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Ich bin nicht Wynter Willkommen in ClassyGardens, der exklusiven Wohnanlage für die Stars der Hitserie Wonderful Intrigues! Hierhin verschlägt es Elodie für ihren neusten Auftrag. Nach dem Verrat ihres Ex-Freundes Stian kann sie die Herausforderung gut gebrauchen: Sie soll für Hauptdarstellerin Wynter eine Fake-Beziehung mit Co-Star und Frauenschwarm Nord eingehen. Denn Elodie kann die Gestalt anderer Menschen annehmen. Blöd nur, dass Nord und Wynter sich in Wahrheit nicht leiden können und Nord nichts von Elodies Existenz wissen soll. Die Presse und die Fans jedenfalls lieben das Spektakel, und Elodie taucht immer tiefer in ihre neue Rolle und das glamouröse Leben in Classy Gardens ein. Doch dass Stian wild entschlossen ist, um ihre Liebe zu kämpfen, macht die Sache nicht gerade einfacher. Wie lange kann das Versteckspiel gut gehen? Und was, wenn die Rolle, die man spielt, verlockender wird als das eigene Leben? Geheimnisse, Intrigen, Romance: Wonderful Intrigues has it all!
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Seitenzahl: 458
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Ich bin (nicht) Wynter Willkommen in ClassyGardens, der exklusiven Wohnanlage für die Stars der Hitserie Wonderful Intrigues! Hierhin verschlägt es Elodie für ihren neusten Auftrag. Nach dem Verrat ihres Ex-Freundes Stian kann sie die Herausforderung gut gebrauchen: Sie soll für Hauptdarstellerin Wynter eine Fake-Beziehung mit Co-Star und Frauenschwarm Nord eingehen. Denn Elodie kann die Gestalt anderer Menschen annehmen. Blöd nur, dass Nord und Wynter sich in Wahrheit nicht leiden können und Nord nichts von Elodies Existenz wissen soll. Die Presse und die Fans jedenfalls lieben das Spektakel, und Elodie taucht immer tiefer in ihre neue Rolle und das glamouröse Leben in ClassyGardens ein. Doch dass Stian wild entschlossen ist, um ihre Liebe zu kämpfen, macht die Sache nicht gerade einfacher. Wie lange kann das Versteckspiel gut gehen? Und was, wenn die Rolle, die man spielt, verlockender wird als das eigene Leben? Geheimnisse, Intrigen, Romance: Wonderful Intrigues has it all!
Für meine Schwester
»Er hat mir eine Liste geschrieben.«
Durch die gekippten Fenster trägt der Nachtwind den Geruch von Regen ins Zimmer.
»Eine Liste von Dingen, die er an dir mag?« Tiffs Stimme am anderen Ende der Leitung klingt amüsiert.
»Eine Liste darüber, was ich bei unseren Auftritten als Paar zu tun und zu lassen habe, was ich der Presse über ihn sagen darf, in welchen meiner Posts er markiert werden will und in welchen nicht.« Wynter sitzt im Schneidersitz auf der samtenen Designercouch im Farbton Distel und blickt direkt auf das große Poster, auf dem sie selbst zu sehen ist. Die Aufnahme ist für die Promo der dritten Staffel von Wonderful Intrigues entstanden, und Laurie hat es mit so viel Enthusiasmus dort platziert, dass Wynter es nicht über sich gebracht hat, es wieder abzuhängen. Na ja, außerdem macht sie sich darauf wirklich gut. Die Rolle in der Serie ist ihr nun mal auf den Leib geschneidert – wortwörtlich. Ihr Vater, der Erfinder und Showrunner von WIn, hat sie allein für sie entwickelt, sogar nach ihr benannt und alles andere darum herum entstehen lassen. Was schon sehr cool ist, auch wenn sie dieser Tatsache letztendlich den ganzen Schlamassel zu verdanken hat.
»Wir haben uns gestern getroffen, um abzusprechen, wie wir gemeinsam auftreten werden. Da hat er keinen Ton gesagt – und jetzt das! Wahrscheinlich ist er beleidigt, weil er mir an die Wäsche wollte und ich ihn nicht rangelassen habe.«
»Das klingt nicht nach Nord.«
Wynter beißt sich auf die Lippe. Tiff kann sie nichts vormachen, wenn es um ihn geht. Natürlich hat sie das nur gesagt, weil es sie fuchst, dass er so gar kein Interesse an ihr hat – wo sie doch eigentlich jeden haben kann.
»Was haben Laurie und Tim gesagt, wie lang eure Lovestory andauern soll?«
Die beiden haben das Ganze ausgeheckt. Als PR-Manager haben sie beschlossen, dass es an der Zeit wäre, dem Publikum vor Ausstrahlung der vierten Staffel in zwei Monaten etwas Sensationelles zu bieten, um die Vorfreude noch zu befeuern: eine echte Liebesgeschichte zwischen zweien ihrer Lieblingshauptdarsteller. Was nicht zuletzt eine nicht unwesentliche Reichweitenerhöhung mit sich bringen wird und damit leicht verdientes Geld ist.
Laurie und Tim haben den Vorschlag also dem ganzen Cast unterbreitet, und die anderen haben, mit Ausnahme von Tiff, geschlossen dafür gestimmt, dass das die neue Team Task werden soll.
Wynter hat keine Ahnung, was es mit dem Team zu tun haben soll, wenn nur Nord und sie sich der Aufgabe stellen müssen. Warum die Wahl ausgerechnet auf sie beide gefallen ist, ist allerdings klar: Nichts könnte überraschender kommen. Oder absurder sein. Ein wenig wegen der konfliktträchtigen Beziehung ihrer Serienrollen, vor allem jedoch, weil sie zu keiner Gelegenheit ein Geheimnis daraus gemacht haben, dass sie sich auch in der Realität nicht ausstehen können.
Die anderen finden das doch alles bloß wahnsinnig lustig! Im Ernst, sie ist das ganze Konzept langsam leid – die Pflichttreffen, die Tasks, die Feedbackrunden, dass sie ständig mit den anderen zusammenglucken soll, damit bei den Drehs dann die Chemie stimmt. Sie möchte schließlich keine Gruppenkarriere, sondern eine eigene. Mit etwas Glück ist sie diese Amateure bald los. Noch steht nichts fest, doch wenn es nach ihr geht, wird es keine weitere WIn-Fortsetzung geben. Das Ende der neuen Staffel kann man durchaus so stehen lassen; es gäbe also keinen günstigeren Zeitpunkt, um aufzuhören. Ob sie Laurie wohl abwerben könnte, wenn sie geht?
Apropos, warum hat die sich noch nicht gemeldet? Nachdem Wynter ihr ein richtig schlechtes Gewissen gemacht hat, weil sie sie so in die Bredouille gebracht hat, hat sie doch versprochen, ihr noch einmal ein Update zu geben. Dazu, ob es nicht vielleicht doch eine Möglichkeit gibt, sich aus der Affäre zu ziehen. Wynters Lieblingsidee war, nur Gerüchte zu streuen und diese schließlich – nach gebührend langer Zeit natürlich – zu zerschlagen. Aber damit ist sie auf taube Ohren gestoßen.
»Bist du noch dran?«
»Sie wollen abwarten, wie die Fans reagieren«, beantwortet Wynter Tiffs Frage von gerade.
Leider werden die Fans wahrscheinlich vor Begeisterung ausrasten, was ihr Martyrium auf unbestimmte Zeit verlängern könnte. Allerdings graut ihr auch schon vor dem Aus der vorgetäuschten Romanze, denn wenn sie Pech hat, wird Laurie ihr dazu raten, die zu Unrecht Verlassene zu spielen, um Sympathiepunkte zu sammeln. Sie wird niemals so tun, als hätte ein Totalversager wie Nordyn Degenbrunner sie fallen lassen!
»Kopf hoch, Wynter. Nord ist echt okay. Eine Menge Mädchen würden ihre Seele verkaufen, um an deiner Stelle zu sein.«
Wynter verkneift sich den Kommentar, dass sie, wenn es darum geht, etwas zu haben, was andere wollen, nicht auf Nord zählen muss. Ihr Leben ist auch ohne ihn schon beneidenswert genug.
»Wie zum Beispiel du?« Ihr Unterton ist neckend, aber in Wahrheit meint sie die Frage durchaus ernst.
»Eher nicht«, erwidert Tiff im selben Tonfall.
Wynter ist sich nicht sicher, was sie mit dieser Reaktion anfangen soll. Tiff ist als Arabella in der Serie die Freundin von Deven, verkörpert durch Nord höchstpersönlich. Der Funke scheint auch außerhalb der Serie übergesprungen zu sein: Die zwei sind während der Dreharbeiten der ersten Staffel zusammengekommen und waren während der gesamten zweiten und dritten sowie der halben vierten Staffel ein Paar, und obwohl Wynter Tiff durchaus als ihre Freundin betrachtet, kann sie nicht sagen, wie viel davon echt oder ebenfalls strategisch war. Eine Team Task ist es jedenfalls nicht gewesen.
