Glanz und Elend der Kurtisanen - Honoré de Balzac - E-Book

Glanz und Elend der Kurtisanen E-Book

Honore de Balzac

0,0

Beschreibung

Die Fortsetzung der 'Verlorenen Illusionen'. Dichter Lucien de Rubempré und Bankier de Nucingen rivalisieren um Kurtisane Esther. Damit er nicht ganz auf verlorenem Posten steht, schließt Lucien einen Pakt mit einem falschen Priester.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 719

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Glanz und Elend der Kurtisanen

Honoré de Balzac

Re-Image Publishing
Copyright: This work is available for countries where copyright is Life+70 and in the USA
Inhaltsverzeichnis
Teil 1
Von der Liebe der Dirnen
Was alte Herren sich die Liebe kosten lassen
Teil 2
Der Weg des Bösen
Vautrins letzte Verkörperung

Teil 1

Von der Liebe der Dirnen

Beim letzten Opernball des Jahres 1824 fiel mehreren Masken die Schönheit eines jungen Mannes auf, der in den Gängen und im Foyer auf und ab ging; und zwar in der Haltung eines Menschen, der eine durch unvorhergesehene Umstände in ihrem Hause zurückgehaltene Frau sucht. Das Geheimnis dieses bald eiligen, bald lässigen Schritts ist nur alten Frauen und einigen ausgedienten Pflastertretern bekannt. Bei jenem ungeheuren Stelldichein beobachtet die Masse die Masse nur wenig; die Interessen sind leidenschaftlich, der Müßiggang selbst ist mit sich beschäftigt. Der junge Dandy wurde von seiner unruhigen Suche so sehr in Anspruch genommen, daß er seinen Erfolg gar nicht bemerkte: die spöttisch bewundernden Rufe gewisser Masken, das ernsthafte Erstaunen, die beißenden ›lazzi‹, die süßesten Worte hörte und sah er nicht. Obgleich seine Schönheit ihn unter die Ausnahmepersonen einreihte, die den Opernball besuchen, um dort ein Abenteuer zu verfolgen, und die es erwarteten, wie man zu Lebzeiten Frascatis einen Glücksfall beim Roulette erwartete, so schien er doch seines Abends sicher wie ein Bürger; er mußte der Held eines jener Mysterien sein, die sich unter drei Personen abspielen, jener Mysterien, aus denen der ganze Opernball besteht und die nur denen bekannt sind, die eine Rolle darin haben; denn für junge Frauen, die hingehen, um sagen zu können: ›Ich habe es gesehen‹, für Provinzialen, für unerfahrene junge Leute und Fremde muß die Oper an diesen Abenden der Palast der Ermüdung und der Langweile sein. Für sie ist diese schwarze, langsame und gedrängte Masse, die kommt und geht, sich schlängelt und wendet und wieder wendet, hinauf und hinab steigt und sich mit nichts vergleichen läßt als mit Ameisen auf ihrem Haufen, ebensowenig verständlich, wie die Börse einem bretonischen Bauern, der nichts vom Dasein der Staatspapiere weiß, verständlich ist. Mit  in allen Zonen von Paris ein Auftreten gibt, das offenbart, wer man ist, was man tut, woher man kommt und was man will?

»Was für ein hübscher junger Mann! Hier kann man sich umdrehen und ihn ansehen,« sagte eine Maske, in der die Stammgäste des Balls eine anständige Frau erkannten. »Sie entsinnen sich seiner nicht?« antwortete der Herr, der ihr den Arm reichte. »Und doch hat Frau du Châtelet ihn Ihnen vorgestellt … « »Wie! Das ist der Apothekerssohn, in den sie sich vernarrt hatte und der Journalist wurde, der Liebhaber des Fräulein Coralie?« »Ich glaubte, er wäre zu tief gefallen, um je wieder in die Höhe zu kommen, und ich verstehe nicht, wie er in der Pariser Gesellschaft wieder auftreten kann?« sagte der Graf Sixtus du Châtelet. »Er sieht aus wie ein Prinz,« sagte die Maske, »und nicht die Schauspielerin, mit der er lebte, wird ihn so verwandelt haben; meine Cousine, die ihn entdeckt hatte, hat ihn nicht herauszuputzen verstanden; ich möchte wohl die Geliebte dieses Sargino kennen. Sagen Sie mir etwas aus seinem Leben, was mich instand setzt, ihn zu beunruhigen.«

Dieses Paar, das dem jungen Manne flüsternd folgte, wurde eben jetzt von der breitschultrigen Maske scharf beobachtet.

»Lieber Herr Chardon,« sagte der Präfekt der Charente, indem er den Dandy am Arm nahm, »erlauben Sie mir, Ihnen jemanden vorzustellen, der seine Bekanntschaft mit Ihnen wieder anknüpfen möchte … « »Lieber Graf Châtelet,« erwiderte der junge Mann, »ebendiese Dame hat mich gelehrt, wie lächerlich der Name war, den Sie mir geben. Eine Ordonnanz des Königs hat mir den meiner Vorfahren mütterlicherseits, der Rubemprés, verliehen. Wenn auch die Zeitungen diese Tatsache gemeldet haben, so geht sie doch nur eine so dürftige Persönlichkeit an,  daß ich nicht erröte, sie meinen Freunden, meinen Feinden und den Gleichgültigen ins Gedächtnis zurückzurufen: Sie werden sich rechnen, worunter Sie wollen, aber ich bin überzeugt, Sie werden nicht eine Maßregel mißbilligen, die Ihre Frau mir anriet, als sie nur erst eine Frau von Bargeton war.«

Dieses hübsche Epigramm, über das die Marquise lächeln mußte, jagte dem Präfekten ein nervöses Zittern durch den Körper.

»Sie werden ihr sagen,« fügte Lucien hinzu, »daß ich jetzt den roten Schild mit dem wütenden Silberstier im grünen Felde führe.« »Dem Silberstier … « wiederholte Châtelet. »Die Frau Marquise wird Ihnen erklären, weshalb dieses alte Wappenschild etwas Besseres ist als der Kammerherrnschlüssel und die goldenen Bienen des Kaiserreichs, die sich in dem Ihren befinden, und zwar zur großen Verzweiflung der Frau Châtelet, gebornen Nègrepelisse d'Espard … « sagte Lucien lebhaft. »Da Sie mich erkannt haben, kann ich Sie nicht mehr beunruhigen; und ich könnte Ihnen nicht erklären, wie sehr Sie mich beunruhigen,« sagte die Marquise d'Espard mit leiser Stimme zu ihm; sie war erstaunt über die Unverschämtheit und Sicherheit, die dieser einst von ihr verachtete Mann sich erworben hatte. »Erlauben Sie also, gnädige Frau, daß ich mich nicht der einzigen Möglichkeit beraube, Ihre Gedanken zu beschäftigen; lassen Sie mich in diesem geheimnisvollen Halbschatten,« sagte er mit dem Lächeln des Mannes, der nicht ein sicheres Glück gefährden will. Die Marquise konnte eine kurze, harte Bewegung nicht unterdrücken, als sie sich, nach einem englischen Ausdruck, von Luciens Schärfe so ›geschnitten‹ sah. »Ich mache Ihnen mein Kompliment zu Ihrem Standeswechsel,« sagte der Graf du Châtelet zu Lucien. »Ich nehme es an, wie Sie es geben,« erwiderte Lucien, indem er die Marquise mit unendlicher  Anmut grüßte. »Der Geck!« sagte der Graf leise zu Frau d'Espard, »endlich hat er seine Vorfahren erobert!« »Bei jungen Leuten deutet die Geckerei, wenn sie sich gegen uns wendet, fast immer auf ein sehr hoch stehendes Glück; denn unter Ihnen deutet sie auf Unglück. Deshalb möchte ich diejenige unserer Freundinnen kennen, die diesen schönen Vogel in ihren Schutz aufgenommen hat; vielleicht sähe ich dann eine Möglichkeit, mich heute abend zu amüsieren. Mein anonymer Brief ist zweifellos eine von einer Rivalin vorbereitete Bosheit, denn es ist von diesem jungen Mann darin die Rede; seine Unverschämtheit wird ihm diktiert worden sein: spionieren Sie ihm nach. Ich will den Arm des Herzogs von Navarreins nehmen; Sie werden mich schon wiederfinden können.«

In dem Augenblick, als Frau d'Espard ihren Verwandten anreden wollte, trat die geheimnisvolle Maske zwischen sie und den Herzog, um ihr ins Ohr zu sagen: »Lucien liebt Sie; er hat den Brief geschrieben; Ihr Präfekt ist sein größter Feind; konnte er sich vor ihm erklären?«

Der Unbekannte ging und ließ Frau d'Espard in doppelter Überraschung zurück. Die Marquise kannte keinen Menschen auf der Welt, der imstande gewesen wäre, die Rolle dieser Maske zu spielen; sie fürchtete eine Falle, setzte und versteckte sich.

Der Graf Sixtus du Châtelet, dessen ehrgeiziges ›du‹ Lucien mit einer Absichtlichkeit unterdrückt hatte, die nach lange erträumter Rache roch, folgte dem wunderbaren Dandy aus einiger Ferne; bald traf er auf einen jungen Mann, dem er sein Herz ausschütten zu können vermeinte. »Nun, Rastignac, haben Sie Lucien gesehen? Er hat sich gehäutet.« »Wenn ich ein ebenso hübscher Junge wäre wie er, wäre ich noch reicher als er,« erwiderte der junge Lebemann in leichtem, aber feinem Ton, der eine  attische Spötterei verriet. »Nein,« sagte ihm die dicke Maske ins Ohr; und durch den Ton, mit dem sie das eine Wort aussprach, gab sie ihm tausend Spöttereien für seine eine zurück. Rastignac, der nicht der Mann dazu war, eine Beleidigung hinunterzuschlucken, stand da wie vom Blitz getroffen und ließ sich von einer Eisenhand, die abzuschütteln ihm unmöglich war, in die Nische eines Fensters führen. »Sie junger Hahn aus Mama Vauquers Hühnerstall, Sie, dem es an Herz fehlte, die Millionen des Papa Taillefer zu packen, als der größte Teil der Arbeit schon getan war, erfahren Sie zu Ihrer persönlichen Sicherheit dies: wenn Sie sich gegen Lucien nicht wie gegen einen Bruder verhalten, den Sie lieben, so sind Sie in unserer Hand, ohne daß wir in Ihrer wären. Schweigen und Ergebenheit! Sonst mische ich mich in Ihr Spiel ein und stoße Ihnen die Kegel um. Lucien von Rubempré steht im Schutz der größten Macht von heute, der Kirche. Wählen Sie zwischen Leben und Tod. Ihre Antwort?«

Rastignac schwindelte es wie einen Menschen, der im Walde eingeschlafen ist und an der Seite einer ausgehungerten Löwin erwacht. Er fürchtete sich, und er hatte keine Zeugen: in solchen Fällen überlassen sich die mutigsten Männer der Furcht. »Nur er kann wissen … und wagen … « sagte er halblaut vor sich hin. Die Maske drückte ihm die Hand, um ihn zu verhindern, daß er seinen Satz aussprach. »Handeln Sie, als wäre er es,« sagte sie. Rastignac tat, was ein Millionär auf der Landstraße täte, wenn er einen Räuber auf sich anschlagen sähe: er kapitulierte.

