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Upper Class Drama deluxe. Tief verletzt von Robins Verrat kehrt Vicky sich von der Glamourgesellschaft Saya Nord ab. Hin und her gerissen zwischen Sehnsucht und Rachegelüsten, schmiedet sie mit Clea einen Plan. Doch während Clea der Regentschaft immer näher kommt, entpuppen sich Robins Gefühle für Vicky als echt. Hat ihre gemeinsame Zukunft eine Chance? Der zweite Band der Reihe "Glamour Girl. Giftige Wahrheit" ist das packende Finale über Lügen, Liebe und gelüftete Geheimnisse.
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Seitenzahl: 468
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Wenn alle Masken fallen …
VICKY »So gelegen mir Sayas Angebot auch kam, es gab dabei ein klitzekleines Problem: Ich müsste wieder Harmonie werden. Und würde Clea damit gewaltig vor den Kopf stoßen. Außerdem müsste ich mit Robin aus nächster Nähe fertigwerden.«
CLEA »Noch heute Nacht könnte ich wieder in Robins Armen liegen. Er hatte eine Vorstellung davon bekommen, was es hieß, mich zu verlieren. Vielleicht war es doch noch nicht zu spät für uns.«
ROBIN »Ich will einem anderen Menschen beweisen, dass er mir die Welt bedeutet. Ich will spüren, wie mein Herz bricht, wenn ich eine richtige Entscheidung treffe, die sich falsch anfühlt. Ich will … leben!«
Zwei junge Frauen auf der Suche nach der Wahrheit und ihrem Glück, ein Regent, hin- und hergerissen zwischen seinen Pflichten und seinem Herzen.
Das glamouröse Finale!
Ich nahm ein weiteres blaues Porzellan-Elefäntchen aus der Knisterfolie, in der es eingewickelt gewesen war. Es lag kühl in meiner rechten Hand, während ich mit der anderen ein paar seiner Geschwister in der Vitrine umsortierte. Neben den ganzen maritimen Souvenirs – den Miniaturausführungen des Holstentors, den Postkarten, Taschen, Tassen, Magneten und was es sonst noch in dem kleinen Touristenladen gab – wirkten die Figuren irgendwie fehl am Platz. Ich mochte sie.
In dem schmalen Gang zwischen den Verkaufsregalen hinter mir beriet gerade ein altes Ehepaar darüber, welches der historischen Schiffsplakate sich an ihrer Flurwand am besten machen würde. Im Hintergrund lief leise das Radio.
Ich gab mir alle Mühe, mir eine Auszeit vom Kopfzerbrechen zu gönnen, meine Grübeleien und das Pläneschmieden auf den Feierabend zu verschieben, aber natürlich waren meine Gedanken bei Blanche. Ich hatte nichts von ihr gehört in den nun schon sechs Wochen, die seit meinem Rausschmiss aus der Saya Nord vergangen waren. Anderthalb Monate, Sommerferienlänge, eine Ewigkeit.
Was hatte Robin bloß vor? Er machte es nicht öffentlich, dass Blanche Harmonie geworden war, ließ sie aber auch nicht frei.
Ich hatte so viele Möglichkeiten durchgespielt – keine von ihnen konnte erklären, was passiert war. Nur eins wusste ich: Die Sache war zu kompliziert, um überstürzt zu handeln, und ich zu tief verwundet für einen gut ausgeführten Gegenschlag. Deswegen hatte ich mir Zeit genommen, so schwer mir das auch gefallen war. Ich hatte abgewartet und beobachtet, während sich absolut nichts tat und die immer gleichen Fragen an meinen Nerven zerrten. Doch damit war jetzt Schluss! Für heute hatte ich mir fest vorgenommen, einen Anruf zu machen. Egal, wozu das führen oder nicht führen würde – damit würde ich das Schlachtfeld betreten und es nicht wieder verlassen, bevor Blanche frei war und ich die ganze Wahrheit kannte.
Auch wenn es mir davor graute, mich alldem zu stellen. Noch immer war ich viel zu aufgewühlt, und noch immer hatte mein minderbemitteltes Herz nicht vergessen, wie Robin es berührt hatte. Im Gegensatz zu mir war dem blöden Ding wohl vollkommen schnuppe, wie sehr es sich an ihm verbrannt hatte.
Ich bückte mich erneut und schaute im Karton nach, wie viele Elefanten ich noch unterbringen musste. Da schlug mir plötzlich jemand die Hand so fest auf die Schulter, dass ich vor Schreck beinahe vorwärts in die Vitrine gefallen wäre. Gerade noch konnte ich mich mit der Hand am Boden abstützen.
»Na, wenn das nicht die verlorene Tochter ist!«
Seine Stimme hier zu hören, war seltsam irreal. Es fühlte sich an, als würde ich einen Unfall beobachten.
»Chris«, brachte ich heraus, bevor ich mich langsam aufrichtete und zu ihm umdrehte. Der Laden war so eng und vollgestopft, dass er viel zu dicht vor mir stand.
»Ich habe verschiedene Theorien darüber, warum du hier bist.«
»Und ich will keine davon hören.« Zu meinem Glück war gerade eine Frau hereingekommen, die mit einigen Karten von draußen auf die Kasse zusteuerte. Ich schob mich am Lieblingsmitarbeiter meines Vaters vorbei und eilte zu ihr. Ich machte mir keine große Hoffnung, dass Chris einfach wieder gehen würde. Aber er konnte mich ja nicht zwingen, mit ihm zu reden. Als ich das Wechselgeld herausgab, hatte er sich hinter die Frau gestellt, als sei er ein Kunde. Mit einem Abschiedsgruß verließ sie den Laden.
»Süß!« Chris knallte einen der kleinen Elefanten so heftig vor mich auf die Theke, dass ich glaubte, er würde zerbrechen. Doch das Tierchen war widerstandsfähiger als gedacht. Ich legte schützend meine Hände darüber.
»Du brauchst wohl dringend Kohle? Muss demütigend für dich sein.« Mit einem überheblichen Lächeln musterte er mein Namensschild, das auf Brusthöhe an meinem Shirt befestigt war. Es stand einfach nur Vicky darauf. Herr Rohde, der ältere Mann, dem der Laden gehörte und der mich als Aushilfe engagiert hatte, hatte sich nicht nur auf meinen Vorschlag mit dem Vornamen eingelassen, sondern auch mehrfach sehr energisch die Reporter vertrieben. Irgendwann waren sie nicht mehr wiedergekommen.
»Es ist nicht demütigend. Ganz im Gegenteil – es gefällt mir.« Aus Chris’ Perspektive war ich vermutlich tief gesunken. Aber in Wahrheit hatte das Wühleck mich gerettet. Hier hatte ich eine Aufgabe, eine Routine, war abgelenkt. Das Gehalt war nur ein Nebeneffekt, wenn auch ein nicht ganz unwichtiger. Nachdem mein Vater mir den Geldhahn komplett zugedreht hatte, brauchte ich es, damit ich Jasper einen Mietanteil zahlen konnte. Umsonst in der Wohnung meines Ex zu campen, hätte sich einfach nicht richtig angefühlt. Die Lage war so schon verkorkst genug.
»Was willst du von mir?«, fragte ich Chris. Er war mit Sicherheit nicht zufällig hier.
»Nun, wenn du schon fragst …« Er beugte sich vor, und ich wich instinktiv zurück, den Elefanten in der Faust umklammert, sodass nur noch ein Stückchen vom Rüssel herausschaute. »Wie wäre es mit ein bisschen Verstand? Ein bisschen weniger Gedankenlosigkeit? Wie wäre es, wenn du dich ein bisschen erwachsener verhalten würdest?«
Am liebsten hätte ich es wie früher gemacht und ihn mit den bösesten Schimpfwörtern beleidigt, die eine Neunjährige kannte. Vielleicht musste er gerade daran denken, wie er diese Neunjährige in ihrem Zimmer eingeschlossen hatte, wenn sie ihm auf die Nerven gegangen war. Ich erinnerte mich noch zu gut daran, wie oft ich wutentbrannt mit den Fäusten gegen die Tür gehämmert hatte. Chris hatte es immer gehasst, wenn er zum Kindermädchenersatz für mich degradiert worden war. Seit mein Vater ihn unter seine Fittiche genommen hatte, wollte er nur eines – ganz an die Spitze der Firma, Wächt Hotels in eine Chris-Show verwandeln. Sollte er doch.
Dann dämmerte mir, was sein Auftauchen hier bedeuten musste.
»Willst dir wohl Bonuspunkte verdienen, indem du das schwarze Schaf wieder einfängst?«
»Gut kombiniert.«
»Hau ab, Arschloch.«
Die ältere Dame, die immer noch mit ihrem Mann bei den Plakaten stand, räusperte sich und warf mir einen pikierten Blick zu. Ich biss mir auf die Lippe. Meinen Job zu riskieren, war Chris definitiv nicht wert. Nur, wie sollte ich ihn loswerden?