Falls Tiff noch immer etwas von Nord will, wird die Situation noch unangenehmer werden, als sie es ohnehin schon ist. Aber es ist ja nicht Wynters Schuld, dass die große Antagonistin der Serie, also ihre Wenigkeit, im wirklichen Leben etwas nahbarer gemacht werden soll, indem sie öffentlich im Liebesglück schwelgt – wie abartig sie selbst das auch finden mag. Für Nord haben sie dann wohl einen Imagewandel zum undurchschaubaren Herzensbrecher vorgesehen.
Es klopft an der Tür ihres Apartments. »Wynter, ich bin’s!«
Laurie – na endlich! Die Ärmste hat jedes Mal Angst, sie könnte für ein Fangirl gehalten und draußen stehen gelassen werden.
»Lass uns ein andermal weiterquatschen, Laurie ist hier. Ich hoffe, sie hat gute Nachrichten für mich!«
Tiff wünscht ihr Glück, verabschiedet sich und legt auf.
Wynter öffnet Laurie die Tür. Ihr schlägt ein breites, vielversprechendes Grinsen entgegen.
»Ich hab sie, die Lösung für dein Problem, und sie hat sogar einen Namen: Elodie Rauch. Sie kann morgen schon anreisen, damit wir alles Weitere mit ihr besprechen können.«
Die Euphorie in Lauries Gesicht stimmt sie hoffnungsvoll. Laurie ist niemand, der sich einer Sache vorschnell sicher ist.
»Ein Double?«, fragt Wynter.
»Und was für eins! Dieses Mädchen wird dich umwerfen!«
Natürlich habe ich schon von ClassyGardens gehört. Wer hat das nicht? Doch als ich jetzt meinen schäbigen alten Koffer durch die Gassen der Anlage ziehe, die vor einigen Jahren hier auf dem Gelände eines ehemaligen Golf & Country Clubs aus dem Boden geschossen ist, steht mir trotzdem fast der Mund offen vor Staunen. Sie wirkt wie ein eigenes kleines Städtchen nur für die aufstrebenden Stars und Sternchen, die sie beherbergt.
Ich hatte erwartet, alles würde unecht und albern wirken – im Ernst, allein schon dieser pseudocoole Name, bei dem ich eher an eine Seniorenresidenz denken muss als an einen exklusiven Wohnort für junge Darsteller –, aber in Wahrheit ist es schlichtweg beeindruckend. Die Gebäude sind wunderschön und haben etwas Märchenhaftes mit den Säuleneingängen, den Erkern, Türmchen und kleinen Balkonen. Es gibt kunstvolle Springbrunnen, viele Grünflächen und Bäume, saubere Kieswege und eine Art Fußgängerzone, in der sich süße Cafés und kleine Boutiquen aneinanderreihen. Selbst der stinknormale Briefkasten, an dem ich gerade vorbeilaufe, sieht in dieser Umgebung irgendwie hübsch aus.
Zum Glück habe ich am Eingang einen Lageplan in die Hand gedrückt bekommen. Der Pförtner schien beinahe ehrfürchtig, als ich ihm das Schreiben vorgelegt habe, das Laurie mir per Mail hat zukommen lassen und das mich als persönlichen Gast von Wynter Brookely ausweist.
Die Apartments der Bewohner von ClassyGardens befinden sich an der Ostseite des Geländes in einem hellen Bau, der an ein Luxushotel erinnert. Ich steuere darauf zu. Meine Nervosität steigt stetig. Laurie hat mir während unseres Videotelefonats vorgestern wirklich Hoffnungen gemacht, dass sie mich engagieren werden. Genau genommen hat sie sich kaum wieder eingekriegt, nachdem ich ihr vor laufender Kamera meine Imitation von Wynter gezeigt hatte. Natürlich war sie zuerst skeptisch und dachte, ich würde irgendeine Manipulations-Software einsetzen. Da habe ich sie aufgefordert, mir wahllos andere Schauspielerinnen zu nennen, und als ich blitzschnell mein Aussehen entsprechend wechselte – zum Glück war keine dabei, die ich nicht kannte, und ich war gut vorbereitet –, war die Sache für Laurie klar.
Es hat mich unglaublich viel Überwindung gekostet, ihr auf diese Art vorzuführen, wozu ich fähig bin. Mich überhaupt erst bei ihr zu melden, nachdem eine ehemalige Kundin sie mir als Interessentin weitergeleitet hatte. Ich will diesen Job nicht, auf keinen Fall, niemals, aber ich brauche ihn, unbedingt. Nur deswegen bin ich Hals über Kopf losgereist, um Wynter zu treffen, und kämpfe jetzt gegen den Jetlag. Wenn ich sie nicht überzeuge, wenn ich mit leeren Händen zurückkomme, dann wird kein neuer Behandlungsplan für Savanna aufgestellt werden. Dann war alles, was ich bisher getan, was ich aufs Spiel gesetzt habe, umsonst.
Das wird nicht passieren, sage ich mir mein Mantra der letzten Wochen vor. Seit dem Gespräch mit Laurie kommt es mir zum ersten Mal nicht mehr wie ein leeres Versprechen vor. Das alles scheint zu sehr wie eine glückliche Fügung: ein schwindelerregend hohes Gehalt für das, was ich wohl oder übel am besten kann, noch dazu im Land meiner Kindheit; außerdem arbeitet Kelsey Dawson nicht weit von hier. Ich habe keine Ahnung, wie viel sie weiß und wie sie zu meinen Eltern stand, doch ich greife im Moment nach jedem Strohhalm. Sie ist Ärztin und könnte vielleicht eine zweite Meinung zu Savannas Situation beisteuern.
Die Türflügel sehen aus wie Schokoladentafeln. Bei dem Anblick knurrt mein Magen – seit meinem überstürzten Aufbruch habe ich nichts mehr runterbekommen. Hoffentlich hat der Kiosk, den ich gesehen habe, noch offen, wenn mein Termin erledigt ist.
Ich betrete die Lobby und sehe mich ein wenig eingeschüchtert um. Die hintere Wand besteht aus Glas und gibt den Blick auf eine traumhafte Gartenlandschaft frei. Eine überdachte Terrasse ist gleich ans Haus angeschlossen, und ich sehe ein paar Leute an Tischen sitzen und den lauen Abend genießen. Drinnen gibt es eine gemütliche, aber im Moment völlig verwaiste Sitzgruppe bei einem großen Kamin, der vermutlich vor allem dekorative Zwecke erfüllt.
An jeder Seite der Halle führt eine frei schwebende Treppe mit Stufen aus dunklem Holz nach oben, wo sie am Absatz zum ersten Stock endet. Als ich den Kopf in den Nacken lege, erkenne ich, dass sich darüber jeweils zwei weitere befinden. Auf jeder Etage stehen hölzerne Wegweiser, auf denen die Nummern der Apartments ausgewiesen sind. Es gibt auch einen Aufzug, der in seinem gläsernen Schacht darauf wartet, jemandem das Treppensteigen zu ersparen.
Bis auf die paar Gestalten auf der Terrasse ist keine Menschenseele zu sehen.
Erst jetzt bemerke ich das Schild direkt zu meiner Linken, das einen Pfeil mit der Aufschrift »Reception« zeigt. Wahrscheinlich sollte ich nicht so irritiert sein – hier wohnen Promis, klar müssen die eine Rezeption haben.
Ein Mann, der aussieht, wie man sich einen betagten Hausmeister vorstellt, sitzt um die Ecke an einem Schalter, der wiederum den Anschein macht, als könnte man dort Eventtickets erwerben.
»Guten Tag«, sage ich und lege ihm meinen Ausdruck vor.
Er lässt den Blick darüberschweifen, und wie schon der Pförtner hebt er vor Erstaunen die Brauen. Ganz klar: Ich wirke nicht wie jemand, den Wynter empfangen würde.
»Einen Moment, die Dame«, sagt er und greift nach dem Telefon, um meine Ankunft anzukündigen.
»Miss Brookely erwartet Sie«, sagt er wenige Sekunden später, als wäre das eine Neuigkeit für mich. »Apartment 1 befindet sich ganz oben auf der linken Seite.«
Ganz oben – also ein Fall für den Aufzug. Ich bedanke mich und mache mich auf den Weg.