»Mein lieber Graf,« sagte er zu du Châtelet, als er zu ihm zurückkehrte, »wenn Ihnen an Ihrer Stellung liegt, so behandeln Sie Lucien von Rubempré wie einen Menschen, den Sie eines Tages viel höher gestellt sehen werden, als Sie es sind.«

 Die Maske ließ sich eine unmerkliche Geste der Befriedigung entschlüpfen und nahm die Spur Luciens wieder auf.

»Mein Lieber, Sie haben Ihre Meinung über ihn gar schnell geändert,« erwiderte der mit Recht erstaunte Präfekt. »Gibt es heute noch Meinungen? Es gibt nur noch Interessen,« fiel Des Lupeaulx, der sie hörte, ein; »um was handelt es sich?« »Um den Herrn von Rubempré, den Rastignac als eine Persönlichkeit ausgeben will,« sagte der Deputierte zu dem Generalsekretär. »Mein lieber Graf,« erwiderte Des Lupeaulx mit ernsthafter Miene, »Herr von Rubempré ist ein junger Mann von höchstem Verdienst; und er hat so gute Stützen, daß ich mich glücklich schätzen würde, wenn ich meine Bekanntschaft mit ihm wieder anknüpfen könnte.« »Da wird er gleich in das Wespennest der Wüstlinge unserer Zeit hineingeraten,« sagte Rastignac.

Die drei Teilnehmer des Gesprächs wandten sich einem Winkel zu, in dem ein paar Schöngeister, mehr oder minder berühmte Leute, und einige elegante Männer standen. Diese Herren teilten sich ihre Beobachtungen, ihre Witze und ihre Bosheiten mit, indem sie versuchten, sich zu amüsieren, oder indem sie ein Vergnügen erwarteten. In dieser so wunderlich zusammengesetzten Gruppe befanden sich auch Leute, zu denen Lucien Beziehungen gehabt hatte, und unter deren scheinbar gutem Verhältnis zu ihm sich schlimme Dienste verbargen.

»Nun, Lucien, mein Kind, mein Liebchen, da sind Sie ja wieder ausgestopft und ausstaffiert. Woher kommen wir? Sind wir endlich mit Hilfe der Geschenke aus Florines Boudoir wieder in den Sattel gekommen? Bravo, mein Bürschchen!« sagte Blondet, indem er Finots Arm losließ, um Lucien vertraulich um die Hüften zu fassen und ans Herz zu drücken.

Andoche Finot war der Besitzer einer Zeitschrift, an der Lucien fast unentgeltlich mitgearbeitet hatte und die  er nicht wie Finot daran, sich das für den Bejahrten nötige Vermögen zu erwerben.

Es gehörte für Lucien vielleicht der schwierigste Mut dazu, um in diesem Augenblick Blondet zu ›schneiden‹, wie er soeben Frau d'Espard und Châtelet geschnitten hatte. Zu seinem Unglück hemmte bei ihm die Genußsucht der Eitelkeit die Entfaltung des Ehrgeizes, der sicherlich der Ausgangspunkt vieler großen Dinge ist. Seine Eitelkeit hatte in jenem ersten Waffengang triumphiert; er hatte sich vor zwei Leuten, die ihn einst in seiner Armut und seinem Elend verachtet hatten, reich, glücklich und geringschätzig gezeigt; aber konnte ein Dichter gleich einem ergrauten Diplomaten zwei sogenannten Freunden die Spitze bieten, die ihn in seinem Elend aufgenommen, die während der Tage seiner Not ihr Bett mit ihm geteilt hatten? Finot, Blondet und er hatten sich gemeinsam weggeworfen; sie hatten sich in Orgien gewälzt, die nicht nur das Geld ihrer Gläubiger auffraßen. Gleich jenen Soldaten, die ihren Mut nicht am rechten Ort anzubringen wissen, tat Lucien jetzt das, was sehr viele Leute in Paris tun: er kompromittierte sich von neuem, indem er Finots Händedruck annahm und sich gegen Blondets Liebkosung nicht wehrte. Wer sich je mit dem Journalismus befaßt hat oder noch befaßt, sieht sich in der grausamen Notwendigkeit, Leute, die er verachtet, begrüßen, seinen besten Feinden zulächeln, mit den übelriechendsten Gemeinheiten paktieren und, wenn er seine Angreifer mit ihrer eigenen Münze bezahlen will, sich die Finger beschmutzen zu müssen. Man gewöhnt sich daran, zuzusehen; wenn Schlimmes geschieht, es geschehen zu lassen; man billigt es erst, man tut es schließlich selbst. Auf die Dauer wird die Seele, die durch schmähliche und dauernde Kompromisse unablässig befleckt wird, kleiner, die Schnellfeder edler Gedanken verrostet, die Angeln der Banalität nutzen  sich ab und drehen sich von selber. Alzesten werden zu Philinten; Charaktere erschlaffen, Talente werden zu Bastardbegabungen, der Glaube an schöne Werke entfliegt. Wer einst auf die beschriebenen Blätter stolz sein wollte, verschwendet seine Kraft auf traurige Artikel, die sein Gewissen ihm früher oder später als ebenso viel schlimme Handlungen vorwirft. Man war gekommen, wie es bei Lousteau, bei Vernou ging, um ein großer Schriftsteller zu werden; man erkennt in sich selbst den ohnmächtigen Libellisten. Deshalb kann man jene, bei denen der Charakter auf der Höhe ihres Talents steht, niemals genug loben: die d'Arthez, die sichern Fußes durch die Klippen des literarischen Lebens zuschreiten wissen. Lucien wußte auf Blondets Schmeicheleien nichts zu erwidern, denn dessen Geist übte auf ihn eine unwiderstehliche Verführung aus, er bewahrte noch immer die Gewalt des Wüstlings über seinen Schüler, und außerdem nahm er durch seine Liaison mit der Gräfin von Montcornet in der Gesellschaft eine gute Stellung ein.

»Haben Sie einen Onkel beerbt?« fragte Finot mit spöttischer Miene. »Ich habe wie Sie begonnen, die Dummen systematisch zu schröpfen,« erwiderte Lucien im gleichen Ton. »Hätte der Herr eine Zeitschrift, irgendein Journal?« fragte Andoche Finot mit der unverschämten Selbstzufriedenheit, die der Ausbeutende dem Ausgebeuteten gegenüber entfaltet. »Ich habe Besseres,« versetzte Lucien, dessen durch die gespielte Überlegenheit des Chefredakteurs verwundete Eitelkeit ihm den Geist seiner neuen Stellung zurückgab. »Und was haben Sie, mein Lieber? … « »Ich habe eine Partei.« »Es gibt eine Partei Lucien?« fragte Vernou lächelnd. »Finot, da hat dich dieser Bursche in Schatten gestellt, ich habe es dir vorhergesagt, Lucien hat Talent, du hast ihn nicht richtig behandelt, du hast ihn gerädert. Bereue, grober Tölpel!« rief Blondet.

 schönste Zierde du gewesen bist, und wir werden dich stützen. Finot, ein paar Zeilen im Leitartikel! Blondet, ein verfängliches Artikelchen auf der vierten Seite deines Blattes! Wir wollen das Erscheinen des schönsten Buches der Zeit, des ›Bogenschützen Karls IX.‹ melden. Wir wollen Dauriat anflehen, uns bald die ›Margueriten‹ zu bescheren, jene göttlichen Sonette des französischen Petrarca! Erheben wir unsern Freund auf den Schild des Stempelpapiers, das einen Ruf schafft oder vernichtet!« »Wenn du ein Souper willst,« sagte Lucien zu Blondet, um diese Truppe, die immer größer zu werden drohte, abzuschütteln, »so scheint mir, hattest du es einem alten Freund gegenüber nicht nötig, Hyperbeln und Parabeln anzuwenden, als wäre er ein Tropf. Auf morgen Abend, bei Lointier!« sagte er lebhaft, als er eine Frau kommen sah, auf die er zueilte. »Oh! oh! oh!« sagte Bixiou in dreimal wechselndem Ton und mit spöttischer Miene, während es schien, als erkennte er die Maske, der Lucien entgegenging; »das verdient eine Bestätigung.« Und er folgte dem hübschen Paar, ging an ihm vorbei, prüfte es mit scharfblickendem Auge und kehrte zur großen Befriedigung all dieser Neider zurück, die nur zu gern wissen wollten, woher der Wechsel in Luciens Vermögensumständen kam. »Meine Freunde, ihr kennt seit langem das Glück des Herrn von Rubempré,« sagte Bixiou zu ihnen: »es ist die alte Ratte Des Lupeaulx'.«

Eine der jetzt vergessenen Verderbtheiten, die jedoch im Anfang dieses Jahrhunderts sehr verbreitet war, bestand in dem Luxus der ›Ratten‹. Eine Ratte – das Wort ist schon veraltet – nannte man ein Kind von zehn bis elf Jahren, eine Statistin an irgendeinem Theater, vor allem an der Oper, die irgendein Wüstling für das Laster und die Gemeinheit erzog. Eine Ratte war eine Art Höllenpage, ein weiblicher Gassenbube, dem man gute Streiche  verzieh. Die Ratte konnte alles nehmen, man mußte ihr mißtrauen wie einem gefährlichen Tier; sie führte ein Element der Lustigkeit in das Leben ein, wie es in der alten Komödie die Scapins, die Sganarelles und die Frontins taten. Die Ratte war zu teuer: sie trug weder Ehre noch Nutzen noch Vergnügen ein; die Mode der Ratten verschwand so vollständig, daß heute nur wenige Menschen dieses intime Detail des eleganten Lebens vor der Restauration noch kannten, bis ein paar Schriftsteller sich der Ratte als eines neuen Themas bemächtigten.