»Es wäre mir lieb, wenn Sie meine Aushilfe nicht unnötig von ihrer Arbeit abhalten würden«, dröhnte da Herr Rohdes laute Stimme durch den Verkaufsraum. Er kam gerade aus dem Lager, einen Stapel Tischdeckchen auf dem Arm, die er hinten ausgezeichnet hatte.
»Das war nicht meine Absicht, entschuldigen Sie.« Chris gab sich freundlich, aber unterschwellig klang sein Ärger mit.
»Bis später, Vicolina.« Wie immer schaffte er es, durch die Betonung meines vollen Namens noch zu unterstreichen, wie wenig er von mir hielt.
Er verließ den Laden, und ich atmete auf. Ich verbot mir jeden weiteren Gedanken an ihn und meinen Vater, während ich mich wieder meinen Elefanten widmete.
Als ich am Abend auf die Straße hinaustrat, entdeckte ich Chris sofort. Er lehnte an der Fassade des gegenüberliegenden Hauses. Unwahrscheinlich, dass er dort die ganze Zeit über gewartet hatte. Er musste die Öffnungszeiten an der Tür gesehen haben und jetzt nach Ladenschluss zurückgekommen sein, um mich abzufangen. Gerade war er in irgendetwas auf seinem Handy vertieft, und ich nutzte die Gunst der Stunde, um mich schnell aus dem Staub zu machen. Leider war ich noch nicht weit gekommen, als ich auch schon seine hastigen Schritte hinter mir hörte. Ich überlegte, loszurennen und ihn abzuhängen, entschied mich dann aber dagegen. Er konnte mich wohl kaum mit Gewalt dazu bringen, mit ihm zu kommen.
Schon hatte er mich eingeholt. »Du hast doch sicher nichts dagegen, wenn ich dich noch ein Stück begleite?«
Ich hielt den Mund. Es war mir egal, ob er herausfand, dass ich wieder bei Jasper wohnte. Trotzdem musste ich es ihm ja auch nicht unbedingt unter die Nase reiben.
»Stell dir vor, was für ein glücklicher Zufall«, fuhr Chris im Plauderton fort, »in der Bäckerei, wo ich mir heute Mittag einen Snack geholt habe, standen zwei Mädels vor mir in der Schlange. Von denen hab ich aufgeschnappt, dass die Verkäuferin im Souvenirladen der verrückten Harmonie aus dem Fernsehen total ähnlich sieht.«
»Ist ja ’n Ding.« Tatsächlich wurde ich immer wieder von Fremden erkannt. Robin hatte ganze Arbeit geleistet, was das anging. Wenn ich Glück hatte, blieb es bei neugierigen oder verächtlichen Blicken. Ich war aber auch schon auf offener Straße beleidigt worden.
Ich bog nach rechts ab, obwohl die andere Richtung kürzer gewesen wäre. Seit eine Reporterin von PartyTime Jasper an der Uni aufgelauert hatte, waren wir noch vorsichtiger geworden, hielten uns weniger unter Leuten auf, machten Umwege. Jasper hatte uns gedeckt und sich so überzeugend als desinteressierter Exfreund dargestellt, dass niemand mehr davon ausging, dass wir noch Kontakt hatten. Doch das würde sich in der Sekunde ändern, in der sie mich vor seinem Haus antrafen. Oder Clea hinter einem der Fenster entdeckten.
Ich sah mich unauffällig um. Niemand schien uns zu folgen. Spätestens an der Haustür würde auch Chris hoffentlich aufgeben und verschwinden.
»Lass mich dich zum Essen ausführen«, versuchte er es jetzt. »Du lebst doch bestimmt nur noch von Brot und Wasser.«
»Wovon ich lebe, hat dich nicht zu interessieren. Und steck dir deine Einladung sonst wohin.«
Außenstehende hätten mich vielleicht unnötig aggressiv gefunden, aber ohne diesen Schutzpanzer hatte ich gegen Chris keine Chance.
»Wir können auch direkt ins Auto steigen, und ich bring dich dahin, wo du hingehörst. Das liegt ganz bei dir.«
Wie immer fühlte er sich unglaublich überlegen.
»Ich fände es allerdings schön, wenn wir zur Abwechslung mal vernünftig miteinander reden könnten.«
Was sollte ich denn jetzt von dieser Bitte halten?
»Kein Bedarf«, blockte ich ab. Ich wollte nur weg von ihm, selbst wenn ich alles andere als gern in der Wohnung war, dank Jasper und Clea und all der Erinnerungen in jeder Ecke und jedem Winkel. Außerdem hatte ich ja noch etwas zu erledigen.
»Wieso hast du überhaupt Zeit, mich zu nerven? Man sollte doch meinen, dass mein Vater wichtigere Aufträge für dich hat, als nach mir zu suchen.«
»Er hat mich nicht damit beauftragt.« Chris griff nach meinem Arm, umfasste ihn dort, wo mein Armband nicht mehr war.
»Und jetzt komm. Ich geb dir eine Pizza aus, danach kannst du dich immer noch verkrümeln.«
Das klang gar nicht so übel. Zu Pizza konnte ich sehr schlecht Nein sagen. Sollte er sie mir doch zahlen, wenn er unbedingt wollte. Dann hatte unser unerwünschtes Wiedersehen wenigstens etwas Gutes.
So standen wir uns wenig später an einem Stehtisch in einem kleinen Pizzalokal gegenüber, das hauptsächlich als Lieferservice und Mitnahmeimbiss eingerichtet war. Ich hatte mich geweigert, mit ihm in eine richtige Pizzeria zu gehen. Schlimm genug, seine Anwesenheit überhaupt ertragen zu müssen, aber ich würde bestimmt nicht mit ihm in einer schummrigen Ecke sitzen und einen auf dicke Freunde machen.
Dass Chris so schnell nachgegeben hatte, war schon fast ein Grund zur Sorge. Seine ungewohnte Kompromissbereitschaft konnte eigentlich nur einen Grund haben: Er wollte irgendetwas von mir. Ich würde mich von ihm nicht zu meinem Vater schleifen lassen wie ein ungezogenes kleines Mädchen, das musste ihm klar sein. Also konnte das nicht alles sein.
»Du verschwendest deine wertvolle Zeit wohl eher nicht mit mir, weil ich dich wegen deiner neuen Freundin beraten soll?« Die Frage war als kleiner Seitenhieb beabsichtigt, Chris hatte schon ewig keine Beziehung mehr gehabt. Wie auch? Er arbeitete ja nur.
Chris’ Lachen bewies endgültig, dass hier irgendetwas ganz und gar nicht stimmte. »Direkt wie immer. Lustigerweise liegst du gar nicht so falsch.«
Ich kaute auf einem Stück meiner Salamipizza herum und beobachtete ihn. Mit was hatte ich zu rechnen?
»Ich weiß, du wirst gleich ausflippen, deswegen eins vorweg: Es wäre eine Win-win-Situation, und du solltest nach deiner ersten Reaktion noch einmal in Ruhe darüber nachdenken.«
Ich spülte den Bissen, der auch zerkaut irgendwie nicht richtig durch meine Speiseröhre passen wollte, mit einem Schluck Dosencola hinunter. »Wovon redest du, Idiot?«
Er zögerte, und kurz sah er so aus, als würde ihm selbst nicht passen, was er zu sagen hatte. »Du und ich. Das ist ein einmaliges Angebot. Die neun Jahre Altersunterschied sind akzeptabel, denke ich. Ich werde Teil der Familie, du besänftigst deinen Vater und stellst deinen Ruf wieder her.«
Erst als ich die Blicke der Leute hinter und vor dem Tresen auf mir spürte, wurde mir klar, dass ich gerade voller Entsetzen Chris’ Namen geschrien hatte. Ich atmete tief ein und versuchte, mich zu beruhigen. Dennoch zitterten meine Finger, und ich brauchte zwei Versuche, um meinen Pizzakarton zu schließen. Der Appetit war mir gerade gründlich vergangen. Ich stand auf und klemmte mir den Karton unter den Arm, bereit zu fliehen.
»Die Idee kommt nicht von mir, Vicolina. Ich bin auch alles andere als angetan davon, aber wenn …«
»Nimm dir das Unternehmen. Bleib meinetwegen der Liebling meines Vaters. Nur lass mich in Ruhe. Lass mich einfach in Ruhe.« Ich spürte, dass meine Stimme mir nicht mehr lange gehorchen würde. Sie wollte einfach wegbrechen. Trotzdem zwang ich noch mehr Worte heraus, bevor ich durch die weiße Tür mit den Glasfenstern nach draußen stürmte: »Wenn es das ist, was er von mir erwartet, soll er sich gefälligst dazu herablassen, mir das selbst zu sagen.«
Auf dem ganzen Weg zu Jaspers Wohnung kämpfte ich mit den Tränen.