Als ich kurz darauf vor der richtigen Tür stehe, die Hand schon zum Klopfen erhoben, kommen mir ein letztes Mal Zweifel. Wenn sie mich wirklich wollen, dann werde ich wieder jemanden zum Opfer meiner Täuschung machen. Ich werde mich erneut verbiegen müssen, ein weiteres Mal nicht ich sein. Die Gefahr ist mir schmerzlich bewusst, ich habe sie immer vor Augen. Doch im Grunde habe ich keine Wahl, schon lange nicht mehr. Also straffe ich die Schultern und sage mir, dass ich schon weit schlimmere Dinge habe durchstehen müssen. Trotzdem fühlt es sich an, als würde ich gegen meinen eigenen Sargdeckel pochen, als ich mich endlich dazu überwinde, anzuklopfen.
Laurie öffnet mir, ein breites Strahlen im Gesicht. Ihre Zähne sind so weiß, dass sie einen fast blenden.
»Herein, herein!«, ruft sie. »Wir haben uns gedacht, es wäre am besten, wenn du gleich Wynters gewohntes Umfeld kennenlernst. Das wird dir helfen, dich besser in sie einzufühlen.«
»Noch steht allerdings gar nicht fest, ob ich dich einstelle«, kommt es vom anderen Ende des Raumes, noch bevor ich Wynter sehen kann.
Ich mache zwei beherzte Schritte ins Zimmer, und da steht sie: der größte Star der Erfolgsserie Wonderful Intrigues.
Selbst hier in ihrem eigenen Wohnraum wirkt sie, als befände sie sich in einer Szene, die sie allein beherrscht. Die hellblonden Haare umspielen ihr Gesicht mit den klaren blauen Augen, der ein bisschen eigenwilligen Nase und diesen perfekt geformten Lippen. Man kann über sie sagen, was man will, aber niemand würde abstreiten, dass sie eine Schönheit ist.
Ich habe meine Hausaufgaben gemacht und recherchiert. Es heißt, Wynter sei kühl und launisch, eine Frau, die nicht leicht zufriedenzustellen ist. Die Chance, die sie zu der Berühmtheit gemacht hat, die sie jetzt ist, verdankt sie vor allem ihrem Vater, dem legendären Roland Brookely. ClassyGardens wurde vor etwas über vier Jahren von ihm begründet, wenig später feierte Wonderful Intrigues den großen Durchbruch. Verstehe das, wer will! Ich meine, im Prinzip geht es um ein schwer verliebtes Pärchen in Toronto, das sich ständig vorübergehend trennt, weil die mysteriöse Wynter die Beziehung sabotiert. Und dann stellt sich heraus, sie kommt aus einer Parallelwelt und hat den Typen verzaubert. Weswegen er seine echte Identität als Prinz und ihr Verlobter ins Unterbewusstsein verdrängt hat. Super Plot, echt!
Brookely selbst verschlug es der Liebe wegen von L.A. hierher, und er kam mit großen Ambitionen. Die meisten davon dürfte er inzwischen verwirklicht haben. Kanada gilt nicht umsonst als das Hollywood North.
Wynter ist ein Scheidungskind. Vielleicht glaubt sie deswegen nicht an die Beziehung, um die es in meinem Auftrag gehen soll.
Sie mustert mich genauso intensiv wie ich sie, allerdings wirkt sie beinahe entsetzt. Ihre Nase zuckt, als würde sie darum kämpfen, sie nicht zu rümpfen. »Wer zum Teufel bist du?«
Laurie stellt mich vor, bevor ich die Chance dazu habe: »Ein Niemand. Eine durchschnittliche Blondine mit Nerdbrille, deren Gesicht man sich nicht gleich beim ersten Mal merkt.« Sie lächelt mich entschuldigend an. »Nichts für ungut.«
Ich denke, es hat schon weitaus schlimmere Beschreibungen meiner Person gegeben.
Nicht jeden meiner Aufträge kann ich zur Zufriedenheit des Kunden abschließen. Es ist auch schon vorgekommen, dass ich es so richtig vermasselt habe. Und was ich im Namen von jemand anderem tue, ist getan. Dafür gibt es genauso wenig eine Reset-Taste wie für die Fehler, die ich begehe, wenn ich in meiner eigenen Haut stecke.
»Aber …«, sagt Laurie und klingt wie ein aufgeregtes Kind vor der Bescherung, »… sie ist perfekt!«
»Sie sieht kein bisschen aus wie ich«, stellt Wynter fest.
Ich bin keine Freundin davon, Menschen zu überrumpeln, aber irgendetwas an ihrer Art löst in mir den Wunsch aus, sie so richtig zu schocken.
Ich brauche keine drei Sekunden, bis ich ihre Gestalt angenommen habe. Es ist, als würde ich mir eine Jacke überstreifen. Jemanden zu imitieren, kann manchmal richtig anstrengend und sogar schmerzhaft werden, aber in den ersten Minuten ist es immer ganz leicht. Außerdem habe ich viel mehr Übung darin, als mir lieb ist.
Es funktioniert alles über meine Sinne. Habe ich meine Zielperson einmal gesehen, und sei es nur auf einem Bildschirm oder Foto, kann ich aussehen wie sie. Habe ich sie einmal gehört, kann ich sprechen wie sie. Nur den Charakter kann ich nicht übernehmen; Verhaltensweisen muss ich mir selbst aneignen. Wenn man es so betrachtet, ist das, was Wynter beruflich macht, nicht so weit von meiner eigenen Einnahmequelle entfernt.
Ich genieße, dass Wynter die Worte fehlen.
»Unglaublich, oder?«, quietscht Laurie.
»Shit – wie hast du das gemacht?« Auf einmal bin ich spannend genug, um direkt mit mir zu sprechen.
»Nur eines meiner vielen Talente«, sage ich mit ihrer Stimme, ohne dass die beiden die Ironie darin erahnen könnten, und nehme exakt die gleiche Haltung ein wie Wynter. Es muss ihr vorkommen, als stünde sie ihrem lebendig gewordenen Spiegelbild gegenüber.
Auch für mich ist es irgendwie seltsam. Es ist eine Weile her, dass ich jemanden imitiert habe, der dabei anwesend war. Das Einzige, was uns äußerlich unterscheidet, ist die Kleidung – ich trage immer noch meine eigene. Wynter ist etwas größer und zierlicher als ich, also sitzen Jeans und Pulli bei mir jetzt lockerer als vorher und haben dafür an den Hosenbeinen und Ärmeln Hochwasser.
»Laurie, ist das irgendein Trick?« Wynter klingt fast ein bisschen hysterisch. »Ich spiele jetzt schon so lange das Mädchen mit den magischen Fähigkeiten, dass ich mir gerade nicht sicher bin, ob mir das Ganze nicht etwas zu Kopf gestiegen ist.«
»Du spielst es nur«, sage ich und weise mit beiden Händen auf mich selbst. »Das hier hingegen ist echt.«
Ich bluffe ein bisschen. In Wirklichkeit handelt es sich nur um eine doppelseitige Illusion. Für sie sehe ich aus wie sie, und ich selbst fühle mich so – dabei ist es im Grunde nichts als eine Ganzkörpermaske.
»Wie?« Sie wirft mir das Wort förmlich entgegen.
Auf den Teil bin ich vorbereitet. Ich spreche über den größten Fluch meines Lebens, als wäre er eine Gabe: »Ich bin eine Imitatorin. Es ist eine Spezifikation in meiner DNA. Meine Eltern haben an einem Testprogramm teilgenommen, das die Möglichkeiten pränataler genetischer Modifikationen untersucht hat, und in meinem Fall kam es zu diesem … überraschenden Resultat.«
Es ist witzig – hätte es so ein Programm tatsächlich gegeben, wäre es höchstwahrscheinlich illegal gewesen und hätte niemals etwas wie das Imitieren zum Ergebnis gehabt; trotzdem glauben die Menschen mir diese Version lieber, als eine Erklärung zu akzeptieren, die ihre Vorstellungskraft übersteigt. Im Grunde macht es aber keinen Unterschied. Ob nun Wissenschaft oder angeborene Paranormalität, in jedem Fall hat es mein Leben ruiniert.
»Ich habe Laurie bereits den medizinischen Bericht geschickt.« Als ob der auch nur ansatzweise etwas taugen würde.
Es gibt Leute, die garantiert nicht vor Menschenversuchen zurückschrecken würden, wenn sie jemanden wie mich in die Finger kriegen würden. Damit mir niemand, für den ich aus diesen Gründen von Interesse wäre, auf die Spur kommt, muss ich mich in einer Sache unbedingt absichern: »Wir sind uns doch einig, dass alles strengster Geheimhaltung unterliegt? Die Öffentlichkeit darf nicht von mir erfahren!«
Ich pokere hoch. Wenn Wynter zu dem Schluss kommt, mich zu verraten würde ihr einen größeren Gewinn bringen, als meine Fähigkeiten für sich in Anspruch zu nehmen, verliere ich alles und bringe jeden, der so ist wie ich, in Gefahr. Dieses Risiko gehe ich nicht zum ersten Mal ein. Bisher war noch jeder Auftraggeber egoistisch genug, um dichtzuhalten. Immerhin habe ich ein Druckmittel gegen Wynter. Sie hat ebenfalls ein Geheimnis, das sie um jeden Preis schützen muss, wenn sie ihren Ruf nicht ruinieren will: dass sie überhaupt in Erwägung gezogen hat, mich zu beauftragen.