»Wie, sollte uns Lucien, nachdem ihm Coralie unter dem Leibe getötet wurde, die Torpille entführen?« fragte Blondet. Als die Maske mit den athletischen Formen diesen Namen hörte, entschlüpfte ihr eine Bewegung, die Rastignac sah, obwohl sie verhalten war. »Das ist nicht möglich!« erwiderte Finot; »die Torpille hat keinen Heller zu geben: sie hat sich, wie mir Nathan sagte, von Florine tausend Franken geborgt.« »O meine Herren, meine Herren! … « sagte Rastignac, indem er Lucien gegen so gehässige Beschuldigungen zu verteidigen suchte. »Nun,« rief Vernou, »ist denn der ausgehaltene Geliebte Coralies so tugendhaft geworden? … « »O, gerade diese tausend Franken«, sagte Bixiou, »beweisen mir, daß unser Freund Lucien mit der Torpille zusammenlebt … « »Welchen unersetzlichen Verlust erlebt die Elite der Wissenschaft, der Kunst und der Politik!« rief Blondet. »Die Torpille ist das einzige Freudenmädchen, in dem man das Zeug zu einer schönen Kurtisane fand; kein Unterricht hatte sie verdorben, sie konnte weder lesen noch schreiben: sie hätte uns verstanden. Wir hätten unserer Zeit eine jener prachtvollen Aspasiafiguren geschenkt, ohne die es kein großes  fügte er hinzu, indem er Blondet, Finot und Lousteau ansah. »Ja, der Bursche ist dazu geschaffen, um es weit zu bringen,« sagte Lousteau, der vor Eifersucht barst, »um so mehr, als er das hat, was wir ›Unabhängigkeit in den Ideen‹ nennen … « »Du hast ihn zu dem gemacht, was er ist,« sagte Vernou. »Nun,« versetzte Bixiou, indem er Des Lupeaulx ansah, »ich appelliere an die Erinnerungen des Herrn Generalsekretärs und Berichterstatters über die Bittschriften; diese Maske ist die Torpille, ich wette ein Souper … « »Ich halte die Wette,« sagte du Châtelet, der gern die Wahrheit wissen wollte. »Auf! Des Lupeaulx,« sagte Finot, »sehen Sie zu, daß Sie die Ohren Ihrer alten Ratte wiedererkennen.« »Es ist nicht nötig, einen Verstoß gegen die Maskenfreiheit zu begehen,« erwiderte Bixiou; »die Torpille und Lucien werden bis zu uns herkommen, wenn sie das Foyer wieder heraufgehn; ich mache mich anheischig, euch dann zu beweisen, daß sie es ist.« »Er ist also wieder übers Wasser gekommen, unser Freund Lucien?« sagte Nathan, der sich der Gruppe anschloß; »ich glaubte, er wäre für den Rest seiner Tage nach Angoulême zurückgekehrt. Hat er irgendein Geheimnis wider die Manichäer entdeckt?« »Er hat getan, was du so bald nicht tun wirst,« erwiderte Rastignac, »er hat alles bezahlt.« Die dicke Maske nickte beistimmend mit dem Kopf. »Wenn ein Mann in seinem Alter ein ordentlicher Mensch wird, gerät er auf Abwege; er hat keine Kühnheit mehr, er wird Rentier,« versetzte Nathan. »Oh, der wird stets ein großer Herr bleiben, und er wird innerlich stets eine Höhe der Gedanken besitzen, die ihn über viele sogenannte überlegene Menschen erhebt,« gab Rastignac zurück.

In diesem Augenblick sahen die Journalisten, Dandys und Müßiggänger, wie sich etwa Pferdehändler ein Pferd ansehen, das verkauft werden soll, prüfend den reizenden Gegenstand ihrer Wette an. Diese in der Kenntnis der  Woher kommt diese Flamme, die eine liebende Frau umstrahlt und sie unter allen anderen auszeichnet? Woher kommt jene Leichtigkeit eines Luftgeistes, die die Gesetze der Schwere zu verwandeln scheint? Ist es die nach außen tretende Seele? Hat das Glück physische Kräfte? Die Harmlosigkeit einer Jungfrau, die Anmut der Kindheit verrieten sich unter dem Domino. Obgleich sie getrennt einhergingen, glichen diese beiden Wesen jenen Gruppen Floras und Zephyrs, die von den geschicktesten Bildhauern kunstvoll verschlungen sind; aber es war mehr als Skulptur, als die größte der Künste; Lucien und sein hübscher Domino erinnerten an jene mit Blumen oder Vögeln beschäftigten Engel, die der Pinsel Giovanni Bellinis unter die Bilder der Jungfrau-Mutter setzte; Lucien und diese Frau gehörten der Phantasie an, die über der Kunst steht, wie die Ursache über der Wirkung steht.

Als diese Frau, die alles vergaß, nur noch einen Schritt von der Gruppe entfernt war, rief Bixiou: »Esther!« Die Unglückliche wandte sich lebhaft um, wie jemand, der sich rufen hört, erkannte den boshaften Menschen und senkte den Kopf gleich einem Sterbenden, der den letzten Seufzer ausgestoßen hat. Ein gellendes Gelächter brach aus, und die Gruppe zerstob in der Menge wie ein Trupp erschreckter Feldmäuse, die am Rande des Weges in ihre Löcher schießen. Nur Rastignac entfernte sich nicht weiter, als er mußte, damit es nicht aussah, als flöhe er vor den funkelnden Blicken Luciens; er konnte einen zwiefachen, gleich tiefen, wenn auch verschleierten Schmerz bewundern: zunächst die Torpille, die wie vom Blitz getroffen war; dann die unverständliche Maske, den einzigen Menschen der Gruppe, der geblieben war. Esther flüsterte Lucien in dem Moment, in dem ihr die Knie brachen, etwas ins Ohr, und Lucien verschwand mit ihr, indem er sie stützte. Rastignac folgte dem hübschen Paar mit dem Blick, versunken in seine Gedanken.

 »Woher hat sie diesen Namen der Torpille?« fragte ihn eine düstere Stimme, die ihn bis ins Innerste traf, denn sie war nicht mehr verstellt. »Er ist es, und er ist wieder entkommen … « sagte Rastignac vor sich hin. »Schweig, oder ich bringe dich um,« erwiderte die Maske, indem sie eine andere Stimme annahm. »Ich bin mit dir zufrieden; du hast dein Wort gehalten, und also hast du mehr als einen Arm zu deinem Dienst. Bleibe hinfort stumm wie das Grab; aber ehe du verstummst, antworte auf meine Frage.« »Nun, dieses Mädchen ist so reizvoll, daß sie dem Kaiser Napoleon den Kopf benommen hätte und daß sie selbst einem, der noch schwerer zu verführen ist, den Kopf benehmen würde: dir!« erwiderte Rastignac, indem er fortging. »Einen Augenblick!« sagte die Maske. »Ich will dir zeigen, daß du mich niemals irgendwo gesehen zu haben brauchst.«

Der Fremde nahm die Maske ab; Rastignac zögerte einen Augenblick, da er nichts von der scheußlichen Persönlichkeit erblickte, die er ehemals im Hause Vauquer gekannt hatte. »Der Teufel hat es Ihnen ermöglicht, sich ganz zu verwandeln, nur die Augen nicht, die man niemals vergessen könnte,« sagte er. Die Hand aus Eisen drückte ihm den Arm, um ihm ewiges Schweigen zu empfehlen.

Um drei Uhr morgens fanden Des Lupeaulx und Finot den eleganten Rastignac noch immer an derselben Stelle; er lehnte an der Säule, wo ihn die furchtbare Maske verlassen hatte. Rastignac hatte vor sich selbst gebeichtet: er war in einer Person Priester und Sünder, Richter und Angeklagter gewesen. Er ließ sich zum Frühstück davonführen, und als er nach Hause kam, war er vollständig berauscht, aber schweigsam.

Die Rue de Langlade verunziert mit den anstoßenden Straßen das Palais Royal und die Rue de Rivoli. Dieser Teil eines der glänzendsten Pariser Viertel wird noch lange  Schäflein drängten, die immer dahin kommen werden, wohin die Spaziergänger gehen: und ist es nicht besser, wenn die Spaziergänger dahin gehen, wo sie sich befinden? Was ist geschehen? Heute sind die glänzendsten Teile der Boulevards, ist diese Zauberpromenade am Abend der Familie entzogen. Die Polizei hat die Auskunftsmittel nicht zu benutzen verstanden, die ihr in dieser Hinsicht einige Durchgänge boten, so daß sie die öffentliche Straße hätte retten können.

Das auf dem Opernball von einem Wort gebrochene Mädchen wohnte seit einem oder zwei Monaten in der Rue de Langlade, in einem Hause von gemeinem Äußeren. Dieser Bau, der sich an die Mauer eines ungeheuren Hauses anlehnt, ist schlecht stuckiert, ohne Tiefe und von fabelhafter Höhe; er bezieht sein Licht von der Straße und hat nicht geringe Ähnlichkeit mit einer Hühnerstiege. In jedem Stockwerk liegt eine Wohnung von zwei Zimmern. Eine schmale Treppe führt hinauf, die an die Mauer angeklebt ist und wunderlich beleuchtet wird durch Fensterklappen; die geben außen den Gang des Gewindes an, und jeder Treppenabsatz wird markiert durch eine Abflußrinne, eine der scheußlichsten Eigentümlichkeiten von Paris. Laden und Zwischenstock gehörten ehemals einem Blechschmied; der Besitzer des Hauses wohnte im ersten Stock; die vier andern Stockwerke hatten sehr anständige Grisetten inne, die vom Wirt und der Schließerin allerlei Rücksichten und Gefälligkeiten beanspruchen konnten, weil es schwer war, ein so sonderbar gebautes und gelegenes Haus zu vermieten. Der Charakter dieses Viertels findet seine Erklärung eben im Vorhandensein einer großen Menge solcher Häuser, die der Handel nicht will und die nur von verleugneten, anrüchigen oder würdelosen Industrien ausgebeutet werden können.