Clea saß an dem Tisch, an dem Jasper und ich schon unzählige Male zusammen gegessen hatten, und spießte gerade einen Hähnchenstreifen aus einem Fertigsalat auf ihre Gabel. Jasper lehnte an der Arbeitsfläche der Einbauküche, blätterte in einer seiner Informatikzeitschriften und biss hin und wieder von einem Sandwich ab.
Es war nach wie vor ein irgendwie unwirkliches Bild.
Ich ging mit einem kleinen »Hey« an den beiden vorbei und angelte als Erstes die Fernbedienung von der Couch – die ich damals selbst ausgesucht hatte –, um PartyTime einzuschalten. Das war mir in der letzten Zeit zur Gewohnheit geworden. Wenn es offizielle Neuigkeiten aus der Saya Nord gab, würde ich es dort zuerst erfahren. Das Einzige, was sie bisher gesendet hatten, waren allerdings Suchaufrufe an die Bevölkerung, weil Robin Clea zurück in die Gesellschaft holen wollte. Das dafür jeden Tag, seit wir von dort abgehauen waren.
Gerade startete ein Newsblock; die permanent freudig-aufgeregte Moderatorin Jen – ich hätte nie gedacht, mal all ihre Namen zu kennen – begrüßte uns mit strahlendem Lächeln.
Ich wartete darauf, dass Clea mich anfauchte, sofort wieder umzuschalten, aber stattdessen senkte sie den Blick wieder auf die Plastikschale vor ihr und kaute ausgiebig auf einem Salatblatt herum. Ich holte ein Glas aus dem Schrank und schenkte mir Wasser ein.
»Wir halten euch auf dem Laufenden, was die Suche angeht. Wenn ihr Clea in der Zwischenzeit irgendwo seht, könnt ihr euch jederzeit unter der unten eingeblendeten Nummer in der Saya Nord melden. Mehr dazu erfahrt ihr jetzt aus erster Hand. Ihr werdet es nicht glauben: Heute haben wir Robin persönlich zu Gast, und er möchte euch eine Mitteilung machen!« Die Aussage wurde von gefühlt tausend Ausrufezeichen untermauert.
Ich zog den dritten Stuhl vom Tisch weg und ließ mich darauf nieder, schlug ein Bein über das andere und verschränkte die Arme – Abwehrhaltung hoch zehn. Mit einem Kloß im Hals fixierte ich den Bildschirm, auf dem gerade Robin auftauchte. Das war neu.
»Musst du uns das antun?«, fragte Clea, ohne aufzublicken.
Ich reagierte nicht. Starr sah ich zu, wie die Kamera auf sein Gesicht zoomte. So ähnlich musste es sich anfühlen, wenn eine stümperhaft genähte Platzwunde der Länge nach wieder aufriss.
»Robin, warum bist du heute bei uns?«, fragte Jen euphorisch. Dieses ganze pseudo-vertrauliche Duzen und das verschwörerische »Eure Geheimnisse sind bei uns gut aufgehoben, liebe Dorvilles«-Gehabe ging echt gar nicht.
»Ich will heute noch einmal an die Bevölkerung appellieren. Es ist sechs Wochen her, seit Clea verschwunden ist, und alle Hinweise, die bisher eingegangen sind, waren vollkommen nutzlos.«
»Wie ist die Stimmung in der Saya Nord?«, fragte Jen.
Er ging nicht darauf ein. Wie ich am eigenen Leib erfahren hatte, griff Robin nur dann auf PartyTime zurück, wenn er mit einer Botschaft möglichst viele Menschen aus dem Umfeld der Glamourgesellschaften erreichen wollte. Was hatte er diesmal zu sagen?
»Die Gesellschaft hat heute einen Krisenrat einberufen und einen Entschluss gefällt: Die Belohnung wird erhöht. Wer uns Clea zurückbringt oder uns ihren Aufenthaltsort verraten kann, erhält fünfzigtausend Euro.«
Clea ließ die Gabel fallen, Jasper schluckte hörbar. Ich warf mein Glas gegen den Bildschirm, wo es zersplitterte.
Daraufhin sprang Jasper wutentbrannt auf, schaltete den Fernseher aus und baute sich vor mir auf. »Bist du noch ganz dicht?«
Ich sah Clea die Brauen heben, als wollte sie sagen: Was für eine überflüssige Frage.
»Ich frage mich eher, ob er noch ganz dicht ist! Fünfzigtausend? So viel ist nicht mal der beschissene Ring wert, den sie immer noch trägt. Nicht mal ansatzweise.«
Hatte ich das gerade wirklich gesagt? Super, ich hatte mir doch vorgenommen, Clea gegenüber etwas netter zu sein. Das Zusammenleben in unserer seltsamen Dreierkonstellation war auch so schon anstrengend genug. Auf keinen Fall wollte ich Jasper und Clea zeigen, wie verletzt ich wirklich war. Da fuhr ich lieber die Krallen aus.
Clea blieb ganz ruhig, aber ihre Worte waren scharf wie Klingenhiebe: »Nun, sie will er immerhin zurück.«
»Können wir bitte kurz mal sachlich bleiben?«, fragte Jasper, obwohl er doch bisher als Einziger rumgebrüllt hatte. Okay, es waren ja auch sein Fernseher und sein Geschirr. »Zum Zeitpunkt deiner Flucht werden nicht allzu viele Wagen das Gelände durch die Schranke verlassen haben, Clea. So langsam merken sie, dass du von dir aus nicht zurückkommen wirst. Ich bin für sie immerhin ein Anhaltspunkt, also werden sie früher oder später hier aufkreuzen.«
»Ich habe die Gesellschaft aus freien Stücken verlassen. Das ist völlig legitim.«
Was nicht stimmte, schließlich war sie immer noch eine Harmonie. Im Gegensatz zu mir.
»Möchtest du zurück?«, fragte Jasper, in einem Tonfall, als sei sie ein Kind, das von zu Hause ausgerissen war. Es klang fast ein bisschen hoffnungsvoll. Wir konnten froh sein, dass er es überhaupt schon so lange mit uns aushielt. Clea durfte sich ja nicht mal draußen sehen lassen und verließ nie die Wohnung.
Angespannt wartete ich auf ihre Antwort. Es wäre eine Erleichterung, wenn sie gehen würde, und gleichzeitig hatte ich Angst, sie würde es tun. Wie gesagt, mein Herz. Es beneidete Clea um die bloße Option, wieder mit Robin zusammenzukommen. Dabei wäre Mitleid viel angebrachter gewesen, immerhin war sie genauso am Boden wie ich. Die anderen mussten Robin die Hölle heißmachen, weil er ihre geliebte Königin vergrault hatte. Wie sehr er es wohl bereute?
»Nein«, sagte Clea. »Möchte ich nicht.«
»Die Sache ist doch klar«, sagte ich, eigentlich mehr für mich selbst, als um fies zu sein. »Du hast etwas, das er zurückwill. Vielleicht ist der Ring nicht so viel wert wie die versprochene Belohnung, aber er hat immerhin seiner Mutter gehört.«
»Vicky«, sagte Jasper warnend. »Du hast doch keine Ahnung, was im Kopf dieses Idioten abgeht.« Er stand auf, holte den Papierkorb und begann, die größeren Scherben vom Teppich aufzusammeln und hineinzuwerfen.
Clea blickte betreten auf den Ring.
»Er kann die Harmonienwahl nicht ewig aufschieben«, fuhr ich fort. »Und natürlich braucht er dafür den Ring.«
»Er wird die Wahl nicht wieder aufnehmen«, sagte Clea voller Überzeugung.
Jasper mochte recht damit haben, dass ich Robins Gedanken nicht lesen konnte. Aber sie konnte es genauso wenig.
Ich verzog mich ins Schlafzimmer und setzte mich auf die Matratze am Boden, die aktuell als mein Bett herhalten musste. Es war unangenehm und furchtbar merkwürdig, wieder ein Zimmer mit Jasper zu teilen, aber Clea hätte ich auch schlecht darum bitten können, neben seinem Bett zu schlafen. Jasper fand die Situation offensichtlich auch nicht besonders prickelnd. An den meisten Abenden kam er erst ins Zimmer, wenn er davon ausging, ich würde schon schlafen. Die Mühe machte er sich allerdings umsonst – oft lag ich noch lange wach.
Ich hatte mir ein gebrauchtes Handy gekauft, um wieder erreichbar zu sein. Jetzt drehte ich es in den Händen, die einzige Nummer auf dem Display, die ich bisher eingespeichert hatte: die der Saya Nord.
Ich war noch ziemlich geladen von Robins Ansprache und brauchte ein paar Momente, um runterzukommen. Wahrscheinlich würde Gwynnia rangehen, und ich wollte sie nicht gleich verprellen, indem ich sie anschnauzte.
Schließlich drückte ich auf den grünen Hörer und hielt mir zögernd das Handy ans Ohr. Vielleicht war der Empfang ja schon gar nicht mehr besetzt? Aber die heutige Party sollte noch nicht im Gange sein.
