuläufer bereiten sich sehr viel besser auf ihre Bewerbung vor.«
»Mir reicht, was ich weiß. Der Reiz besteht doch darin, es selbst zu erleben – die Gemeinschaft, den starken Zusammenhalt, eure unglaublichen Partys!«
Es war echt schwer, sich so einfältig zu geben.
Dorvilles Gesicht zeigte keine Regung. »Alles richtig. Aber bist du dir darüber im Klaren, dass es keine Rückfahrkarte gibt? Nicht, wenn du Harmonie wirst.«
Irgendeinen Hinterausgang gab es immer.
»Ich mache keine halben Sachen.«
Um seine Mundwinkel zuckte es. »Würdest du auch beitreten, wenn ich dich nicht als Kandidatin zulasse?«
Das war eine gute Frage. Vielleicht würde es doch reichen, wenn ich einfach nur Mitglied wurde wie ursprünglich geplant? Allein bei dem Gedanken spürte ich Erleichterung. Doch dann ging mir auf, dass er mich höchstwahrscheinlich sofort wegschicken würde, wenn ich jetzt einen Rückzieher machte. Meine Ankündigung zu kandidieren war es gewesen, die überhaupt erst seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Unter Garantie gab es viele Verrückte, die sich um einen Platz in seiner Gesellschaft schlagen würden. Ich musste hervorstechen.
Vielleicht war es eine Fangfrage, weil ich gerade behauptet hatte, immer aufs Ganze zu gehen.
»Nein«, sagte ich. »Ich möchte ganz an die Spitze: an deine Seite. Die Saya Nord mit dir gemeinsam zu führen, wäre die größtmögliche Ehre für mich.«
Immer noch hatte er mich nicht für den kleinsten Moment aus den Augen gelassen. »Das ist alles, was du zu sagen hast? Komm schon – welches Motiv hast du? Willst du den Ruhm, den Reichtum, oder hältst du meine Gesellschaft für eine Art Nervenklinik? Du kannst dir bestimmt vorstellen, dass ich mir schon eine Menge Anfragen anhören durfte. Die meisten hab ich abgelehnt. Warum also sollte ich ausgerechnet dich wollen?«
Mir wurde fast schlecht dabei, aber ich musste es sagen: »Weil ich nur deinetwegen hier bin.«
Er sah mich abwartend an, und mir wurde klar, dass ich präziser werden musste.
»Ich weiß, dass es verrückt klingt, aber ich bin besessen von dem Gedanken, mit dir zusammenzukommen. Wenn du mich erst einmal kennenlernst, wirst du merken, wie gut wir beide … harmonieren.«
Ich gratulierte mir selbst zu dem Wortwitz und fragte mich, ob ihn meine Worte an Blanche denken ließen; aus irgendeinem Grund war er schließlich besessen von ihr. Immer noch war mir völlig schleierhaft, welche Verbindung es zwischen den beiden geben könnte. Blanches Familie war, im Gegensatz zu meiner, nie in Berührung mit den Glamourgesellschaften gekommen, zumindest nicht, dass ich wüsste. Ob es vielleicht um die Cateringfirma ihrer Eltern ging? Die Dorvilles waren bekannt dafür, dass sie Unternehmen, gerade aus dieser Branche, ihren Gesellschaften einverleibten. Wollte Dorville meine Freundin also, um Druck auf ihre Eltern auszuüben? Dass Henrik und Ariane nichts mit den Gesellschaften am Hut haben wollten, war kein Geheimnis. Was das anging, waren sie ganz einer Meinung mit meinem Vater. Wenn Dorville ihrer Familie schaden konnte, ergab Blanches Verhalten auf jeden Fall Sinn, und auch, dass sie nicht einmal mir die Wahrheit anvertraut hatte.
Dorville holte mich zurück in unser Gespräch. »Dass sie nur auf mich aus ist, hat in der Form wirklich noch keine zugegeben«, sagte er mit hochgezogenen Brauen. »Auch wenn es dich … entschuldige … leicht wahnsinnig wirken lässt.«
»Heißt das, ich hab den Job?«
Er grinste mich an. »Einen Versuch ist es wert, selbst wenn es riskant ist, einen Neuzugang gleich kandidieren zu lassen. Wenn aus Marcons Sicht nichts dagegen spricht, werde ich deine Bewerbung annehmen.«
Okay, das war ja im Endeffekt überraschend einfach gewesen.
»Deine Entscheidung«, bestätigte Marcon und hob etwas ratlos die Schultern. »Dann können wir die Formalitäten in Angriff nehmen.«
»Ähm …«, Gwynnia sah von Marcon zu Dorville und wieder zurück. Als niemand etwas sagte, zog sie ein Blatt aus einer Klarsichthülle und winkte mich zu sich heran. »Deine vorläufige Beitrittserklärung. Wenn du bitte hier unterschreiben würdest.« Sie legte den Zeigefinger auf die entsprechende Linie.