Um drei Uhr nachmittags hatte die Pförtnerin, die um zwei Uhr morgens gesehen hatte, wie Fräulein Esther  aus Mahagoni; ein mit Küchengerät der gewöhnlichsten Art überladener Kamin, zwei angebrochene Holzbündel, ein Steingesims, auf dem hier und da, untermischt mit Schmuck und Scheren, ein paar Glassachen standen; ein schmutziges Nähkissen, weiße parfümierte Handschuhe, ein entzückender Hut, der auf die Wasserkanne geworfen war, ein Ternauxschal, der das Fenster verstopfte, ein elegantes Kleid, das an einem Nagel hing, ein kleines hartes Kanapee ohne Kissen; gemeine Überschuhe und reizende Schuhe, Stickereien, die den Neid einer Königin hätten erwecken können, Teller aus gewöhnlichem Porzellan, auf denen man die Reste der letzten Mahlzeit sah, die Stoßstellen zeigten und Messer und Gabeln aus Weißblech trugen, dem Silber des Pariser Armen; ein Korb voll Kartoffeln und schmutziger Wäsche, darüber eine frische Gazehaube, und ein schlechter, offen und verlassen dastehender Spiegelschrank, auf dessen Konsolen sich Pfandscheine zeigten: das war das Gesamtbild düsterer und heiterer, elender und reicher Dinge, das sich dem Blick darbot.

Diese Spuren des Luxus unter den Scherben, diese Einrichtung, die so gut zu dem Bohèmeleben des Mädchens paßte, das hier in seiner wirren Unterkleidung zusammengebrochen war, einem in seinem Geschirr verendeten und unter der zerbrochenen Deichsel in seine Leinen verwickelten Pferd vergleichbar: gab dieses seltsame Schauspiel dem Priester seine Gedanken ein? Sagte er sich, daß dieses verirrte Geschöpf wenigstens selbstlos sein mußte, um solche Armut mit der Liebe zu einem reichen jungen Mann zu paaren? Schrieb er die Unordnung des Mobiliars der Unordnung des Lebens zu? Empfand er Mitleid, Schrecken? Rührte sich sein Erbarmen? Wer ihn gesehen hätte, wie er mit untergeschlagenen Armen dastand, mit sorgenvoller Stirn, mit zusammengekniffenen Lippen und hartem Auge,  hätte glauben müssen, er wäre mit finsteren, gehässigen Empfindungen beschäftigt, mit widerspruchsvollen Gedanken, mit unheimlichen Plänen. Auf jeden Fall war er unempfindlich für die hübschen Rundungen einer Brust, die unter der Last des vorgebeugten Oberkörpers fast zermalmt wurde, und für die entzückenden Formen der kauernden Venus, die unter dem schwarzen Unterrock sichtbar waren, so straff war die Sterbende in sich zusammengebrochen; die Hingeschmiegtheit dieses Kopfes, der, von hinten gesehen, dem Blick seinen weißen, weichen und biegsamen Nacken darbot, die schönen Schultern in ihrer kühn enthüllten Nacktheit rührten sich nicht; er hob Esther nicht auf, er schien ihr herzzerreißendes Atmen, das die Rückkehr zum Leben verriet, nicht zu hören: es bedurfte eines grauenhaften Schluchzens und des beängstigenden Blicks, den ihm dies Mädchen zuwarf, damit er sie aufzuheben und zum Bett zu tragen geruhte, was er mit einer Leichtigkeit tat, die eine fabelhafte Kraft offenbarte.

»Lucien!« sagte sie murmelnd. »Die Liebe kehrt zurück, da ist die Frau nicht mehr fern,« sagte der Priester mit einer gewissen Bitterkeit.

Jetzt erkannte das Opfer Pariser Ausschweifungen das Kostüm seines Retters, und mit dem Lächeln des Kindes, das endlich die Hand auf etwas lang Ersehntes legt, sagte sie: »Ich soll also nicht sterben, ohne mich mit dem Himmel versöhnt zu haben!« »Sie werden Ihre Fehler sühnen können,« sagte der Priester, indem er ihr die Stirn mit Wasser benetzte und sie an einem Essigkännchen riechen ließ, das er in einem Winkel fand. »Ich fühle, wie das Leben, statt mich zu verlassen, auf mich einströmt,« sagte sie, als sie diese Pflegerdienste von dem Priester erhielt, indem sie ihrem Dank durch Gesten voller Natürlichkeit Ausdruck gab. Diese reizvolle Pantomime, die die Grazien  hätten spielen können, um zu verführen, rechtfertigte den Beinamen dieses seltsamen Mädchens vollkommen. »Fühlen Sie sich wohler?« fragte der Geistliche, indem er ihr ein Glas Zuckerwasser zu trinken gab.

Dieser Mensch schien solche merkwürdigen Hauswesen zu kennen; er wußte genau in ihnen Bescheid, er war wie zu Hause. Dieses Vorrecht, überall zu Hause zu sein, besitzen nur Könige, Dirnen und Diebe.

»Wenn Ihnen wieder ganz wohl ist,« fuhr der eigentümliche Priester nach einer Pause fort, »werden Sie mir sagen, welche Gründe Sie zu Ihrem letzten Verbrechen, diesem versuchten Selbstmord, trieben.« »Meine Geschichte ist ganz einfach, mein Vater,« erwiderte sie. »Vor drei Monaten lebte ich noch in der Unordnung, in der ich geboren wurde. Ich war das letzte und verworfenste Geschöpf; jetzt bin ich nur noch das unglücklichste auf der Welt. Erlauben Sie mir, Ihnen von meiner Mutter nichts zu erzählen, sie wurde ermordet … « »Und zwar von einem Hauptmann, in einem verdächtigen Hause,« sagte der Priester, indem er sein Beichtkind unterbrach. »Ich kenne Ihren Ursprung und weiß, daß, wenn je ein Wesen Ihres Geschlechts für einen schmählichen Lebenswandel eine Entschuldigung hatte, Sie es sind, denn Ihnen haben die guten Beispiele gefehlt.« »Ach, ich bin nicht einmal getauft; ich habe in keiner Religion Unterweisung erhalten.« »So ist also alles noch wieder gutzumachen,« fuhr der Priester fort, »vorausgesetzt, daß Ihr Glaube und Ihre Reue aufrichtig und ohne Hintergedanken sind.« »Lucien und Gott füllen mein Herz aus,« sagte sie mit rührender Naivität. »Sie hätten sagen können: Gott und Lucien,« gab der Priester lächelnd zurück. »Sie erinnern mich an den Zweck meines Besuchs. Lassen Sie nichts aus, was diesen jungen Mann betrifft.« »Sie kommen um seinetwillen?« fragte sie mit einem Ausdruck der Liebe, der jeden andern Priester gerührt hätte. »Oh, er hat alles geahnt!« »Nein,« erwiderte er, »nicht um Ihren Tod, sondern um Ihr Leben macht man sich Sorge. Reden Sie, erklären Sie mir Ihre Beziehungen.« »Mit einem Wort,« sagte sie.

Das arme Mädchen zitterte bei dem schroffen Ton des Geistlichen, aber doch als eine Frau, die die Brutalität seit langem nicht mehr überraschte.

»Lucien ist Lucien,« fuhr sie fort, »der schönste junge Mann und das beste aller lebenden Wesen; aber wenn Sie ihn kennen, so muß Ihnen meine Liebe sehr natürlich erscheinen. Ich habe ihn vor drei Monaten zufällig in der Porte Saint-Martin getroffen, wohin ich an einem Ausgehtag gegangen war; denn im Hause der Frau Meynardie, in dem ich lebte, hatten wir einen Tag in der Woche frei. Sie begreifen wohl, daß ich mich am folgenden Tage ohne Urlaub frei machte. Die Liebe war in mein Herz gedrungen und hatte mich so sehr verändert, daß ich mich selbst nicht mehr erkannte, als ich aus dem Theater kam: mir graute vor mir selber. Nie hat Lucien irgend etwas erfahren dürfen. Statt ihm zu sagen, wo ich lebte, gab ich ihm die Adresse dieser Wohnung, die damals eine meiner Freundinnen inne hatte, und die sie mir aus Gefälligkeit abtrat. Ich schwöre Ihnen auf mein heiliges Wort … « »Sie dürfen nicht schwören.« »Ist es denn ein Schwur, wenn ich Ihnen mein heiliges Wort gebe? Nun, seit jenem Tage habe ich in diesem Zimmer wie eine Verlorene gearbeitet und für achtundzwanzig Sous das Stück Hemden genäht, um von ehrlicher Arbeit leben zu können. Einen Monat lang habe ich nur Kartoffeln gegessen, um anständig und Luciens würdig zu bleiben; denn er liebt mich wie die Tugendhafteste der Tugendhaften. Ich habe der Polizei meine förmliche Erklärung abgegeben, um meine Rechte wieder aufnehmen zu können, und man hat mir zwei Jahre der Überwachung auferlegt. Dieselben, die einen so leicht in die Register der Schmach eintragen, machen außerordentliche Schwierigkeiten, wenn sie einen streichen sollen. Ich bat den Himmel nur um eins, darum, meinen Entschluß zu festigen. Ich werde im April neunzehn Jahre alt: in diesem Alter hat man noch Möglichkeiten. Mir wenigstens scheint es, als wäre ich erst vor drei Monaten geboren worden … Ich habe jeden Morgen zum lieben Gott gebetet und ihn angefleht, daß Lucien nie etwas von meinem früheren Leben erfahren möchte. Ich habe mir die Jungfrau gekauft, die Sie hier sehen; ich habe auf meine Art zu ihr gebetet, denn Gebete kenne ich nicht; ich kann weder lesen noch schreiben, ich bin nie in einer Kirche gewesen und habe mir den lieben Gott nur aus Neugier bei den Prozessionen angesehen.«

»Was sagen Sie denn zu der Jungfrau?« »Ich spreche zu ihr, wie ich zu Lucien spreche, in jenen Seelenergüssen, die ihm Tränen entlocken.« »Ach, er weint?« »Vor Freude,« sagte sie lebhaft. »Der arme Junge! Wir verstehen uns so gut, daß wir nur eine Seele haben! Er ist so zart, so einschmeichelnd, so sanft im Herzen, in seiner Gesinnung und seinen Manieren! … Er sagt, er sei ein Dichter; ich sage, er ist ein Gott … Verzeihen Sie, aber Sie als Priester wissen nicht, was die Liebe ist. Übrigens kennen nur wir die Männer genau genug, um einen Lucien zu würdigen. Ein Lucien, sehen Sie, ist ebenso selten wie eine Frau ohne Sünde; wenn man ihm begegnet, kann man nur ihn noch lieben: das ist es. Aber ein solches Wesen braucht seinesgleichen. Ich wollte also der Liebe meines Lucien würdig werden. Daher kam mein Unglück. Gestern wurde ich in der Oper von ein paar jungen Leuten wiedererkannt, die so wenig ein Herz haben wie Tiger Mitleid kennen; aber mit einem Tiger wollte ich mich noch verständigen!  Der Schleier der Unschuld, den ich trug, ist gefallen; ihr Lachen hat mir Kopf und Herz zerrissen. Glauben Sie nicht, Sie hätten mich gerettet; ich werde vor Kummer sterben.« »Ihr Schleier der Unschuld? … « fragte der Priester. »So haben Sie Lucien mit äußerster Strenge behandelt?« »O ehrwürdiger Vater, wie können Sie, der Sie ihn kennen, eine solche Frage stellen?« erwiderte sie, indem sie ihm ein wunderbares Lächeln zuwarf. »Einem Gott leistet man keinen Widerstand!« »Lästern Sie nicht,« sagte der Geistliche mit sanfter Stimme. »Niemand kann Gott gleichen: die Übertreibung steht der wahren Liebe schlecht, Sie haben für Ihr Idol noch keine reine und echte Liebe gefühlt. Wenn Sie den Wandel empfunden hätten, den durchgemacht zu haben Sie sich rühmen, so hätten Sie Tugenden erworben, wie sie das Erbteil der Jugend sind; Sie hätten die Wonnen der Keuschheit und die Feinheiten der Scham kennen gelernt, jene beiden Ruhmestitel des jungen Mädchens. Sie lieben nicht.«