»Guten Abend, Glamourgesellschaft Saya Nord, Sie sprechen mit Gwynnia Dorville.«
»Gwynnia … hier ist Vicky. Bitte leg nicht auf.«
»Oh.« Pause. »Mit dir hatte ich nicht gerechnet.«
Sie wartete, doch plötzlich wusste ich nicht mehr, wie man spricht.
»Rufst du wegen Clea an?«
Ihre Frage gab mir die Worte zurück. »Nein! Ich hab keine Ahnung, wo sie ist«, log ich. »Aber es ist wichtig.«
»Okay.« Ein tiefes Ein- und Ausatmen in der Leitung. »Weißt du, ich glaube nicht alles, was über dich gesagt wird – auch wenn du uns etwas vorgeschwindelt hast. Ich möchte dir sogar gern helfen, wenn ich kann. Ich fürchte nur, meine Möglichkeiten sind sehr begrenzt.«
Es tat so gut, das zu hören! Dass ausgerechnet sie bereit wäre, mir noch eine Chance zu geben, hatte ich nicht erwartet.
Ich knabberte an meiner Unterlippe. Komm schon, bring’s hinter dich! Meine Stimme klang seltsam, als ich es endlich aussprach: »Ich möchte mit Robin reden.«
Ich hörte sie seufzen. »Er hat gesagt, wenn du dich meldest, soll ich dich sofort auf die Liste gesperrter Anrufer setzen und dich unter keinen Umständen an ihn weitergeben.«
»Dieser Feigling.« In Wahrheit war ich erleichtert.
»Es tut mir echt leid. Ganz ehrlich, ich finde, wenigstens das schuldet er dir, unabhängig davon, was du dir geleistet hast.«
»Danke, Gwynnia. Weißt du, ob es Blanche gut geht?« Das war jetzt erst mal das Allerwichtigste.
Gwynnia zögerte. »Sie ist nicht besonders gut drauf, aber zumindest fehlt es ihr an nichts.«
Das sagte mir leider nichts darüber, was wohl in meiner besten Freundin vorging. Sie hatte mich Robin gegenüber als Betrügerin dastehen lassen und seinen schlimmsten Verdacht gegen mich bestätigt – wahrscheinlich, um mich zu beschützen. Etwas anderes konnte und wollte ich nicht glauben. Trotzdem machte es mich rasend. Ich war für sie in den Ring gestiegen, und sie hatte mich ins offene Messer laufen lassen. War es in dem Drohbrief wirklich um mich gegangen? Hatte Robin Blanche versprochen, mich dafür zu bestrafen, wenn sie seiner Forderung nicht nachkam? Das ergab keinen Sinn. Er hatte doch nicht ahnen können, dass ich in sein Leben platzen und ihm die perfekte Vorlage bieten würde, genau das zu tun! Das Schlimmste an diesem Gedanken aber war: Wenn ich sein Druckmittel gegen Blanche gewesen war, dann musste sie die ganze Zeit über gewusst haben, dass er mich erkannt hatte. Warum hatte sie dann nicht viel früher eingegriffen? Falls das alles so gewesen war, hatte sie mich eiskalt im Stich gelassen.
Wir mussten das wieder hinkriegen, egal, wie.
Tränen schossen mir in die Augen. Noch hast du sie nicht verloren, sagte ich mir. Doch es fühlte sich verdammt danach an.
Gwynnia wartete geduldig; wahrscheinlich war ihr klar, wie wild die Gefühle in mir gegeneinander antobten.
»Meinst du, es wäre möglich, dass ich ein paar Worte mit ihr …?« Ein aussichtsloser Versuch, aber immerhin ein Versuch.
»Sorry, auf keinen Fall.«
»Robin hat’s verboten?«
»Ja, und er würde es sofort mitbekommen. Er lässt sie strengstens überwachen.«
Ob sie überhaupt miteinander redeten? Die Fotos von den beiden als Paar tauchten wieder vor meinem inneren Auge auf. Sie hatte ihn geliebt, da war ich mir sicher. Und er sie. Was viel mehr Fragen aufwarf, als es beantwortete. Wie hatte Blanche das vor mir geheim halten können, und vor allem: Wie hatte es damit enden können, dass er ihr Drohbriefe schrieb und sie ihm ihre beste Freundin praktisch ausgeliefert hatte?
»Wie sieht es mit Marcon aus – kann ich mit dem reden? Oder mit irgendjemand anderem aus dem Vorstand?« Von den Harmonien konnte ich leider noch weniger Hilfe erwarten.
Sie schwieg, und ich dachte schon, ich könnte das Ganze vergessen. Doch dann: »Warte bitte einen Moment.«
Ich blieb in der Leitung. Das lief schon mal besser als gedacht.
Während die Warteschleifenmelodie an mein Ohr drang, versank ich zum abertausendsten Mal in meinen Spekulationen über Robin und Blanche. Das Bild war immer noch zu lückenhaft. Als Robin über seine Exfreundin Chloe gesprochen hatte, hatte ich keine Ahnung gehabt, um wen es dabei wirklich ging. Er hatte mir erzählt, der Grund für ihre Trennung wäre die Gesellschaftsgründung gewesen. Letztendlich hätten Clea und Marcon ihn doch noch davon überzeugt, seine Position als Regent anzunehmen, obwohl er sich längst dagegen entschieden hatte. Gut vorstellbar, dass eine Beziehung daran zerbrechen konnte. Aber das reichte noch nicht aus. Es erklärte nicht Blanches Schweigen mir gegenüber, die harten Worte des Briefes oder wo das Gift hergekommen war, das mir jemand untergejubelt hatte. Nicht im Entferntesten.
Das Gift. Was, wenn immer noch jemand Robins Tod plante? Was, wenn er in Gefahr war? Dieser Gedanke beschäftigte mich weitaus mehr, als er sollte.
»Vicolina?«, erklang jetzt Marcons Stimme am anderen Ende der Leitung. »Was gibt es? Gwynnia sagt, ich soll dir zuhören.«
»Ich möchte bei der Führungsriege Widerspruch einlegen. Es ist gegen die Regeln, eine Harmonie einfach durch eine andere zu ersetzen.«
»Was du gemacht hast, war gegen die Regeln.«
Als ich meine Chance gehabt hatte, vor der Vollversammlung zu beweisen, dass Robin der Gesellschaft genauso etwas vorgelogen hatte wie ich, hatte ich Blanches wegen nichts sagen können. Doch jetzt hatte ich nichts mehr zu verlieren. »Du glaubst mir vielleicht nicht, aber was ist mit Clea? Sie hat es doch bestätigt: Robin wusste von Anfang an, wer ich bin. Ich weiß nicht, warum, aber er hat mich benutzt, um an Blanche heranzukommen. Diese ganze Sache könnte der Saya Nord erheblich schaden, das kannst du doch nicht zulassen!«
Die Tür öffnete sich, und Jasper kam in den Raum, vermutlich, um unser wenig erfreuliches Gespräch von vorhin fortzusetzen. Ich wedelte mit der Hand, um ihn wieder zu verscheuchen, trotzdem trat er näher.
»Robin ist Regent, seine Entscheidungen sind unsere Entscheidungen. Du kennst unsere Regeln. Im Gegensatz zu dir halte ich mich daran.«
»Denk besser noch mal drüber nach, ob das so schlau ist. Immerhin kennst du Robin länger als ich. Du wirst wieder von mir hören. Ich hoffe, dann hilfst du mir.« Damit legte ich auf. Mehr musste Jasper nicht unbedingt mitkriegen.
»Ich habe versucht, zu Blanche durchzukommen«, sagte ich. Leider hatte sie ihm auch keine hilfreichen Hinweise gegeben. So glaubte er seine eigene Version der Geschichte: Er hatte mit mir Schluss gemacht, ich war durchgedreht und hatte mich Robin an den Hals geworfen. Der hatte mich auflaufen lassen, und Blanche hatte ihm irgendwas geboten, um meine Freiheit zu erkaufen. Nicht sehr schmeichelhaft.
Natürlich wäre alles anders gekommen, wenn Jasper sich nicht von mir getrennt hätte. Doch er war nicht der Grund für meine Bruchlandung bei Robin gewesen.
Auch wenn ich wünschte, es wäre so einfach.
»Du hast gesagt, ich soll mich raushalten«, fing Jasper an. »Allerdings geht es hier immer noch um meine Schwester, und ich kann echt nicht mehr drauf warten, dass du – vielleicht, vielleicht aber auch nicht – alles wieder auf die Reihe kriegst!« Den Gesichtsausdruck mit den zusammengezogenen Brauen kannte ich noch zu gut von unseren Diskussionen über meine nicht vorhandenen Zukunftspläne. Oder darüber, wer mit Müllrunterbringen dran war.
»Was schlägst du also vor?«, fragte ich. Ich hatte ein einziges Mal versucht, ihn vorsichtig darauf anzusprechen, ob seine Mutter irgendein Geheimnis haben könnte, wie Blanche behauptet hatte. Auch nach Saya hatte ich ihn gefragt. Doch Ersteres glaubte er nicht, und Letztere kannte er nicht.