Ich überflog die Zeilen – es war tatsächlich nur eine Erklärung darüber, dass ich Mitglied der Gesellschaft werden wollte. Der erste Strich meines Namens war schon gezogen, da fiel mir siedend heiß ein, dass ich ja als Louelle hier war. Die linke Hälfte des V konnte ich gerade noch in ein schiefes L integrieren. Meine Hände zitterten, als ich mich wieder setzte und Gwynnia das Blatt an Marcon und Dorville weitergab, die ebenfalls unterzeichneten. Das war knapp gewesen!
»Da du Harmonie wirst, musst du keine Mitgliedsbeiträge zahlen«, sagte Gwynnia. »Wir brauchen also vorerst vor allem deinen Sozialversicherungsausweis, damit wir dich auf die Gesellschaftsversicherung ummelden können, und eine Kopie von deinem Perso.«
Zum Glück waren das Dinge, an die ich tatsächlich gedacht hatte. Es hatte mich selbst erstaunt, wie schnell ich an die gefälschten Dokumente gekommen war.
»Du bist doch hoffentlich volljährig?«, fragte Dorville.
»Schon etwas länger, keine Sorge.«
»Wunderbar. Alles Weitere rund um deinen Beitritt erkläre ich dir später in Ruhe«, versprach Gwynnia.
»Damit wären wir beim interessanten Teil. Hast du die Anspruchserklärung?« Dorville nahm ein weiteres Blatt von seiner Schwester entgegen und schnappte sich auch ihren Stift. »Dass ich deine Kandidatur akzeptiere, bedeutet quasi, dass ich Anspruch auf dich erhebe«, sagte er zu mir. »Du weißt, dass du damit für jeden anderen unantastbar wirst?«
Dass ich was? Nicht sein Ernst! Das war doch gesetzlich auf keinen Fall zulässig, oder? Diese Mädchen, die sich zur Wahl stellten, betrachteten sich doch nicht etwa als sein persönliches Eigentum?
»Er will dir bloß Angst machen«, kam Gwynnia mir unerwartet zu Hilfe. »Was er meint, ist, dass du vor Ende der Harmonienwahl niemandem außer ihm näherkommen darfst. Sonst bist du sofort raus. Die Bindung des Regenten an seine Erstharmonie ist unwiderruflich; die Gesellschaften kennen keine Scheidung. Die Bedingungen der Wahl sind deshalb so streng, damit ausschließlich diejenigen bleiben, die sich sicher sind, was sie wollen.«
Für eine angebliche Bewerberin war ich echt ungenügend informiert. Es sollte mich also nicht wundern, dass Dorville das mitbekommen hatte und mit meiner Unwissenheit spielte.
»Ich will auf jeden Fall nur dich«, sagte ich zu ihm. Ich hörte selbst, dass es wie eine Drohung klang.
Da er auf die Erklärung hinunterschaute, konnte ich seinen Gesichtsausdruck nicht sehen.
»Dir muss bewusst sein, welche Verantwortung du als Harmonie tragen würdest – und zwar auch dann, wenn du die Wahl nicht für dich entscheiden solltest«, erklärte Marcon. »Zusammen mit dem Vorstand und natürlich dem Regenten bilden die Harmonien die Führungsriege der Gesellschaft und haben ein enormes Mitspracherecht. Die Entscheidung, die du triffst, ist unumstößlich. Du stellst dich vollkommen in den Dienst der Mitglieder und unterstützt den Regenten bedingungslos.«
Bedingungslose Unterstützung war so ziemlich das Letzte, was ich Dorville gern zukommen lassen wollte. Aber ich lächelte und nickte.
»Also gut«, sagte Dorville. »Für diese Erklärung muss ich dir einige Fragen stellen.«
Ich bemühte mich um eine lockere Haltung. »Nur zu.«
»Deine persönlichen Daten nimmt Gwynnia später auf. Wir gehen jetzt nur die Dinge durch, die ich wissen will, bevor ich endgültig zustimme. Kannst du uns kurz deinen Lebenslauf zusammenfassen?«
Jetzt zahlte es sich aus, dass ich mir zu meiner neuen Identität so viele Gedanken gemacht hatte.
»Ich bin in einem Dorf in der Nähe von Lübeck aufgewachsen. Mein Vater besitzt eine Kfz-Werkstatt, meine Mutter leitet Tanzkurse an der Volkshochschule. Nach meinem Abi habe ich eine Weile gejobbt und schnell festgestellt, dass ich mehr als alles andere einfach mein Leben genießen will. Es geht mir um den Spaß. Und Spaß habt ihr doch in eurer Gesellschaft, oder etwa nicht?«
Gwynnia und Marcon grinsten, aber Dorville verzog keine Miene. »Darauf kannst du Gift nehmen!«
In diesem Moment konnte ich mir nur zu gut vorstellen, wie er in die Tasten gehauen und Wort für Wort des Briefes an Blanche zu Papier gebracht hatte. »Perfekt«, brachte ich heraus.