Esther machte eine Bewegung des Schreckens, die der Priester sah, die jedoch die Gleichgültigkeit dieses Beichtvaters nicht erschütterte. »Ja, Sie lieben ihn um Ihretwillen und nicht um seinetwillen, wegen der weltlichen Genüsse, die Sie bezaubern, und nicht um der Liebe selber willen. Wenn Sie sich seiner so bemächtigt haben, so empfanden Sie nicht jenes heilige Zittern, wie es ein Wesen einflößt, auf das Gott den Stempel der anbetungswürdigsten Vollkommenheit gedrückt hat: haben Sie daran gedacht, daß Sie ihn durch Ihre vergangene Unreinheit erniedrigen, daß Sie ein Kind verderben wollen durch jene grauenhaften Verzückungen, die Ihnen Ihren glorreichen gemeinen Beinamen eingetragen haben? Sie sind in sich selbst und in Ihrer Leidenschaft eines Tages inkonsequent gewesen … « »Eines Tages!« wiederholte sie, indem sie die Augen hob. »Mit welchem Namen soll man eine Liebe  nennen, die nicht ewig ist, die uns mit dem, was wir lieben, nicht bis in die Zukunft des Christen hinein vereinigt?« »Ach, ich will katholisch werden!« rief sie mit einem dumpfen und gewaltsamen Ton, der ihr die Gnade unseres Heilands erworben hätte. »Kann ein Mädchen, das weder die Taufe der Kirche noch die des Wissens empfangen hat, das weder zu lesen noch zu schreiben noch zu beten versteht, das keinen Schritt zu tun vermag, ohne daß das Pflaster aufsteht, um sie anzuklagen, das einzig bemerkenswert ist durch das vergängliche Vorrecht einer Schönheit, die vielleicht morgen schon eine Krankheit vernichtet: kann dieses verderbte, erniedrigte Geschöpf, das seine Erniedrigung kannte – ohne dieses Wissen und mit weniger Liebe wären Sie eher entschuldbar gewesen –, kann die künftige Beute des Selbstmords und der Hölle Lucien von Rubemprés Frau werden?«

Jeder Satz war ein Dolchstoß, der im innersten Herzen traf. Bei jedem Satz zeugten das immer sich steigernde Schluchzen und die reichlichen Tränen des verzweifelten Mädchens für die Gewalt, mit der das Licht hereinbrach in ihren Verstand, der unbelehrt war wie der eines Wilden, in ihre endlich erweckte Seele, in ihr eigentliches Wesen, über das die Verderbtheit eine Schicht kotigen Eises gebreitet hatte, die jetzt an der Sonne des Glaubens schmolz.

»Weshalb bin ich nicht gestorben!« das war der einzige Gedanke, dem sie mitten unter den Gedankenströmen, die ihr durch das Gehirn jagten und es verheerten, Ausdruck gab. »Liebes Kind,« sagte der furchtbare Richter, »es gibt eine Liebe, die sich vor Menschen nicht bekennen läßt und deren Geständnis mit glücklichem Lächeln Engel entgegennehmen.« »Welche?« »Die Liebe, die ohne Hoffnung ist, wenn sie Leben einhaucht, wenn sie den Keim der Hingebung hineinsenkt, wenn sie alle Handlungen veredelt durch den Gedanken, eine ideale Vollkommenheit  zu erreichen. Ja, dieser Liebe spenden die Engel Beifall, sie führt zur Kenntnis Gottes. Sich unablässig vervollkommnen, um dessen, den man liebt, würdig zu werden, ihm tausend heimliche Opfer bringen, ihn aus der Ferne anbeten, Tropfen um Tropfen sein Blut hingeben, ihm seine Eigenliebe darbringen, keinen Stolz noch Zorn ihm gegenüber mehr kennen, ihm selbst die grauenhafte Eifersucht verhehlen, die er im Herzen entzündet, ihm alles geben, was er wünscht, und wäre es zum eigenen Schaden, lieben, was er liebt, stets das Gesicht zu ihm gewendet halten, um ihm zu folgen, ohne daß er es weiß: eine solche Liebe hätte die Religion Ihnen vergeben; sie hätte weder die menschlichen noch die göttlichen Gesetze verletzt und Sie in einen andern Weg geleitet als den Ihrer schmutzigen Wollust.«

Als Esther diesen furchtbaren Spruch vernahm, der in einem einzigen Wort – und was für einem Wort, begleitet von was für einem Tonfall! – Ausdruck fand, fühlte sie sich von einem nicht unberechtigten Mißtrauen ergriffen. Dieses Wort wirkte wie ein Donnerschlag, der ein ausbrechendes Gewitter verrät. Sie sah den Priester an, und es ergriff sie jener innere Krampf, der den Mutigsten packt, wenn er sich einer plötzlichen und drohenden Gefahr gegenübersieht. Kein Blick hätte zu lesen vermocht, was jetzt in diesem Manne vorging: aber selbst der Verwegenste hätte eher gebebt als gehofft beim Anblick seiner Augen, die einmal wie des Tigers klar und gelb gewesen waren und über die Kasteiung und Entbehrungen einen Schleier gelegt hatten, wie er mitten in den Hundstagen über den Horizonten liegt: die Erde ist heiß und leuchtet, aber der Nebel macht sie undeutlich, dunstig; sie wird fast unsichtbar. Ein geradezu spanischer Ernst und tiefe Falten, denen die tausend Narben einer scheußlichen Pockenkrankheit ihre Häßlichkeit und ihre Ähnlichkeit  andern Wunders bedarf, um im Herzen einer Kurtisane aufzublühen. Der Ton und die Manieren dieses Priesters, der wie aus einer Leinwand Zurbarans hervorgetreten war, schienen diesem armen Mädchen, dem die Form wenig ausmachte, so feindselig, daß sie sich weniger wie der Gegenstand der Besorgnis vorkam, als vielmehr wie das für einen Plan notwendige Werkzeug. Ohne zwischen dem Schmeicheln des persönlichen Interesses und der Salbung der Wohltätigkeit unterscheiden zu können – denn man muß wohl auf der Hut sein, um das falsche Geld zu erkennen, das ein Freund gibt –, fühlte sie sich doch gleichsam zwischen den Fängen eines ungeheuren wilden Vogels, der sie lange umschwebt hatte und schließlich auf sie gestürzt war; und in ihrem Schrecken sagte sie mit beängstigter Stimme die Worte: »Ich glaubte, die Priester hätten die Aufgabe, uns zu trösten; und Sie ermorden mich!«

Bei diesem Schrei entschlüpfte dem Geistlichen eine Bewegung, und er machte eine Pause; er sammelte sich, ehe er fortfuhr. Während dieser Sekunde sahen die beiden so sonderbar zusammengeführten Personen sich verstohlen prüfend an. Der Priester begriff das Mädchen, ohne daß das Mädchen den Priester begreifen konnte. Er verzichtete ohne Zweifel auf einen Plan, der die arme Esther bedrohte, und wandte sich zu seinen ersten Gedanken zurück.

»Wir sind die Ärzte der Seelen,« sagte er mit sanfter Stimme, »und wir wissen, welche Arzneien für ihre Krankheiten passen.« »Sie müssen dem Elend vieles vergeben,« sagte Esther. Sie glaubte sich getäuscht zu haben, glitt von ihrem Bett hinunter, warf sich diesem Menschen zu Füßen, küßte in tiefer Demut seine Soutane und hob von Tränen schwimmende Augen zu ihm auf. »Ich glaubte schon viel getan zu haben,« sagte sie. »Hören Sie, liebes  gefunden, bewaffnet mit Frechheit und Scharfsinn, faul bis ins Mark und der Stimme der Reue taub, so hätte ich Sie ihrem Zorn preisgegeben. Jene bürgerliche und politische Freiheit, die so schwer zu erlangen ist, die die Polizei im Interesse der Gesellschaft mit Recht so lange verzögert und die ich Sie mit der Glut der echten Reue habe erflehen hören – hier ist sie,« sagte der Priester, indem er ein Papier in amtlichem Format aus dem Gürtel zog. »Gestern hat man Sie gesehen, diese Ankündigung ist von heute datiert: Sie sehen, wie mächtig die Leute sind, die sich für Lucien interessieren.«

Beim Anblick dieses Papiers schüttelte das krampfhafte Zittern, das einen bei einem unverhofften Glück überfällt, Esther so unverkennbar, daß ihr ein starres Lächeln, wie es die Irren zeigen, auf die Lippen trat. Der Priester hielt inne und blickte dieses Kind an, um zu sehen, ob es, der furchtbaren Kraft, die verdorbene Leute ihrer Verderbtheit selber entnehmen, beraubt und beschränkt auf seine gebrechliche und zarte ursprüngliche Natur, so vielen Eindrücken Widerstand leisten würde. Als betrügerische Kurtisane hätte Esther Komödie gespielt; war sie aber wieder unschuldig und wahr geworden, so konnte sie sterben, wie ein operierter Blinder das Gesicht wieder verlieren kann, weil ein zu scharfer Strahl in sein Auge fällt. Dieser Mensch tat also in diesem Augenblick einen tiefen Blick in das menschliche Wesen; aber er verharrte in einer durch ihre Starrheit furchtbaren Ruhe: wie eine kalte, weiße, dem Himmel benachbarte Alp, die unveränderlich und steil aufragt mit ihren granitenen Flanken und doch wohltätig ist. Dirnen sind wesentlich bewegliche Wesen, die aus stumpfestem Mißtrauen zum unbedingten Vertrauen übergehen. Sie stehen in dieser Hinsicht noch unter dem Tier. Sie sind in allem übertrieben: in ihren Freuden, in ihrer Verzweiflung, in ihrer Religiosität und  sind vollkommen durch jenen Durst nach der idealen Schönheit zu erklären, der alle Schaffenden auszeichnet. Heißt es nicht ein wenig den Engeln gleichen, die beauftragt sind, die Sünder zu besseren Gesinnungen zurückzuführen; heißt es nicht schaffen, wenn man ein derartiges Wesen reinigt? Wie verlockend, die moralische Schönheit mit der physischen Schönheit in Einklang zu bringen! Welcher Genuß des Stolzes, wenn es gelingt! Welche schöne Aufgabe, wenn man kein anderes Werkzeug besitzt als die Liebe! Solche Bündnisse, berühmt geworden durch die Beispiele des Aristoteles, des Sokrates, Platos, des Alkibiades, Cethegus und Pompejus, gründen sich auf die Empfindung, die Ludwig XIV. dazu trieb, Versailles zu erbauen, die die Menschen in alle verderblichen Unternehmungen stürzt: die Miasmen eines Sumpfes in eine duftende Insel zu verwandeln, umringt von frischem Wasser; auf einem Hügel einen See anzulegen, wie es der Fürst von Conti zu Nointel tat, oder Schweizer Ansichten zu Cassan, wie es der Generalpächter Bergerat unternahm. Kurz, da bricht die Kunst in die Moral ein.