Ich lege die Imitation wieder ab und fühle mich sofort wohler in meiner Haut.
»Natürlich«, antwortet Laurie.
»Gibt es noch mehr Menschen, die das können?«, fragt Wynter. Ihre Stimme klingt dünn, aber insgesamt geht sie recht gefasst mit dem um, was sie gerade gesehen hat, finde ich.
»Niemanden, den ich kenne«, lüge ich, obwohl … eigentlich ist es zumindest die halbe Wahrheit. Savi kann es nicht wirklich, sonst wäre ich gar nicht hier. »Bei den anderen Kindern aus dem Programm haben sich keine Anomalien ergeben.«
Wynter muss sich setzen, sie sieht ein wenig blass aus. Laurie hat ja schon etwas mehr Zeit gehabt, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass jemand wie ich existiert. Sie lebt in einem Umfeld, wo sie viel mit außergewöhnlichen Menschen zu tun hat – wenn auch mit anderen Graden von Außergewöhnlichkeit –, und ist vor allem auf die Lösung des Problems fokussiert, wegen dem sie mich herbestellt haben.
»Ich habe dir ja schon gesagt, worin deine Aufgabe besteht«, sagt sie. Sie verwendet nicht mehr den Konjunktiv. Sehr gutes Zeichen! »Wynter wird sich natürlich Zeit nehmen, um dich ›einzuarbeiten‹.« Die Gänsefüßchen malt sie mit den Fingern in die Luft. »Es ist ideal, dass du vom ersten offiziellen Date an da sein wirst, das steht schon übermorgen an. Nord kennt Wynter privat nicht wirklich, da er als Einziger vom Cast direkt in Toronto lebt. Das lässt dir ein wenig Spielraum.«
Ich nicke und sage natürlich nicht, was ich von der Sache wirklich halte: Ihr Plan ist feige und unfair. Stattdessen denke ich an die gewaltige Summe, die sie mir zahlen werden.
»Dir muss aber klar sein, dass du nicht mehr aussteigen kannst, wenn du jetzt zusagst. Wir müssen uns voll auf dich verlassen können. Es ist nicht genau abzusehen, wie die Sache sich entwickeln wird. Gibst du uns dein Wort, dass du tun wirst, was immer der Auftrag von dir verlangt?«
Ich kann mir kein Zögern erlauben. »Solange die Bezahlung stimmt.«
»Ach.« Wynter hat ihre Überheblichkeit allem Anschein nach wiedergefunden. »Bist du so eine, die für Geld alles tun würde?«
Die Frage sollte mich nicht so treffen. Die Wahrheit ist, ich habe tatsächlich schon viel für die passende Entlohnung getan. Ich habe Leute hintergangen, Träume zerstört, mich selbst verraten. Und bin verraten worden, was mich überhaupt erst zu all dem gezwungen hat. Der Ring an meinem Finger erinnert mich jeden Tag daran.
Ich mag keine Bilderbuchheldin sein, aber im Laufe der Zeit habe ich eine wichtige Erkenntnis gewonnen: Wenn ich eine Heldin für die eine Person sein will, die mir von meiner Familie geblieben ist, dann bedeutet das, für viele andere zur Gegenspielerin zu werden. Manchmal sogar für mich selbst.
»Nicht für Geld«, antworte ich auf Wynters Frage, »aber für meine Schwester. Das läuft nur im Moment unglücklicherweise auf dasselbe hinaus.«
Zu meiner unendlichen Erleichterung bohrt sie nicht weiter nach, jedenfalls noch nicht. Ich sehe ihr an, dass ihr Dutzende von Fragen durch den Kopf schwirren, aber anscheinend muss sie doch immer noch verdauen, was sie eben erlebt hat.
»Ich glaube kaum, dass wir jemanden finden, der besser qualifiziert sein könnte als du«, sagt Laurie. »Also: Willkommen im Team Wynter, Elodie.«
In meinem Inneren kämpft Freude gegen Panik. Wie es aussieht, werde ich die nächste Runde dieses verzwickten Spiels namens Leben gegen niemand Geringeren als den gefeierten Nordyn Degenbrunner spielen.
Ich denke schon, dass keiner abnehmen wird. Das Tuten hält, wie mir ein Blick auf mein Handydisplay verrät, bereits quälende zweiundzwanzig Sekunden an. Dreiundzwanzig. Vierund… »Leygraf-Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Kraus, guten Abend?«
Gerade so kann ich mich davon abhalten, einen erleichterten Seufzer auszustoßen. Eine Rufumleitung! Das steigert meine Chancen enorm. Ich entspanne meine Finger, die ich in die Tagesdecke auf dem Bett gekrallt hatte.
Mein Plan war es, Carsten weichzuklopfen, aber da mir das auch bisher nicht gelungen ist, umgehe ich ihn nur zu gern, wenn ich kann.
»Elodie Rauch, guten Abend. Stian Dettmer …« Ich mache eine kurze Pause und kann förmlich spüren, wie sein Name mir die Aufmerksamkeit der Frau am Telefon sichert. Dass Stian Teil meines Lebens ist, ist eine Last, auch wenn das nicht immer so war. Hin und wieder öffnet es mir allerdings auch Türen. »… hat mir mitgeteilt, dass die behandelnde Ärztin es für sinnvoll hält, wenn ich mich bei meiner Schwester melde. Ein Telefonat könnte … für ihren Zustand förderlich sein.«
Das hier wird definitiv für noch mehr ungehörte und somit unbeantwortete Nachrichten auf meiner Mailbox sorgen, Nachrichten von dem Jungen, mit dem ich im Moment nicht reden kann und will. Eigentlich nie wieder.
»Wer behandelt sie denn?«
»Gabrie… Ich meine, Dr. Scheuner.«
»Warten Sie kurz, ich frage nach.«
Meine Hoffnung sinkt, aber ich bin schon weiter gekommen als in den letzten sieben Wochen. Sieben Wochen, in denen ich nicht ein einziges Wort mit meiner eigenen Schwester wechseln durfte.
Vielleicht ist Gabrielle zufällig noch da und hilft mir. Auch wenn ich eigentlich nicht möchte, dass sie für mich gegen Carstens Anweisungen handelt.
Ich rutsche zurück, bis mein Rücken die Wand berührt, und ziehe die Beine dicht an meinen Körper heran. Ich bin eine gefühlte Ewigkeit im Raum auf und ab getigert, bevor ich mich getraut habe, die Nummer zu wählen. Jetzt muss ich mich zwingen, mal eine Weile stillzuhalten. Ich betrachte die bunten Ordner im Regal gegenüber. Mein Zimmer liegt über dem Kosmetiksalon von ClassyGardens. Die Bewohnerin, die Tochter von Fiora, der Salonbesitzerin, macht zurzeit ein Auslandsjahr in Frankreich. Da sie nicht damit gerechnet hat, dass in der Zwischenzeit jemand hier wohnen würde, hat sie ihre Sachen nicht aufgeräumt, doch das ist schon in Ordnung. Ich mag das Gefühl, von den Puzzleteilen eines Lebens umgeben zu sein, das eine andere führt.
»Hören Sie?«
Das ging schnell.
»Ja?«
»Dr. Scheuner ist gerade nicht im Dienst, aber ich stelle Sie in die Station durch.«
Sie stellt mich durch? Mein Herz beginnt aufgeregt zu klopfen. Sollte es nach all den gescheiterten Versuchen so einfach sein? Habe ich genau den richtigen Moment erwischt und die eine Person in der Klinik an die Strippe bekommen, die nicht weiß, wie streng Savannas Auflagen sind?
»Elly.«
Auch das noch. So viel zu: Ich kann und will nicht mit ihm reden.
»Du?«, frage ich frustriert. »Was machst du in der Klinik?«
Inzwischen kann ich die Mauer um mich ganz leicht hochziehen. Der Klang seiner Stimme, alles, was er sagt, und vor allem, was er nicht sagt, es dringt nicht mehr zu mir durch. Zumindest kaum noch.
»Ich wollte nach Savi sehen, was denkst du denn?«
Natürlich – er darf zu ihr, ich nicht. Er kann dort ein und aus gehen, und ich muss tricksen und brauche mehr als nur eine gehörige Portion Glück, um sie auch nur ans Telefon zu bekommen. Aber so ist es eben; Carsten ist nun mal nicht nur Geschäftsführer und Ärztlicher Direktor der verfluchten Klinik, sondern auch sein Vater.