»Keine Ahnung – Polizei? Dieser Dorville hat sie doch nicht mehr alle, wenn er glaubt, er könnte sie einfach dabehalten!«
Ich beantwortete das nur mit einem bitteren Lachen.
»Findest du das lustig? Dir ist schon klar, dass sie deinetwegen bei diesen Spinnern gelandet ist?! Ich habe ihr gesagt, du hast dir das selbst eingebrockt, und trotzdem musste sie dir unbedingt den Arsch retten.«
Weil sie mich im Gegensatz zu dir nicht einfach aufgegeben hat. Jedenfalls hoffe ich das.
Wie eine Rettung war Blanches Eingreifen mir leider ganz und gar nicht vorgekommen.
»Weiß sie mittlerweile überhaupt von unserer Trennung?« Es war so seltsam. Ich war mir so sicher gewesen, mit ihm den Rest meines Lebens verbringen zu wollen. Ich war der Saya Nord mit gebrochenem Herzen beigetreten. Doch jetzt war ich hier, in denselben vier Wänden, die unser gemeinsames Zuhause gewesen waren, saß ihm gegenüber und spürte nichts außer einer nagenden Unsicherheit. Noch immer dasselbe für ihn zu empfinden wie früher, wäre in vielerlei Hinsicht so viel weniger kompliziert als das, was ich tatsächlich fühlte.
»Ich habe es ihr gesagt, als wir losgefahren sind, um dich von da wegzuholen«, sagte er. »Sie ist ausgerastet.«
Das konnte ich mir nur allzu lebhaft vorstellen.
Er seufzte. »Ich will nicht mit dir streiten. Du bist nur seit dem Ende unserer Beziehung irgendwie nicht mehr wirklich du selbst. Dein Ausrutscher mit Dorville sagt doch schon alles.«
Ein Ausrutscher war es also gewesen. Ganz versehentlich, nur weil ich so verzweifelt gewesen war und mich so nach Jasper verzehrt hatte.
»Vicky …« Er hielt kurz inne, und ich sah genau, wie er sich die Worte zurechtlegte. »Ich weiß, dass dich das alles sehr mitgenommen hat, aber du musst versuchen, dich wieder zu sammeln.« Er strich mir die Haare hinters Ohr, eine Geste aus einer lang vergangenen Zeit. »Wir müssen unbedingt eine Lösung für Cleas Problem finden. Vor allem müssen wir meine Schwester da rauskriegen, bevor meine Eltern davon Wind bekommen oder sie verrückt wird.«
Ich nickte. Mich über ihn zu ärgern, brachte mich auch nicht weiter. »Ich arbeite dran.« Zumindest mehr oder weniger.
»Gut, wenn ich dir irgendwie dabei helfen kann, sag Bescheid. Ich bin für dich da.« Bevor er sich zum Gehen wandte, warf er mir noch einen ernsten Blick zu. »Und wenn du dir selbst einen Gefallen tun willst: Vergiss Dorville.«
Ich konnte nicht schlafen. Obwohl ich nicht mehr in der Gesellschaft war, schienen ihre Gesetzmäßigkeiten mir immer noch zu folgen. Bis jetzt war es mir kein einziges Mal gelungen, die Dreizehnte Stunde zwischen Mitternacht und ein Uhr morgens zu verschlafen. Die Nächte waren hier so ruhig. Was Vicolina gesagt hatte, geisterte mir unentwegt durch den Kopf. Ich wollte nicht glauben, dass es Robin in Wahrheit nicht um mich ging, kam aber doch nicht gegen meine jahrelange Angst an, ich könnte ihm nicht genügen – und das, obwohl ich mich doch von ihm getrennt hatte. Er glaubte mit Sicherheit, ich würde zurückgekrochen kommen. Aber selbst wenn dieser Gedanke von Tag zu Tag verlockender wurde, war ich fest entschlossen, stark zu bleiben.
Nachdem ich weitere lange Minuten wach gelegen hatte, schlug ich die Decke zurück und stand auf. Ich hatte nie diesen Drang gehabt, etwas Verrücktes zu tun, und Risiko gehörte nicht gerade zu meinen Lieblingsworten. Aber manchmal musste ich vor meinen eigenen Gedanken fliehen. In der Gesellschaft war es das Eislaufen gewesen, in dem ich mich vollkommen verlieren konnte. Für heute würde ich eine andere Ablenkung finden müssen.
Ich tastete nach meiner Tasche und suchte das einzige Paar Stilettos heraus, das ich mitgenommen hatte, außerdem ein schlichtes graues Kleid und eine Feinstrumpfhose.
Ich versuchte, im Dunkeln den Weg zum Bad zu finden, ohne zu viel Lärm zu verursachen.
Erst als ich die Badezimmertür hinter mir geschlossen hatte, schaltete ich das Licht ein. Ich zog mich an und schminkte mich stärker als sonst. Meine Haare band ich zusammen, was ich ebenfalls selten machte. Das musste als Tarnung reichen. Wenn ich diese Wohnung verließ, dann wollte ich für eine Nacht einfach nur ein ganz normales Mädchen sein.
In dem kleinen Flur suchte ich nach Jaspers Haustürschlüssel und fand ihn schließlich in einer Jackentasche. Ich zog meinen dunkelgrünen Mantel über, trat ins Treppenhaus und keine Minute später ins Freie. Mit tiefen Atemzügen sog ich die kühle Nachtluft in meine Lunge.
Ich lief die Straße hinunter und schlug dann den Weg ein, der ins Stadtzentrum führte. Während ich nach einem Club oder Lokal Ausschau hielt, versuchte ich, mir die Abzweigungen einzuprägen, die ich nahm. Verlaufen sollte ich mich hier lieber nicht. Es war Freitagabend, und so entdeckte ich schnell eine Gruppe von Jugendlichen, an deren Fersen ich mich heften konnte. Wie erhofft führten sie mich zu einem kleinen Club in einer Seitenstraße. Ich beschleunigte meine Schritte, um zu dem kleinen Pulk am Eingang aufzuschließen. Ich zahlte den Eintritt. Als ich meinen Ausweis vorzeigen musste, hielt ich wie zufällig meinen Namen zu und ließ den Türsteher nur mein Geburtsdatum sehen. Zum Glück widmete er mir keine weitere Aufmerksamkeit, sondern winkte mich durch.
Ich gab meinen Mantel ab. Eine Weile beobachtete ich das Treiben auf der Tanzfläche und zögerte. Sollte ich mich wirklich einfach unter die Leute mischen? Machte man das hier so, zwischen Leuten tanzen, die man gar nicht kannte? Oder würde ich sofort als fremd auffallen? Vielleicht sollte ich mir zuerst etwas zu trinken holen. Obwohl – das würde mich nur unachtsamer machen. Wenn mich jemand erkannte, würde ich sofort verschwinden müssen.
Schließlich zog die Musik mich doch in ihren Bann. Als ich zu tanzen begann, löste sich die Anspannung der vergangenen Wochen nach und nach. Ich schloss die Augen und stellte mir vor, es wäre eine ganz normale Nacht in der Saya Nord. Es wirkte, langsam fühlte ich mich besser. Bis jemand ohne Vorwarnung seine Arme um mich legte. Der Schreck ließ mich aufschreien. Ich riss die Augen auf und schubste die Person zurück.
»Entschuldige, das war dreist!«, rief der Typ gegen die dröhnenden Bässe an. Aber er grinste dabei. Er war vielleicht zwei oder drei Jahre älter als ich und erinnerte mich ein bisschen an Vin.
Ich starrte ihn an und brachte kein Wort heraus.
»Ich verstehe. Schon vergeben, was? Wundert mich nicht.« Mit entschuldigend erhobenen Händen verschwand er rückwärts tanzend in der Menge.
Ich stolperte von der Tanzfläche und umrundete die Raumteiler, hinter denen Tische zum gemütlichen Beisammensitzen standen und es etwas ruhiger war. Durch Fenster und mehrere Durchgänge konnte man trotzdem das Geschehen auf der Tanzfläche beobachten. Etwas verloren blieb ich stehen. Das hier war eine dumme Idee gewesen. Ich sollte meinen Mantel holen und …
»… warum Clea das gemacht hat. Robin sagt nur, dass er sie zurückwill, aber nie, warum sie überhaupt gegangen ist.«
Der Gesprächsfetzen war vom Nachbartisch gekommen. Dort saßen drei Mädchen in meinem Alter, eine Blonde und zwei Dunkelhaarige.
»Als durchgesickert ist, dass sie kandidiert, hat einfach jeder auf sie gesetzt!«, sagte die links außen.
Was bitte war ich für sie? Eine Feierabendunterhaltung, deren Schicksal man sich zu Hause auf dem Sofa ausmalte? Oder eben während der Tanzpause im Club?