Der Priester schämte sich, weil er dieser Zärtlichkeit erlegen war, und stieß Esther heftig zurück; sie setzte sich, gleichfalls beschämt, denn er sagte zu ihr: »Sie sind immer noch Kurtisane!« Und er schob den Brief kühl in seinen Gürtel zurück. Wie ein Kind, das nur einen einzigen Wunsch im Kopf hat, ließ Esther nicht ab, die Stelle des Gürtels anzustarren, hinter der der Brief stak. »Liebes Kind,« fuhr der Priester nach einer Pause fort, »Ihre Mutter war Jüdin, und Sie sind nicht getauft; aber Sie sind auch nie in die Synagoge geführt worden: Sie sind in der Vorhölle, in die die kleinen Kinder kommen … « »Die kleinen Kinder! … « wiederholte sie mit gerührter Stimme. »… Wie Sie in den Listen der Polizei stehen, als eine Ziffer außerhalb der menschlichen Wesen,« sagte  der unerschütterliche Priester, indem er fortfuhr. »Wenn die Liebe, die Sie verstohlen sahen, Ihnen vor drei Monaten den Eindruck gab, als würden Sie geboren, so müssen Sie von heute an das Gefühl haben, als ständen Sie wirklich in Ihrer Kindheit; Sie müssen sich völlig verwandeln, und ich übernehme es, Sie unkenntlich zu machen. Zunächst werden Sie Lucien vergessen.«

Dieses Wort brach dem armen Mädchen das Herz; sie hob die Augen auf den Priester und schüttelte den Kopf; sie war nicht imstande zu reden, als sie von neuem im Heiland den Henker fand.

»Sie werden wenigstens darauf verzichten, ihn zu sehen,« sagte er. »Ich werde Sie in ein Kloster führen, in dem die Töchter der besten Familien ihre Erziehung erhalten; Sie werden dort katholisch werden, man wird Sie in der Übung der christlichen Gebräuche unterweisen, in der Religion unterrichten; Sie können es als gebildetes, keusches, reines, wohlerzogenes junges Mädchen verlassen, wenn … « (dieser Mensch hob den Finger und machte eine Pause), »wenn Sie die Kraft in sich fühlen, die Torpille hier zurückzulassen.« »Ach!« rief das arme Kind, für das jedes Wort gleichsam der Ton einer Musik gewesen war, bei deren Klang sich langsam die Pforten des Paradieses öffneten; »ach, wenn es möglich wäre, hier mein ganzes Blut zu vergießen, um ein neues dafür zu erhalten! … « »Hören Sie mich an.« Sie verstummte. »Ihre Zukunft hängt von Ihrer Kraft, zu vergessen, ab. Denken Sie an die Ausdehnung Ihrer Verpflichtungen! Ein Wort, eine Geste, die die Torpille verriete, tötet Luciens Frau. Ein im Traum gesprochenes Wort, ein unwillkürlicher Gedanke, ein zuchtloser Blick, eine Bewegung der Ungeduld, eine Erinnerung an die Ausschweifungen, eine Unterlassung, ein Kopfnicken, das enthüllte, was Sie wissen oder was Ihnen zu Ihrem Unglück bekannt geworden ist … « »Lassen Sie,  lassen Sie, mein Vater,« sagte das Mädchen mit der Glut einer Heiligen; »müßte ich in Schuhen aus glühendem Eisen gehen und lächeln, müßte ich in einem mit Stacheln besetzten Mieder leben und die Anmut einer Tänzerin bewahren, müßte ich mit Asche bestreutes Brot essen und Absinth trinken – alles wäre süß und leicht!«

Sie sank wieder auf ihre Knie; sie küßte dem Priester die Schuhe, brach über ihnen in Tränen aus und benetzte sie, umschlang seine Beine und schmiegte sich an sie, indem sie unter Freudentränen sinnlose Worte murmelte. Ihre schönen, wundervollen blonden Haare rieselten herab und breiteten sich wie ein Teppich zu den Füßen dieses Himmelsboten aus, den sie düster und hart fand, als sie sich erhob und ihn ansah.

»Wodurch habe ich Sie beleidigt?« sagte sie ganz entsetzt. »Ich habe von einer Frau gleich mir gehört, die Jesu Christi Füße mit Wohlgerüchen wusch. Ach, die Tugend hat mich so arm gemacht, daß ich Ihnen nur noch meine Tränen bieten kann.« »Haben Sie mich nicht verstanden?« erwiderte er mit grausamer Stimme. »Ich sage Ihnen, Sie müssen das Haus, wohin ich Sie führen werde, physisch und moralisch so verwandelt verlassen, daß keiner und keine von denen, die Sie gekannt haben, Ihnen je wieder ›Esther!‹ zurufen kann und Sie den Kopf zu wenden zwingt. Gestern hatte Ihnen die Liebe noch nicht die Kraft gegeben, das Freudenmädchen so tief zu vergraben, daß es nicht wieder aufgetaucht wäre; es taucht noch in der Anbetung auf, die nur Gott gebührt.« »Hat er Sie nicht zu mir geschickt?« fragte sie. »Wenn Sie während Ihrer Erziehung von Lucien bemerkt würden, so wäre alles verloren,« fuhr er fort, »bedenken Sie das.« »Wer wird ihn trösten?« fragte sie. »Worüber haben Sie ihn hinweggetröstet?« fragte der Priester mit einer Stimme, in der zum erstenmal während dieser Szene ein nervöses  Falten unseres Herzens verborgen sind und die an uns zehren! … Ich weiß nur zu gut, was mir fehlt.« »Nun also wissen Sie, wie Sie nächsten Sonntag aussehen müssen,« sagte der Priester, indem er aufstand. »O lehren Sie mich«, sagte sie, »ein echtes Gebet, ehe Sie gehen, damit ich Gott anflehen kann.«

Es war rührend anzusehen, als dieser Priester dieses Mädchen das Ave-Maria und das Paternoster auf Französisch hersagen ließ.

»Das ist herrlich!« sagte Esther, als sie diese beiden wunderbaren und beliebten Ausdrücke des katholischen Glaubens fehlerlos gesprochen hatte. »Wie heißen Sie?« fragte sie den Priester, als sie ihm Leb wohl sagte. »Carlos Herrera; ich bin Spanier und aus meinem Lande verbannt.« Esther ergriff seine Hand und küßte sie. Es war keine Kurtisane mehr, sondern ein Engel, der von einem Sturz aufstand.

In einem Hause, das wegen der aristokratischen und religiösen Erziehung, die dort erteilt wird, berühmt ist, bemerkten die Pensionärinnen im März des Jahres eines Montags morgens, daß ihre hübsche Schar um eine Ankömmlingin vermehrt war, deren Schönheit nicht nur unbestreitbar über ihre Gefährtinnen triumphierte, sondern auch über die einzelnen Schönheiten, die eine jede von ihnen in vollkommenem Grade besaß. In Frankreich ist es äußerst selten, um nicht zu sagen unmöglich, daß man die berühmten dreißig Schönheiten beisammen findet, die, wie man sagt, eine in persischen Versen im Serail eingemeißelte Inschrift aufzählt und die notwendig sind, damit eine Frau vollkommen schön sei. In Frankreich gibt es wenig Gesamtschönheiten; es gibt nur entzückende Einzelheiten. Was die imponierende Gesamtschönheit angeht, wie die Skulptur sie wiederzugeben sucht und wie sie sie auch in einigen seltenen Schöpfungen, zum Beispiel  erstaunt war; er, den nichts in der Welt überraschen zu sollen schien; und die Oberin wünschte ihm Glück zu seinem Mündel. Diese Frauen waren in ihrer ganzen Unterrichtslaufbahn nie einem liebenswürdigeren Naturell, einer christlicheren Sanftmut, einer echteren Bescheidenheit und einer so großen Lernbegier begegnet. Wenn ein Mädchen die Leiden durchgemacht hat, die die arme Zöglingin überwältigt hatten, und wenn sie dabei einen Lohn erwartet, wie der Spanier ihn Esther bot, so kann sie kaum anders als jene Wunder der ersten Tage der Kirche verwirklichen, die die Jesuiten in Paraguay erneuerten.

»Sie ist erbaulich,« sagte die Oberin, indem sie ihr die Stirn küßte. Dieses wesentlich katholische Wort sagt alles.