»Ich will mit ihr reden. Oder denkst du, sie kann mir durch die Leitung etwas antun?« Die Frage trieft vor Sarkasmus. Nur dank ihm bin ich überhaupt in dieser Lage. Dabei könnte es Savi längst besser gehen, wenn er mir vertraut hätte. Und keine haarsträubenden Lügen erfunden hätte, nur um mich von ihr fernzuhalten.
»Du weißt es schon, oder?«
»Ja.« Ohne Zweifel spricht er von Carstens Ankündigung, die Behandlung abzubrechen. Was das bedeuten würde, weiß Stian genauso gut wie ich: Savanna würde endgültig weggesperrt und wäre in allen Belangen von dem Wohlwollen seines Vaters abhängig, noch mehr als jetzt schon. Stian allein würde die Schuld dafür tragen.
»Wo bist du?«
»Das kann dir egal sein.«
Er würde ausflippen, wenn er erführe, dass ich das Land verlassen habe und über acht Flugstunden weit weg bin. Zu meinem Glück kann er das nicht ahnen. Er glaubt, ich würde mich nicht freiwillig so weit von Savanna entfernen. Was ich auch niemals tun würde – unter normalen Umständen, meine ich.
»Ist es aber nicht. Wenn du mich zurückgerufen hättest, hätten wir schon früher über eine Lösung nachdenken können.«
»Die Lösung ist relativ einfach, und sie lautet: Geld. Ich kümmere mich darum.« Ich habe bereits Dutzende von Jobs erledigt, doch mein bislang Erspartes reicht nicht annähernd an die benötigte Summe heran. Die Sache mit Wynter kann alles ändern. Durch ihren Auftrag bekomme ich auf einen Schlag genug zusammen.
»Genau das habe ich befürchtet. Das letzte Mal lief es nicht besonders gut, als du dich darum kümmern wolltest.«
Wie kann er es wagen, so was zu sagen? Seinetwegen ist es nicht gut gelaufen. Ich war so nah dran.
Mir liegen ein paar sehr feindselige Dinge auf der Zunge, aber ich zwinge mich dazu, ruhig zu bleiben. »Kann ich bitte mit ihr sprechen?«, frage ich kühl. Wenn es sein muss, werde ich betteln. Und auch nur dann.
»Natürlich«, sagt er mit einer halben Tonne Resignation in der Stimme. Dann, nach kurzem Zögern: »Sie hat eine schlechte Phase, also erschrick nicht.«
Als ob irgendetwas an Savannas Phasen mich noch erschrecken könnte.
»Außerdem musst du mir versprechen, dass wir danach in Ruhe reden. Wie erwachsene Menschen.«
»Okay«, lüge ich ohne jedes Zögern. »Aber nicht mehr heute Abend. In den nächsten Tagen.«
»Wann, Elly? Ich will einen festen Termin. Am besten kommst du dafür nach Hause.«
Dass ich nicht lache.
»Das geht wirklich nicht. Sagen wir übermorgen, achtzehn Uhr. Ich ruf dich an. Jetzt gib sie mir!«
Ich warte auf weiteren Widerstand, doch da höre ich schon seine Schritte. Fast sehe ich vor mir, wie er den schmalen Flur mit der grässlich kränklichen Beleuchtung entlanggeht.
»Du fehlst mir.«
Darauf erwidere ich nichts. Obwohl diese drei Worte mich mehr treffen, als ich es ihnen erlauben will.
Stian hält den Hörer weg und sagt etwas zu jemandem, das nur als dumpfes Murmeln zu mir durchdringt. Dann habe ich sie am Telefon, und alles andere wird unwichtig.
»Elly! Was gibt’s?« Ich erkenne gleich, dass das nicht ihre eigene Stimme ist.
»Savanna! Ich bin so froh, dass ich dich erreiche«, würge ich an dem Kloß in meinem Hals vorbei. Ich möchte sie nicht zusätzlich damit belasten, wie viele Sorgen ich mir mache und wie sehr ich es hasse, nicht jederzeit zu ihr zu können.
»Oh, tut mir leid. Savanna ist nicht hier, hab sie lang nicht mehr gesehen. Kann ich ihr was von dir ausrichten?«
Der Kloß schwillt auf die doppelte Größe an. Es ist nichts Neues, zieht mir aber jedes Mal wieder den Boden unter den Füßen weg. Meine Schwester erinnert sich nicht daran, wer sie ist. Ich habe keine Ahnung, wie viele Identitäten es inzwischen sind, zwischen denen sie wechselt, aber es sind weit mehr, als Gabrielle zu Beginn der Behandlung vorausgesagt hat. Das war vor gut drei Jahren. Jetzt ist Savi sechzehn und hat schon so viele Namen getragen, dass ich sie nicht mehr alle aufzählen könnte.
»Mit wem spreche ich denn?«, frage ich zaghaft.
Es ist so entmutigend! Wie oft ist meine Hoffnung, sie würde Fortschritte machen, schon zerschmettert worden?
Obwohl ich weiß, dass es ihre Psyche ist, die sie daran hindert, einfach ein normaler Teenager zu sein, gibt es Momente, in denen ich es nicht wahrhaben will, es nicht begreifen kann. Einmal, als ich sie besuchen durfte und sie steif und fest darauf beharrte, eine Tänzerin namens Shawna zu sein, und dabei die Gestalt einer Frau trug, die sie nur im Fernsehen gesehen haben konnte, habe ich die Nerven verloren. Ich habe sie angeschrien und sie angefleht, wenigstens mir gegenüber zuzugeben, dass sie genau weiß, wer sie ist. Sie sah mich nur überrascht an und versicherte mir, wenn diese Savanna, für die ich sie anscheinend halten würde, wüsste, wie sehr ich sie vermisse, wäre sie sicher längst zurückgekommen. Ich glaube, das war einer der schlimmsten Momente in meinem ganzen Leben – und ich habe nicht wenige schlimme Momente hinter mir.
Seit diesem Tag habe ich ihr gegenüber nicht wieder infrage gestellt, dass sie nicht Savanna ist. Ich spiele mit, und es zerreißt mir wieder und wieder das Herz.
Ein einziges Mal seit ihrer Einweisung in die Klinik habe ich sie ohne Imitation gesehen. Die Hoffnung, die das in mir ausgelöst hat, ist mit einem so heftigen Schlag zerstört worden, dass der Schmerz seitdem ein Teil von mir ist.
»Hier ist Kim, was hast du denn gedacht?«
Die kleine Quirlige also, die ständig neue Frisuren ausprobiert.
»Ah ja, klar. Hör mal … Kim. Hast du denn etwas von Savanna gehört? Geht es ihr gut?« Es gab eine Zeit, in der es mir albern vorkam, solche Gespräche zu führen. Inzwischen bin ich sehr geübt darin.
»Ich glaub, sie hat keinen Bock auf die Scheuner«, meint meine Schwester unbekümmert. »Nur zu verständlich – dieser Röntgenblick immer, echt gruselig. Ich kann sie auch nicht besonders gut leiden. Sie behandelt mich wie eine Gestörte, obwohl ich kein bisschen krank bin.«
Ein Moment wie dieser war es, der zu meinem Ausraster damals geführt hat. Manchmal denke ich, Savanna spielt nur mit uns allen. Sie verliert sich gar nicht in ihrem eigenen Verstand. Aber in Wahrheit wünsche ich mir das nur so sehr, dass ich überall Zeichen dafür wittere, wo keine sind.
»Elly«, sagt Savanna mit Kims Stimme, plötzlich ganz ernst. »Du solltest nicht so hart zu Stian sein.«
Wie es aussieht, hat sich Kim mit Stian angefreundet. Ganz toll.
»Zwischen uns ist alles okay.« Nicht.
»Er ist jedes Mal ziemlich fertig, wenn er mit dir gesprochen hat. Was ist zwischen euch passiert?«
»Gar nichts«, weiche ich aus.
»Ich wünschte, ihr würdet euch wieder vertragen.«
»Wie meinst du das?« Kann sie gerade irgendetwas mitbekommen haben, das nicht für ihre Ohren bestimmt war? Stian und ich sind uns nicht über viele Dinge einig in letzter Zeit, aber in einer Sache schon: Savi erfährt nichts von unseren Problemen. Wir belasten sie damit auf keinen Fall zusätzlich.
»Na ja, ich will einfach, dass ihr wieder zusammenkommt. Ihr gebt ein echt gutes Paar ab, weißt du? Pia hat das letztens auch zu mir gesagt, und sogar Kendra findet euch süß, obwohl sie so eine Anti-Romantikerin ist.«
Von ihren Worten wird mir übel. Es gibt nicht viel, was man mit Sicherheit über Savannas Persönlichkeitsstörung sagen kann, da sie, soweit wir wissen, der erste und einzige Fall ist. Doch laut Dr. Graudorfen, Gabrielles Vertretung, ist den Aussagen meiner Schwester dann ein höherer Wahrheitsgehalt beizumessen, wenn sie sich auf mehrere ihrer Imitationen bezieht.