»Ob Robin selbst der Grund war?«, fügte das Mädchen von gerade hinzu.
»Natürlich war er das!« Die Blonde rollte mit den Augen, als würde sie Robin persönlich kennen und sich pausenlos über ihn aufregen.
Die anderen beiden seufzten synchron; in ihrer Welt war ich offensichtlich so etwas wie eine tragisch verfluchte Filmfigur.
»Seinen Bruder Cyan find ich viel cooler. In der Grundschule war ich so was von verknallt in ihn!«
»Oh Nicola, vielleicht hast du ja jetzt wieder Chancen? Hast du gehört? Er hat seine Harmonienwahl ebenfalls unterbrochen!«
Er hatte was?
Obwohl ich lieber auf der Stelle hätte verschwinden sollen, trat ich noch einen Schritt näher.
»Cyan hat das heute erst bekannt gegeben – ich hab es in der PartyTime-App gesehen, bevor ich los bin.«
Ich hätte gern an einen anderen Grund geglaubt, warum Cyan seine Wahl ebenfalls aufschob. Leider war ich aber ganz sicher, dass er das meinetwegen tat. Robin war demnach nicht der Einzige, der auf der Suche nach mir war. Mir lief ein Schauder über den Rücken. Plötzlich sehnte ich mich nach der Sicherheit, die Jaspers Wohnung mir in den letzten Wochen geboten hatte. Mit fliegendem Puls verließ ich den Club und eilte über die nächtlichen Straßen zurück.
»Echt lieb von dir, dass du hergekommen bist.« Ich lächelte Ariane zaghaft an. Das war irgendwie ungewohnt – ich hatte in der letzten Zeit nicht viel zu lächeln gehabt.
»Jederzeit, Vicky. Hörst du?« Sie sah mich an, wie es eine Mutter tun würde. Es war kaum auszuhalten.
Ich wandte das Gesicht ab. Draußen eilte eine Reisegruppe mit Koffern vorbei, auf den Lübecker Bahnhof zu. Ein kleiner Junge blieb stehen und schaute sehnsüchtig zu uns ins Innere der Bäckerei, auf das Schokobrötchen auf meinem Teller. Sein Vater zog ihn weiter.
Wie sollte ich das hier angehen? Ich musste herausfinden, was Blanches Mutter wusste und ob sie wirklich etwas zu verbergen hatte – ohne dabei alles noch schlimmer zu machen.
»Du hast geschrieben, du machst dir Sorgen um Blanche?«, versuchte Ariane, mich zum Reden zu bringen. »Ihr hattet Streit, oder? Guck nicht so, ich spüre es, wenn bei meinen Mädchen was nicht stimmt.«
Es stimmt noch viel mehr nicht, als du jemals ahnen könntest.
»Wann hast du denn zum letzten Mal mit ihr geredet?«, fragte ich vorsichtig.
Ariane hatte das »Guten-Morgen-Frühstück« bestellt und drapierte gerade eine Scheibe Schinken auf einer Körnerbrötchenhälfte. »Sie hat letzte Woche angerufen. Hat wieder viel um die Ohren mit der Uni. Wenn es ihr da weiter so gut gefällt, bleibt sie am Ende noch auf Dauer in Greifswald.«
Da hatte ich meine erste Antwort: Blanche ließ ihre Eltern glauben, bei ihr wäre alles in schönster Ordnung. Sollte ich das als beruhigend oder beunruhigend einordnen? Hatte Robin das von ihr verlangt?
»Hat euer Zerwürfnis etwas mit deiner Zeit in der … Glamourgesellschaft zu tun?« Die Art, wie sie das Wort betonte, sprach Bände.
Was sollte ich darauf schon sagen? Stimmt, Ariane, ich hab blöderweise mehr oder weniger aus Versehen was mit dem Exfreund deiner Tochter angefangen. Ups, von dem wusstest du ja gar nichts. Der Typ, der mich im Fernsehen vollkommen niedergemacht hat – hast du doch bestimmt auch gesehen, ich meine, wer nicht? Ach ja, und wusstest du, dass Blanche behauptet, du hättest ein Geheimnis, das eure Familie ruinieren könnte?
»Wir hatten deswegen ein paar … ähm … Meinungsverschiedenheiten, ja. Aber nichts Wildes.«
Ariane sah mich lange an. »Henrik und ich …«, begann sie schließlich. »Wir waren beide entsetzt über Jaspers Entscheidung.«
Ah, natürlich. Genau wie Jasper glaubte auch sie, die Trennung wäre schuld an meinem Untergang.
»Du weißt, dass du trotzdem immer Teil unserer Familie sein wirst.«
Ich wusste, sie meinte es auch so. Sie konnte nichts für den Schmerz, den das in mir rumoren ließ. Das Zuhause der Veylands war immer meine Festung gewesen. So würde es sich nie wieder anfühlen.
»Ich sollte in dieser Sache wohl nicht parteiisch sein, aber wenn du mich fragst, war mein Sohn ein Dummkopf, mit dir Schluss zu machen.«
Ich nahm einen tiefen Schluck von meinem Latte. Vor einigen Wochen noch hätten ihre Worte mich möglicherweise zum Weinen gebracht. Aber ich war nicht mehr die Person, die Jasper verlassen hatte. Vielleicht hatte ich mich nicht unbedingt zum Besseren verändert, zurück konnte und wollte ich jedoch auch nicht mehr. Jetzt musste die Welt mit der neuen Vicky vorliebnehmen.
»Jasper und ich gehen beide erwachsen damit um«, sagte ich. Wenn mein Wiedereinzug bei ihm kein Beweis dafür war, wusste ich’s auch nicht.
Arianes Augen leuchteten auf. Ich hoffte, sie freute sich nur, dass ihr Sohn und ich uns nicht spinnefeind waren, und spekulierte nicht doch noch auf ein Liebes-Comeback. Denn das würde es nicht geben, so viel war sicher.
»Wo ich schon in der Stadt bin, geh ich vielleicht nachher mal bei ihm vorbei. Er war schon länger nicht mehr bei uns.«
Oh nein, gar nicht gut!
»Schreib ihm lieber vorher, ich glaub, er hat erwähnt, dass er heute einen Blockkurs in Software-Ergonomie hat.«
Wie ich es hasste, sie anzulügen! Aber Jasper musste unbedingt vorgewarnt werden. Ariane hatte einen Wohnungsschlüssel, und es wäre nun wirklich alles andere als günstig, wenn sie bei einem Spontanbesuch auf Clea stoßen würde.
»Ich wollte eigentlich nicht wegen Jasper mit dir sprechen«, wagte ich mich vor, um das Gespräch wieder auf Kurs zu bringen.
Am Nebentisch begann ein Baby zu weinen, weil seine Rassel runtergefallen war. Als die Mutter, die das schreiende Kind auf dem Schoß hielt, sich danach bückte, stieß sie mit dem Ellbogen ihr Saftglas um. Erleichternd zu sehen, dass auch andere Leute Pech hatten. Zumindest mit kleinen Dingen, nicht gleich mit ihrem ganzen Leben.
Ich zögerte. Wie würde Ariane auf meine Frage reagieren? Würde sie mir überhaupt etwas sagen können? Oder wusste sie gar nichts? Fest stand, ich durfte auf keinen Fall durchblicken lassen, wo Blanche gerade war.
»Weißt du, woher Blanche Saya Dorville kennt? Sie … scheint sie um Hilfe gebeten zu haben, um mich wieder aus der Gesellschaft rauszuholen.« Den Teil über die Intrigen, in die sie mich ohne mein Wissen verwickelt hatten, brauchte Ariane ja nicht unbedingt zu erfahren.
Sie fuhr sich durchs dunkle Haar und wirkte verwirrt. »Blanche hatte nie direkten Kontakt zu Saya.« Sie runzelte die Stirn und sah mich fragend an. »Oder doch?«
Erleichterung machte sich in mir breit. Immerhin war ich nicht die Einzige, die keine Ahnung hatte. Gleichzeitig war ich enttäuscht, weil ich damit keinen Schritt weitergekommen war. Dennoch: Überrascht war Ariane offensichtlich nicht über meine Frage nach Saya. Also musste es irgendeine Verbindung geben. Außerdem war mir nicht entgangen, dass sie sie beim Vornamen genannt hatte.
Inzwischen war der jungen Mutter am Nebentisch eine Kellnerin mit einem Lappen zu Hilfe gekommen, um die Saftpfütze aufzuwischen.
»Wie gesagt, es sieht ganz danach aus«, sagte ich, während ich sie dabei beobachtete. Dann wandte ich mich wieder Ariane zu, die unruhig ihren Ehering hin- und herdrehte.
»Woher kennst du sie denn?«, versuchte ich, noch ein wenig mehr aus ihr herauszukitzeln.