Während der Erholungsstunden fragte Esther ihre Gefährtinnen maßvoll nach den einfachsten Dingen der großen Welt aus, und sie weckten in ihr etwas wie das erste Staunen eines Kindes über das Leben. Als sie erfuhr, daß sie am Tage ihrer Taufe und ihrer ersten Kommunion weißgekleidet gehen würde, daß sie ein Stirnband aus weißem Satin, weiße Bänder, weiße Schuhe und weiße Handschuhe erhalten und weiße Schleifen im Haar tragen sollte, da brach sie mitten unter ihren erstaunten Gefährtinnen in Tränen aus. Es war das Gegenteil der Szene Jephthas auf dem Berge. Die Kurtisane fürchtete, durchschaut zu werden; sie schob ihre furchtbare Melancholie auf die Freude, die dieses Schauspiel ihr schon im voraus bereitete. Da es sicherlich ebensoweit ist von den Sitten, die sie aufgab, bis zu den Sitten, die sie annahm, wie vom Zustand eines Wilden bis zur Zivilisation, so hatte sie die Anmut, die Naivität und Tiefe, die die wunderbare Heldin der Puritaner von Amerika auszeichnen. Sie trug auch, ohne es zu wissen, eine Liebe im Herzen, die an ihr nagte, eine seltsame Liebe, ein Verlangen, heftiger bei ihr, die alles wußte, als es je bei einer Jungfrau ist, die nichts weiß,  um diesen Kampf des Dämons mit dem Engel. Wenn die Oberin sie schalt, weil sie künstlicher frisiert war, als die Regel es wollte, so veränderte sie ihre Frisur mit anbetungswürdigem und schnellem Gehorsam; sie wäre bereit gewesen, sich das Haar abzuschneiden, wenn die Mutter es ihr befohlen hätte. Dieses Heimweh hatte bei einem Mädchen, das lieber umgekommen wäre als zurückgekehrt in die unreinen Lande, eine rührende Anmut. Sie wurde blaß, verwandelte sich, wurde mager. Die Oberin verkürzte ihren Unterricht und zog das interessante Geschöpf in ihre Nähe, um sie auszufragen. Esther war glücklich; es gefiel ihr unendlich unter ihren Gefährtinnen; sie fühlte sich in keinem vitalen Teil angegriffen, aber ihre Vitalität selber war angegriffen. Sie sehnte sich nach nichts zurück; sie wünschte nichts. Die Oberin war erstaunt über die Antworten ihrer Zöglingin, und sie wußte nicht, was sie von ihr denken sollte, als sie sie einer verzehrenden Sehnsucht zur Beute fallen sah. Man rief den Arzt, als der Zustand des jungen Mädchens ernst zu werden schien, aber dieser Arzt kannte Esthers Vorleben nicht und konnte sie nicht beargwöhnen: er fand überall Leben, das Leiden war nirgends. Die Krankheit warf alle Hypothesen um. Es blieb noch eine Art und Weise, die Zweifel des Gelehrten, der sich an einen furchtbaren Gedanken klammerte, aufzuklären: Esther weigerte sich hartnäckig, sich der Untersuchung des Arztes zu unterwerfen. In dieser Gefahr appellierte die Oberin an den Abbé Herrera. Der Spanier kam, sah Esthers verzweifelten Zustand und plauderte einen Augenblick abseits mit dem Arzt. Nach diesem Gespräch erklärte der Mann der Wissenschaft dem Mann des Glaubens, das einzige Mittel sei eine Reise nach Italien. Der Abbé wollte nicht, daß diese Reise vor Esthers Taufe und erster Kommunion stattfände.

»Wieviel Zeit brauchen Sie noch?« fragte der Arzt. »Einen Monat,« erwiderte die Oberin. »Dann ist sie tot,«  versetzte der Doktor. »Ja, aber im Stand der Gnade und als Gerettete,« sagte der Abbé.

Die Frage der Religion beherrscht in Spanien die Fragen der Politik, des bürgerlichen und physischen Lebens; der Arzt gab also dem Spanier keine Antwort, er wandte sich zu der Oberin; aber der furchtbare Abbé ergriff ihn am Arm, um ihn zu hindern. »Kein Wort, Herr Doktor!« sagte er.

Der Arzt warf, obwohl er religiös und monarchisch gesinnt war, einen Blick voll zärtlichen Mitleids auf Esther. Dieses Mädchen war schön wie eine Lilie, die sich auf ihren Stengel neigt. »Wie Gott will, also,« sagte er und ging.

Noch am Tage dieser Konsultation wurde Esther von ihrem Gönner in den Rocher de Cancale geführt, denn der Wunsch, sie zu retten, hatte diesem Priester die seltsamsten Auskunftsmittel eingegeben; er versuchte es mit zwei Ausschweifungen: einem ausgezeichneten Diner, das das arme Mädchen an seine Orgien erinnern konnte, und der Oper, die ihr einige weltliche Bilder bot. Es bedurfte seiner überwältigenden Autorität, um die junge Heilige zu solchen Entweihungen zu überreden. Herrera verkleidete sich so vollkommen als Offizier, daß Esther ihn nur mit Mühe erkannte; er ließ seine Gefährtin einen Schleier nehmen und setzte sie in eine Loge, wo sie allen Blicken verborgen bleiben konnte. Dieses Linderungsmittel, das für eine so ernstlich zurückgewonnene Unschuld ungefährlich war, verlor bald seine Kraft. Die Zöglingin wurde von Ekel vor den Diners ihres Gönners, von religiösem Widerwillen gegen das Theater gepackt und sank in ihre Melancholie zurück.

›Sie stirbt vor Liebe zu Lucien,‹ sagte Herrera sich; er wollte die Tiefe dieser Seele sondieren und wissen, was man von ihr verlangen konnte.

 Es kam also ein Augenblick, in dem dieses Mädchen nur noch durch seine moralische Kraft aufrechterhalten wurde und in dem der Körper versagen mußte. Der Priester berechnete diesen Augenblick mit dem grauenhaften Scharfsinn, den ehedem die Folterknechte entfalteten, wenn es galt, das Verhör zu beginnen. Er fand sein Mündel im Garten, wo sie am Gitter, das die Aprilsonne liebkoste, auf einer Bank saß; sie schien zu frieren und sich dort zu wärmen; ihre Gefährtinnen sahen voll Interesse auf diese Bleichheit welken Grases, auf diese Augen einer sterbenden Gazelle und auf ihre melancholische Haltung. Esther erhob sich und ging dem Spanier entgegen, und zwar mit einer Bewegung, die bewies, wie wenig Leben sie nur noch in sich hatte, und auch, sagen wir es, wie wenig Freude am Leben. Dieses arme Bohèmegeschöpf, diese verwundete wilde Schwalbe erregte zum zweitenmal Carlos Herreras Mitleid. Der düstere Priester, den Gott nur zur Erfüllung seiner Rache hätte verwenden dürfen, empfing die Kranke mit einem Lächeln, das ebensoviel Bitterkeit wie Süße enthielt, ebensoviel Rachsucht wie Erbarmen. Esther war seit ihrem nahezu klösterlichen Leben an das Nachdenken gewöhnt, an die Einkehr in sich selber, und jetzt empfand sie zum zweitenmal ein Gefühl des Mißtrauens beim Anblick ihres Gönners; aber wie beim erstenmal wurde sie von seinen Worten auf der Stelle beruhigt.

»Nun, mein liebes Kind,« sagte er, »weshalb haben Sie mir nie von Lucien gesprochen?« »Ich hatte Ihnen versprochen,« erwiderte sie, während sie in krampfhafter Bewegung vom Kopf bis zu den Füßen erbebte, »ich hatte Ihnen geschworen, diesen Namen nicht mehr auszusprechen.« »Trotzdem aber haben Sie nicht aufgehört, an ihn zu denken.« »Das ist mein einziger Fehler. In jeder Stunde denke ich an ihn; als Sie sich zeigten, sagte ich diesen Namen vor mich hin.« »Die Trennung tötet Sie?«

 Statt aller Antwort neigte Esther den Kopf, wie es die Kranken tun, die schon die Grabesluft riechen. »Ihn wiedersehen?« fragte er. »Das wäre das Leben,« erwiderte sie. »Denken Sie nur mit der Seele an ihn?« »Ach, die Liebe läßt sich nicht teilen.« »Tochter des verfluchten Geschlechts! Ich habe alles getan, um dich zu retten; ich überlasse dich deinem Schicksal: du sollst ihn wiedersehen!« »Weshalb sollten Sie mein Glück schmähen? Kann ich nicht Lucien lieben und doch die Tugend üben, die ich ebensosehr liebe wie ihn? Bin ich nicht bereit, hier für sie zu sterben, wie ich bereit wäre, für ihn zu sterben? Will ich nicht umkommen in diesem doppelten Fanatismus: für die Tugend, die mich seiner würdig machte, für ihn, der mich der Tugend in die Arme warf? Ja, bereit zu sterben, ohne ihn wiederzusehen; bereit zu leben, wenn ich ihn wiedersehe. Gott wird mich richten.« Ihre Farbe war zurückgekehrt; ihre Blässe hatte einen goldigen Ton angenommen. Esther wurde noch einmal begnadigt.

»Am Tage, nach dem Sie im Wasser der Taufe gebadet werden, sollen Sie Lucien wiedersehen, und wenn Sie glauben, tugendhaft leben zu können, indem Sie für ihn leben, so sollen Sie sich nicht mehr trennen.«

Der Priester mußte Esther aufheben, da ihr die Knie versagten. Das arme Mädchen war gestürzt, als hätte der Boden unter ihren Füßen nachgegeben; der Abbé setzte sie auf die Bank, und als sie die Sprache wiederfand, sagte sie: »Weshalb nicht heute?« »Wollen Sie Seiner Hochwürden den Triumph Ihrer Taufe und Bekehrung rauben? Sie sind Lucien zu nah, um Gott nicht fern zu sein.« »Ja, ich dachte an nichts mehr!« »Sie werden nie irgendeiner Religion angehören,« sagte der Priester mit einer Regung tiefer Ironie. »Gott ist gut,« erwiderte sie; »er liest in meinem Herzen.«

Besiegt von der entzückenden Naivität, die in Esthers Stimme, Blick, Gesten und Haltung durchbrach, küßte  Herrera sie zum erstenmal auf die Stirn. »Die Wüstlinge hatten dir mit Recht deinen Namen gegeben: du würdest Gott, den Vater, verführen. Noch ein paar Tage, es ist nötig, und nachher sollt ihr alle beide frei sein.« »Alle beide!« wiederholte sie in ekstatischer Freude.

Diese aus der Ferne gesehene Szene setzte die Zöglinginnen und die Oberinnen in Erstaunen; sie glaubten einer Zauberverwandlung beizuwohnen, als sie Esther mit ihrem früheren Selbst verglichen. Das völlig verwandelte Kind lebte jetzt. Sie zeigte sich in ihrer wahren Liebesnatur, zierlich, kokett, lockend und lustig: kurz, sie war auferweckt.