»Du solltest nicht so viel Zeit mit ihm verbringen«, sage ich. »Kommt er oft vorbei?«
»Ich weiß nicht, ich bin noch nicht lange hier. Aber vor mir hat Luzie in diesem Zimmer gewohnt, und sie sagt, er ist immer zu ihr gekommen, wenn er jemanden zum Reden brauchte. Sie ist eine gute Zuhörerin, für mich war sie auch da.«
Luzie. Eine weitere von Savannas wiederkehrenden Persönlichkeiten. Daneben gibt es auch immer wieder solche, die sie nur für einen Tag oder sogar nur wenige Stunden trägt.
»Sie meinte, er redet viel von dir.«
Das ist noch ein Grund, warum ich immer ein ungutes Gefühl habe, wenn Stian Savi besucht. Er weiß, wie viel ich ihr anvertraue, egal, für wen sie sich hält. Bestimmt versucht er, sie über mich auszufragen. Meinen neuen Job erwähne ich also besser nicht.
Kim plaudert fröhlich weiter, empört sich darüber, in einer Klinik eingesperrt zu sein, obwohl sie doch die Schule abschließen muss und endlich die Nachbarskinder wiedersehen will, die sie babysittet – alles fiktive Details, die in ihrem Kopf wahr sind. Sie merkt nicht, dass ich kaum noch ein Wort herausbringe.
»Ich hoffe, wir quatschen demnächst mal wieder, wer weiß, wie lange die mich hier noch festhalten, und es kann echt stinklangweilig sein«, sagt sie, als ich mich mit schwerem Herzen von ihr verabschiede.
»Ich hol dich da raus«, verspreche ich. Egal, was es mich kostet. Egal, ob die Chance besteht, dass ich meine echte Schwester je zurückbekomme.
Was bisher geschah:Arabella de Montenor arbeitet für das erfolgreiche Lifestyle-Magazin NoFlaws. Bei einem Interview lernt sie Deven kennen, den attraktiven Assistenten eines Starfotografen. Am Ende des Termins fragt er sie nach ihrer Nummer, und obwohl sie nicht damit rechnet, dass er sich meldet, lädt er sie schon bald auf ein Date ein. Dann auf ein zweites. Dann auf ein drittes. Zwischen den beiden sprühen die Funken, doch dann taucht plötzlich die mysteriöse Wynter in Arabellas Leben auf und warnt sie davor, sich auf Deven einzulassen. Sie weiß viel mehr über ihn, als sie als Fremde wissen dürfte. Doch er behauptet, ihr noch nie begegnet zu sein …
Arabella steht vor dem Wohnhaus, in dem sich Devens WG befindet. Sie hebt die Hand zur Klingel, lässt sie aber wieder sinken. Mit unsicherem Blick schaut sie die graue Fassade hinauf, als könnte Deven jeden Moment den Kopf aus einem der Fenster über ihr stecken.
Sie schreckt zusammen, als ihr Handy klingelt. Zoom auf das Display, auf dem Devens Name steht. Sie nimmt den Anruf entgegen.
»Wo ich gerade bin?«, fragt sie und stößt ein schüchternes Lachen aus. »Na ja, genau genommen unten vor deiner Tür.«
Schnitt zu Deven, der in seinem Zimmer steht, das Handy am Ohr. Seine Augen werden groß, dann rennt er: zur Zimmertür hinaus, durch den chaotischen WG-Flur mit den vielen Umzugskartons seines neuen Mitbewohners und die Treppe hinunter. Er reißt die Tür auf, und Arabella steht vor ihm.
»Ich …«, setzen beide gleichzeitig an und verstummen wieder. Leise Musik unterlegt die Situation, ein sanfter Popsong.
»Es war nicht fair von mir, dir Vorwürfe wegen dieser Wynter zu machen«, sagt Arabella. »Ich kenne dich ja kaum, und ich habe kein Recht darauf, dass du mir deine gesamte Vergangenheit offenlegst.«
Er legt seine Hände auf ihre Schultern, und sie weicht nicht zurück. »In meiner Vergangenheit gibt es kein Geheimnis, das ich dir nicht anvertrauen würde.«
»Dann sag mir, wer sie ist«, flüstert Arabella.
Deven sieht ihr in die Augen. »Wirklich, es ist die Wahrheit: Ich habe diese Frau noch nie zuvor gesehen. Keine Ahnung, wer sie ist, aber aus irgendeinem Grund wollte sie, dass wir streiten.«
Arabella denkt nach. Deven streicht mit dem Finger über die Runzeln, die sich dabei auf ihrer Stirn bilden.
»Glaubst du, Sara könnte sie geschickt haben?« Sara ist Arabellas Vorgesetzte bei NoFlaws. »Sie hat letztens so eine Bemerkung gemacht: dass ich mich nicht mehr genügend auf meinen Job konzentriere, seit …« Sie unterbricht sich, und ihre Wangen überzieht ein Hauch von Rosa.
»Seit wir uns kennen?«, fragt Deven.
Arabella nickt, traut sich aber nicht, ihm in die Augen zu sehen.
»Das ist witzig, genau dasselbe hat Jay mir heute Morgen an den Kopf geworfen. Er meint, wenn das so weitergeht, braucht er einen neuen Assistenten. Einen, der nicht den ganzen Tag schmachtend in die Gegend schaut.«
Arabella hebt endlich den Blick. »Tust du das?«
»Absolut! Und daran bist nur du schuld.« Er tritt einen Schritt auf sie zu, zögert, streckt die Hände aus, umfasst ihr Gesicht. »Diese Wynter mag eine manipulative Schlange sein. Vielleicht hat sie wirklich den Auftrag, uns gegeneinander aufzubringen. Vielleicht ist sie auch einfach nur neidisch auf das, was wir beide haben könnten, oder süchtig danach, anderen das Leben schwer zu machen. Aber weißt du was? Nicht mal, wenn sie jetzt hier wäre, könnte sie verhindern, dass ich das hier tue.«
Er küsst sie, und die Kamera fängt es perfekt ein. Ganz nah zeigt sie die beiden Gesichter, die zuerst zaghaften und dann immer leidenschaftlicheren Berührungen ihrer Lippen. Devens Finger, die Arabellas Gesichtszüge nachzeichnen, ihre Hände in seinem dunkelbraunen Haar. Es ist der erste Serienkuss von Devabella, und er ist zum Dahinschmelzen. Kein Wunder, man munkelt, dass die beiden Schauspieler auch hinter den Kulissen und jenseits der Kameralinse bis über beide Ohren verknallt sind.
»Hier seid ihr!«
Bis vor wenigen Tagen hätte ich nicht gedacht, ihr je gegenüberzustehen – Arabella de Montenor aus Wonderful Intrigues, oder im echten Leben: Tiffy Gregory. Schon gar nicht in Wynter Brookelys begehbarem Kleiderschrank.
»Sorry, dass ich das frage«, platzt es aus mir heraus. »Aber ist Tiffy dein richtiger Vorname?« Etwas, das ich besser gegoogelt hätte.
»Ist er. Und bevor du deinen Atem verschwendest – was auch immer du als Nächstes sagen willst: Ich habe es schon mal gehört.«
Okay, mein Gedanke wäre so oder so nicht gut angekommen. Er hat etwas mit der passenden Namensgebung für Schoßhündchen zu tun gehabt, Pudel vielleicht. Ohnehin nichts, was ich mich zu sagen getraut hätte.
Tiffy ist, falls das überhaupt möglich ist, noch zierlicher als Wynter. Ihre langen Haare in einem irgendwie verwaschenen Blasslila sind in der Serie nie zu sehen; vermutlich trägt sie als Arabella eine Perücke. Die großen, dunklen Augen verleihen ihrem Gesicht etwas Elfenhaftes. Obwohl sie sehr gekonnt geschminkt ist, sieht sie müde aus, abgekämpft, als würde es sie ziemlich fordern, Arabella zu sein. Oder vielleicht ist es in Wahrheit die Realität als Tiffy, die sie so mitnimmt.
»Tiff, gut, dass du da bist, du musst uns helfen!«, erklingt Wynters Stimme aus den Untiefen eines Schranks im Schrank.
Tiff also, wohl nach dem Motto: Lieber ein Dateiformat als ein Hündchen.