Sie wirkte etwas gequält. »Saya ist Henriks Schwester. Wir haben keinen Kontakt mehr zu ihr. Du weißt, dass wir mit der Firma unabhängig von den Glamourgesellschaften bleiben wollen und sie auch sonst nicht gerade befürworten. Unser Verhältnis zu Saya ist dementsprechend … angespannt.«
Unter dem Tisch grub ich mir die Fingernägel in die Kniekehlen, um den Schwall von Flüchen unter Kontrolle zu bekommen, der aus mir herausbrechen wollte.
Blanche war mit Saya verwandt? Das toppte ja wohl alles! Warum wusste dann nicht mal Jasper darüber Bescheid? Wenn es stimmte, war Saya immerhin genauso seine Tante. Hatte Blanche sie etwa gegen den Willen und ohne das Wissen ihrer Eltern kennengelernt? Oder konnte ich Ariane keinen Glauben schenken, weil sie vielleicht nur versuchte, von sich selbst abzulenken?
»Vicky, wenn ich so direkt sein darf: Um Blanche oder Saya geht es dir bei dem Ganzen doch gar nicht, hab ich recht?«
Ich wusste sofort, worauf das hinauslaufen würde. »Bitte lass uns nicht über meine Mutter reden«, sagte ich. »Mein Beitritt hatte rein gar nichts mit ihr zu tun, das schwöre ich!«
Ariane musterte mich mit wissender Miene, aber sie schwieg. Sie mochte mich zu sehr, um in alten Wunden herumzustochern. Oder vielleicht sah sie mir auch einfach an, wie wenig es brauchen würde, meine Mir-geht’s-gut-Fassade zum Einsturz zu bringen. Dahinter würden meine Niedergeschlagenheit und die Enttäuschung zum Vorschein kommen. Und all meine viel zu widerstandsfähigen Erinnerungen an Robin.
Genug gewartet! Nach meinem Treffen mit Ariane rief ich mir ein Taxi, bevor mich der Mut verlassen konnte, und nannte dem Fahrer die Adresse der Saya Nord.
Es würde wahrscheinlich spät werden; also schickte ich Jasper eine Nachricht, damit er und Clea nicht dachten, ich wäre gekidnappt worden. Sie brauchten sich erst gar keine Hoffnungen zu machen, mich los zu sein.
Ich lehnte mich in den Sitz zurück und versuchte, mich zu entspannen. Für Panik gab es doch nicht den geringsten Anlass: Ich hatte frei, die Sonne schien, und im Grunde konnte mir nichts passieren. Außer, dass du vielleicht heute noch vor Robin stehen wirst.
Es war für mich schon eine Herausforderung gewesen, in der Gesellschaft anzurufen. Hinzufahren und hineinzuspazieren, war allerdings noch einmal eine ganz andere Nummer.
Bereits an der Schranke, die die Zufahrt zum Anwesen versperrte, spielten meine Nerven derart verrückt, dass ich den diensthabenden Wachmann nur anstammeln konnte. Zum Glück folgte er meiner Bitte, Gwynnia anzurufen und um Erlaubnis zu fragen, mich passieren zu lassen. Auch sie enttäuschte mich nicht. Schon fuhr der Wagen die Allee entlang.
Als er auf dem Parkplatz vor dem Palazzo anhielt, hatte ich schwitzige Hände. Der Fahrer warf mir über die Schulter einen fragenden Blick zu, was mich daran erinnerte, dass ich aussteigen musste. Mit plötzlich bleischweren Beinen ging ich auf die Treppe vor dem Eingang zu.
Es fühlte sich an wie Nachhausekommen und gleichzeitig fremd. Die Zeit, die ich in der Gesellschaft verbracht hatte, kam mir in meiner Erinnerung viel länger vor, genau wie die Wochen, die vergangen waren, seit Robin mich hinausgeworfen hatte.
Jetzt war ich wieder hier.
Und würde mich nicht abwimmeln lassen. Robin dachte vielleicht, er hätte mich schachmatt gesetzt, doch auch wenn er das letzte Spiel für sich entschieden hatte, war ich bereit für eine Revanche. Das musste ich sein, für Blanche und für mich selbst.
Die Eingangstür war offen, und ich kam ungehindert bis zur Rezeption.
Gwynnia begrüßte mich mit einer Mischung aus Seufzen und Lachen. »Lou!«
Dieser Name löste unheimlich viel in mir aus. Er hatte mich so lange geschützt und es mir ermöglicht, das Leben einer anderen zu leben. Die Partys, den Luxus oder die verrückten Gesetze der Gesellschaft vermisste ich nicht, aber den Platz, der mir durch meine Rolle als Louelle zugefallen war. Mir fehlten Tayla und die anderen Freunde, die ich hier gewonnen hatte. Mir fehlte es, von ihrem verfluchten Regenten herausgefordert zu werden. Mir fehlte es, eine Harmonie zu sein.
Nicht, dass ich irgendetwas davon jemals zugegeben hätte. »Ich muss wirklich mit Blanche reden!« Der ich ebenfalls nichts von alldem anvertrauen würde.
Ich hatte keinen Plan, wie unsere große Aussprache ablaufen sollte. Blanche hatte mir so viel verheimlicht und tat es immer noch. Vor allem hatte sie Robin absichtlich in dem Glauben gelassen, ich hätte ihn ausspioniert und gemeinsam mit ihr und Saya geplant, ihn umzubringen. Was mich, freundlich formuliert, ziemlich wütend machte. Viel wütender war allerdings sie vermutlich auf mich. Selbst wenn sie nur über einen Bruchteil von dem Bescheid wusste, was ich in der Saya Nord veranstaltet hatte. Mit Robin.
Gwynnia sah mich mit einem ganz leichten Lächeln an, nicht ermutigend, aber auch nicht abweisend. Ich hätte sie gern umarmt.
»Marcon ist in seinem Büro. Handel das mit ihm aus.«
Ich nickte und wollte mich umdrehen, um zu ihm zu gehen, blieb dann jedoch noch einen Moment. »Wie läuft es mit Vin?«
Ihre Augen leuchteten auf. »Es könnte nicht besser sein.« Der besorgte Ausdruck kehrte allerdings schnell zurück. »Aber die Stimmung in der Gesellschaft ist schrecklich, seit Clea weg ist. Wenn du doch irgendetwas weißt – wo sie hingegangen sein könnte – sag es bitte!« Sie zögerte. »Na ja, und einige von uns vermissen dich genauso.«
Wenn ich eins nicht erwartet hatte, dann das. Ich versteckte, wie gerührt ich war, und schlug bewusst einen energischen Ton an: »Über Clea kann ich nichts sagen, und was mich angeht – Harmonie zu sein, war sowieso nie mein Ding.«
Dabei war es eigentlich viel zu sehr mein Ding gewesen.
»Ich verstehe wirklich nicht, warum du es überhaupt versuchst.« Marcon musterte mich, wie ich da in der Tür seines Büros stand. Er sah vor allem genervt aus, doch die Art, wie er mit dem Kugelschreiber in seiner Hand spielte, verriet seine Unsicherheit.
»Robin mag Regent sein, trotzdem kann er nicht sämtliche Vorschriften ignorieren. Harmonien kann man doch nicht kündigen und beliebig austauschen. Er hat mir gegenüber den Anspruchseid abgelegt!«
»Stimmt.«
Ich wartete ab. So einfach würde er es mir wohl kaum machen. »Aber …?«, fragte ich schließlich.
Seufzend legte er den Kuli weg und deutete auf den Stuhl, der seinem Schreibtisch gegenüberstand. »Setz dich.«
Ich gehorchte und versuchte weiterhin, ihn mit bloßen Blicken kleinzukriegen, jetzt auf Augenhöhe.
»Was erhoffst du dir?«
»Es geht mir nur um Blanches Freiheit. Ich hab sie in diese Situation gebracht, also hol ich sie auch wieder da raus.«
Marcon sah aus, als würde er es bereuen, je den Vorsitz des Gesellschaftsvorstands angenommen zu haben. Er hatte garantiert nicht damit gerechnet, sich je mit einer wie mir herumschlagen zu müssen.
»Mir war die ganze Zeit klar, dass Robin dich wegen irgendetwas im Visier hatte. Bis Clea es gesagt hat, wäre ich bloß nicht auf eine Verbindung zu Blanche gekommen.«
»Und?«, fragte ich. Robin hatte ihm und dem Rest der Gesellschaft genauso etwas vorgemacht wie ich. Das konnte er doch unmöglich so stehen lassen!
»Ich habe mich mit den anderen Vorstandsmitgliedern und den Harmonien beraten.« Er zog sich den Siegelring mit dem Emblem der Saya Nord vom Finger, um ihn schon einen Moment später wieder anzustecken. »Wir werden ihn gemäß der Gesellschaftsordnung zur Rede stellen. Aber nicht, solange Clea nicht zurück ist. Außerdem ist noch nicht klar, wie wir die Regeln durchsetzen sollen, ohne deine Rückkehr zu fordern. Denn dagegen haben wir geschlossen gestimmt. Du sorgst nur für Ärger.«
Wow! Ich konnte mich gar nicht entscheiden, über welche der Infos ich mich am meisten aufregen sollte. Darüber, dass sie ausgerechnet in meinem Fall eine Ausnahme in ihren sonst so penibel einzuhaltenden Regeln machten? Oder darüber, dass sie alle ihrer geliebten Königin hinterhertrauerten, während sie mich nur als Problem sahen? Solange ich noch Louelle gewesen war, hatten sie mich immerhin wie ein vollwertiges Mitglied behandelt, und jetzt taten sie fast so, als würde der Saya Nord zum Paradiesstatus nur meine dauerhafte Abwesenheit fehlen.