Herrera wohnte in der Rue Cassette, dicht bei Saint-Sulpice, der Kirche, der er sich angeschlossen hatte. Dieser Bau sagte dem Spanier mit seinem harten und trockenen Stil zu, denn seine Religion hatte viel von der der Dominikaner. Als ein verlorener Posten der verschlagenen Politik Ferdinands VII. leistete er der konstitutionellen Sache schlimme Dienste, obwohl er wußte, daß diese Ergebenheit niemals ihren Lohn finden konnte, es sei denn bei einer Wiedereinsetzung des Rey netto. Und Carlos Herrera hatte sich in dem Augenblick, als es schien, daß die Cortes nicht mehr zu stürzen waren, mit Leib und Seele der Camarilla ergeben. Für die Welt verriet dieses Verhalten eine überlegene Seele. Der Feldzug des Herzogs von Angoulême war erfolgt, König Ferdinand herrschte, und Carlos Herrera ging nicht nach Madrid, um sich den Preis für seine Dienste zu holen. Gegen die Neugier verteidigte ihn ein diplomatisches Schweigen, und als Grund seines Aufenthalts in Paris führte er seine lebhafte Neigung zu Lucien von Rubempré an, der der junge Mann bereits die Ordonnanz des Königs über seinen Namenswechsel verdankte. Herrera lebte übrigens, wie der Tradition nach alle Priester leben, die in geheimen Missionen Verwendung  sein würde. Diese Fragen derer, die einen Blick auf den lange verheimlichten Bund werfen konnten, strebten danach, ein furchtbares Geheimnis zu durchschauen, das auch Lucien erst seit wenigen Tagen kannte. Carlos war für zwei ehrgeizig; das zeigte sein Verhalten denen, die ihn kannten und die alle glaubten, Lucien sei ein natürliches Kind dieses Priesters.

Fünfzehn Monate nach seinem Erfolg in der Oper, der ihn zu früh in eine Gesellschaft hineinwarf, in der der Abbé ihn erst sehen wollte, wenn er ihn durchaus gegen die Welt gewaffnet hätte, standen drei schöne Pferde in Luciens Stall, ein Coupé für den Abend, ein Kabriolett und ein Tilbury für den Vormittag. Er aß in der Stadt. Herreras Ahnungen hatten sich erfüllt: ein Leben der Zerstreuungen hatte sich seines Schülers bemächtigt; aber er hatte es notwendig gefunden, der sinnlosen Liebe, die dieser junge Mann für Esther im Herzen bewahrte, Ablenkung zu verschaffen. Nachdem er etwa vierzigtausend Franken ausgegeben hatte, hatte jede Torheit Lucien nur um so lebhafter zu der Torpille zurückgeführt, die er hartnäckig suchte; und da er sie nicht fand, so wurde sie für ihn das, was das Wild für den Jäger ist. Konnte Herrera wissen, welcher Art die Liebe eines Dichters ist? Hat sich einem dieser großen kleinen Leute diese Empfindung einmal in den Kopf gesetzt, wie sie das Herz versengt und die Sinne durchdrungen hat, so wird der Dichter der Menschheit ebensosehr durch seine Liebe überlegen, wie er es durch die Macht seiner Phantasie ist. Da er einer Laune der intellektuellen Zeugung die seltene Fähigkeit verdankt, die Natur durch Bilder auszudrücken, denen er zugleich Empfindung und Gedanken aufprägt, leiht er seiner Liebe die Flügel seines Geistes; er empfindet und er malt, er handelt und denkt, er vervielfältigt seine Empfindungen durch sein Denken, er verdreifacht die gegenwärtige Seligkeit durch  stets weiß, beflügelt, rein und geheimnisvoll, wie sie für ihn geworden war, da sie erriet, daß er sie so wollte.

Gegen Ende des Mai 1825 hatte Lucien seine ganze Lebhaftigkeit eingebüßt; er ging nicht mehr aus, er speiste mit Herrera, war nachdenklich, arbeitete, las die Sammlung diplomatischer Traktate, saß nach türkischer Weise auf einem Diwan und rauchte am Tage drei oder vier Hukas. Sein Groom hatte mehr damit zu tun, die Schläuche dieses schönen Werkzeugs zu reinigen und zu parfümieren, als das Fell der Pferde zu striegeln und sie für die Ausfahrten im Bois mit Rosen zu schmücken. An dem Tage, als der Spanier Luciens Stirn bleich sah, als er in den Torheiten der unterdrückten Liebe die Spuren der Krankheit erkannte, wollte er dieses Menschenherz ergründen, auf das er sein Leben gebaut hatte.

Eines schönen Abends, als Lucien, in einem Sessel liegend, mechanisch durch die Bäume des Gartens dem Sonnenuntergang zusah, indem er, wie es gedankenverlorene Raucher tun, in langen und gleichmäßigen Wolken den Schleier seines parfümierten Rauches ausbreitete, zog ihn ein tiefer Seufzer aus seiner Träumerei. Er wandte sich um und sah den Abbé mit untergeschlagenen Armen dastehen.

»Du hast dagestanden?« sagte der Dichter. »Seit langem,« sagte der Priester; »meine Gedanken sind dem Flug der deinen gefolgt … « Lucien verstand dieses Wort. »Ich habe mich nie für eine eherne Natur ausgegeben, wie du es bist. Für mich ist das Leben abwechselnd ein Paradies und eine Hölle; aber wenn es gerade einmal weder das eine noch das andere ist, so langweilt es mich; und ich langweile mich … « »Wie kann man sich langweilen, wenn man so viele großartige Hoffnungen vor sich hat? … « »Wenn man an diese Hoffnungen nicht glaubt, oder wenn sie zu verschleiert sind … « »Keine Dummheiten!« sagte der du klein bist; aber du darfst nicht den Prägstock zerbrechen, mit dem wir Geld münzen. Ich erlaube dir alles, ausgenommen die Fehler, die deine Zukunft zertrümmern würden. Wenn ich dir die Salons des Faubourg Saint-Germain öffne, so verbiete ich dir, dich in der Gosse zu wälzen. Lucien, ich werde in deinem Interesse wie eine Eisenschranke sein; ich will alles von dir, für dich erdulden. Und deshalb habe ich deinen Mangel an Fühlung mit dem Spiel des Lebens in die Finesse eines gewandten Spielers verwandelt … «

Lucien hob in einer Bewegung wütender Schroffheit den Kopf. »Ich habe die Torpille entführt!« »Du?« schrie Lucien auf. In einem Anfall tierischer Wut sprang der Dichter empor und warf dem Priester, den er so heftig zurückstieß, daß er den Athleten zu Boden schleuderte, das Bocchinetto aus Gold und Edelsteinen ins Gesicht. »Ich,« sagte der Spanier, indem er sich erhob und ohne seine furchtbare Würde zu verlieren.

Die schwarze Perücke war gefallen. Ein Schädel, blank wie ein Totenkopf, gab diesem Manne seine wahre Physiognomie zurück; sie war grauenhaft. Lucien lag mit hängenden Armen und überwältigt auf seinem Diwan und starrte den Abbé mit stumpfer Miene an.

»Ich habe sie entführt,« wiederholte der Priester. »Was hast du aus ihr gemacht? Du hast sie am Morgen nach dem Maskenball entführt … « »Ja, am Morgen nach dem Tage, als ich sah, wie ein Wesen, das dir gehörte, von Schelmen beschimpft wurde, denen ich nicht den Fuß in den … « »Schelmen?« sagte Lucien, indem er ihn unterbrach, »sag Ungeheuern, neben denen die, die man guillotiniert, Engel sind. Weißt du, was die Torpille für drei unter ihnen getan hat? Einer von ihnen war zwei Monate lang ihr Liebhaber. Sie war arm und suchte sich ihr Brot in der Gosse; er hatte keinen Heller, er war wie ich, als du mir begegnetest, dem Fluß recht nahe; mein Bürschchen  stand nachts auf und ging zu dem Schrank, in dem die Reste der Mittagsmahlzeit dieses Mädchens waren, und aß sie auf; sie entdeckte schließlich diese Kniffe und begriff die Scham; sie sorgte dafür, daß viele Reste übrig blieben, und sie war glücklich; sie hat das niemandem als mir gesagt, in ihrem Fiaker, als wir aus der Oper kamen. Der zweite hatte gestohlen; aber ehe man den Diebstahl bemerken konnte, lieh sie ihm die Summe, die er wieder hinlegen konnte; und er hat stets vergessen, sie dem armen Mädchen zurückzugeben. Für den dritten hat sie sein Glück gemacht, indem sie eine Komödie spielte, in der sich Figaros Genie zeigte: sie hat sich für seine Frau ausgegeben und ist die Geliebte eines allmächtigen Mannes geworden, der sie für die naivste der Bürgerfrauen hielt. Dem einen das Leben, dem andern die Ehre, dem letzten sein Vermögen, und das bedeutet heute all jenes! Und so wird es ihr von ihnen gelohnt … « »Willst du, daß sie sterben?« sagte Herrera, dem eine Träne in die Augen trat. »Nun, da bist du! Jetzt erkenne ich dich … « »Nein, erfahre alles, rasender Dichter,« sagte der Priester: »die Torpille lebt nicht mehr.«

Lucien warf sich so kräftig auf Herrera, um ihn an der Kehle zu packen, daß jeder andere gestürzt wäre; aber der Arm des Spaniers hielt den Dichter zurück.

»Höre doch zu,« sagte er kühl. »Ich habe eine keusche, reine, wohlerzogene, fromme Frau aus ihr gemacht, eine anständige Frau; sie ist auf dem Wege der Bildung. Sie kann, sie muß, unter der Herrschaft deiner Liebe, eine Ninon, eine Marion Delorme, eine Dubarry werden, wie dieser Journalist in der Oper sagte. Du wirst sie als deine Geliebte anerkennen oder hinter dem Vorhang deiner Schöpfung verborgen bleiben, was verständiger ist! Das eine wie das andere wird dir Vorteil und Ruhm, Genuß und Fortschritt eintragen. Aber wenn du ein ebenso großer  Politiker wie Dichter bist, so wird dir Esther nur eine Dirne sein; denn später wird sie uns vielleicht aus der Verlegenheit ziehen, sie ist ihr Gewicht in Gold wert. Trinke, aber berausche dich nicht. Wenn ich deiner Leidenschaft nicht in die Zügel gefallen wäre, wo wärst du da heute? Du hättest dich mit der Torpille im Schlamm des Elends gewälzt, aus dem ich dich herausgezogen habe … Da, lies!« sagte Herrera so einfach wie Talma im ›Manli us‹, den er nie gesehen hatte.

Dem Dichter fiel ein Papier auf die Knie und entriß ihn der ekstatischen Verwunderung, in die ihn diese beängstigende Antwort gestürzt hatte; er nahm es und las den ersten je von Fräulein Esther geschriebenen Brief:

 

»An den Abbé Carlos Herrera.