Wynter ist gerade dabei, erste Outfits für mich zusammenzustellen, damit ich so bald wie möglich als sie auftreten kann. Eine große Hilfe bin ich ihr dabei nicht. Ich stehe schon seit einer Weile tatenlos herum und frage mich, wie jemand so viele Sachen besitzen kann. Ob Kleider, Shirts, Jeans, Schuhe oder Schmuck – Wynter könnte darin baden.
»Wir brauchen Klamotten, die typisch ich sind! Wozu würdest du outfittechnisch für das erste öffentliche Date mit deinem Ex raten?«
Wie schräg das Ganze ist! So richtig komme ich gerade nicht mit. »Seid ihr nicht die schlimmsten Erzfeindinnen?«, frage ich. »Was ist mit eurem Zickenkrieg in den sozialen Netzwerken? Den ganzen Hass- und Lästerposts?«
Wynter winkt ab. »Die organisieren unsere PR-Manager, was denkst du denn?«
»Na ja, ich mach’s meistens selbst.« Tiffy ringt sich ein Lächeln ab. »Innerhalb von ClassyGardens dürfen wir Freundinnen sein.«
»Okay. Gut zu wissen.«
Was muss das für ein Leben sein, in dem jemand einem so etwas vorgibt?
Das ist auch nicht viel anders als bei dir, flüstert eine fiese Stimme in meinem Kopf.
»Jetzt komm schon!«, beschwert sich Wynter. »Was kann sie anziehen, damit sie auf Nord abgestimmt ist, es aber nicht danach schreit, dass sie ernsthaft auf ihn steht?« Sie taucht aus dem Schrank auf, mehrere Kleidungsstücke über den Armen. »Ich habe Tiff übrigens herbestellt, damit sie dir einen Crashkurs in Sachen Nord verpasst«, erklärt sie mir. »Keiner kennt ihn besser als sie.«
Ich muss an all die Szenen zwischen Arabella und Deven denken und wie hingebungsvoll die beiden in der Serie erscheinen. Wie viel davon ist echte Chemie gewesen?
»Wart ihr lange zusammen?«, frage ich, obwohl ich die Antwort kenne. Ich will Tiffy testen.
»Offiziell drei Jahre. Privat dreiunddreißig Monate und siebzehn Tage.«
Es ist nicht ganz das, womit ich gerechnet habe.
»Nachdem es aus war, mussten wir für die Fans noch ein bisschen länger durchhalten«, fügt sie hinzu, als sie die Fragezeichen in meinen Augen bemerkt. »Eine Trennung direkt am Jahrestag wirkt angeblich tragischer. War nicht so cool.« Sie schüttelt den Kopf, als ob sie die Erinnerungen dadurch vertreiben könnte. Dann schaut sie zu ihrer mit Klamotten behängten Freundin. »Die dunkelblaue Chiffonbluse ist gut«, urteilt sie. »Ein schwarzes Top drunter, eine Skinny-Jeans in Hellgrau. Vielleicht die Ankle Boots, die du letztens bei dieser hippen Designerin bestellt hast.«
»Perfekt! Ich wusste, auf dich ist Verlass.«
Wynter wirft die restlichen Sachen zurück. Mir tut die Person, die hier später für Ordnung sorgen darf, schon jetzt leid.
»Mal was anderes«, wendet Tiffy sich wieder an mich. »Wie willst du irgendwen davon überzeugen, dass du Wynter bist? Sorry, aber ihr seht euch kein bisschen ähnlich.«
»Tiff, du solltest dich besser setzen.« Wynter schiebt sie aus dem Schrank zurück in den Hauptraum ihres Apartments. Ich folge den beiden, und das Chaos, das Wynter angerichtet hat, verschwindet im Dunkeln, als ich das Licht hinter uns lösche.
»Los, Elodie, zeig’s ihr.«
Wynters triumphierend funkelnder Blick gibt mir das Gefühl, ein dressiertes Zirkustier zu sein. Trotzdem gehorche ich. Ich höre Tiffy heftig nach Luft schnappen.
»Wehe, du verrätst das auch nur deiner Mutter«, sage ich in Wynters schneidendstem Tonfall.
Tiffy zuckt zusammen, und Wynter wirft mir einen warnenden Blick zu. Kommt schon, so unheimlich war das jetzt auch nicht, oder?
»Das ist …« Tiffy blinzelt und stellt offenbar fest, dass es keine Einbildung sein kann. »Das ist krass.«
»Nicht wahr? Jetzt, wo ich über den Schock hinweg bin, bin ich einfach nur so, so, so erleichtert, dass Laurie sie aufgetrieben hat.«
Und schon wieder bin ich zu der Person degradiert worden, über die man spricht, als wäre sie nicht anwesend.
Ich streife die Imitation wieder ab. In nächster Zeit werde ich sie noch oft genug tragen müssen, ich darf mich auf keinen Fall zu schnell daran gewöhnen.
»Wow, ich … wow. Ist das ein Zauber? Das …«
»Eine genetische Trickserei«, erlöse ich sie aus ihrer Sprachlosigkeit. »Oder eher eine Nebenwirkung der Tests und Anpassungen, die meine Eltern haben durchführen lassen.«
Sie lässt sich meine Erklärung durch den Kopf gehen.
»So verrückt ist es auch wieder nicht«, versuche ich die Sache herunterzuspielen, wie ich es schon unzählige Male verschiedensten Menschen gegenüber getan habe. »Wir leben in einer Welt, in der man die Option auf eine Gesichts-OP, eine Leihmutterschaft und alle möglichen anderen irren Dinge hat. Es wird mit Waffen experimentiert, über die kein Mensch verfügen können sollte. Organe werden transplantiert und Roboter konstruiert. Wir haben riesige Datenmengen auf winzigen Datenträgern oder irgendwo in ominösen Clouds. Die Genforschung schreitet immer weiter voran. Man könnte sagen, ich bin ein echtes Kind unserer Zeit.«
Sie scheinen beide wenig beeindruckt von meiner pathetischen Ansprache.
»Warum habe ich noch nie davon gehört?«, fragt Tiffy. »Denn zufälligerweise ist es auch ein typisches Merkmal unserer Zeit, dass Geheimnisse dieser Größenordnung nicht lange gewahrt werden.«
Ich mache eine wegwerfende Handbewegung. »Es gibt viel Aufregenderes. Beautyblogger, Katzenvideos, Promiklatsch …«
»Letzteres ganz besonders«, pflichtet Wynter mir bei. »Womit wir wieder bei unserem Thema des Tages wären: Wie gehen wir die Sache mit Nord am besten an?«
Sie erklärt der immer noch leicht überforderten Tiffy, dass meine Fähigkeiten ab dem ersten »Date« zum Einsatz kommen sollen, das extra so inszeniert ist, dass die Presse auf jeden Fall davon Wind bekommt.
»Ich glaube, sicherheitshalber wäre es besser, wenn ich ihm vorher zumindest schon einmal gegenübergestanden habe«, gebe ich zu bedenken. »Damit ich ihn einigermaßen einschätzen kann.«
»Dafür wirst du sehr viel länger brauchen«, prophezeit Tiffy.
Das passt zu meinem bisherigen Eindruck. Über Nordyns Privatleben ist extrem wenig herauszufinden. Nicht mal seine Vita im Netz gibt viel her. Sie beschränkt sich im Grunde auf seine Filmografie und die Beziehung mit Tiffy.
»Eine Art Testlauf ist sicher nicht die schlechteste Idee«, kommt Wynter auf meinen Vorschlag zurück, Nord schon einmal inoffiziell zu treffen. »Falls du es vermasselst, dann wenigstens nicht gleich öffentlich. Ich klär das ab.« Sie händigt mir einen Zettel aus, auf dem sie eine Mindmap über sich angefertigt hat. »Das hier sollte dir einen ersten Überblick verschaffen. Unten rechts steht meine Nummer – du kannst mir jederzeit schreiben, wenn du eine Frage hast. Die darunter ist Tiffs. Bei ihr bist du richtig, wenn es um Nord geht.«
Tiffy sieht nicht sonderlich begeistert aus über die Rolle, die Wynter ihr zugedacht hat. Verständlich – wer möchte schon einer anderen helfen, mit dem eigenen Ex klarzukommen?
Ich betrachte die Übersicht – von Wynters Vorlieben und Abneigungen, was Essen, Trinken, Musik, Filme und Gesprächsthemen angeht, über ihren Freundeskreis bis hin zu Infos über ihre Rolle in WIn und Insiderwitzen des Casts hat sie an alles gedacht. Ich werde mir das später in Ruhe ansehen und so gut es geht verinnerlichen.
»Ich bitte Laurie, Zeiten in meinem Terminplan frei zu halten, in denen du und ich zusammen abhängen können«, sagt Wynter. »Dadurch lernst du wohl am besten, wie ich ticke.«
Sie hat natürlich recht, aber so richtig vom Hocker reißen tut mich die Vorstellung, mit ihr abzuhängen, jetzt nicht. Wahrscheinlich sollte ich mich nicht beschweren; ich kann ja schon froh sein, nicht für sie an irgendwelchen Dreharbeiten teilnehmen zu müssen.