»Ich weiß, wir kennen uns nicht besonders gut«, sagte ich. »Daher möchte ich dich der Fairness halber vorwarnen: Ich werde nicht aufgeben.«
Mit einer Kopfbewegung Richtung Tür gab er mir zu verstehen, dass ich seine Zeit nicht weiter verschwenden sollte.
Schnaubend erhob ich mich.
»Wenn ich du wäre, würde ich mich hier nicht noch mal blicken lassen!«, rief er mir hinterher.
Wusste er denn nicht, wie sehr ich dazu neigte, genau die Dinge zu tun, von denen mich jeder abzuhalten versuchte?
»Du bist es wirklich! Lass dich umarmen, Schwester!«
Apryl erwartete mich direkt vor der Tür, und ich war viel zu perplex, um sie rechtzeitig abzuwehren.
»Du hast dir echt Zeit gelassen«, beschwerte sie sich. »Weißt du eigentlich, wie langweilig es hier ohne dich ist?«
Ihr Oberteil war so durchsichtig, dass ich ihren Bauchnabel ausmachen konnte. »Schrecklich langweilig.«
Machte sie Witze? Trotz unseres Trinkgelages nach meiner Nacht mit Robin hätte ich das zwischen uns nicht gerade als Freundschaft bezeichnet.
»Ich weiß gar nicht, warum sich alle wegen Clea so aufregen. Du bist eindeutig der größere Verlust. Jetzt habe ich niemanden mehr, der sich mit mir anlegt.«
Ausnahmsweise schluckte ich die Worte, die mir auf der Zunge lagen, tatsächlich wieder hinunter, bevor sie meinen Mund verlassen konnten. Apryl nach Robin zu fragen, wäre nun wirklich eine neue Stufe von tief gesunken.
Leider schien sie sie aber längst in meinen Augen gelesen zu haben. »Was denn – willst du dich gar nicht nach der Liebe deines Lebens erkundigen? Es geht das Gerücht um, du hättest geheult und seinen Namen geschrien, als sie dich rausgeschleift haben.«
Ich biss die Zähne zusammen und ging an ihr vorbei Richtung Ausgang. Je länger ich das Taxi warten ließ, desto mehr würde ich dem Fahrer zahlen müssen. Das war mir ein Gespräch mit Apryl nicht wert.
Sie lief mir hinterher. »Ihm geht’s scheiße, glaub ich. Er schläft nicht mehr, feiert nicht richtig mit und sieht aus wie ein wandelnder Toter. Wann immer er sich Zeit freischaufeln kann, verlässt er die Gesellschaft und sucht nach seiner Königin.«
Warum trifft dich das? Hast du etwa erwartet, du würdest diejenige sein, die er vermisst? »Tja, ist es nicht so, dass einem immer erst bewusst wird, was man an jemandem hatte, wenn man ihn verliert?« Ich schaffte es, vollkommen teilnahmslos zu klingen. »Aber du kannst dich doch freuen. Hast ihn jetzt ja für dich allein.«
Apryl zeigte mir einen Vogel, und irgendwie beruhigte mich diese Geste. »Seit dem Intermezzo mit einer gewissen Louelle ist ihm hier sowieso keine mehr gut genug.«
Ein kurzes Flattern jagte durch meinen Bauch. Wir waren aus dem Haus ins Freie getreten, und ich blieb stehen, bemühte mich nach Kräften, keine Miene zu verziehen.
»Obwohl …«, sagte Apryl, »Poème erzählt rum, er hätte sich schon ein paar Mal mit ihr getröstet.«
»Was?«, quiekte ich.
Sie lächelte. »Wusste ich’s doch.«
»Ich bin wegen Blanche hier!«, fauchte ich.
Sie nickte, unbeirrt weiter lächelnd. »Klar bist du das. Ich meine, sie hat dich belogen, ausgenutzt und beinahe zur Straftäterin gemacht, wenn die Gerüchte stimmen. Also: Wann kommst du wieder, um dir Robin zu krallen?«
»Ich hasse ihn, Apryl.«
»Das tun wir doch alle, oder nicht?«
Aus dem Haus drang Lärm, und als ich durch die Glasscheiben der Eingangstür sah, erkannte ich sofort, dass die Typen, die durchs Foyer gerannt kamen, zum Sicherheitsdienst gehörten.
»Hör zu«, sagte Apryl mit gesenkter Stimme, plötzlich ganz ernst. »Wenn du das nächste Mal herkommen willst, ruf an.« Sie drückte mir einen Zettel mit einer Nummer in die Hand. Warum überraschte es mich nicht, dass sie anscheinend trotz des Verbots ein Handy besaß?
»Du willst mir …?«
»Verlass sofort das Grundstück!«, pfefferte mir der erste Typ entgegen, der jetzt durch die Tür stürmte und sich drohend vor mir aufbaute.
Apryl legte mir die Hände auf die Schultern und schaute mir herausfordernd in die Augen. »Hier steht ein Thron leer, Vicky. Also komm zurück und kämpf drum.«
Als sie mich losließ, sah ich, wie ihr Armband rosa leuchtete. Mein Blick schnellte umher, aber von Robin fehlte jede Spur. Wahrscheinlich beobachtete er uns von irgendeinem Fenster aus. Ich schluckte.
Dann nickte ich Apryl zu und hob das Kinn, bevor ich die Treppe hinunterstieg und zu dem wartenden Taxi ging. Ich wusste, dass mehrere Augenpaare dem Auto folgten, als wir vom Parkplatz fuhren, aber ich gönnte niemandem den Triumph, mich zurückblicken zu sehen.
Kaum war Vicolina zurück, hatte sie auch schon wieder PartyTime eingeschaltet. Was erwartete sie eigentlich, was sie dort senden würden? Sie konnte noch so oft behaupten, dass es ihr um Blanche ging. Ich wusste nur zu genau, wie jemand aussah, der Robin Dorville nicht loslassen konnte. Jasper hantierte gerade an der Küchenzeile herum, und ich saß auf dem Sofa und versuchte zu lesen, wurde aber sofort hellhörig, als ich eine mir nur zu vertraute Stimme vernahm: »… Tochter ist eine kluge junge Frau. Wie ich ist sie in der Gesellschaft groß geworden. Sie hat es nie bereut, Mitglied zu sein.«
Fassungslos starrte ich meine Mutter an, da schwenkte die Kamera auch schon zur Moderatorin – heute die Braunhaarige namens Tilda. »Und denken Sie, sie könnte es bereuen, Harmonie geworden zu sein?«
Als daraufhin kurz Robin eingeblendet wurde, der keine Miene verzog, schnaubte ich. »Ich glaub’s nicht, dass er sie mit reinzieht!«
Wieder tauchte das Gesicht meiner Mutter auf, und Vicolina beugte sich interessiert vor. »Nein, ausgeschlossen. Ihr erstes Wort war ›Erstharmonie‹.« Sie tat so, als würde sie nachdenken, und lächelte dann verschmitzt. »Nein, falsch, ihr erstes Wort war ›Robin‹.«
Ich schlug die Hände vors Gesicht. »Das ist unfair«, murmelte ich. »Warum ist sie auf seiner Seite?«
»Ohne Sie angreifen zu wollen … Sie wirken, als ob Sie sich gar keine Sorgen um Clea machen. Denken Sie, Ihre Tochter weiß, was sie tut?«
Interessant, dass sie sie siezte. Andererseits … Meine Mutter hatte einfach diese einschüchternde Wirkung auf andere Menschen, mich eingeschlossen.
»Na, ganz offensichtlich nicht«, antwortete sie mit dem für sie typischen hoheitsvollen Lächeln. »Aber ihr wird schnell klar werden, wo sie hingehört. Wie ich sie kenne, ist ihr die Harmonienwahl einfach zu Kopf gestiegen.«
Ich stieß einen unwilligen Laut aus, begleitet von Vicolinas Schnauben. Sie entfernte sich vom Fernseher und holte sich einen Teller aus dem Hängeschrank über den Kochplatten.
»Womit wir bei einer interessanten Frage wären«, flötete Tilda. »Denn Robin hat uns immer noch nicht verraten, was sich unmittelbar vor Cleas Verschwinden in der Saya Nord abgespielt hat. Steht das Ganze wirklich in Verbindung mit Cleas Kandidatur? Und welche Rolle spielt der Skandal um Vicolina van Wächt?«