»Also schon mal keine Familie von Rang und Namen. Eher ungünstig für eine potenzielle Erstharmonie. Wird schwer, das auszugleichen.« Er schaute wieder auf das Blatt. »Dann noch ein paar Kleinigkeiten … deine Lieblingsfarbe?«
»Warum das denn?«
»Schon mal überlegt, wie viele Geschenke ich ständig besorgen muss? Geburtstage, Weihnachten … Da können solche Sachen ganz nützlich sein.«
»Türkis«, antwortete ich mühsam beherrscht.
»Hobbys?«
Verrückte Missionen für Blanche ausführen.
»Ich verbringe die meiste Zeit mit meiner besten Freundin. Sie ist wie eine Schwester für mich.«
»Weiß sie, dass du hier bist?«
»Natürlich.« Du kannst dir nicht vorstellen, wie begeistert sie davon ist.
»Ihr werdet euch nur noch sehr selten sehen können. Vielleicht wäre eine externe Mitgliedschaft da nicht doch besser? Du hättest Zugang zu vielen unserer Events, müsstest aber nicht alle Brücken hinter dir abbrechen.«
»Nein, ist … ähm … schon okay. Sie weiß, wie viel es mir bedeuten würde, die Wahl zu gewinnen. Außerdem geht sie bald ins Ausland, dann werden wir uns eh kaum noch sehen können.« Genaaaau.
»Wie ist ihr Name?«
Shit. Nicht zu lange zögern!
»Chloe!«, platzte ich mit dem Namen einer Sängerin heraus, die Blanche gut fand, und suchte dann krampfhaft nach einem Nachnamen. »Chloe … Schultze.«
Dorville trug den Namen irgendwo ein und machte dabei ein Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen.
»Ich hatte lange Klavierunterricht«, sagte ich, um von dem heiklen Thema wegzukommen. »Ich mag Thriller in jeder Form. Ich schwimme gern, war aber nie im Verein.«
Zwischen all den Lügen ein paar wahre Tatsachen.
Er machte sich Notizen. »Du wirst gehört haben, dass wir sehr viele Partys geben. Bist du bisher oft feiern gegangen?«
»Schon. Jedes Wochenende und an meinen freien Abenden unter der Woche.« Als ob! Und wenn ich mal loszog, hatte das nicht viel mit dem zu tun, was die Mitglieder unter »feiern« verstanden.
Dorville nickte. Dann glitt sein Blick von meinem Gesicht abwärts. »Deine Körbchengröße?«
Bitte? Was erlaubte sich der Typ?
»Das geht dich nun wirklich nichts an!«
Er schürzte die Lippen. »Wenn dir deine Privatsphäre so wichtig ist, bist du bei mir an der falschen Adresse, Süße.«
»Lass sie«, mischte Gwynnia sie ein. »Jessi kann das bei ihrer ärztlichen Untersuchung eintragen.«
Er musterte mich provozierend, gab dann aber nach. »Okay. Ändert aber nichts daran, dass ich noch etwas anderes Persönliches fragen muss: Wie viele Beziehungen hast du gehabt, wie lange und mit wem?«
Also das hatte selbst ich nicht einkalkuliert. Ich wusste, es musste glaubwürdig sein. Blitzschnell ging ich die Namen meiner Exfreunde durch. Zumindest die Ersten waren ungefährlich. Er würde die Spur nicht zurückverfolgen können.
»Lucas Brenn«, sagte ich. »Meine Grundschulliebe. Wir kamen in der vierten Klasse zusammen, aber nach dem Schulwechsel war das kein Thema mehr.«
Er setzte den Stift an, schrieb, zögerte.
»Schreibt sich mit c«, sagte ich spöttisch. Es konnte doch nicht wahr sein, dass er sich das allen Ernstes aufschrieb!
»Weiter?«, fragte er, ohne aufzusehen.
»Trevor Primes«, fuhr ich fort. »Engländer. Hab ihn auf einer Sprachreise kennengelernt. Das mit uns hat knapp vier Monate gehalten, und ich hab ihn sogar in den Ferien besucht. Leider mussten wir feststellen, dass eine Fernbeziehung nichts für uns ist.«
Ich überlegte, ob ich auch noch die kurze Episode mit Noah Willert anführen sollte, doch dann fiel mir ein, dass ich ihn damals zum großen Weihnachtsdinner von Wächt Hotels mitgenommen hatte. Bestimmt gab es da noch Beweisfotos!