Wynter bittet Tiffy, mir die erste Kurzzusammenfassung zu Nord zu geben.
Ich merke, wie sie sich beim Erzählen windet. Sie orientiert sich an ähnlichen Punkten wie in der Mindmap, berichtet, dass er fotografiert, so wie Deven in der Serie auch, dass es kaum etwas gibt, das er so sehr hasst wie Sushi, und dass er seinen Kaffee auch dann noch trinkt, wenn er nur noch lauwarm ist. Sie schweift ein bisschen vom Wesentlichen ab, aber weder Wynter noch ich stoppen sie. Ich frage mich, ob Wynter sich auch gerade so fühlt, als wären wir Tiffys Therapeutinnen. Es scheint ihr jedenfalls gutzutun, alles, was sie über Nord weiß, bei uns abzuladen.
»Oh, shit«, sagt sie irgendwann nach einer kurzen Atempause, die sie offenbar zurück in die Gegenwart geholt hat. »Sorry, so genau wolltet ihr es wahrscheinlich gar nicht wissen.«
»Die Informationen über eure heißen Nächte hättest du weglassen können«, scherzt Wynter.
Das war fies. Tiffy schluckt und braucht einen Moment, um sich wieder zu fangen. »Na ja«, fährt sie dann gespielt unbeschwert fort. »Wen man unbedingt kennen muss, wenn man es mit Nord zu tun hat, ist Jeffrey. Keiner weiß genau, wie es eigentlich dazu kam, aber die beiden sind beste Freunde.«
Wynter stöhnt auf. »Noch ein Grund, diese Sache zu delegieren. Ich kann diesen Typen nicht ab.«
»Dass Jeffrey nichts wittert, ist fast genauso wichtig wie deine Tarnung gegenüber Nord«, sagt Tiffy.
Die beiden beginnen über diese Ausnahmefreundschaft zu rätseln, obwohl sie meinem ersten Eindruck nach selbst eine führen. Dann sammeln sie Ideen für Orte, wo Wynter und ich uns treffen könnten, ohne dass mein Gesicht in den Medien landet. Ich beteilige mich nur noch mit höflichen »Hm« und »Klingt gut« am Gespräch.
Schließlich weist eine Terminerinnerung auf ihrem Handy Wynter darauf hin, dass sie mit ihrem Vater zum Essengehen verabredet ist. Sie verabschiedet sich von Tiffy und mir und verschwindet schnell in ihrem Badezimmer, um sich fertig zu machen.
Tiffy und ich verlassen das Apartment gemeinsam. Unsere Wege trennen sich am Ausgang des Gebäudes.
»Ein letzter Rat«, sagt sie, bevor sie geht. »Wenn du Nord beeindrucken willst, sei du selbst.«
Ich bin mir nicht sicher, was sie mir damit sagen will. Ist sie gegen Wynters Plan? Will sie, dass ich alles auffliegen lasse? Oder meint sie wirklich nur, dass man bei Nord mit Natürlichkeit mehr punkten kann als mit Prunk und Glitzer?
»Wenn das stimmt, kann er ja eigentlich kein totales Arschloch sein«, sage ich. Mit der Aussage bleibe ich auf sicherem Boden.
»Nein.« Tiffy sieht mich an, und ich bin nicht in der Lage, zu sagen, ob das in ihrem Blick Entschlossenheit, Mitleid, Misstrauen oder Traurigkeit ist. »Nord ist der beste Mensch, der mir bisher begegnet ist.«
Ich muss darum kämpfen, die Imitation aufrechtzuerhalten. In Situationen, die mich nervös machen, nehmen andere Menschen schnell etwas an mir wahr, das ich das Flackern nenne. Mein Erscheinungsbild ändert sich immer wieder für den Bruchteil einer Sekunde, und wenn ich nicht höllisch aufpasse, fällt die Fassade. Sollte mir das jetzt passieren, kann ich einpacken. Bei meiner ersten Begegnung mit Nord darf nichts schiefgehen. Wynter hat Laurie spionieren lassen, und die hat in Erfahrung gebracht, wo er heute den Abend verbringt: in einer Bar namens The Right One, im West End von Old Toronto, mit diesem Jeffrey.
Das Lokal ist nicht so gut besucht, und ich entdecke die Jungs gleich. Die beiden Bodyguards, die ich in Wynters Rolle mitnehmen musste, haben mich im Blick, halten aber Abstand und bleiben im vorderen Teil des Raumes zurück. Nicht mal sie wissen Bescheid.
Ich nähere mich dem Tisch von der Seite, sodass meine Zielpersonen mich nicht kommen sehen. Wie es der Zufall will, reden sie gerade über … na, wen wohl?
»Stell dich mal nicht so an! Wynter mag eine Bitch sein, aber sie ist extrem scharf und extrem heiß.«
Der blonde Typ, der das gerade vom Stapel gelassen hat, dürfte Jeffrey sein. Er scheint eine Schwäche für platte Synonyme zu haben. Von Nord sehe ich aktuell nur den Hinterkopf über der gepolsterten Lehne der Sitzbank.
»Wynter ist so scharf wie eine Schwimmnudel«, schießt er gerade zurück.
Das ist der Augenblick, in dem Jeffrey den Kopf dreht und mich sieht.
»Und so heiß wie ein Eisklotz«, beendet Nord sein Urteil.
»Scheiße, Mann!«, platzt Jeffrey heraus. »Sie steht gerade hinter dir.«
Ich rechne damit, dass Nord erschrocken und mit schuldbewusstem Blick zu mir herumfährt, aber er befindet es offenbar nicht für nötig, meine Gegenwart überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Seelenruhig trinkt er einen Schluck von seinem Bier. Dann setzt er das Glas wieder ab und sagt, so laut, dass ich es auf jeden Fall höre: »In unserem Vertrag steht nicht, dass du mir nachschleichen darfst. Wenn du ein Drehbuch für den Termin morgen Abend hast: Schick es an Tim. Ich kann aber nicht versprechen, dass ich mich daran halten werde.«
Ich brauche einen Moment, um die Informationen einzuordnen, die da mitschwingen. Erstens: Er hat kein Interesse daran, mehr Zeit als nötig mit Wynter zu verbringen, und will definitiv alles Private aus der Abmachung raushalten. Beides sehr gut für mich. Zweitens: Er hält Wynter für kontrollsüchtig und geht davon aus, dass sie ihm Vorschriften für das Date machen will. Wie es scheint, hat er eigene Vorstellungen davon, wie es laufen soll. Das wird Wynter gar nicht gefallen, aber sie kennt ihn ja lang genug, um damit zu rechnen. Außerdem hatte ich bei unserer Besprechung den Eindruck, sie wird mir, was die Gestaltung meiner Zeit mit Nord angeht, weitgehend freie Bahn lassen. Sie ist froh, wenn sie sich nicht mehr als nötig mit der ganzen Sache herumschlagen muss.
Nord hat mir gerade das Offensichtliche bestätigt: Die beiden haben sich wirklich nicht besonders gern.
»Für mich bitte einen Maracujasaft«, rufe ich dem Kellner zu, der mir freundlich zunickt, dann mache ich Anstalten, mich zu setzen. Nord kann gerade noch rechtzeitig reinrücken, bevor ich auf seinem Schoß lande. Ich muss Wynter sein, und Wynter ist es gewohnt, dass man ihr Platz macht.
Jeffrey mustert mich mit unverhohlener Belustigung. Ihn scheint es nicht zu stören, dass ich gerade ihren gemütlichen Männerabend sprenge.
»Ich weiß, dir wird nicht gefallen, was ich jetzt sage«, presst Nord zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Aber egal, was Laurie und Tim behaupten, und Team Task hin oder her – du brauchst meine Hilfe, nicht umgekehrt. Also nerv mich besser nicht.«
Wow, das nenn ich mal eine klare Ansage!
»Da musst du was falsch verstanden haben«, kontere ich einen Augenblick zu spät, als dass es noch die volle Punktzahl auf der Schlagfertigkeitsskala erreichen könnte. »Im besten Fall ist es eine Win-win-Situation, aber Hilfe brauche ich ganz bestimmt nicht von dir.«
Der Kellner war schnell. Als er das Glas vor mir auf den Tisch stellt, lächelt er mich an, als hätte mein Auftauchen ihn für sämtliche Wochenendschichten, die er je hier machen musste, entschädigt. Instinktiv lächle ich zurück, woraufhin er fragt, ob er uns dreien vielleicht einen süßen Flammkuchen aufs Haus bringen darf. Jeffrey nimmt das Angebot schon an, bevor es ganz ausgesprochen ist.